Vom Autorenteam bisher bei KBV erschienen:

Mörderisches Münsterland

Außerdem von Sandra Lüpkes bei KBV erschienen:

Wer tötete Fischers Fritz?

In Hermanns Schatten

Die Auftragskillerin

Sandra Lüpkes, * 1971, ist als erfolgreiche Schriftstellerin vielseitig unterwegs und hat neben ihren Kriminalromanen und Kurzkrimis auch was für’s Herz (u. a. Das kleine Inselhotel) und Sachbücher geschrieben. www.sandraluepkes.de

Jürgen Kehrer, * 1956, ist mit neunzehn Romanen und zahlreichen Drehbüchern der geistige Vater des münsterschen Privatdetektivs Georg Wilsberg. Außerdem hat Kehrer historische Kriminalromane und Sachbücher veröffentlicht. www.juergen-kehrer.de

Beide leben in Berlin und schreiben auch gemeinsam – allerdings nur Drehbücher, beispielsweise für die ZDF-Reihen Wilsberg und Friesland, sowie heitere Familiengeschichten. Mit ihrem Musik- und Lesungsprogramm Was sich liebt, das killt sich sind sie im gesamten deutschsprachigen Raum unterwegs.

www.textundton-kulturbuero.de

Sandra Lüpkes & Jürgen Kehrer

Originalausgabe

INHALT

Sandra Lüpkes»Schatz, wir müssen noch

& Jürgen Kehrerdas Vorwort …«

Sandra LüpkesDer Schatz im Aasee

Jürgen KehrerHohe Berge

Sandra LüpkesWenn der Frostmann zweimal klingelt

Jürgen KehrerDer Krötenmann

Sandra LüpkesLangeooger Motettenmord

Jürgen KehrerSturmjagd auf Helgoland

Sandra LüpkesMultiple Choice

Jürgen KehrerDu bist tot, Wilsberg

Sandra LüpkesKeiner isst bei Witwe Winkler

Jürgen KehrerMystische Fußreise

Sandra LüpkesBlinkendes Herz

Jürgen KehrerWilsberg und das silberne Herz

Sandra LüpkesPsychosomatisch

Jürgen KehrerSultan-Badeservice »Deluxe«

Sandra LüpkesSpaltenfrost

Jürgen KehrerAmeisenschenkel und Murmeltierkot

Sandra LüpkesDie Sehnsucht nach Amrum

Jürgen KehrerWurstklauer und Türschlitzschnüffler

Sandra LüpkesAttrappenmörder

Jürgen KehrerVon Schleim bis Hammerhart

SCHATZ, WIR MÜSSEN NOCH DAS VORWORT …

Jürgen:Wir müssen noch das Vorwort schreiben, Sandra.

Sandra:Ach! Ob ich das wohl schon letzte Woche gesagt habe?

Jürgen:Aber es steht erst diese Woche auf meiner To-Do-Liste.

Sandra:(rollt mit den Augen) Machen wir irgendwas mit Kriminalstatistik. Google mal!

Jürgen:Das Internet ist hier im Wohnzimmer ganz schlecht. Aber die meisten Morde sind Beziehungstaten. Wie viel Prozent genau, weiß ich gerade nicht. Schreiben wir erst mal XY und recherchieren das später.

Sandra:Du oder ich?

Jürgen:Erst muss ich noch den Müll rausbringen, aber dann.

Sandra:Wir beide fallen sowieso aus der Statistik. Weil wir uns fast nie streiten.

Jürgen:Schreiben wir jetzt ein Vorwort, oder führen wir ein Beziehungsgespräch?

Sandra:Die Leute denken bestimmt, dass wir uns ständig streiten, weil wir den ganzen Tag aufeinander hocken, zusammen leben, Drehbücher schreiben, Lesereisen machen – und jetzt wieder eine gemeinsame Krimisammlung rausbringen.

Jürgen:Dabei sind Krimiautoren sooooo friedlich. Statistisch gesehen viel harmloser als Liebesromanautoren.

Sandra:Sagt wer?

Jürgen:Die Verlagsleute. Und ich.

Sandra:Weil wir die Aggressionen in unseren Geschichten ausleben.

Jürgen:Man kriegt ja genug mit, wenn man so viel unterwegs ist wie wir. Die Konflikte liegen quasi auf der Straße.

Sandra:Ich liebe es, mit dir in einem Café oder im Hotel Leute zu beobachten und sich zu überlegen, was die wohl für Probleme haben. (überlegt) Aber was die wohl über uns denken?

Jürgen:Dass wir total unterschiedlich sind. Ich bin zum Beispiel viel strukturierter als du.

Sandra:Dafür fällt es mir leichter, ungewöhnliche Ideen zu entwickeln.

Jürgen:Okay, dann haben wir das ja geklärt.

Sandra:Aber noch mal kurz nachgefragt: Findest du mich wirklich so chaotisch?

Jürgen:Nein! Natürlich nicht! Können wir jetzt weitermachen?

Sandra:Die Leser wollen bestimmt erfahren, worüber wir uns streiten – wenn wir uns mal streiten.

Jürgen:Meistens passiert das, wenn wir auf Reisen sind.

Sandra:Stimmt. Und zwar über die Frage, wo man auf langen Autoreisen Pause macht. Du willst immer in diese unpersönlichen Raststätten.

Jürgen:Ja, weil es da die leckersten Kohlrouladen gibt.

Sandra:Hmm, und zwar bei dreißig Grad im Schatten. Es ist doch viel spannender, mal von der Autobahn abzufahren und einfach zu gucken, was da in diesen unbekannten Orten so los ist.

Jürgen:Meistens ist da ja nichts los. Und es kostet viel mehr Zeit.

Sandra:Einigen wir uns auf einen Kompromiss.

Jürgen:Okay, Hinfahrt bestimme ich, Rückfahrt du.

Sandra:Prima.

Schweigen

Sandra:Mann, sind wir öde.

Sandra Lüpkes

DER SCHATZ IM AASEE

Akademiker i. R., 65, gut sit., sucht …

Prof. Dr. Ottokar Krukenkamp legt den Füllfederhalter kurz zur Seite und denkt nach.

Schatz ist an erster Stelle. Bei Männlein und Weiblein.

Schatz, Schatzi, Schatzilein.

Egal ob Norden, Süden, Osten, Westen.

Egal ob Backfisch oder Goldhochzeitspaar.

Schatz führt sie an, die Liste der beliebtesten Kosenamen Deutschlands.

Dies ist schon so gewesen, als er begonnen hatte, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. Und das liegt immerhin mehr als dreißig Jahre zurück. Genauer: Seitdem er seinen Lehrstuhl in Germanistik an der Westfälischen-Wilhelms-Universität zu Münster innehat, beschäftigt er sich mit Hypokoristika, also Worten oder Ausdrücken mit zärtlicher Bedeutungskomponente. Das ist sein Steckenpferd und seine Profession.

Prof. Dr. Ottokar Krukenkamp erstellt Statistiken und Weiterentwicklungsprognosen, er untersucht Klanglaute und deren Wirkung auf Flora, Fauna, Säuglinge und Menschen unter Drogeneinfluss. Er vergleicht mit Schmeichelwörtern aus anderen Sprachfamilien. Er berechnet das Verhältnis von Konsonanten und Vokalen, auch in Bezug auf die Anzahl der Silben.

Und trotzdem landet er immer wieder bei »Schatz«.

Also: Akademiker i. R., 65, gut sit., sucht Schatz

Schatzimausi, Schatzibärli, Schatzihasi.

Es gibt jede Menge Kombinationsmöglichkeiten, wie man das Ganze noch – salopp ausgedrückt – aufpeppen kann. Nicht nur mit verniedlichten Tieranhängseln, sondern beispielsweise auch dank lokaler Note: Schätzgen, Schatzl, Schätzle. Oder als seltsame Reimkonstellation wie Schatzidatzi, Schatzelmatzel … die Variantenvielfalt versetzt ihn nach all den Jahren noch immer ins Staunen.

Die Ordner, in denen er sein Wissen zusammengetragen hat, ergeben eine stolze Breite, die Regale seiner Villa am Aasee sind vollgepackt. Gern hätte er alles an der Uni gelassen, doch die sagten, man könne das Ganze inzwischen auch viel effektiver in eine Datei eingeben, das fände alles locker Platz auf einem einzigen USB-Stick. Dort könne man vernetzen und verdichten, verklausulieren und verwalten. Aber das bringt Prof. Dr. Ottokar Krukenkamp nicht übers Herz.

Akademiker i. R., 65, aus Münster, gut sit., sucht Schatz, Chiffre 16072802

»Da, Chiffre 16072802 klingt doch gut«, sagt ihre Freundin und tippt mit dem Finger auf die schmalste aller Annoncen.

»Es wird nicht funktionieren.«

Aber das will ihre Freundin nicht hören. Seit Wochen, wenn nicht sogar Monaten redet sie ihr ins Gewissen. Und das Schlimmste: Sie hat recht, wenn sie sagt, dass es nur diese eine Chance gäbe.

»Er ist Akademiker. Was sollte er an mir finden?«

»Du hast doch mal auf Lehramt studiert.«

»Das ist lange her. Jahre bevor ich … na ja, du weißt schon.«

»Aber du liest doch ganz gern. Und wenn er schon 65 ist, kann er nicht wählerisch sein und ist bestimmt froh, wenn sich überhaupt eine bei ihm meldet.« Ihre Freundin ist nicht gerade die Charmanteste. »Er lebt in Münster, schöne Stadt, habe ich gehört. Und weit genug weg. Er wird eine eigene Wohnung haben, in die du möglichst bald einziehst. Wir suchen dir einen neuen Namen, einen, der richtig anständig klingt, und dann wird endlich alles gut, du wirst sehen.«

Da ist sie mehr als skeptisch. Aber das ist ihrer Freundin egal. Die weiß, es muss etwas passieren, und zwar schnell.

»Außerdem, weißt du, was ich richtig süß finde?«

»Was?«

»Dass er einen Schatz sucht. Klingt doch romantisch.«

»Jeder nennt jeden so, das hat nichts zu bedeuten.« Sie macht einen Bleistiftkreis um die Anzeige. »Sogar Roger nennt mich Schatz, selbst wenn er mich gerade in die Besenkammer sperrt.«

Mit einer solchen Flut von Zuschriften hat Ottokar Krukenkamp nicht gerechnet. Im Grunde ist er ohnehin völlig unvoreingenommen an diese Kontaktanzeigengeschichte herangegangen. Tausend Antworten hätten ihn ebenso überrascht, wie wenn sein Briefkasten leer geblieben wäre. Die 23 Schreiben sortiert er penibel. Diejenigen, die die Kommaregeln nicht beherrschen, haben keine Chance. Dann teilt er in neue und alte Rechtschreibung – er persönlich bevorzugt natürlich die alte, und da es hier um etwas sehr Persönliches geht, sind die Daß-mit-zwei-ss-Schreiberinnen auch aus dem Rennen. Die übrig gebliebenen drei Briefe durchforstet er nach Stilblüten – und findet bei zweien einen wahren Dschungel.

Mit der letzten Zuschrift trifft er sich heute zum Abendessen im Kleinen Kiepenkerl, einer traditionsreichen Gaststätte in der Nähe des Prinzipalmarktes, in der er schon als kleiner Junge mit seinen Eltern gespeist hat.

Sie heißt Maria, das gefällt ihm irgendwie, auch wenn er nicht unbedingt streng katholisch ist, es klingt so anständig.

Als Erkennungszeichen hat er sich etwas Verspieltes überlegt: Ein kleines Schatzkistlein liegt vor ihm auf der Tischdecke, ohne Inhalt noch, aber schließlich geht es bei diesem Treffen ja darum, den eigentlichen Schatz erst noch zu finden.

Eine Frau kommt herein, schlank, im Haar schon ein paar graue Strähnchen, die Brille goldumrandet. Er erkennt sie vom Foto und nickt ihr einladend zu. »Gestatten, Ottokar Krukenkamp!«

Sie bestellt drei Gänge und achtet dabei nicht auf den Preis. Er hingegen belässt es bei Leberbrot und Wurstebrot mit geschmortem Apfel, seiner Leib- und Magenspeise.

»Und was erwarten Sie von einer Frau?«, fragt Maria zum Abschluss ihres doch überraschend angenehmen Gesprächs. Sie ist nicht aufdringlich mit ihrem Wissen und belästigt ihn nicht mit ihrer Biografie. »Wer so viele Jahre allein durchs Leben geht, dem wird es nicht so leicht fallen, auf einmal eine Partnerin an seiner Seite zu wissen.«

Da hat sie durchaus recht, darüber hat er sich auch schon den Kopf zerbrochen. »Um es gleich klarzustellen: Für den Haushalt benötige ich niemanden, da habe ich eine junge Frau aus Polen, die kann putzen und bügeln und was sonst noch dazu gehört.«

»Und kochen?«

»Ich bevorzuge es, gepflegt essen zu gehen. Und für den Alltag bietet die Mensa eine hervorragende Auswahl.«

Das scheint Maria durchaus zu gefallen. »Suchen Sie also nur eine Partnerin für Gespräche und Freizeitgestaltung?«

»Eigentlich nicht«, antwortet Ottokar Krukenkamp, denn eigentlich hat er sich die bisherigen 65 Jahre auch ganz gut mit hoher Literatur und Selbstgesprächen unterhalten.

»Oder … etwa nur für … Sie wissen schon …« Maria rückt merklich von ihm ab.

»Wohin denken Sie, Gnädigste.« Er tupft mit der Stoffservierte über seine Mundwinkel. »Nein, ich suche eine Frau, die Schatz zu mir sagt.«

»Wie bitte?«

»Sie haben richtig verstanden. Sie dürfen mietfrei bei mir wohnen, es gibt ein geräumiges Zimmer mit eigenem Bad und Balkon. Haushalt und Verpflegung lassen Sie mal auch meine Sorge sein. Einzige Bedingung ist: Sie nennen mich Schatz.«

Sie sieht ihn an, als habe er etwas höchst Unehrenhaftes von ihr verlangt. Doch nach dem kleinen Kräuterschnaps, den sie sich gemeinsam gönnen, stimmt sie zu.

Und drei Wochen später zieht Maria bei ihm ein.

»Wir können nicht mehr telefonieren, es ist zu gefährlich«, sagt ihre Freundin.

»Beobachtet er dich?«

»Wenn es das nur wäre. Er steht stundenlang vor meiner Tür, passt mich nach Feierabend vor der Firma ab. Und immer will er wissen, wo du steckst. Mann, der Typ geht mir so was von …« Ihre Freundin seufzt. Damit haben sie beide gerechnet. Roger würde es nicht einfach so hinnehmen, wenn sie von der Bildfläche verschwände. Wäre es so einfach, dann hätte sie auch bloß die Koffer packen und ein paar Wochen nach Mallorca abrauschen können. Doch mit Roger ist es nicht einfach. Er ist ein Arsch. Ein verdammt gefährlicher Arsch.

»Und wie geht es so in Münster?«

»Ist okay.«

»Wird dein Ottokar nicht zudringlich?«

»Überhaupt nicht.«

»Super, dann hast du ja genau den richtigen … Verdammt, da ist Roger.« Man hört seltsame Geräusche durch den Hörer, die hektisch, fast panisch klingen. Sie erkennt Rogers Stimme. Er schreit nicht. Er schreit nie. Seine Aggressionen sind leise. Das macht sie nicht weniger bedrohlich. »Ich muss auflegen, hörst du? Und ruf mich nicht mehr an, das ist …«

Die Kollegen haben geunkt, es würde nichts werden. Er solle aufpassen, Frauen seien oft nur am Geld interessiert und suchten lebensfremde Männer wie ihn, die sie dann nach Strich und Faden ausnehmen könnten. Oder sie bräuchten womöglich einen Versorger, ließen sich heiraten und verbrächten den Rest ihrer Tage mit hochgelegten Füßen auf dem Sofa.

Nicht so Maria. Nein, das Leben mit ihr gestaltet sich angenehm. Bei gutem Wetter frühstücken sie morgens auf der kleinen Dachterrasse, von der man die Segelboote auf dem Aasee beobachten kann. Wenn sie dann den Tee einschenkt, sagt sie »Bitte, mein Schatz.« Und damit ist der Tag schon perfekt.

Sie zeigt sich an Kultur interessiert. »Schatz, wollen wir heute ins Picasso-Museum?« Wie klingt das schön. Oder: »Mir ist heute nach einem Spaziergang auf der Promenade, kommst du mit, Schatz?« Ist es nicht gleich weniger ärgerlich, wenn man hört »Schatz, es regnet«?

Je länger er mit dieser Frau zusammenlebt, desto besser versteht er, was es eigentlich auf sich hat mit diesen Hypokoristika. Da hat er jahrzehntelang wissenschaftlich mit Kosenamen gearbeitet, an ihnen herumgedoktert, ist Experte auf dem Gebiet wie kein anderer, doch worum es dabei eigentlich geht, versteht er erst jetzt, seit er privat Umgang damit pflegt. Und es macht ihn zufrieden, nein, wenn er länger darüber sinniert, macht es ihn sogar glücklich.

Nur einmal, da hatte sie ein »i« angehängt. Es ist Maria wohl nur so herausgerutscht, als sie am Samstag über den Domplatz schlenderten und an den Marktständen nach frischem Gemüse schauten, da hatte sie gesagt: »Mir ist nach Spargel, Schatzi.« Und gelächelt hatte sie dabei. Sofort waren sie nach Hause gegangen. Ohne Spargel und gute Laune. Er hatte lang mit ihr darüber gesprochen, über die Hypokoristika und wie viel ein solch überflüssiger Buchstabe zunichte machen kann vom Zauber. Schließlich ist es eine ganze Silbe mehr. Das bringt alles aus dem Gleichgewicht.

Maria ist folgsam. Nie wieder ist es ihr passiert. Nie wieder.

Das findet er erstaunlich. Stets hat er gehört und gelesen, die Frauen seien kompliziert und wenig verständig. Doch Maria passt sich geschmeidig seinem Leben an, formt sich um das Bisherige herum, stört nicht.

Bis er sie nach drei Monaten auch Schatz zu nennen beginnt.

Sie hat damit gerechnet. Nachdem ihre Freundin das letzte Telefonat so abrupt beendet und sich nie mehr gemeldet hat, ist ihr Blick wieder wachsam geworden, hat die Bürgersteige der Stadt abgescannt, die Passanten näher ins Visier genommen, mit mulmigem Gefühl am Morgen durch den Spalt der Vorhänge gelinst.

Und plötzlich steht er da, auf der anderen Seite der Annette-Allee, mit verschränkten Armen blickt er zu ihrem Fenster herauf und lächelt bösartig, als ihre Augen sich treffen. »Du entkommst mir nicht«, hört sie ihn denken. »Hast du tatsächlich geglaubt, du kannst in eine fremde Stadt gehen, bei einem fremden Mann einziehen, einen fremden Namen annehmen – und ich bin bereit, aufzugeben? Das müsstest du doch besser wissen. Keine gerichtliche Verfügung, kein Urteil, keine drohende Strafe hat mich je davon abgehalten, dir zu folgen, auf Schritt und Tritt. So ist es immer gewesen. So wird es immer sein.«

Sie ist unfähig, sich zu bewegen, als sei die Kraft aus ihren Sohlen geflossen, an den Hausmauern hinab, um sich direkt zu seinen Füßen in einer Pfütze zu sammeln.

Was soll sie tun? Um Himmels Willen, was soll sie bloß tun?

An einem Tag Ende des Sommers kommt Maria nicht wie üblich zum Frühstück und Ottokar wird schon bange, ob jetzt die Zeit anbricht, vor der die Kollegen gewarnt haben, die Zeit mit den hochgelegten Füßen auf dem Sofa.

Doch vielleicht ist sie auch krank, also klopft er am späten Vormittag sachte an ihre Tür. »Alles in Ordnung, Schatz?«

Sie antwortet nicht. Auch nicht auf mehrmaliges Nachfragen. Ottokar hat keine Ahnung, wie man sich in einer solchen Situation verhält. Vielleicht ist sie einfach unleidlich, will ihre Ruhe. Doch was, wenn Maria Hilfe braucht?

Eine halbe Stunde später hat er sich durchgerungen und drückt die Klinke. Im Zimmer ist es dunkel. Sie hat nicht nur die Gardinen vorgezogen, sondern auch die Außenjalousien heruntergelassen.

»Schatz, ich bin es«, sagt er. Statt einer Antwort hört er ein Schluchzen aus der Ecke, in der das Bett steht. »Darf ich Licht machen?« Da sie nicht antwortet, entscheidet er sich, lediglich die Leselampe am Sessel anzuknipsen. Vielleicht hat sie ja etwas mit den Augen?

Tatsächlich sind die rot und nass. Er setzt sich zu ihr auf die Bettkante und legt zögerlich seine Hand auf die Decke, unter der sie zusammengekauert liegt. Nie sind sie sich so nah gekommen. Körperlich eventuell schon, das meint er nicht. Sie ist sein Schatz, tatsächlich, das ist sie.

Gleichzeitig erschüttert ihn die Tatsache, wie wenig er sie kennt. Ottokar hat nicht die leiseste Ahnung, warum sein Schatz sich die Augen aus dem Kopf weint. Und sie ist nicht in der Lage, es ihm mitzuteilen.

Also steht er auf, kocht Tee, legt drei Nussplätzchen auf einen kleinen Teller und kommt damit zurück. »Du kannst mir alles sagen«, lautet der einzige Satz, der ihm passend erscheint.

Sie schnäuzt sich. »Da draußen …« Sie trinkt einen Schluck Tee. »Mein Exmann. Roger. Der steht da und wartet auf mich.«

Da zwickt etwas zwischen Ottokars Armen, wäre es nicht furchtbar pathetisch, würde er es für Herzschmerz halten. Das ist albern, es ist nicht schlimm, wenn sie schon einmal verheiratet gewesen ist. Sie hat es ihm schließlich nicht verheimlicht, sondern lediglich nicht erzählt. »Du kannst da ruhig hingehen. Das ist kein Problem für mich.«

»Da täuschst du dich. Roger ist ein Problem, und zwar ein verdammt großes.«

Es stört ihn nicht, dass sie so grob formuliert. »Soll ich hinuntergehen und mit ihm reden? So von Mann zu Mann?«

»Mein Schatz!« Sie lacht, obwohl sie todunglücklich ist. Dann beugt sie sich zu ihm herüber und küsst seine Wange. Feuchtigkeit bleibt an seiner Haut kleben, Rotz und Wasser.

Er steht auf, zieht seine leichte Strickjacke über und macht sich auf den Weg. Ottokar weiß, er ist kein Held, kein leidenschaftlicher Retter der Frauen. Er ist nur ein kopfgesteuerter Professor der Germanistik im Ruhestand, der sich zum ersten Mal verliebt hat.

Was will der Typ da? Ist das wirklich dieser nullpotente Intellektuellenschwanz, mit dem seine Alte es inzwischen treibt? Eine Visage, runzelig wie der Sack zwischen seinen Beinen. Roger schnippst die Kippe weg, sie landet im nächstbesten Schickimicki-Vorgarten.

»Entschuldigen Sie, sind Sie dieser Roger?«, fängt der an zu labern und hält ihm dann auch noch seine Hand entgegen. Fingernägel wie ein Weib, der hat noch nie einen Nagel in die Wand gehauen, jede Wette, wenn der überhaupt je genagelt hat. Roger muss lachen. Obwohl es schon scheiße ist, dass sich seine Alte lieber von einem Reptil begatten lässt als von ihm. Ja das macht ihn sauer, stinkwütend, und sein Lachen erstirbt.

»Wollen wir beide nicht einen kleinen Spaziergang machen und über alles reden?«, schlägt die Halbleiche allen Ernstes vor und zeigt auf diesen beschissenen See, auf dem alle arroganten Saftärsche mit ihren lächerlichen Schiffchen unterwegs sind.

»Warum nicht«, antwortet Roger, denn immerhin sind sie am Ufer nicht so auf dem Präsentierteller. Er kann für nichts garantieren.

Dann fängt der alte Sack an zu labern, von Liebe und Zärtlichkeit und so ’nem Scheiß. Roger versteht nicht, was der eigentlich von ihm will und als sie auf einer Brücke stehen, die zum gegenüberliegenden Ufer führt und ziemlich stark befahren ist, bleibt er plötzlich stehen, weil er die Schnauze gestrichen voll hat. »Hast du sie gevögelt oder nicht?«

»Wie bitte?«, fragt der Alte erschrocken, als wäre er gefragt worden, ob er das Weibsstück eventuell zerstückelt und zum Abendbrot verspeist hat.

»Ob ihr zusammen im Bett wart, kapierst du? Schön Schummerlicht und dann die Hand auf der Decke und so weiter … «

Er nickt. »Ja, gerade eben noch.«

»Und? Wie nennt sie dich? Geiler Dinosaurier?«

»Sie nennt mich Schatz!«

Das ist zu viel, verdammter Dreck, was bildet sich dieser Flachwichser ein? Da tauchen Bilder vor Rogers Auge auf, die niemand wirklich sehen will. Feinrippunterwäsche, Gebiss im Wasserglas daneben, die Tabletten griffbereit … und seine Alte macht dabei mit, hat vielleicht noch Spaß an der Sache, ist unbegreiflicherweise verliebt in diesen alten, blassen, schwachen … Roger packt ihn bei den schmalen Schultern.

»Was haben Sie vor, Sie Grobian?«

»Ich werde dich baden schicken da unten.«

»Der Aasee ist nur einen Meter tief! Ich werde mir das Genick brechen.«

»Umso besser. Fischfutter, verstehst du?« Es ist ein Klacks, den Kerl hochzuheben. Einige Autos hupen, Bremsen quietschen, aber das ist egal, wie immer, wenn Roger von dieser Wut überrollt wird. Das Geländer ist nicht hoch. Er spürt Fäuste auf seinem Rücken, hört den Mann auf ihn einreden, immer noch in diesem Ton, der Roger an lauter miese Arschlöcher in seinem Leben erinnert, an Lehrer, Jugendamtklugscheißer, Bewährungshelfer … Und dann spritzt das Wasser bis an die Brücke, obwohl diese sicher fünf Meter hoch ist. Dass ein solcher Hänfling so einen Alarm machen kann!

Hände greifen nach Roger, bringen ihn in ihre Gewalt, Schreie und irgendwann ein Martinshorn. Und seine Alte sieht er auch ganz kurz da unten am Ufer. Sie heult.

Sie schiebt ihm das Bett ans Fenster, damit er auf den Aasee blicken kann. Es riecht gut aus der Küche. Leberbrot und Wurstebrot mit geschmortem Apfel, wie damals, als sie sich das erste Mal trafen. Dann zerkleinert sie das Ganze mit dem Pürierstab, so kann er besser schlucken, wenn sie ihn füttert.

»Siehst du, dass es Frühling wird, mein Schatz?«, fragt sie, und schiebt ihm einen Löffel in den Mund.

Eigentlich geht es ihm schon viel besser. Aber er lässt es sich nicht anmerken. Es ist so schön, wenn sie sich um ihn kümmert.

Ihre Freundin ruft oft an und fragt, wann sie wieder zurückkäme. Jetzt, wo Roger endlich im Knast vermodert, gäbe es doch keinen Grund in Münster zu bleiben. Maria sei doch noch jung und solle ihr Leben nicht vergeuden mit einem Kerl wie ihm. Alt und pflegebedürftig.

Was ist, wenn er wieder gesund wird?, fragt er sich dann.

Was ist, wenn sie dann verschwindet?

Wer wird dann Schatz zu ihm sagen?

Jürgen Kehrer

HOHE BERGE

14. Juli, 3:17 Uhr mitteleuropäischer Zeit: Die Raumsonde New Horizons, die den Zwergplaneten Pluto am Rand unseres Sonnensystems erforscht, nähert sich dem Pluto-Mond Charon. Das letzte Foto, das New Horizons zur Erde sendet, zeigt eine rötliche Verfärbung am Nordpol von Charon, die von den Forschern Mordor getauft wird. Danach reißt die Verbindung zur Raumsonde ab.

23. Oktober, 0:26 Uhr: Im Vierwaldstättersee in der Schweiz schlägt ein Meteorit von der Größe eines Kleinwagens ein. Trotz seines vergleichsweise geringen Gewichts von weniger als einer Tonne verursacht der Meteorit eine Flutwelle, die die Uferpromenaden rund um den See unter Wasser setzt. Insbesondere in Weggis und Vitznau kommt es zu größeren Schäden, die Station der Rigi-Bahn in Vitznau trifft es am härtesten, stundenlang ist die Feuerwehr damit beschäftigt, das Wasser aus der Halle zu pumpen.

23. Oktober, 17:45 Uhr: Annika Lustenberger hat schon vieles erlebt. Seit drei Jahren arbeitet sie an der Rezeption des Hotels Alpenschick und in dieser Zeit sind Menschen aus allen Kontinenten und mit teilweise sehr ausgefallenen Vorstellungen in Bezug auf korrekte Bekleidung und angemessene Umgangsformen vor ihren Tresen getreten. Doch der Mann, der jetzt vor ihr steht, schlägt alles Dagewesene um Längen. Nicht nur, dass er nach anscheinend ziemlich schiefgegangenen Schönheitsoperationen maskenhaft starr guckt und zischelnde, kaum verständliche Sätze hervorbringt, nein, er trägt auch eine Hose und eine Jacke, die ihm mindestens drei Nummern zu groß sind. Aber selbst das ließe sich noch übersehen. Am schlimmsten ist nämlich der Gestank, der von dem Mann ausgeht, ein strenger, metallischer Geruch, der Annika fast betäubt.

Sie versucht, so wenig und so flach wie möglich zu atmen. »Wir sind belegt. Tut mir leid, kein Zimmer mehr frei.« Das ist zwar gelogen, aber Annika will die anderen Gäste nicht durch diese merkwürdige Erscheinung verschrecken. Das Alpenschick muss auf seinen Ruf achten, so hat es die Direktorin Annika beigebracht.

Bevor sie sich versieht, schnellt die Hand des Mannes vor. Ein kaltes, feuchtes Ding, das ihre eigene Hand auf dem Holz des Tresens festnagelt. »Wo ist Heidi?«

»Heidi?«

Der Mann nickt.

»Hier arbeitet keine Heidi.« Der Typ macht Annika Angst. Irgendwie hat sie das Gefühl, dass es gefährlich werden könnte, sich mit ihm anzulegen. Vielleicht sollte sie ihm doch ein Zimmer anbieten. Sie blättert mit der freien Hand scheinbar suchend im Belegungsplan. »Ach, hier sehe ich gerade, dass wir noch etwas für Sie haben.«

»Ich brauch’ den Auerhahn, die Gams, das Reh.«

»Unsere Zimmer sind modern und praktisch gestaltet, ohne ausgestopfte Tiere an den Wänden.« Annika zeigt auf ihre fixierte Hand. »Würden Sie bitte …«

»Oh-oh.« Der Mann lockert seinen Griff. »Ich freu mich schon.«

»Wir auch.« Annika schiebt ihm das Anmeldeformular hinüber und massiert heimlich ihre gequetschte Hand. Sie beschließt, die Tatsache zu ignorieren, dass er an den Stellen, die er eigentlich ausfüllen soll, nur ein paar Kritzeleien hinterlässt. Hauptsache, er verschwindet endlich. Umso besser, dass er gleich bar bezahlt, mit ein paar Hundert-Franken-Scheinen, die er aus seiner zu großen Jacke fischt.

»Was war denn los?«, fragt Silvio, der Kellner aus dem Hotelrestaurant, der kurz darauf an der Rezeption auftaucht. »Du siehst ganz blass aus.«

»Nichts.« Annika schüttelt den Kopf. »Wir haben einen neuen Gast.« Sie senkt die Stimme. »Gib ihm einen Tisch etwas abseits von den anderen. Er riecht ein bisschen … streng.«

24. Oktober, 9:45 Uhr: »Du hattest recht«, sagt Silvio zu Annika, »der Typ stinkt erbärmlich. Offenbar hat er sich seit Wochen nicht gewaschen …

»Bitte!«, unterbricht ihn Annika. »Mir wird schon schlecht, wenn ich nur daran denke.«

»Und Tischmanieren hat er auch keine«, redet Silvio weiter. »Der hat das Essen weggeschlürft, als hätte er sein bisheriges Leben irgendwo in der Wildnis verbracht. Wo kommt der überhaupt her, der redet so ein seltsames Deutsch?«

»Keine Ahnung, seine Schrift ist unleserlich.« Annika hat nach der Begegnung am Vortag noch mehrfach an den Fremden denken müssen. Erst recht, als ihre Freundin ihr von dem Überfall erzählt hat. In der Nacht, in der der Meteorit in den Vierwaldstättersee gefallen ist und eine Flutwelle ausgelöst hat, ist in Vitznau ein Mann ausgeraubt worden. Unbekannte haben ihn niedergeschlagen, sein Geld und sogar seine Kleidung entwendet. Was, überlegt Annika, wenn der seltsame Mann, der im Hotel eingecheckt hat, der Täter ist? Wenn er die Kleidung des Überfallenen trägt und mit dessen Geld bezahlt? Kann jemand so dreist sein, am Ort seines Verbrechens ein Hotelzimmer zu nehmen? Handelt es sich um einen Verrückten? Einen, der zu allem fähig ist? Oder ist das Annikas überbordende Fantasie, die ihr gerade einen Streich spielt? Würde sie sich lächerlich machen, wenn sie bei der Polizei anrief und den Beamten von ihrem Verdacht erzählte?

»Woran denkst du?«, fragt Silvio.

»An nichts, gar nichts«, sagt Annika.

24. Oktober, 9:58 Uhr: Zwei Stockwerke oberhalb der Rezeption betritt Helena Fischler, die seit zehn Jahren im Housekeeping des Alpenschick beschäftigt ist, das Zimmer 233. Helena Fischler kennt sich aus mit Schmutz und chaotischen Gästen, sie hat verwüstete Zimmer in Ordnung gebracht, Erbrochenes vom Boden gewischt und mit ihren Duftstoffen noch jeden unangenehmen Geruch bekämpft. Doch das, was ihr aus Zimmer 233 entgegenschlägt, raubt ihr den Atem.

»Was, um Himmels willen …« Entschlossen, auch vor dem, was sie sieht und riecht, nicht zu kapitulieren, macht Helena drei Schritte in den Raum hinein. Dabei stolpert sie über etwas Großes, Schweres, das unter der auf dem Boden ausgebreiteten Bettdecke liegt. Helena prüft den Gegenstand mit dem Fuß, er fühlt sich an wie – ein Körper. Entschlossen reißt sie die Bettdecke zur Seite, vor ihr liegt – eine Ziege mit aufgeschlitztem Hals. Helena weicht entsetzt zurück. Das geht eindeutig zu weit, für tote Ziegen ist sie nicht zuständig, wer ihr so etwas vor die Füße legt, gehört eingesperrt.

Hinter Helena fällt die Zimmertür ins Schloss. Sie spürt, dass jemand direkt hinter ihrem Rücken steht. Und sie spürt es nicht nur, sie riecht auch einen beißenden Gestank. Der Gast aus Zimmer 233 muss sich im Badezimmer, gleich links neben dem Eingang, versteckt haben. Helena wagt kaum, sich umzudrehen. Als sie es doch tut, sieht sie etwas, das sie lieber nie gesehen hätte. Dann wird ihr schwarz vor Augen. Bevor sie auf dem Teppichboden aufschlägt, hat sie schon das Bewusstsein verloren.

24. Oktober, 11:13 Uhr: Major Ruedi Gafner vom Schweizer Nachrichtendienst ist total fertig, seit 32 Stunden hat er nicht mehr geschlafen. Die amerikanischen Freunde sitzen ihm im Nacken, die CIA nervt schlimmer als die eigene Regierung.

Ruedi Gafner kann immer noch nicht glauben, was ihm seine US-Verbindungsoffiziere zugeraunt haben: Das Ding, das in den Vierwaldstättersee gestürzt ist, sei gar kein Meteorit gewesen, sondern ein Raumschiff. Allerdings weder ein ins Trudeln geratener Satellit der Russen noch eine fehlgeleitete Rakete der Chinesen. Gafner hat zweimal nachgefragt, bis er sicher war, die CIA-Männer richtig verstanden zu haben. Das Raumschiff, sagten sie, sei extraterrestrisch, also nicht von Menschen gebaut, die Flugbahn, von mehreren Teleskopen aufgezeichnet, bestätige das eindeutig. Mit anderen Worten: Aliens haben das Raumschiff zur Erde gelenkt, saßen vielleicht sogar drin, als es unter die Seeoberfläche tauchte. Und um den Albtraum komplett zu machen, malten die Amerikaner ein weiteres Horrorbild an die Wand: In diesem Moment könnten die Aliens ihr Raumschiff verlassen haben und sich unkontrolliert in der schönen, friedlichen Schweiz bewegen.

Öffentlich reden, das sieht Major Gafner ein, darf man darüber natürlich nicht, das würde in der Bevölkerung nur Panik auslösen. Deshalb lautete die Sprachregelung gleich: Meteorit, kein Grund zur Besorgnis. Doch intern brach Hektik aus, alle verfügbaren Mitarbeiter des Geheimdienstes wurden sofort aktiviert. Falls ein Alien frei herumlief, mussten sie es so schnell wie möglich finden. Die Suche konzentrierte sich auf die Ostseite des Sees, vor deren Ufer das Raumschiff entweder zerschellt oder gelandet war.

Zusammen mit seinem Kollegen Aerni betritt Gafner das Alpenschick. An diesem Morgen haben sie bereits an vielen Haustüren geklingelt. Sie haben in Metzgereien, Cafés und Hotels die immer gleiche Frage gestellt: Ob man in den letzten Tagen etwas Ungewöhnliches bemerkt habe, Erscheinungen, Lichtblitze, Geräusche, tote Tiere, einfach irgendetwas, das nicht in die Alltagsroutine passe. Normalerweise brauchten die Interviewten ein paar Sekunden, um die Frage zu begreifen, bevor sie mit der Gegenfrage konterten, warum man das denn wissen wolle. Doch im Alpenschick stößt Major Gafner auf eine andere Reaktion. Nachdem er seinen Satz heruntergeleiert hat, blickt er in die weit aufgerissenen Augen der Rezeptionistin. Auf einen Schlag ist Gafner hellwach: »Sie haben eine Idee, stimmt’s?«

»Ja«, sagt Annika Lustenberger, »gestern hat ein sehr merkwürdiger Gast bei uns eingecheckt.«

»Ein Mensch?«, fragt Gafner enttäuscht und bereut die Nachfrage sofort. Verdammte Müdigkeit. Er muss sich besser konzentrieren.

Prompt wird die Rezeptionistin aschfahl. »Heißt das, Sie suchen …«

»Doch, natürlich«, wiegelt Gafner ab.

»… jemanden, der sich als Mensch ausgibt?«, fährt Annika fort.

Jetzt ist Gafner an der Reihe, sich zu schütteln. »Was wollen Sie damit sagen?«

»Na ja, er sieht aus, als ob er sich verkleidet hat, wie diese Zombies in den Filmen. Und er stinkt bestialisch.«

Sekunden später rennen Gafner und Aerni die Treppe hinauf, gefolgt von der Rezeptionistin, die ihnen den Weg weist. Vor Zimmer 233 holen sie Luft und entsichern ihre Pistolen. Dann schließen sie mit dem Generalschlüssel die Tür auf. Trotzdem lässt sie sich nur ein paar Zentimeter weit öffnen, offenbar befindet sich etwas Schweres direkt hinter dem Eingang. Gafner und Aerni drücken, bis sie den Weg freibekommen. Endlich können sie einen Blick ins Innere werfen. Von der Decke hängt ein riesiges Spinnennetz, in dem eine Frau eingewoben ist. Annika schreit auf, als sie erkennt, um wen es sich handelt. In diesem Moment öffnet Helena Fischler ihre Augen.

24. Oktober, 16:43 Uhr: