Table of Contents

Titel

Impressum

From the dusty mesa

Von einem ersten, kalten, regnerischen Herbststurm

„Aljoscha! Willkommen!“

„Puschkin“

In einem Raum

Der Rest der Nacht

In der Nacht

Am Montag

Ein Schlüssel in der Haustür

Vova

Pjotr

Vier Tage später

Nur fünf Tage später

Zwei Tage vor Weihnachten

EIN GANZ GROSSES DANKESCHÖN

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DeBehr

 

Copyright by Silke Ellenbeck

Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg

Erstauflage: 2018

ISBN: 9783957535764

Umschlaggrafik Copyright by Fotolia by realstock1

 

From the dusty mesa
Her looming shadow grows
Hidden in the branches
Of the poison creosote

She twines her spines up slowly
Towards the boiling sun
And when I touched her skin
My fingers ran with blood …”
(The Handsome Family, Far from any road)

 

“The true man wants two things:

Danger and play.

For that reason he wants a woman,

as the most dangerous plaything.”

(Friedrich Nietzsche)

 

„Straight outta Bückeburg …“

(Die Ärzte)

 

„Engel im Herz,

Teufel im Kopf …“

(Haftbefehl)

 


Von einem ersten, kalten, regnerischen Herbststurm tauchte ich ein in die sanfte, dezente Beleuchtung des Kurfürsten. Im Etablissement war es angenehm warm und so schüttelte ich mir kurz wie ein nasser Hund die Kälte ab. Auf einem Hocker bei der Tür saß eine junge Frau in einem schwarzen Mieder, passenden Netzstrümpfen und hochhackigen Stiefeletten. Sie erinnerte mich an eine unverbrauchte Version einer Amy Winehouse. Ihre Augen waren im Stil der sechziger Jahre geschminkt und sie hatte einen obligatorischen Bienenkorb auf dem Kopf.

„Echt mieses Wetter“, quittierte sie meinen Anblick, rutschte vom Hocker, ging zur Bar und stellte sich hinter den Tresen.

Ich ließ den Blick kurz durch den Raum schweifen. Es war Viertel nach sechs, noch früh am Abend und nicht viel los. Auf einem Sofa an der gegenüberliegenden Seite saßen zwei Frauen in seidenen Morgenmänteln, High Heels und unterhielten sich. Sie nickten mir mit einem dezenten Lächeln zu.

„Ich habe angerufen“, meinte ich, setzte mich auf einen Hocker an die Bar und bestellte mir ein Bier. Umständlich entledigte ich mich meines Mantels und legte ihn auf den freien Hocker neben mich. „Aljoscha“.

Der Bienenkorb nahm ein großes, ledernes Buch zur Hand, ließ den Finger langsam über die Seite gleiten.

„Du hast Carmen gebucht für neunzehn Uhr. Alles klar“, lächelte sie. „Ich bin übrigens Amy.“

„Ist mir sofort aufgefallen“, grinste ich, wartete, bis sie mir das Bier eingeschenkt hatte, nahm einen Schluck, merkte an. „Ich hoffe, du bist klüger als sie.“

„Sie war eine tolle Sängerin“, sagte Amy, lehnte sich dabei auf den Tresen und mir fiel auf, dass sie nicht nur das Aussehen, sondern auch die Gestik und Mimik perfekt kopierte.

„Ich mag nur ein Lied von ihr. Und ’ne tolle Sängerin war Whitney Houston auch, aber beide hat der Erfolg kaputtgemacht. Ich bin kein Psychotherapeut, aber wenn man erst mal süchtig nach dem Erfolg ist, dass alle einen bejubeln und man hat so viel Geld, dass man gar nicht mehr weiß, wohin damit, dann kann einen das auch kaputtmachen.“

„Also, ich hätte schon gerne so ein Leben mit viel Geld …“

„Be careful what you wish for“, warf ich ein, und da sie offensichtlich des Englischen nicht besonders mächtig war, übersetzte ich es, “Sei vorsichtig, was du dir wünschst.”

Sie sah zur Uhr.

„Willst du noch ein bisschen Entspannungsprogramm genießen? Es ist noch Zeit …“, bot sie an und deutete mit einer Kopfbewegung zur kleinen Bühne mit der Pole-Stange.

„Ich habe einen früheren Flug genommen, die Bahn war auch pünktlich“, erklärte ich, wollte aber eigentlich nicht, dass sie darauf einging, doch sie war dazu angehalten, leichte Konversation zu machen, Männer in jeglicher Art und Weise zu unterhalten. So fragte sie mich, wo ich herkam, ob ich im Urlaub gewesen sei.

„Kein Urlaub“, sagte ich, nahm einen Schluck Bier. „Ich war für eine Zeit bei meiner Mutter in Irland, musste mal raus hier. Sie war krank.“

Sie kannte mich nicht, es war zu viel Zeit vergangen, seit ich das letzte Mal hier war und nur wenige Frauen blieben so lange in dem Geschäft wie Carmen. Und natürlich verwendeten sie nicht ihre richtigen Namen, so wie ihre Kunden.

„Daher das Englisch“, lächelte sie. „Du sprichst aber sehr gut Deutsch, ohne Akzent.“

„Und ich kann ‚ich‘ sagen, nicht ‚isch‘“, meinte ich stolz, sah zur Uhr, dann zur Stange, zu Amy. „Tanzt du auch?“

„Ja“, hauchte sie, beugte sich etwas zu mir vor: „Hast du einen bestimmten Wunsch?“

Ich lehnte mich zu ihr über den Tresen. Für Sekunden trafen sich unsere Blicke, sah sie in meine braunen Augen. Mir war bewusst, dass sie sich kurz verlor in meinem jungenhaften Aussehen mit den dunklen, lockigen, kinnlangen Haaren. Ich kannte meine Wirkung auf Frauen.

„Mach’ mir die Amy zu You know that I’m no good“, flüsterte ich, hielt ihr einen fünfzig Euro- Schein hin, den sie langsam aus meiner Hand nahm. „Nur tanzen.“

„Eigentlich ist das Tanzen im Service mit drin, wenn du jemanden gebucht hast“, räusperte sie sich, bat mich, mich in einen Sessel an die Bühne zu setzen. So leerte ich das Bier mit einem Zug, nahm meinen Mantel, kam ihrer Aufforderung nach. Amy verschwand für einen Moment. Eine der anderen Frauen setzte sich auf den Hocker am Tresen und behielt die Tür im Auge. Die Musik begann und sie betrat die Bühne, umkreiste geschmeidig die Stange. Mit dem Mantel auf dem Schoß lehnte ich mich zurück. Es faszinierte mich von jeher, wenn Frauen gelenkig waren, biegsam wie eine Brezel. Nicht im Bett, aber ich konnte schon als Junge stundenlang Mädchen bei rhythmischer Sportgymnastik im Fernsehen zuschauen. Es waren nicht nur ihre grazilen Körper, sondern ihre geschmeidigen Bewegungen, fließend. Auf eine gewisse Art und Weise ein perfider Mix aus Erregung und Faszination. Mein Vater meinte damals, ich sei auf dem besten Wege, schwul zu werden, weil ein Junge nun mal Fußball anschaut im Fernsehen.

Amy konnte sich gleich einer Schlange um die Stange winden, genau im Rhythmus der Musik. Aber es erregte mich nicht. Ich genoss schlichtweg den Anblick. Sie war sogar imstande, sich mit ihren Schenkeln an der Stange so festzuklammern, dass sie kopfüber daran hing. Aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, wie Carmen hereinkam, sich auf das Sofa setzte, wartete, bis die Musik aufhörte, Amy ihren Tanz beendete. Ich pfiff anerkennend durch die Zähne.

„Du hast es wirklich drauf“, stellte ich voller Anerkennung fest und Amy senkte etwas verschämt den Blick, bedankte sich.

Carmen stand auf, kam zu mir herüber, setzte sich auf die Lehne des Sessels.

„Lange nicht gesehen.“

Sie trug einen knallroten Kimono, ihre braunen Haare hatte sie locker im Nacken hochgesteckt, war dezent geschminkt, immer noch schlank und zierlich. Vielleicht lag es aber auch nur an der Tatsache, dass sie gerade mal 1,54 cm groß war, es ließ sie wie eine Kindfrau wirken.

„Ja, ist ’ne Weile her“, grinste ich. „Aber als ich auf dem Weg hierher war, habe ich gleich wieder an dich gedacht.“

„Immer noch der Charmeur“, lächelte sie, erhob sich, hielt mir die Hand hin. „Was ist? Kommst du?“

Ich folgte ihr auf das Zimmer, setzte mich auf den Rand des Bettes, während sie hinter einem Paravent verschwand. Der Raum war geschmackvoll eingerichtet, kein unnötiger Schnickschnack, keine erotischen Bilder an der Wand, nur die Dinge, die man für den Job brauchte – ein Doppelbett, eine Frisierkommode, ein Spiegel an der Wand darüber, ein Stuhl davor, ein Schrank, in dem das eine oder andere Spielzeug und Kleidung verstaut waren, ein Nachttisch, ein kleiner Mülleimer und der Paravent, hinter dem sich Carmen zurechtmachte.

„Du warst einige Zeit weg“, meinte sie. „Ich habe nur von Pjotr gehört, dass du herumreisen wolltest. Hast dich nicht mal von mir verabschiedet.“

Ich ging auf ihre Bemerkung zuerst nicht ein.

„Pjotr kommt immer noch hierher?“, fragte ich stattdessen überrascht.

Sie ahmte dessen russischen Akzent nach.

„Solange Natascha hier gearbeitet hat, war er bei gutes russisches Frau Stammkunde. Aber er wollte dieses Frau privat und sie wollte nicht. Er hat jetzt deutsches Frau, ich gehört und nichts gut“, kicherte sie und ich musste lachen.

„Ich treffe mich morgen mit ihm. Vova hat mich zum Essen eingeladen.“

Sie trat hinter dem Paravent hervor, trug jetzt weiße Sandalen, eine gleichfarbige Glitzerstrumpfhose, einen kurzen, karierten Faltenrock, eine Bluse, die sie ein Stück weit geöffnet hatte. Man konnte die Mitte zwischen ihren kleinen Brüsten erspähen und den rosafarbenen BH. Sie ging kurz zum Spiegel, nahm zwei Haargummis aus der Schublade, machte sich zwei Rattenschwänze, blieb vor mir stehen, die Hände hinter dem Rücken, die Beine überkreuzt, wie ein unsicherer Teenager.

„Und? In Ordnung so?“, wollte sie wissen.

Ich starrte sie an, fühlte, wie eine Welle der Erregung über meinen Körper glitt, welche ein Prickeln auf meiner Haut verursachte.

„Perfekt“, sagte ich, ließ meinen Mantel zu Boden gleiten. „Setz’ dich aufs Bett. Hast du etwas zum Lesen da?“

„Für dich?“, fragte sie verwirrt. „Ich wusste nicht, dass du zum Lesen …“

„Nein, für dich“, unterbrach ich sie. „Dummerchen. Und dann setzt du dich hin und liest.“

Sie öffnete die Schublade am Nachttisch, nahm ein Frauenmagazin heraus, setzte sich auf das Bett, streckte die Beine aus und blätterte in dem Magazin. Ich entledigte mich meiner Schuhe, stellte sie sorgsam nebeneinander ans Bettende, mein Jackett darüber, legte mich dann neben sie auf das Bett, den Kopf auf eine Hand gestützt. Mit der anderen Hand strich ich über ihren linken Unterschenkel. Carmen kannte die Wünsche ihrer Stammkunden und wusste genau, wie sie sich zu verhalten hatte. Viele wollten einfach nur schnellen Sex, manche nur reden, andere hatten Sonderwünsche, so wie ich. Mit Pjotr war ich oft zusammen hergekommen, manchmal hatten wir ganze Nächte hier verbracht. Der Champagner war, wie man so sagt, in Strömen geflossen. Doch während der Russe bis zum Exzess trinken und feiern konnte, war ich immer beherrscht geblieben. Sie wusste, für wen wir beide arbeiteten, denn Vladimir, den alle nur Vova nannten, hatte Anteile am Geschäft des Kurfürsten, nur Eingeweihte wussten davon. Carmen wusste, dass ich, ebenso wie sie, zwei Gesichter hatte – eines für den Job, eines für die Freizeit.

Meine Hand glitt unter ihren Rock und sie zuckte zusammen. Unser Spiel begann und so sah sie nicht von der Zeitschrift auf, als sie meine Hand wegschob.

„Nicht!“, zischte sie.

Ich ließ die Hand wieder unter den Rock gleiten, ertastete mit den Fingern ihren Slip durch die Strumpfhose.

„Lass’ das! Ich will das nicht!“, protestierte sie voller Überzeugung, rückte etwas weg, schob meine Hand wieder fort.

Ich zog meine Hand zurück, richtete mich etwas auf, so als wolle ich mich abwenden. Und ihr Gesichtsausdruck wirkte leicht zweifelnd. Vielleicht dachte sie, dass sie es übertrieben hatte.

„Sei ein braves Mädchen“, flüsterte ich, meine Lippen an ihrem Ohr. „Ich weiß doch, dass dir das gefällt. Ihr kleinen Mädchen seid doch alle gleich.“

„Wenn du es sagst …“, entgegnete sie, ließ die Zeitschrift sinken.

Ich griff die Zeitschrift, warf sie in den Raum, packte sie an der Hüfte, zog sie auf das Bett. Sie gab einen überraschten Laut von sich, als ich ihre Arme umfasste, herunterdrückte und ihren Hals küsste, ruppig und ungestüm. Sie versuchte, sich zu wehren, doch ich war stärker als sie, übte dennoch nicht zu viel Druck aus, um ihr nicht wirklich wehzutun.

„Nein!“, flehte sie gekonnt. „Bitte nicht! Ich will das nicht!“

Ich ließ ihre Arme los, sodass sie sich freistrampeln konnte, vom Bett herunterkrabbelte. Carmen kannte den Ablauf, doch baute sie kleine Variationen ein, damit es für mich interessant blieb. So krabbelte sie in die gegenüberliegende Ecke des Raumes, ließ sich einmal von mir auf dem Weg fangen, wobei ich ihre Hüften umfassen wollte. Doch sie strampelte sich frei, erreichte die Ecke, begann überaus schauspielerisch gekonnt zu weinen, versuchte, mich mit den Händen abzuwehren. Ich umfasste ihre Handgelenke, schleifte sie daran zum Bett zurück, während sie mit den Füßen strampelte.

Etwas unsanft zog ich sie auf das Bett, riss die Bluse auf, bedeckte ihre Brüste mit Küssen, den Bauch, zerrte an dem Rock herum.

„Warte!“, bat sie, öffnete ihn an der Seite, sodass ich ihn ihr abstreifen konnte. Sie ließ mich gewähren, als ich ihr die Strumpfhose auszog, ebenso die Sandalen. Beides landete achtlos auf dem Boden. Meine Hände zitterten, als ich ein Kondom aus der Schale auf dem Nachttisch fingern wollte, es aber nicht schaffte, weil mich die Erregung so sehr übermannte. Sie reichte mir eines. Unser Spiel machte mich verrückt, fast kam ich mir vor wie ein nervöser Schuljunge beim ersten Mal. Sie half mir meine Hose zu öffnen, die Umverpackung des Kondoms und ich senkte meinen Blick etwas verschämt. Selbst, als ich in sie eindrang, wich ich ihrem Blick noch aus. Carmen wusste, dass sie mir keine große Show vorspielen musste und sie stöhnte einmal kurz auf, als ihr Kopf unter meinem heftigen Bemühen gegen das Kopfende stieß.

„Lord have mercy …“, seufzte ich, ließ mich schließlich auf sie sinken, mit der rechten Handfläche streichelte ich ihren Kopf. „Tut mir leid. Ich war wohl zu lange abstinent.“

„Ist okay.“

Eine Weile lag ich auf ihr, dann erhob ich mich, zog meine Shorts hoch, die Hose und warf das Kondom in den Mülleimer. Dann setzte ich mich ans Bettende. Carmen krabbelte zu mir herüber, umfasste meinen Oberkörper, legte den Kopf an meinen Rücken.

„Willst du noch mal?“

„Heute nicht. Ben holt mich hier ab.“ Ich sah auf die Uhr, stellte fest: „Gleich.“

„Wollen wir unten noch etwas trinken?“

„Ein anderes Mal, Sweetheart.“ Ich zog mir meine Schuhe an, holte aus dem Jackett das Portemonnaie hervor. „Du hast doch eine kleine Tochter, oder?“

Carmen hielt inne, ließ mich schnell los, beugte sich zu mir vor, sodass sie mir ins Gesicht sehen konnte.

„Aljoscha!“, meinte sie entrüstet.

„Hältst du mich für so pervers?“, warf ich grinsend ein, wollte wissen: „Wie alt ist sie jetzt?“

„Neun. Meine Mutter passt auf sie auf, wenn ich arbeite. Ihr Vater hat sich leider vor vier Jahren aus dem Staub gemacht“, sagte sie trocken. „Er war eh ein Idiot.“

Ich holte einige Scheine aus meiner Brieftasche, gab sie ihr.

„Kauf’ der Kleinen von dem Rest was Schönes.“

Sie protestierte nicht, bedankte sich und sah mir zu, während ich mich weiter anzog, meinen Mantel nahm. Zum Abschied gab ich ihr einen Kuss auf die Stirn.

„Scheiß Spruch – aber ich rufe dich an.“

„Das sagen sie alle“, lachte sie.

Ben wartete schon neben dem Wagen auf dem Parkplatz, als ich aus der Tür kam. Es hatte aufgehört zu regnen, aber dunkelte bereits. Das Licht einer Straßenlaterne fiel auf Ben, der sich kaum verändert hatte. Er war immer noch der ewig gut gelaunte, schlaksige Typ mit den wuseligen blonden Haaren. Anders als ich, der viel Wert auf ein seriöses Aussehen legte, Markenanzüge trug und Designerschuhe, war er immer leger gekleidet – ausgelatschte Turnschuhe, eine stark beanspruchte Jeans, Pullover und eine abgewetzte, braune Lederjacke. Es passte zu seiner natürlichen, offenen und lockeren Lebensweise. Nur der Mercedes, mein Mercedes, das hellblaue 280er-SE-Coupé, passte nicht so ganz ins Bild.

„Hey, mein Alter!“, grüßte Ben mich, als er mich sah, kam zu mir und umarmte mich freundschaftlich, klopfte mir auf die Schulter. „Alles paletti?“

Ich erwiderte die Begrüßung, deutete auf den Wagen.

„Hast du ihn gut gepflegt?“

„Klar, Mann! Das Haus auch! Alles tipptopp!“, sagte Ben, holte den Zündschlüssel hervor. „Deine Koffer sind schon da.“

„Dann lass’ uns fahren! Ich bin etwas groggy.“

„Ja, ist klar. Du hast ja auch gerade eine kleine Party gehabt“, gackerte Ben.

Ich überhörte die Anspielung und ließ Ben ans Steuer ran. Wir fuhren auf der Landstraße in Richtung Bückeburg. Doch Ben fuhr nicht durch die Stadt, sondern gleich nach Bergdorf, den Stadtteil am Harrl, in die ehemalige Engländer-Siedlung. Mittlerweile waren viele der Häuser von Einheimischen aufgekauft worden, nachdem die Soldaten wieder in ihre Heimat zurückgegangen waren. Es lebten nur noch wenige englische Familien in dem Viertel. Mein Vater war Staff Sergeant, Unteroffizier, beim englischen Militär gewesen und ich bin hier groß geworden. Im nahe gelegenen Rinteln hatte ich die Prince Rupert School besucht. Nach einem Unfall schied mein Vater aus dem Militärdienst aus, wollte zurück nach Belfast. Meine Mutter sehnte sich auch nach der alten Heimat und ich blieb, kaufte die Haushälfte in der Breslauer Straße und als ich nun für einige Jahre wieder in Irland gewesen war, um mich um meine Mutter zu kümmern, überließ ich Ben das gesamte Haus, sozusagen als Verwalter. Zudem hatten wir schon vorher in einer Wohngemeinschaft darin gelebt.

Wir kannten uns schon seit unserer Jugendzeit. Er war mehr auf der Straße zu Hause gewesen und bald Dauergast bei uns. Wenngleich auch meine Eltern uns bald den Kontakt verboten, blieben wir dennoch heimlich in Verbindung. Bens Vater hatte seine Mutter geschwängert und dann für ihre jüngere Schwester sitzen gelassen. Seine Kindheit war nicht wirklich behütet gewesen. Die Mutter arbeitete und er war ein Schlüsselkind, das bald anfing, Mist zu bauen, um andere zu beeindrucken. Nach zwei Diebstählen zog die Mutter mit ihm nach Hamburg zu einer Tante.

Ben kehrte aber wieder zurück, nachdem sein Vater sich endlich um ihn kümmern wollte. Doch zwischen beiden kam es dauernd zum Streit, es war einfach zu viel Zeit vergangen. Im Grunde genommen waren sie sich fremd.

So las ich ihn schließlich auf, bot ihm an, mit mir im Haus zu wohnen. Ben war zwar ein Wirrkopf, aber man konnte ihn zu jeder Tages- und Nachtzeit anrufen, wenn man Hilfe brauchte und er stand parat.

Er parkte den Wagen neben dem Haus unter dem Carport, stellte den Motor ab, wandte sich an mich.

„Du, ich muss dir noch was sagen. Bevor wir reingehen … ich war im Sommer für zwei Wochen in den USA mit einem Bekannten und in Georgia habe ich jemanden kennengelernt. Sie arbeitete in einem Diner, ihr Name ist Norma Jean. Na ja, irgendwie kamen wir halt zusammen und wir haben uns immer mal wieder geschrieben …“

Er seufzte hörbar.

„Und?“

„Bei ihr zu Hause lief es nicht so und da hat sie ihr Erspartes genommen und ist jetzt hier“, er hob abwehrend die Hände. „Keine Angst! Ich kümmere mich um alles, du hast da nichts mit zu tun.“

„Sie wohnt jetzt mit im Haus?“, wollte ich entrüstet wissen, denn ich fühlte mich etwas überrumpelt. „In meinem Haus?“

Ben legte versöhnlich die Hand auf meine Schulter.

„Wir haben zwei Bäder, sie schläft bei mir und sie wird dir echt nicht auffallen.“

Ich sah ihm direkt in die Augen.

„Für wie lange?“, fügte ich hinzu. „Nicht, dass du mich hättest fragen können, ob mir das recht wäre oder so was Banales.“

„Sie hat ein Visum für drei Monate. Ich glaube, ich bin zum ersten Mal so richtig verknallt. Und es tut mir leid, dass ich es dir nicht früher gesagt habe“, er lächelte sein breitestes Lächeln. „Sie hat sogar gekocht. Extra, weil du heute ankommst.“

„Um mir in den Hintern zu kriechen …“, meinte ich tonlos, schüttelte den Kopf, stieg aus.

Ben schien sich seiner vollen Schuld bewusst, denn er geleitete mich zur Tür, folgte mir wie ein untertäniger Hund, schloss die Haustür auf, ließ mich zuerst eintreten. Es roch nach Essen, aber ich konnte den Geruch nicht sofort zuordnen. So blieb ich im Flur stehen, ließ mir von Ben den Mantel abnehmen, folgte ihm in die Küche.

„Norma, wir sind da, Süße!“, verkündete Ben, blieb neben der jungen Frau stehen, die am Herd stand, in einem Topf rührte.

Sie küssten sich etwas zu leidenschaftlich, dann drehte sie sich zu mir um. Ich wich augenblicklich zwei Schritte zurück. Norma war vielleicht 1,60 Meter groß, etwas rundlich um die Hüften. Sie trug eine dieser Hüfthosen, einen engen Pullover mit tiefem V-Ausschnitt, garniert mit einem prallen Dekolleté, keinem BH, unübersehbaren Speckrollen, die über den zu engen Hosenbund drängten. Ihre langen, blonden Haare waren schlecht blondiert, man sah den Ansatz ihrer eigentlich braunen Farbe, sie waren augenscheinlich ungekämmt. Vielleicht sollte es aber auch etwas punkig wirken. Ihr Gesicht war pausbäckig, zu stark geschminkt und ich zählte sofort eins und eins zusammen, als sie zu sprechen begann. Vor mir stand ein waschechter Redneck, eine Hinterwäldler-Braut aus dem Süden der USA.

„Hey,“, meinte sie freundlich, reichte mir die Hand. „Ich bin Norma. Du musst Aljoscha sein, Ben hat viel von dir erzählt. Ich hab’ was gekocht für uns als so ’ne Art Überraschung und weil ich doch jetzt hier wohn’. Aber ich wird’ keinen Stress machen.“

Ich erwiderte den Händedruck, räusperte mich lautstark und musste ein Lachen unterdrücken über ihren Anblick und die Art und Weise, wie sie sprach. Ihr Deutsch war ganz gut, aber sie übernahm die Redneck-Art aus dem Englischen.

„Du kannst Aidan zu mir sagen, Aljoscha nennen mich eigentlich nur gute Freunde und mein Boss“, erklärte ich, bemerkte sogleich, dass es vielleicht abwertend klang aus ihrer Sicht, wie ich es betont hatte, und fragte schnell. „Was … was gibt es denn?“

Aus den Augenwinkeln fiel mir die Unordnung in der Küche auf, der Abwasch, der sicher schon einige Tage nicht gemacht worden war.

„Ich habe Sketti gekocht!“, gestand sie triumphierend, „superoberlecker!“

Sie kicherte wie ein Schulmädchen.

Bevor ich nachfragen konnte, was da im Topf vor sich hinoxidierte, schob Ben mich ins Esszimmer, wo der Tisch schon gedeckt war – unspektakulär – Teller, Gabeln, Gläser, kein Tischtuch. Ich umfasste Bens Arm, flüsterte ihm zu: „Was ist das da in meiner Küche? Du hast einen Redneck hier reingeschleppt!“

„Sie ist ein bisschen einfach gestrickt, okay. Aber sie ist auch erst neunzehn und gib’ ihr einfach eine Chance. Bitte! Sie ist zwar kein wandelndes Lexikon, aber superlieb“, warf Ben etwas flehend ein.

„Meine Küche sieht aus wie nach einem Atomkrieg! Mir ist egal, was ihr beide so zusammen treibt und wenn du glücklich bist mit ihr – schön. Aber hier gibt es Regeln. Du weißt, dass ich Chaos hasse und sie ist ein lebender Tornado“, sagte ich trocken, deutete auf das anliegende Wohnzimmer, in welchem sich auf dem Glastisch DVDs und Zeitungen stapelten, ebenso auf dem Sofa. Der Boden war auch seit Längerem nicht gewischt worden, der Teppich voller Krümel. „Ich kriege Plaque, wenn ich das sehe!“

Ich ging zum Esstisch, setzte mich auf die Eckbank, zog ein Magazin unter meinem Hintern hervor, feuerte es auf den Boden neben mich.

„Bitte! Ich mache hier Ordnung, heute noch. Norma wird mir helfen. Ich hatte nur so viele Aufträge in der letzten Zeit von Volva, dass ich nicht dazu kam.“ Ben setzte sich auf den Stuhl vor dem Tisch. Norma kam mit dem Topf herein, stellte ihn salopp auf dem Tisch ab.

„Mahlzeit!“, quietschte sie vergnügt, ließ sich von mir den Teller reichen, füllte ihn mit einer undefinierbaren Masse aus Spaghetti, einem Gemisch aus gelblicher Flüssigkeit und Ketchup. Dann gab sie Ben etwas und füllte sich selbst den Teller. Ich wartete ab, bis sie saß, nahm die Gabel, stocherte in dem Matsch herum.

„Und was hast du da gezaubert?“

„Mein Lieblingsessen. Sketti. Spaghetti mit geschmolzener Butter und Ketchup – superlecker!“, erklärte sie, begann zu essen, sprach mit vollem Mund. „Meine Ma hat das oft gekocht für uns. Ich habe das Rezept von ihr!“

„Ah, du kochst also nach Rezept“, stellte ich ironisch fest, bemerkte, wie sie mich beobachtete und so nahm ich einen Bissen, versuchte, es herunterzuschlucken, doch fast übermannte mich der Ekel. Ich war nie ein Gourmet, aber die Mischung empfand ich als äußerst gewöhnungsbedürftig.

„Und?“, sie starrte mich erwartungsvoll an.

„Macht satt“, wehrte ich ohne jede Regung ab, nahm noch einen Bissen, schob den Teller weg. „Aber nicht meins, tut mir leid.“

Es schien sie nicht sonderlich zu stören, denn Ben schaufelte es in sich hinein, nahm sich noch Nachschlag. Ich stand auf, öffnete die Verandatür, trat nach draußen, zündete mir eine Zigarette an.

„Soll ich dir was anderes zu essen machen?“, fragte Norma freundlich. „Vielleicht ein Sandwich?“

„Gott bewahre!“, lachte ich, schüttelte abwehrend die Hand. „Ich koche mal die Tage für euch.“

„Aidan kann echt gut kochen“, bemerkte Ben, schenkte Norma aber sogleich einen versöhnlichen Blick, garniert mit einem Lächeln. „Du kannst auch sehr lecker kochen, Baby.“

„Jeder hat halt einen anderen Geschmack“, tröstete sie sich selbst.

Ich rauchte mit tiefen Zügen, schnippte den Rest der Zigarette in den Garten, kam wieder herein, sagte ihnen, dass ich müde sei und mich ausruhen wolle.

„Aber räumt hier noch auf!“, meinte ich noch streng, als ich nach oben in mein Zimmer ging.

„Wird gemacht, Sir!“, sagte Ben, salutierte mir mit der Hand am Kopf. „Ihre Koffer stehen oben in ihrem Zimmer, Sir!“

Nach einer Weile klopfte es zaghaft an meiner Zimmertür. Ich wollte durch die geschlossene Tür wissen, was los sei und Norma meinte, sie habe etwas für mich, fügte aber schnell hinzu, es sei von Ben.

„Komm’ rein!“, meinte ich gedehnt, ich ließ es nicht einladend klingen.

Norma betrat das Zimmer. Ich lag auf dem Bett, entspannte mich im Schein der Nachttischlampe, hatte mich meiner Sachen, bis auf die Schuhe noch nicht entledigt. Eine Hand hatte ich locker unter dem Kopf gelegt, spielte mit der linken mit meiner Krawatte. Die Ärmel meines Hemdes waren hochgekrempelt und sie konnte die Tätowierungen auf den Unterarmen erkennen. Sie trat an das Bett heran, hielt mir ein Tütchen hin. Ich machte keine Anstalten, es aus ihrer Hand zu nehmen, sodass sie an die Seite des Bettes treten musste. Und als ich es nicht aus ihrer Hand nahm, ließ sie es schwungvoll auf meinen Bauch fallen, wollte gehen.

„Danke“, sagte ich, griff das Tütchen mit dem weißen Inhalt, schüttelte es leicht. „Gib’ das weiter an Ben – ein netter Willkommensgruß.“

Sie zeigte auf die Tätowierungen.

„Was steht da?“

Ich hob die Arme etwas an, hielt ihr die Unterarme hin, ich sah, wie ihre Lippen sich bewegten, als sie auf dem rechten Lawless, auf dem linken Tony Montana las. Beides in schön verschnörkelter Schrift, es waren keine Billigtatoos. Sie stutzte.

„Wer ist Tony Montana?“, wollte sie völlig unverblümt wissen und ich sagte kurz, dass es aus dem Film Scarface sei.

„Kenne ich nicht …“, meinte sie leise.

Ich lehnte mich wieder auf dem Bett zurück, machte eine kurze Bemerkung darüber, dass ich mir das gedacht hatte, doch zu leise, als dass sie es verstehen konnte.

Norma blieb nahe der Tür stehen, wandte sich zu mir um. Ich schenkte ihr ein schiefes Lächeln.

„Du kannst mich nicht leiden, oder?“

„Ich kenne dich ja erst seit zwei Stunden, Mädchen!“, gab ich etwas überheblich zurück. „Aber wenn du meinst, dass du dich bei mir dadurch beliebt machst, indem du mir das Zeug bringst …“

Sie verdrehte die Augen, zeigte sich entrüstet.

„Deswegen habe ich es nicht gebracht! Ben hat gesagt, ich soll es dir geben, weil er …“

„Ruhig, Norma. Es ist mir eigentlich auch egal.“ Ich schwenkte das Tütchen hin und her, blickte sie auffordernd an. „Oder wolltest du was abhaben?“

Sie schüttelte energisch den Kopf, aber gleichzeitig lief ihr Gesicht rot an und sie senkte wie ein verschämtes Kind den Blick.

„Ben hat gesagt, es ist Koks und wir nehmen so was nicht. Wir kiffen nur ab und an.“

„Kiffen macht die Birne weich. Das ist etwas für pubertierende Kinder. Außerdem macht es antriebslos.“

„Wenn man ab und an einen raucht zur Entspannung …“

„Ich denke mal, du fühlst dich dann wie Courtney Love und Ben ist dein Kurt“, witzelte ich. „Sweet.“

„Du bist ganz schön arrogant“, bemerkte sie ernst.

„Erzähl’ mir was Neues“, ich lachte. „Du nimmst wohl immer alles ernst, was man sagt, oder?“

Sie zeigte mir den Finger und ich spielte den Verwunderten.

„Du kannst ja richtig böse sein!“

Dann setzte ich mich auf, griff in die oberste Schublade des Nachtschränkchens neben dem Bett, holte meine Brieftasche und einen kleinen Spiegel hervor, schüttete etwas von dem Koks darauf, zog die Visakarte aus der Brieftasche. Norma beobachtete mich dabei, wie ich mir zwei Lines legte, eine wegsniefte. Ihre Anwesenheit störte mich nicht. Ich gönnte mir nur ab und an etwas, sodass es mich noch kickte und merkte sofort, wie es meinen Kopf freimachte.

Doch erst nachdem ich mir die zweite reingezogen hatte, sah ich sie wieder an. Norma stand etwas unsicher da, ihr Gesicht drückte blankes Erstaunen aus. Man konnte locker davon ausgehen, dass sie zwar schon oft in Filmen gesehen hatte, wie Leute einen snieften, aber nie in der Realität.

„Willst du nun etwas abhaben, oder warum stehst du da rum?“, fragte ich völlig unbefangen, ließ es mehr wie eine Einladung klingen.

Ihre Angst vor diesen harten Sachen war aber wohl größer und sie wollte es nicht zugeben. Schnell deutete sie auf zwei Fotografien, die auf meinem Schreibtisch an der Wand standen. Das eine Foto zeigte eine junge Frau, die ebenso dunkle Locken hatte wie ich, die aber bis über ihre Schultern reichten. Sie lächelte. Das andere zeigte ein kleines Mädchen mit blonden Haaren, die zu zwei Zöpfen geflochten waren. Es saß auf einem Stuhl, hatte einen Teddybär im Arm und blickte sehr ernst drein.

„Sind das deine Frau und …?“

„Meine Zwillingsschwester und meine Tochter“, meinte ich ohne jegliche Emotion in der Stimme, setzte mich auf das Bett, lehnte den Kopf an die Wand. „Und bevor du weiter fragst – meine Schwester ist schon lange tot – zwei Tränen aufs Grab und ein Leck mich am Arsch, und meine Tochter lebt mit ihrer Mutter irgendwo in den USA.“

„Es tut mir leid, ich wollte nicht neugierig sein …“, gestand sie leise.

„Warst du aber.“

„Ich hatte auch einen Bruder, aber er starb als kleiner Junge.“

„Okay,“, meinte ich, lehnte mich etwas vor. „Norma, ich bedauere deinen Verlust, aber meine Schwester Siobhan hat sich umgebracht, weil ihr Freund sie abserviert hat und ich habe das Foto nur, weil meine Mum wollte, dass ich es bekomme. Und das Foto von meiner Tochter Anne hat mir ihre Mutter geschickt. Es war ein abgefuckter One-Night-Stand nach einer Kneipennacht in Hamburg und da war nichts zwischen uns. Sie war eine Touristin, sah gut aus und ich hatte Bock auf Sex. Das ist vielleicht mein Kind, okay, aber ich weiß nicht einmal, wo sie jetzt ist, was sie macht, weil es mir scheißegal ist. Zudem ist nicht einmal klar, ob es wirklich mein Kind ist. Und wenn du sonst nichts weiter willst, würde ich dich bitten, unten diese Schweinerei aufzuräumen und mich für heute in Ruhe zu lassen … danke!“

Es schien sie zu erschüttern, wie ich ohne jede Regung von den beiden Menschen sprach, sodass sie mich sekundenlang anstarrte, sich dann ohne ein weiteres Wort aus dem Raum entfernte. Sie lief die Treppe hinunter, ich hörte Ben und sie reden, aber ich ignorierte die Worte, obwohl sie nicht gerade leise war und ihre Stimme weinerlich klang. Nicht die erste Frau, die ich zum Weinen gebracht hatte. Das Koks sorgte dafür, dass es mir völlig egal war.

Ich streckte mich auf dem Bett aus, schloss die Augen. Es zog mich weg an einen warmen Sommertag, an dem die Möwen über der Außenalster kreisten, das Wasser sanft mit einem leichten Plätschern an das seichte Ufer gespült wurde und der Himmel so klar und wolkenlos war, als könne man in das sanfte Blau eintauchen. Es war warm und die Szenerie wirkte wie in einem dieser alten Super-8-Filme. Viktoria stand neben dem Buggy, ließ den Blick über die Alster gleiten. Ein seichter Wind glitt vom Wasser herüber, spielte mit ihrem langen, hellroten Haar, welche sie offen trug. Mit einer unbewussten Geste ihrer rechten Hand strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht, wandte mir den Blick zu. Ich schaute in ihre grünen Augen, das Gesicht. Ihre Haut wirkte durch die roten Haare sehr hell, fast wie Porzellan. Ungleiche Sprenkel von Sommersprossen zierten es und ich stellte mir sekundenlang vor, wie es wäre ihre zartrosa Lippen zu küssen. Einfach nur, um zu wissen, wie sie sich anfühlten. Ich fand sie attraktiv, aber nicht sexuell anziehend.

Die Kleine brabbelte in dem Buggy vor sich hin, streckte die kleinen Fingerchen zum Wasser aus und es lag so viel Liebe darin, als Viktoria sich neben den Buggy hockte, dem Kind erklärte, dass das Wasser viel zu tief sei, dann auf die Möwen deutete.

„Wenn sie in unser Haus fliegen, haben wir immer Glück und Geld“, sagte sie zu der Kleinen und ich vernahm ihre Stimme, die so sanft klang, obwohl ich nichts von diesem russischen Aberglauben, von solchen Dingen generell hielt. Sie nannte die Kleine Solnishko Sonnenschein.

„Du hast beides“, meinte ich zu ihr, schenkte ihr ein Lächeln, welches sie erwiderte.

„Ja, Aljoscha, mein Leben ist vollkommen.“

Und ich wusste in jenem Moment, welche tiefe Bedeutung diese Vollkommenheit für sie hatte, denn Vova hatte sie aus einem Bordell in Moskau geholt. Aus der Tochter eines Trinkers, der sein Kind an einen Zuhälter verkaufte, war die Frau eines Geschäftsmannes geworden. Ihr Mann legte ihr die Welt zu Füßen und das Kind rundete ihr Glück ab. Auch wenn Viktoria nur von seinen legalen Geschäften wusste …

Der Film riss und ich fand mich mit Pjotr im Wagen wieder, auf dem Rückweg vom Flughafen, wo wir Vova abgesetzt hatten. Er liebte es wie alle Russen, seine Angestellten mit Kosenamen zu belegen. So war aus mir Aljoscha geworden. Pjotr wurde von ihm manchmal Homjatschjok genannt, Hamsterchen, weil er auf den Touren während der Fahrt ununterbrochen Unmengen von Sonnenblumenkernen futtern konnte. Er war der einzig echte Russe.

Es war ein erster, warmer Frühlingstag und bevor sich unsere Wege an diesem Abend trennten, mussten wir noch die Einnahmen beim Club abholen, dann den Wagen zu Vovas Villa zurückbringen, die an der Außenalster lag.

Im Club wurden wir von Mikosch empfangen, der eigentlich Mike hieß und uns die Tageseinnahmen aushändigte. Er bemerkte, dass nicht viel los gewesen sei. Dann lud er uns auf einen Drink ein, doch ich lehnte dankend ab. Pjotr stand wie angewurzelt vor der Bühne, sah einer drallen Blondine bei ihrem Tanz an der Stange zu und war bereits kurz davor sich zu setzen, als ich ihn aufforderte zu gehen. Er hätte zu Hause Wein und da brauche er nun kein Wasser trinken, neckte ich ihn.

Pjotr machte auf der Rückfahrt Witze über seine neue Freundin, seine erste deutsche. Er klärte mich darüber auf, wie sehr sich russische Frauen von deutschen unterschieden – bei der Wahl der Kleidung, beim Auftreten in der Öffentlichkeit und natürlich im Bett.

„Russische Frauen machen sich schick, egal ob Einkaufen oder Kinder spazieren fahren, sie legen Wert auf Äußeres. Selbst, wenn sie zu Supermarkt gehen, immer schöne, hohe Schuhe, geschminkt, dezent. Aber deutsches Frau sitzt in Leggings und weites Shirt auf Sofa, wenn ich komme nach Hause und geht auch so zu Einkauf.“ Er wirkte sichtlich genervt, fuchtelte mit den Händen in der Luft herum, während er redete. „Verstehst du, was ich meine?“

Ich sorgte mich eher darum, dass Pjotr sich mehr aufs Fahren konzentrieren sollte, schüttelte den Kopf, deutete auf das Lenkrad.

„Dann schieß’ sie ab und jetzt pass’ lieber auf die Fahrbahn auf!“, wandte ich ein. „Ich habe keine Lust, die Nacht im Krankenhaus zu verbringen.“

„Ja, ja“, meinte er. „Dass du mit Frauen nicht an Hut hast, weiß ich.“

„Ich habe zurzeit einfach keinen Bock auf den Stress. Mir reichen deine Geschichten“, witzelte ich. „Von deiner Biksa.“

Wir waren fast aus der Stadt raus, als mein Handy klingelte. Ich sah auf die Nummer, bemerkte kurz, dass der Anruf aus Vovas Haus kam, bevor ich das Gespräch annahm.

„Warum ruft an? Bitte nicht wieder Botengang für Frauchen …“, jammerte Pjotr.

Ich deutete ihm mit einem Knuff an die Schulter zu schweigen, meldete mich und hörte zuerst nur ein Rauschen in der Leitung. Ich wollte schon wieder auflegen, als ich Viktorias Stimme hörte.

„Ich wollte nur fragen, wann ihr wieder hier seid und ob ihr mir noch etwas mitbringen könnt.“

„Wir sind gleich da“, stellte ich mit einem Blick auf meine Uhr fest. „Die Geschäfte haben aber schon zu.“

„Nein. Von der Apotheke. Shura hat etwas Fieber und ich brauche Saft dagegen. Vielleicht bekommt sie Grippe.“

Sie nannte ihre kleine Tochter Alexandra liebevoll Shura. Ich fragte sie, wie der Saft hieße, meinte kurz zu Pjotr, dass er noch an einer Apotheke vorbeifahren sollte, als sie am anderen Ende sagte, ich solle kurz warten, es sei jemand im Garten. Ihr kleiner Terrier bellte, dann klang es, als würde Glas splittern. Viktoria begann zu schreien.

„Was wollen Sie?“, ihre Stimme überschlug sich geradezu panikartig. „Nein! Bitte nicht!“

Wieder ein Splittern. Der Hund bellte immer noch, dann ging das Bellen in ein klägliches Winseln über und verstummte plötzlich. Ich hielt das Handy zu Pjotr hin, der mich fragend ansah, Viktorias Schreie hörte und die Stimme eines Mannes, der auf Russisch mit ihr sprach.

„Was?“, wollte ich wissen. Zu jener Zeit verstand ich nur wenig Russisch.

„Er sagt, sie soll Schnauze halten! Und sie sei Hündin und er wird es ihr zeigen.“

Pjotr gab Gas, nahm eine Abkürzung.

„Verdammt! Fahr zu!“, forderte ich ihn auf, denn wir beide ahnten, dass im Haus gerade etwas Schreckliches vor sich gehen musste und wir waren hilflose Zeugen am Handy. Keiner von uns wagte zu sprechen. Es war unser Job, sie zu beschützen. Nun waren wir gerade dabei, es zu verkacken.

Pjotr schnitt die Kurven und ich fand es irgendwie ironisch, gerade in diesem Moment einen Gedanken daran zu verschwenden, dass die Polizei uns wegen überhöhter Geschwindigkeit anhalten könnte.

Viktoria schrie nicht mehr, man hörte sie nur noch etwas flüstern, in ihrer Not verfiel sie ins Russische.

Pjotr wollte es übersetzen, doch ich hob die Hand, wehrte ab. Ich war innerlich, ebenso wie er, nur getrieben von dem Verlangen, den Kerl auf frischer Tat zu ertappen und fertigzumachen. Ich brauchte nicht in Pjotrs hasserfülltes Gesicht sehen, um zu wissen, dass er ebenso empfand. Dennoch schien es eine schiere Ewigkeit zu dauern, bis wir das Haus erreichten, auf der Einfahrt anhielten, aus dem Wagen sprangen. Wir hatten beide eine Waffe. Pjotr lief links um das Haus herum, ich rechts. Die Verandatür war eingeschlagen, das Licht im Esszimmer brannte, ebenso in der danebenliegenden Küche. Pjotr schlich hinein, die Waffe gezogen. Ich folgte ihm mit entsicherter Waffe. Der kleine Terrier lag mit eingeschlagenem Schädel auf dem Küchenboden, überall waren Glassplitter, Blut. Pjotr warf mir einen Blick zu und gab mir zu verstehen, dass er nach oben ging.

„Shura …“, flüsterte ich ihm zu und ging über den Flur, fand die Tür des Wohnzimmers leicht geöffnet, betrat den Raum. Der Fernseher lief und die Stehlampe in der Ecke war eingeschaltet, aber umgekippt und warf einen Lichtschein auf die Person, die bäuchlings auf dem Teppich zwischen Sofa und Couchtisch lag. Überall waren Blutspritzer. Ich beugte mich zu ihr hinunter, hob den seidenen Bademantel an, den ihr Angreifer achtlos über sie geworfen hatte, stellte fest, dass sie noch atmete. Ihre rötlichen Haare bedeckten ihren Rücken, sie trug nur ihre Unterwäsche und ich warf nur einen kurzen Blick auf den geschundenen Körper, legte den Bademantel über sie. Dann kniete ich mich neben sie, drehte sie vorsichtig auf den Rücken. Ihre grünen Augen blickten mich hilfesuchend an. Man hatte sie mehrmals ins Gesicht geschlagen, die Stellen waren wie Male blau angelaufen. Ich hob sie ein Stück weit auf meine Knie, hielt sie in den Armen.

„Es wird alles wieder gut …“, hörte ich mich hilflos sagen und kam mir vor, wie einer dieser überzogenen Charaktere in den Krankenhausserien.

Über mir polterte es, ein Schuss fiel, Pjotrs Stimme erklang, wieder ein Schuss, dann hastete jemand die Treppe runter. Für Sekunden wünschte ich mir, irgendwo anders zu sein, egal wo. Nur nicht hier an diesem unheiligen Ort. Sie legte die Hand auf meinen Arm, ich beugte mich tiefer zu ihr hinab, um zu verstehen, was sie sagte: „Mein kleines Mädchen … wo ist sie?“

Bevor ich antworten konnte, wurden ihre Augen glasig und sie lag wie eine leblose Puppe auf meinen Knien. Ich fühlte wie ein eiskalter Schauer meinen Rücken hinablief, etwas in meinem Magen rumorte, als ihre Seele ihren Körper verließ. Bevor ich mich fangen konnte, tauchte eine vermummte Gestalt im Türrahmen auf. Ich sah zu spät die Waffe in seiner Hand, hörte den Knall, dumpf, Schalldämpfer, dachte ich, ich spürte, wie die Kugel in meine linke Schulter eindrang, mich nach hinten gegen den Tisch, das schwere Holz, schleuderte. Viktorias Körper klatschte zu Boden, ich spürte den Schmerz, doch ich griff nach meiner Waffe, zielte auf den anderen, drückte ab. Ich verfehlte ihn, die Kugel ließ das Holz des Türrahmens splittern, der andere wich aus, blieb aber verwundert stehen, da ich mich noch auf allen Vieren hinter einen Sessel flüchten konnte. Er ließ es sich nicht nehmen, weiterhin auf mich zu schießen. Etwas zischte an meinem Kopf vorbei, Glas splitterte und ich meinte, es sei eine der kostbaren Vasen im Wohnzimmer gewesen. Ich duckte mich. In meinem linken Ohr war ein Rauschen, ein Stechen knapp darüber. Mit einer kurzen Bewegung fasste ich mir an den Kopf, sah das Blut auf meinen Fingern – zwei Treffer. Das musste mein Glückstag sein.

Pjotr rief nach mir. Ich beugte mich seitlich am Sessel vor, zielte auf die Gestalt im Türrahmen, doch der andere schoss bereits wieder. Der Sessel fing die Kugeln ab. Dann warf sich Pjotr von hinten auf den Kerl, der etwas größer als er war, kräftiger gebaut. Ich wollte ihm zu Hilfe eilen, als ich ein leises Weinen hörte, zur Seite sah und die Kleine hinter dem Sofa an der Wand bemerkte. Sie hatte die Hände an die Ohren gepresst, saß dort mit angezogenen Knien, weinte. Shura kannte mich, wollte zu mir kriechen, doch ich deutete ihr, sitzen zu bleiben, schnellte hinter dem Sessel vor. Pjotr und der Kerl prügelten sich an der Verandatür, bis ihm der andere einen Tritt verpasste und in den Garten floh.

„Ich mach’ das schon!“, schrie Pjotr, als er das Blut an mir bemerkte, lief ihm mit gezogener Waffe nach. „Such’ die Kleine!“

„Sie ist hier!“, rief ich ihm nach, ging zurück zu dem Kind. Sie ließ sich bereitwillig von mir auf die Arme nehmen. Ich drückte ihren Kopf an meine rechte Schulter, sodass sie ihre tote Mutter nicht sehen konnte, trug sie aus dem Zimmer, in den Flur, setzte mich dort auf den Stuhl neben dem Telefontischchen mit ihr. Das Telefonkabel war aus der Buchse herausgerissen. Die Kleine war erst sechs Jahre alt und ich hoffte, dass sie nicht alles mit angesehen hatte, obwohl dies unwahrscheinlich war. Es wunderte mich, dass der Kerl sie verschonte, oder vielleicht war ihr Versteck einfach perfekt gewesen. Sie weinte nach ihrer Mutter, klammerte sich an mich. Pjotr erschien wieder im Haus.

„Er ist weg. Verdammt!“, bemerkte er. “Ist die Kleine okay?”

„Bis auf den Schock, denke schon“, gab ich zurück, spürte, wie mir flau im Magen wurde. Das warme Blut lief pulsierend an meiner Schulter hinab. Doch ich versuchte, mich zusammenzureißen. Mein Kopf schmerzte.

„Sie hat die Alarmanlage nicht eingeschaltet“, bemerkte Pjotr mit einem Blick auf die Anlage neben der Tür. „Ich rufe die Polizei …“

Shura berührte mit ihren Fingern meinen Kopf.

„Du hast da ein Aua …“, meinte sie mit weinerlicher Stimme.

Pjotr nickte mir zu, tippte sich selbst an die rechte Seite seines Kopfes und erst jetzt bemerkte ich, dass auch Blut an meinem Hals hinabrann.

Mir wurde schlecht, meine Gedanken entglitten mir langsam, angestrengt versuchte ich, gegen das Gefühl ohnmächtig zu werden anzukämpfen, aber es gelang mir nicht.

„Pjotr … nimm die Kleine …“, war alles, was ich noch hervorbrachte, bevor alles um mich herum verschwamm. Weit entfernt fühlte ich, wie Pjotr mir das Kind abnahm, dessen Weinen dumpf an mein Ohr tönte. Meine Augen blickten zu Boden, aber ich konnte nichts richtig erkennen. In meinen Ohren schwoll ein Rauschen gleich Meereswellen an. Meine Hände umklammerten die Lehne des Stuhls, dennoch hatte ich das Gefühl, nach vorne zu fallen. Ich schloss instinktiv die Augen, konnte meinen Kopf nicht mehr oben halten. Mit dem Rauschen trieb ich davon, ohne jegliches Gefühl für Zeit. In mir war keine Angst, denn in meinem Job war kein Platz für die Furcht vor dem Tod. Es war nicht plausibel. Zudem war ich mir sicher, dass ich nicht sterben würde und selbst wenn, verursacht durch einen simplen Fingerzeig des Schicksals, ein kurzes Schnipsen vielleicht, wäre es völlig okay gewesen. Ich fand es von jeher abschreckend, sich ins Bett zu legen, den Kopf voller Pläne für den nächsten Tag, und morgens nicht mehr aufzuwachen. Und musste in jenem Moment an meinen Vater denken, der meiner Mum noch versprochen hatte, mit ihr nach London zu einer weihnachtlichen Shopping-Tour zu fahren. Tagelang konnte sie über nichts anderes reden und dann sagte er ihr abends Gute Nacht und das war’s. Was er wohl in jener Nacht geträumt hatte? So wollte ich das nicht. Ich wollte das alles gewissermaßen live erleben.

Aus diesen Gedanken riss mich eine Stimme, jemand rüttelte an mir und ich bemühte mich zu verstehen, doch griff nur Wortfetzen auf. Es musste wohl ein Notarzt sein, der da vor mir stand. Er sprach von einer Schussverletzung am Herzen. Sein Gezerre, seine Bemühungen waren mir zuwider.

„Dextrokardie …“, stieß ich hervor und er schien mich zu hören, denn er hielt inne, verlangsamte seine Bemühungen.

Man wollte mich vom Stuhl fortziehen, doch ich klammerte mich weiter daran fest. Die Schmerzen störten mich nur insofern, als, dass sie mich handlungsunfähig machten, mir die Selbstbeherrschung, die Kontrolle über mich selbst nahmen.

Jemand gab mir eine Spritze, ich spürte den Einstich und in mir breitete sich eine Leichtigkeit aus.

Als ich im Krankenhaus wieder erwachte, waren vier Tage vergangen. Pjotr saß an meinem Bett und sagte mir, dass es der Kleinen gut ginge, körperlich zumindest und, dass es wahrscheinlich jemand aus der Russenmafia gewesen war, der Viktoria auf dem Gewissen hatte, um Vova zu schaden oder einzuschüchtern. Es gab damals ein paar Emporkömmlinge aus Sibirien, Deutsch-Russen, die ihr eigenes Business pushen wollten. Mehr wussten wir nicht und wir stellten auch keine Fragen. Der Kerl wurde nie gefasst und Vova zeigte sich, trotz seines Verlustes, uns gegenüber sehr dankbar, besonders da ich es mir nicht nehmen ließ, zu Viktorias Beerdigung zu erscheinen, obwohl ich eigentlich auf Anraten der Ärzte noch im Krankenhaus bleiben sollte.

Kurz vor dem Überfall hatte meine Mum mir gesagt, dass man bei ihr Krebs diagnostiziert hatte. Sie litt an einem Hirntumor und ich brauchte Abstand. So bat ich Vova um eine Auszeit.

Unsere Wege trennten sich mit kurzen Unterbrechungen für sechs Jahre. Ich erledigte für ihn ab und an Aufträge im Ausland. Er zog bald darauf von Hamburg nach Bückeburg mit der Kleinen, wo er gute Kontakte hatte.

Es heißt, man sei die Summe aller seiner Erlebnisse. Es gehörte zu meiner Geschichte, so wie jeder Mensch seine Geschichte selber schreibt. Ich konnte das alles nicht vergessen, wenn ich an Viktoria dachte. Und wenn mein Geist mich mit der Erinnerung fütterte, schmerzte es. Der Schmerz war nicht physischer Natur, es war mehr ein psychischer Schmerz, der Schmerz des Versagens, weil ich sie nicht hatte beschützen können. Denn eigentlich war das meine Aufgabe gewesen, eine von vielen, aber die Wichtigste.

„Aidan!“, Bens Stimme neben mir, er rüttelte an meiner Schulter. „Hey!“

„Was ist denn?“, wollte ich genervt wissen, öffnete die Augen nur spaltbreit, drehte mich auf die Seite.

„Du hast meine Süße ja ganz schön abgefertigt. Kannst du nicht wenigstens versuchen, mit ihr klarzukommen? Wir haben alles sauber gemacht und wollen jetzt noch in die Stadt, ein bisschen Party machen. Willst du mit?“ Er sagte es ohne jeden Groll in der Stimme, denn es lag nicht in seiner Natur, wütend zu sein. Manches schien ihn zwar zu treffen, aber er sah immer alles locker. Kleine Differenzen, über die man sich nicht zu sehr aufregen musste. Reine Zeitverschwendung aus seiner Sicht.

„Ich bin nicht in Stimmung“, meinte ich. „Lass’ mich chillen, okay? Sag’ Norma, ich bin müde und vielleicht einfach nicht in Stimmung für neue Bekanntschaften.“

„Quatsch, Alter!“, lachte er. „Komm’ schon! Wir feiern, dass du wieder im Lande bist.“

„Ich muss morgen zum Essen zu Vova und mir ist nicht nach Feiern“, protestierte ich, doch er ließ nicht locker.

„Bist du ein Mann, oder ein Ersatzteil?“, zog er mich auf, zerrte an meinem Arm. „Na, los!“

„Aber nur für ein, zwei Stunden“, meinte ich, „und wir müssen in die Stadt laufen. Ich habe mir schon dein Willkommensgeschenk gegönnt.“