001

001

Inhaltsverzeichnis
 
 
 
 

Wir alle erfahren uns durch die Ereignisse des Lebens in unseren Entfaltungsmöglichkeiten als eingeschränkt und unvollkommen. Wenn wir uns lange Zeit lassen, um dazu Ja zu sagen, entsteht eine neue Lebensqualität: Auferstehung hier und jetzt! Verwundbar, verletzlich, berührbar bleiben, ist das Ziel eines spirituellen Weges. Sich darin nicht verlieren, nicht in der Opferrolle bleiben, ist uns verheißen im Annehmen unserer wunden Punkte und im Wissen um unsere blinden Flecken.
Pierre Stutz (2003, 27)

Vorwort
Die Fälle sexuellen Missbrauchs in katholischen Internaten und in weltlichen Eliteschulen erschrecken die Menschen. Viele fragen sich, wie das geschehen kann. Oft sind es beliebte Lehrer, begnadete Lehrer, wie die Eltern sagen, die die Kinder missbrauchen. Ich sehe vor allem drei Ursachen, die zum Missbrauch führen:
Die eine Ursache ist die fehlende Integration der Sexualität in den Lebensvollzug der Menschen. Das gilt für zölibatäre Priester wie für Ehemänner und Väter. Auch Verheiratete sind gefährdet, ihre Sexualität an jüngeren und schwächeren Menschen auszuleben, anstatt sich der oft schwierigen Beziehung zum eigenen Ehepartner zu stellen.
Die zweite Ursache ist subtiler. Jeder Lehrer und Erzieher lebt ein archetypisches Bild. Das archetypische Bild des Helfers, des Begleiters, des Heilers bringt den Lehrer und Erzieher in Berührung mit den Fähigkeiten, die in seiner Seele schlummern. Sie wecken in ihm die Bereitschaft, sich auf die jungen Menschen einzulassen. Doch gefährlich ist es immer, wenn wir uns mit so einem archetypischen Bild identifizieren. C. G. Jung, der Schweizer Psychologe, nennt das Inflation. Ich blähe mich mit Bildern auf. Diese stehen mir zwar zu, doch wenn ich mich mit einem archetypischen Bild identifiziere, werde ich blind für meine eigenen Bedürfnisse. Keiner missbraucht ein Kind aus Bosheit. Das könnte er vor dem eigenen Gewissen gar nicht verantworten. Doch wenn er sich mit dem archetypischen Bild des Helfers oder Heilers identifiziert, dann merkt er gar nicht, wie er unter dem Vorwand, dem Kind zu helfen oder seine Verklemmtheit zu heilen, seine eigenen sexuellen Bedürfnisse oder sein Bedürfnis nach Nähe und Zärtlichkeit ausagiert. Diese Blindheit des Missbrauchers ist das größte Problem. Denn die Grenze zwischen dem archetypischen Bild, das mich antreibt, ein guter Lehrer und Erzieher zu sein, und der Identifizierung mit diesem archetypischen Bild ist fließend. Viele merken nicht, wann sie diese Grenze überschreiten.
Die dritte Ursache ist tragisch: Oft sind die Täter selbst Opfer gewesen. Sie wurden als Kind missbraucht und geben nun diesen Missbrauch unbewusst weiter. Sie meinen, wenn sie den Missbrauch weitergeben, von ihrer eigenen verschwiegenen Wunde geheilt zu werden. Daher ist es umso wichtiger, die verschwiegenen Wunden des Missbrauchtwordenseins anzuschauen und sich damit auszusöhnen. Sonst geben wir die Verletzungen eben an andere weiter. Nur wenn wir uns mit den Wunden aussöhnen, können sie sich in Perlen verwandeln, wie Hildegard von Bingen den Weg der Heilung beschreibt. Dann werden Menschen, die einmal Missbrauch erfahren haben, zu guten Therapeuten und Erziehern und Lehrern, die den Kindern helfen, ihre eigene Würde zu entdecken und trotz aller Verletzungen das Heile und Heilige in sich zu entdecken.
So wünsche ich dem Buch von Wunibald Müller, dem Leiter des Recollectio-Hauses, viele aufmerksame Leser, damit Missbrauch mehr und mehr verhindert wird und die verschwiegenen Wunden der Opfer angeschaut und geheilt werden.
Münsterschwarzach, im März 2010
P. Anselm Grün OSB

Hinführung
Schweigen kann etwas Schönes sein. Es kann helfen, mit sich, mit dem Tieferen in einem selbst, in Berührung zu kommen, ja, Gott zu erspüren. Verschweigen dagegen kann verheerende Folgen haben. Ich spreche dann nicht aus, was ins Wort gebracht, ausgesprochen werden müsste. Ich verschweige eine Wirklichkeit, manchmal die Wahrheit.
Wunden, die verschwiegen werden, obwohl sie da sind und zu meiner Wirklichkeit und Wahrheit gehören, schwären vor sich hin. Sie können nicht heilen. Es sei denn, ich stehe zu ihnen, verschweige sie nicht länger. Doch bis ich so weit bin, kann es lange dauern. Manchmal sehr lange.
Was augenblicklich in der katholischen Kirche im Zusammenhang mit dem Missbrauch Minderjähriger durch Priester geschieht bzw. geschehen sollte, ist unter anderem auch ein Prozess, der das Verschweigen von zugefügten Wunden zu unterbrechen versucht, damit die Wunden der durch sexuellen Missbrauch direkt und indirekt Betroffenen heilen können. In meinen Ausführungen will ich zu diesem Heilungsprozess beitragen. Ich will Mut machen, den Weg der Transparenz unbeirrt zu beschreiten und weiterzugehen.
 
Ich hatte vor einiger Zeit die Entscheidung getroffen, mich nicht mehr zu dem Thema »Sexueller Missbrauch Minderjähriger im kirchlichen Kontext« zu äußern. Der Grund war, dass ich das Recollectio-Haus nicht in einen so engen Zusammenhang mit diesem Thema bringen wollte. Auch ging es mir darum, den Eindruck zu vermeiden, im Recollectio-Haus würden pädophile Priester behandelt. Tatsache ist, dass wir im Recollectio-Haus keine pädophilen Priester behandeln.
Ich selbst habe mich aber in den vergangenen zwanzig Jahren viel mit den Themen »Sexueller Missbrauch«, »Pädophilie«, »Ephebophilie« (damit ist das sexuelle Interesse an pubertierenden männlichen Jugendlichen gemeint) sowie anderen Grenzüberschreitungen im kirchlichen und seelsorglichen Kontext befasst. Ich habe wiederholt über diese Themen geschrieben, auch vor dem Hintergrund meiner psychotherapeutischen Erfahrungen mit pädophilen und ephebophilen Priestern bzw. mit Seelsorgern, die Probleme hatten, notwendige Grenzen im seelsorglichen Bereich zu respektieren und einzuhalten. Dabei habe ich sehr profitiert von meinen Kontakten zu Kolleginnen und Kollegen in den USA und in Kanada, die Einrichtungen leiten, in denen pädophile bzw. ephebophile Priester und Seelsorger, bei denen sexuelle Grenzverletzungen vorlagen, behandelt wurden und werden.
Wenn ich mich jetzt entschieden habe, entgegen meiner ursprünglichen Absicht, mich noch einmal ausführlich mit dem Thema »Sexueller Missbrauch« zu befassen, dann auch deswegen, weil ich in den letzten Wochen von annähernd fünfzig Fernsehsendern, Radiostationen und Presseorganen angefragt worden bin, mich zu dem Thema zu äußern. Ich habe dabei festgestellt, dass ein großer Bedarf vorhanden ist, aus einer therapeutischen, theologischen und spirituellen Sicht etwas über das Thema zu erfahren, vor allem auch von Personen, die über konkrete therapeutische Erfahrungen mit Opfern und Tätern verfügen und mit dem kirchlichen Kontext vertraut sind.
Ich bin mir bewusst, dass ich bei meinen Ausführungen von meinem Hintergrund als Psychotherapeut und Theologe geprägt bin und dadurch bedingt auch eine Auswahl treffe unter den vielen Aspekten, die bei dem Thema »Sexueller Missbrauch in der Kirche« bedacht werden müssen. Es ist mein Beitrag zu dem Thema, der durch andere Beiträge ergänzt werden muss, vor allem auch, was die primären Opfer sexuellen Missbrauchs betrifft, auf die ich natürlich auch ausführlich eingehe. Doch sie und ihre Situation bedürfen noch einer intensiveren Würdigung als ich es zu leisten vermag, und zwar durch Personen, die über mehr Erfahrungen mit Opfern sexuellen Missbrauchs verfügen als ich.
Ein weiterer Grund, der mich veranlasst hat, der Anfrage von Winfried Nonhoff vom Kösel-Verlag nachzukommen und ein Buch zum Thema »Sexuellen Missbrauch in der Kirche entdecken und verhindern« zu schreiben, ist die augenblickliche Situation, die die katholische Kirche nicht nur tangiert, sondern im Mark getroffen und erschüttert hat. Als Katholik ist es mein Anliegen, zu einer Vertiefung der Diskussion beizutragen und, soweit es in meinen Möglichkeiten steht, den jetzt notwendigen Läuterungs- und Heilungsprozess in der katholischen Kirche, die auch meine Kirche ist und bleibt, zu fördern.
Wunibald Müller

TEIL I
Sexuellen Missbrauch in der Kirche erkennen und verhindern
Das Entsetzen bleibt. Gott sei Dank. Das Entsetzen darüber, dass Priester, Männer Gottes, Minderjährige sexuell missbrauchen. Wir haben uns noch nicht daran gewöhnt, obwohl es lange schon zur bitteren Wahrheit gehört, auch zur Wahrheit der Kirche. Zu lange, so mein Eindruck, hat die Kirche sich Zeit gelassen, die radikalen Konsequenzen zu ziehen, die sich aus dieser bitteren und furchtbaren Wahrheit ergeben.
Jetzt, aufgeschreckt und betroffen durch das bisher unvorstellbare Ausmaß an sexuellen Übergriffen und Missbrauchsfällen in ihren eigenen Reihen, die zum Teil jüngeren Datums sind, meist aber Jahrzehnte zurückliegen, ist bei der Kirche eine große Entschiedenheit erkennbar, endlich notwendige Konsequenzen zu ziehen. Erste Entscheidungen sind getroffen worden. So werden die Leitlinien zum Umgang mit sexuellem Missbrauch überarbeitet. Der Opferschutz soll noch mehr in den Vordergrund gerückt werden: Eine bundesweite kostenlose Info-Telefonhotline wurde gestartet (Tel. 0800-1201000; Näheres auch unter der von der Deutschen Bischofskonferenz in Kooperation mit der Lebensberatung Trier eingerichteten Website ). Außerdem wurde ein Sonderbeauftragter für alle Fragen im Zusammenhang des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger im kirchlichen Bereich ernannt und so die Kompetenz und Zuständigkeit der Bischofskonferenz gestärkt. Auch das Auswahlverfahren und die Ausbildung der Kandidaten für das Priesteramt und den Ordensstand sollen verbessert werden.
Das lässt hoffen. Doch weitere Konsequenzen werden notwendig sein, will die katholische Kirche diese schwerste Krise in ihrer jüngeren Geschichte nicht nur überstehen, sondern als Chance nutzen, daran zu wachsen, zu reifen und sich zu verwandeln. Nur so kann sie, auch wenn das dauern wird, ihre Glaubwürdigkeit zurückgewinnen, die sie bei vielen, selbst treuen Mitgliedern eingebüßt hat.
Im ersten Teil will ich zunächst Kenntnisse über sexuellen Missbrauch, die zugrunde liegende Dynamik sowie über Tätermerkmale vermitteln. Anschließend werde ich auf die Ausbildung zukünftiger Priester und Ordensleute eingehen, Hinweise geben, wie potenzieller sexueller Missbrauch besser erkannt werden kann, und einen Überblick über die psychosexuelle Entwicklung verschaffen. Weiter gehe ich sehr ausführlich auf die Bedeutung der Erfahrung von Intimität für zölibatär lebende Personen ein, um schließlich der Frage nachzugehen, ob und inwieweit es einen Zusammenhang zwischen Zölibat, sexuellem Missbrauch und Homosexualität bzw. homosexuellen Priestern gibt.

1. KAPITEL
Sexuellen Missbrauch erkennen
Zunächst werde ich mich aus psychologischer und psychotherapeutischer Sicht mit einigen Aspekten des Themas »Sexueller Missbrauch in der Kirche« befassen, um damit den Blick dafür zu schärfen, wann sexueller Missbrauch vorliegt, was dazu beitragen kann, dass jemand andere Personen sexuell missbraucht, welche Täterprofile man unterscheiden kann, was bei der Auswahl von Kandidaten für das Priesteramt oder den Ordensberuf bedacht werden muss und wie man hellhöriger gegenüber potenziellem sexuellen Missbrauch werden kann.
Dabei wird schon deutlich werden, welch große Bedeutung der psychosexuellen Entwicklung und der Einstellung zur Sexualität zukommt. So werde ich im zweiten Kapitel ausführlich auf die psychosexuelle Entwicklung und die Entwicklungsschritte eingehen, denen sich jeder stellen muss, unabhängig davon, ob er zölibatär oder in einer Partnerschaft leben will. Nur wer diese Entwicklungsschritte vollzieht, wird in der Lage sein, auf eine reife Weise mit der eigenen Sexualität umzugehen, und die Fähigkeit zu tiefen, bedeutungsvollen und verbindlichen Beziehungen erlangen.

Kennzeichen sexuellen Missbrauchs

Wann spricht man von sexuellem Missbrauch?

■ P. Hans, 35 Jahre alt, ist geistlicher Begleiter einer 30-jährigen Frau, die getrennt lebt von ihrem Mann. Während der geistlichen Begleitung stirbt die Mutter von P. Hans. Für P. Hans bedeutet der Tod der Mutter, die in der Nähe des Klosters wohnte, zu der er oft telefonisch Kontakt hatte und die er auch oft besuchen konnte, einen großen Verlust. In seiner Klostergemeinschaft wird der Tod seiner Mutter zur Kenntnis genommen, es wird eine Messe für sie gelesen und der eine oder andere fragt ihn, wie es ihm damit gehe. Es gibt niemanden in seiner Gemeinschaft, mit dem er sich wirklich über den Verlust austauschen kann. Er ist traurig und fühlt sich alleine und alleine gelassen. Die junge Frau, die er begleitet, spürt seine Trauer und Einsamkeit. Sie bietet ihm ihre Hilfe an und er geht darauf ein. Sie treffen sich immer öfter, umarmen sich dabei, streicheln sich und schließlich schlafen sie miteinander. Bei P. Hans führt das kurz darauf zu so starken Schuldgefühlen, dass er sowohl die sexuelle Beziehung als auch die geistliche Begleitung abbricht. Die Frau verlässt die Gegend und P. Hans hört über 15 Jahre nichts mehr von ihr, bis ihn eines Tages der Leiter des Klosters zu einem Gespräch bittet und ihm mitteilt, die besagte Frau habe Anzeige wegen sexuellen Missbrauchs gegen ihn erstattet. Während der vergangenen 15 Jahre hatte P. Hans seinen Dienst im Kloster und in der Seelsorge zur vollen Zufriedenheit seiner Oberen und der Menschen, für die er da war, ausgeübt.
 
Bei dem sexuellen Verhalten von P. Hans handelt es sich nicht nur um eine Verletzung der Zölibatsverpflichtung, sondern auch um sexuellen Missbrauch. Von sexuellem Missbrauch spricht man, wenn die sexuelle Intimsphäre einer Person von jemandem, der emotional, körperlich oder spirituell Einfluss oder Macht über diese Person ausübt, überschritten bzw. nicht respektiert wird. Bei dem Missbraucher kann es sich um einen Erwachsenen handeln, der in der Absicht, dadurch sexuell erregt zu werden, mit einem Minderjährigen sexuellen Kontakt unterhält. Um Missbrauch handelt es sich auch, wenn ein Erwachsener zu einem anderen Erwachsenen sexuellen Kontakt sucht und dieser sexuelle Kontakt von der anderen Person nicht gewollt ist oder nicht kontrolliert werden kann.

Gefälle in der Beziehung

Durch die Beratungssituation kommt P. Hans eine besondere Rolle zu, die mit Autorität, Einfluss und gegebenenfalls auch Macht verbunden ist. Das aber heißt, es besteht ein Gefälle in der Beziehung. In der Rolle des Beraters befinde ich mich in einer Position, in der ich Einfluss auf jemanden habe, der sich mir gegenüber eröffnet und durch seine Offenheit verletzbar macht. Das Verhalten von P. Hans wird durch den Kontext, hier die geistliche Begleitung, zum sexuellen Missbrauch. Hätten sich die beiden nicht in einer Beratungs- oder Seelsorgesituation getroffen und wären eine sexuelle Beziehung eingegangen, so wäre das zwar eine Zölibatsverletzung, nicht aber ein sexueller Missbrauch gewesen. Auch wenn die junge Frau von sich aus offen war für eine sexuelle Beziehung, trifft die volle Schuld P. Hans, weil er es ist, der im Kontext der Beratung die Verantwortung dafür trägt, dass es zu keiner Grenzverletzung kommt.
Andere Beispiele, die verdeutlichen, wann ein bestimmtes sexuelles Verhalten zum sexuellen Missbrauch wird, sind unter anderem: der Vater, der eine sexuelle Beziehung zu seinem Kind unterhält; der Novizenmeister, der eine sexuelle Beziehung zu einem Novizen eingeht; der Chef, der gegenüber einer von ihm abhängigen Angestellten sexuell übergriffig wird; der Kaplan, der nach der Gruppenstunde die minderjährige Ministrantin küsst und fest an sich drückt. Entscheidend ist, dass dieses Verhalten von einem der Beteiligten nicht gewollt ist, unter Zwang durchgeführt wird oder nicht kontrolliert werden kann.
Weitere Beispiele, die vor dem Hintergrund der bekannt gewordenen Missbrauchsfälle in vielen Internaten und Schulen eine besondere Aktualität erhalten haben, sind die Fälle, in denen ein Erzieher oder Lehrer seine Machtstellung ausnutzt, um mit einem Schüler, einer Schülerin seine sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen. In der augenblicklichen Situation steht die Berichterstattung über brutale Grenzüberschreitungen durch Lehrer und Erzieher im Vordergrund. Doch Grenzüberschreitungen im Lehrer-Schüler-Verhältnis können bereits auf eine subtilere Weise geschehen.
Immer wieder taucht, vornehmlich in Boulevardpresse, Film oder Fernsehen, die folgende Konstellation auf: Eine Schülerin verliebt sich in ihren gut aussehenden Lehrer. Ein anderes Beispiel ist die Lehrerin, die von ihrer einzigartigen Liebe zu einem minderjährigen Schüler schwärmt. Es handelt sich dann oft um Darstellungen, die die Gemüter in die eine oder andere Richtung aufbringen. Die Verstrickung, die subtile Dynamik und das Ausmaß an Grenzverletzungen und seelischem Schaden, die dabei eine Rolle spielen, kommen nicht zum Ausdruck oder werden allenfalls angedeutet.
Ein Aspekt, der, wenn es um den Missbrauch von Schülern geht, besonderer Beachtung bedarf (auch weil er oft übersehen oder bewusst heruntergespielt wird), bezieht sich genau auf das Gefälle in der Beziehung Lehrer-Schüler. Da gibt es den Lehrer, der für den Schüler da ist, dem der Schüler anvertraut ist und der kraft seiner Tätigkeit und seines Amtes mit Autorität, Einfluss und Macht ausgestattet ist. Dort ist der Schüler, dem etwas gegeben wird, der dem Lehrer »ausgesetzt« ist, ihm gegenüber jedenfalls keine Machtbefugnis besitzt. Die Situation ist vergleichbar der des Therapeuten zum Klienten oder der des Seelsorgers zum Gemeindemitglied.
Die entscheidende Konsequenz, die sich aus dieser speziellen Beziehungsdynamik und dem für sie typischen Beziehungsgefälle ergibt, ist, dass der Lehrer die Verantwortung dafür trägt, wenn es zu Grenzverletzungen innerhalb dieses Beziehungsgefüges kommt. Entschuldigungen, die man oft bei sexuellen Grenzverletzungen hört, etwa die Schülerin habe das gewollt oder provoziert, entbinden ihn nicht von seiner Verantwortung. Er gilt auch dann als Täter.

Das Opfer

Welche Dynamik liegt dem Missbrauch zugrunde? Werfen wir zunächst einmal einen Blick auf das Opfer. Bei der jungen Frau, die von P. Hans begleitet wurde, ist die Fähigkeit, Grenzen zu ziehen bzw. die eigenen Grenzen zu schützen, beeinträchtigt. Im Kontext der Beratung öffnet sie sich. Sie will den Berater an ihrem Leben teilhaben lassen. Die Grenzen, die sie sonst anderen gegenüber einhält, setzt sie für die Zeit der Beratung aus bzw. lockert sie im Vertrauen auf ihren Begleiter.
Bei minderjährigen Opfern sexueller Grenzüberschreitung und sexuellen Missbrauchs nutzen die Täter oft die Schwächen der ihnen Anvertrauten aus: ihre sexuelle Unerfahrenheit; die emotionale Verunsicherung in der Pubertät; Krankheiten oder Verletzungen; Familienprobleme wie Scheidung, Tod oder Armut; die Abwesenheit eines Vaters (vgl. Podles 2008, 243ff). Am verwerflichsten ist die »fromme Schiene«, die Täter benutzen, um ihr Ziel zu erreichen. Bei den Eltern handelt es sich oft um sogenannte gute Katholiken, die den Priester auf ein Podest stellen und es als ein Privileg betrachten, dem Priester besonders nahe zu stehen. Diese Eltern wünschen, dass ihr Sohn fromm ist und mit dem Priester in einer engen Beziehung steht. Sie könnten es nicht ertragen, dass schlecht über den Priester gesprochen wird. Ihre sexuellen Aktivitäten betten die Täter in einen spirituellen Kontext ein. So verläuft etwa das Gespräch eines Priesters mit einem achtjährigen Jungen folgendermaßen:
■ »Nun schau mal«, sagt er. »Liebst du Gott?«
Der Junge: »Natürlich liebe ich Gott.«
Der Priester: »Wenn du Gott liebst, dann gibt es ganz bestimmte Dinge, die du zu tun hast. Bist du dir sicher, dass du Gott liebst, denn er will, dass du einige ganz schwierige Dinge tust. Du weißt, als du geboren wurdest, warst du ohne Kleider. Nun, ich will dir deine Liebe zu Gott zeigen, indem ich dich ausziehe, so wird Gott wissen, dass du hier bist, so wie du hier warst, als du geboren wurdest.« (Podles 2008, 249)

Der Täter

Schauen wir auf den Täter, dann könnten im Falle von P. Hans der Tod seiner Mutter und die damit einhergehende Erfahrung tiefer Trauer und Einsamkeit der aktuelle Anlass für seinen sexuellen Übergriff sein. Damit geht einher, dass P. Hans in seiner klösterlichen Gemeinschaft die Erfahrung von Intimität vermisst, die sich in einem echten Interesse und der Sorge füreinander in einer von Vertrauen getragenen Atmosphäre zeigt. Er fühlt sich in seiner Gemeinschaft nicht wirklich aufgehoben und getragen.
Dazu kommt, dass er nicht fähig ist, die Grenzen, die er sich selbst mit der Verpflichtung zum ehelosen Leben gesetzt hat, und die Grenzen, die ihm durch den Kontext der geistlichen Beratung in Bezug auf die von im begleitete Person gesetzt sind, einzuhalten. Ihm geht offensichtlich die psychische Reife ab, die ihn befähigen würde, die Intimsphäre einer anderen Person zu respektieren und sein eigenes Verhalten der anderen Person gegenüber entsprechend zu kontrollieren.

Risikofaktoren für sexuellen Missbrauch im kirchlichen Bereich

Männer

Der erste Risikofaktor für sexuellen Missbrauch besteht darin, ein Mann zu sein (vgl. Pontifica Academia Pro Vita 2004, 51). Auch wenn es immer wieder sexuellen Missbrauch Minderjähriger durch Frauen gibt, sind es doch vorwiegend Männer, die Minderjährige sexuell missbrauchen. Das relativ hohe Ausmaß an sexuellem Missbrauch durch Priester lässt sich also auch von daher erklären, dass nur Männer zu Priestern geweiht werden.

Sexuell unreife homosexuelle bzw. bisexuelle Männer

Der zweite Risikofaktor sind sexuell unreife homosexuelle bzw. bisexuelle Männer. Ich spreche ganz bewusst nicht von homosexuellen Priestern und Ordensleuten an sich, sondern von unreifen homosexuellen Männern, die sich von Buben und männlichen Jugendlichen sexuell angezogen fühlen. Das ist nicht typisch für Homosexuelle an sich. Immer wieder wird daher die Frage gestellt, ob es einen Zusammenhang zwischen Pädophilie und Homosexualität gibt. Auf diese wichtige Fragestellung gehe ich im fünften Kapitel ausführlich ein.
Daneben gibt es Priester, die männliche Minderjährige – Kinder oder Jugendliche – missbrauchen, sich also homosexuell verhalten, ohne dass das heißen muss, dass sie tatsächlich homosexuell sind. Sie haben sich nicht wirklich mit ihrer Sexualität und ihrer sexuellen Identität auseinandergesetzt und sind daher auch nicht in der Lage, eine klare Aussage darüber zu machen, ob sie homosexuell oder heterosexuell sind. Unter ihnen dürften sich auch Priester befinden, die bisexuell sind.

Personen mit Defiziten in der sexuellen Entwicklung und geringer Fähigkeit zur Intimität

Ein weiteres großes Risiko für sexuellen Missbrauch besteht, wenn die Person, die ehelos oder zölibatär lebt, in ihrer psychosexuellen Entwicklung stehen geblieben ist. Mitunter ist der betreffende infolge dieses Defizits auch hinsichtlich seiner Fähigkeit zur Intimität beeinträchtigt. In diesem Zusammenhang muss die Frage diskutiert werden, ob und inwieweit Zölibat und sexueller Missbrauch etwas miteinander zu tun haben. Diese Frage werde ich im vierten Kapitel ausführlich behandeln.

Kennzeichen des Täters

Neben den oben genannten Aspekten gibt es noch weitere Merkmale, die es erlauben, von unterschiedlichen Täterprofilen zu sprechen. Auf einige will ich kurz eingehen. Ich orientiere mich dabei auch an der ausgezeichneten Untersuchung von Len Sperry (2003, vgl. auch Müller in: Stimmen der Zeit 2010), der als Psychiatrieprofessor am Medical College of Wisconsin lehrt.

Ein Schulseelsorger als Täter

■ Br. Franz war der charmante und charismatische Schulseelsorger an einem Gymnasium. Er wurde entlassen, nachdem Vorwürfe auftauchten, dass er in den vergangenen zehn Jahren drei Buben sexuell missbraucht habe. Sein sexuelles Fehlverhalten begann kurz nach dem Tod seiner Mutter. Seit dieser Zeit war er zunehmend besetzt von sexuellem Verlangen und sexueller Erregung. Das führte schließlich zu sexuellen Kontakten mit verschiedenen Jugendlichen über eine Periode von über sechs Jahren. Eine dieser Beziehungen dauerte vier Jahre. Andere waren von kürzerer Dauer. Einige dieser Beziehungen unterhielt er parallel, wobei die Jungen, die daran beteiligt waren, nichts voneinander wussten. Jeder von ihnen glaubte, dass er eine besondere, ausschließliche Beziehung mit dem Ordensmann habe. Als das sexuelle Fehlverhalten von Br. Franz bekannt wurde, waren die meisten Lehrer, Schüler und Eltern total überrascht und konnten die Anschuldigungen nicht glauben. Viele sagten, es seien nur Gerüchte, und organisierten Solidaritätsdemonstrationen, um dem beschuldigten Bruder ihre Unterstützung und ihre Bewunderung zum Ausdruck zu bringen. Es half nichts. Der Bruder wurde entlassen. Die Untersuchungen ergaben, dass weitere drei Jugendliche von Br. Franz sexuell missbraucht wurden.

Negative Erfahrungen in der Kindheit

In der Lebensgeschichte von Br. Franz gibt es Hinweise, die sein späteres Verhalten erklären lassen. Seine Mutter nahm während der Schwangerschaft viele Tabletten ein und stand oft unter Alkoholeinfluss. Sein Vater war oft abwesend. In dieser Zeit empfing die Mutter viele Männer, unter anderem zu sexuellen Kontakten. Diese belästigten auch immer wieder Franz sexuell. In dieser Zeit begann er, sich selbst zu befriedigen. Zunächst masturbierte er einmal am Tag, später häufiger. Er hatte keinen besten Freund. Als er etwa zwölf Jahre alt war, entdeckte er seine homosexuelle Neigung. Er litt darunter, dass er mit seinem Vater nicht über seine eigentlichen Gefühle reden konnte. Zunehmend entwickelte er auch als Jugendlicher Schuldgefühle wegen seiner Praxis der Selbstbefriedigung. Hinsichtlich seiner homosexuellen Neigung spürte er zunehmend, dass er sich vorwiegend von jungen Heranwachsenden angezogen fühlte. Für seine Umgebung überraschend, entschied er sich zum Eintritt ins Kloster. Dort wurde er als intelligent, gut aussehend und sozial angepasst eingestuft. Übersehen wurde, dass er bezogen auf seine Fähigkeit zu reifen, intimen Beziehungen erheblich beeinträchtigt und auch in seiner psychosexuellen Entwicklung stecken geblieben war.
Für Franz war der Eintritt ins Kloster mit einer spürbaren Erleichterung verbunden. Jetzt hoffte er seine Gefühle kontrollieren und sich ganz Gott hingeben zu können. Im Kloster spürte er zwar seine Zuneigung zu bestimmten Mitbrüdern, zugleich wurde ihm aber immer klarer, dass sein sexuelles Interesse heranwachsenden Jugendlichen galt. Als er seinem Vorgesetzten gegenüber einmal von seinen Problemen berichtete, speiste der ihn mit dem folgenden Rat ab: »Bete, befriedige dich, wenn du meinst, es ist notwendig, und den Rest überlasse Gott!«
Die Oberen entdeckten, dass Br. Franz einen Draht zu Jugendlichen hatte, und entschieden daher, ihn als Schülerseelsorger im klostereigenen Gymnasium einzusetzen. Das ging so lange gut, bis die Mutter starb. Kurz darauf begann sein sexuelles Fehlverhalten.

Mangelnde Empathie

Die Untersuchung seines Falles zeigte, dass Br. Franz seine potenziellen Opfer unter denen aussuchte, die zu ihm zur Beratung kamen. Es handelte sich dabei immer um Jugendliche, die – wie er selbst – keine Geschwister hatten, eher als Einzelgänger galten und Probleme mit ihrem Selbstwertgefühl hatten. Als der Ordensobere ihm nahelegte, sich einer Therapie zu unterziehen, weigerte er sich zunächst. Zunehmend wurde deutlich, dass er gegenüber seinen Opfern überhaupt keine Empathie empfand und sein Verhalten damit entschuldigte, dass er seinen Opfern die väterliche Sorgfalt angedeihen lassen wollte, die sie nie erfahren durften. Als er sich schließlich einer Therapie unterziehen musste, zeigte sich, dass er nicht wirklich bereit war, sich auf die Therapie einzulassen.
In der therapeutischen Gruppe spielte er sich oft als Co-Therapeut auf, angeblich um dazu beizutragen, dass die anderen wirklich »ans Eingemachte gehen«. Seine eigene Bereitschaft, sich auf die Behandlung einzulassen, war dagegen minimal, da bei ihm keine Einsicht für seine Probleme vorhanden war. Dazu kam sein eher undurchsichtiger Charakter, der typisch sein kann für eine Person, die nach außen hin als gut funktionierend und integer erscheint, in Wirklichkeit aber ein Doppelleben führt, das in einem großen Gegensatz zu diesem öffentlichen Eindruck steht. Von daher ist es auch nicht erstaunlich, dass Br. Franz, nachdem er die Therapie abgeschlossen hatte, neun Monate später wieder rückfällig wurde. Obwohl ihm vonseiten der therapeutischen Begleiter zur Auflage gemacht worden war, weiterhin engmaschig professionell begleitet zu werden und seinen Tagesablauf einer täglichen Kontrolle zu unterstellen, sah sich sein Kloster nicht in der Lage, diese Auflagen zu erfüllen. So gelang es ihm, sich unbeaufsichtigt Zugang zu Schülern eines nahe gelegenen Gymnasiums zu verschaffen und sie zu sexuellen Handlungen zu überreden.

Gravierende psychische Probleme

Es ist offensichtlich, dass im Falle von Br. Franz gravierende psychische Probleme vorliegen. Die Grenzverletzungen in seinem eigenen Leben durch sein familiäres Umfeld und seine dadurch stehen gebliebene sexuelle Entwicklung tragen entscheidend zu seinem Fehlverhalten bei. Dieses Täterprofil findet sich oft bei Männern, die sich sexuell von 14- bis 17-Jährigen angezogen fühlen. Es lässt sich aber auch bei fixierten pädophilen Tätern nachweisen. Die Prognose einer erfolgreichen Therapie ist in diesen Fällen ungünstig. Im Falle von Priestern bedeutet das, dass diese nicht mehr in ihrem bisherigen Aufgabenbereich, häufig auch nicht mehr in der Seelsorge überhaupt, tätig sein können.
Im Falle von Br. Franz wird auch deutlich, dass es sich hier um ein krankhaftes Verhalten handelt, das nicht allein durch Beten oder durch guten Willen seitens des Betroffenen behebbar ist. Weiter zeigt dieses Beispiel, dass es eine Art von Selbstbetrug ist, wenn jemand meint, mit der Entscheidung, Priester zu werden oder ins Kloster zu gehen, müsse er sich nicht länger mit seiner Sexualität oder gar mit der problematischen Ausrichtung seiner Sexualität, hier Pädophilie bzw. Ephebophilie, auseinandersetzen. Wenn der Betreffende sich nicht mit seiner Sexualität auseinandersetzt, besteht die Gefahr, dass er seine Sexualität nicht gestalten kann. Dies ist nur dann möglich, wenn er mit ihr in Berührung ist, um ihre Kraft weiß und sie verfügbar hat. Andernfalls kann es geschehen, dass die Sexualität »etwas mit ihm macht« und das oft auf eine destruktive Weise sich selbst und anderen gegenüber.
Das Beispiel von Br. Franz zeigt ein Täterprofil auf, in dem sich viele Züge des sogenannten typischen Missbrauchers nachweisen lassen. Der »typische Missbraucher« kennt eine stark ausgeprägte narzisstische Seite, hat eine Tendenz oder gar Prägung, sich missbräuchlich zu verhalten (vgl. Sperry 2003, 87ff), und eine passive, abhängige, zwanghafte und angepasste Persönlichkeitsstruktur.
Von einer Tendenz oder gar Prägung, sich missbräuchlich zu verhalten, spricht man, wenn jemand in einer überzogenen Weise versucht, über andere Kontrolle auszuüben und ihr Denken, Fühlen und Handeln zu beeinflussen. Das zeigt sich unter anderem darin, dass der Betreffende anderen die kalte Schulter zeigt, sie beschämt oder sich von ihnen zurückzieht, wenn sie sich nicht so verhalten, wie er es möchte. Unter Umständen setzt jemand, der sich missbräuchlich verhält, auch Drohungen ein und hänselt, quält oder demütigt andere. Mitunter zerstört er das Eigentum anderer, schlägt sie, kratzt sie oder spuckt sie an. Im spirituellen Bereich kann sich missbräuchliches Verhalten manifestieren in Drohungen wie »Gott wird dich bestrafen« oder dem Versuch, Schuldgefühle zu vermitteln. Im sexuellen Bereich kann missbräuchliches Verhalten in vom anderen nicht gewollten Berühren, Streicheln oder anderen sexuellen Handlungen zum Ausdruck kommen.
Zwanghaftes Verhalten meint, dass jemand nicht in der Lage ist, frei zu entscheiden, ein sexuelles Verhalten zu beenden oder fortzusetzen. Trotz potenzieller negativer Konsequenzen, die sich aus dem sexuellen Verhalten ergeben können, wird das sexuelle Verhalten fortgesetzt. Bemühungen, die Häufigkeit des sexuellen Verhaltens zu beenden oder zu reduzieren, bleiben in der Regel erfolglos. Das Verhalten kann durch Zwangsgedanken verstärkt werden.

Narzisstische Persönlichkeitsstruktur

Priester mit einer stark ausgeprägten narzisstischen Seite kennen bei sich ein kaum zu stillendes Bedürfnis nach Bewunderung durch andere. Sie wirken mit der Zeit unecht. Ständig auf der Suche nach Erfolg, neigen sie dazu, andere zu manipulieren. Sie geraten in eine Krise, wenn sie alt zu werden beginnen, keinen Erfolg mehr haben und zunehmend spüren, dass sie im Grunde genommen keine tiefen, echten Beziehungen pflegen. Sie glauben, sich nur auf sich selbst verlassen zu können, spüren tief in sich ein Gefühl von Leere und Ausgeschlossenheit. Um ihre Unsicherheit aushalten zu können, sind sie davon besetzt, einflussreich zu sein, ein gutes Erscheinungsbild abzugeben und einen hohen, prestigeträchtigen Status einzunehmen. Zugleich erwarten sie von anderen, dass diese ihre Sonderrolle und ihre besonderen Bedürfnisse und Uransprüche anerkennen. Mit einer gewissen Selbstverständlichkeit manipulieren und betrügen sie andere, verhalten sich selbstbezogen und glauben, Anspruch darauf zu haben, bedient zu werden und in der Erfüllung ihrer Wünsche anderen vorgezogen zu werden.
Unter den Priestern ist der Anteil an Personen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstruktur überdurchschnittlich groß. Erzbischof Weakland schreibt in seinen Memoiren, er stelle mit zunehmender Sorge fest, dass Narzissmus ein großes Problem unter den Klerikern sei. Er konnte sich selbst darin wiederentdecken. Für die Priester, so meint er weiter, mag dieses Konzentriertsein auf sich selbst von der Muttermilch mitgegeben worden sein, um später verstärkt zu werden, indem sie unter den Geschwistern aufgrund ihrer priesterlichen Berufung bevorzugt wurden (vgl. Weakland 2009).
Der narzisstische Priester-Seelsorger hat ein grandioses Gefühl von der eigenen Wichtigkeit. Er glaubt von sich, »besonders« und einzigartig zu sein. Im Umgang mit anderen mangelt es ihm an Empathie. Wird seinen Erwartungen nicht entsprochen, kann das zu einer massiven Auflehnung zum Beispiel gegen Autoritäten führen. Oder er bricht zusammen, fällt in ein Loch, reagiert depressiv.
Bewunderung nährt nicht, trägt nicht. Also sucht der narzisstische Seelsorger immer und immer wieder nach neuer Anerkennung und Bewunderung. Unter anderem mit dem Ergebnis, dass er sich immer mehr verausgabt. Bleiben Anerkennung und Bewunderung aus, trampelt er auf denen, die ihm die Bewunderung verweigern, herum. Die Leere, die der Seelsorger empfindet, lässt ihn einsam zurück. Seinem Gefühl von Unerfülltheit versucht er zu entweichen, indem er nach Schlupflöchern sucht, die ihm das Gefühl von Erfüllung vermitteln sollen. Beim einen ist es das Trinken, beim andern die Arbeitswut, bei wieder einem andern unkontrolliertes Essen oder ein exzessives Masturbieren.
Hier handelt es sich um einen ungesunden Narzissmus, im Unterschied zu einer gesunden Selbstliebe. Eine gesunde Selbstliebe ist eine reife, ausgeglichene Liebe zu sich selbst, verbunden mit einem stabilen Selbstwertgefühl. Damit einher geht die Fähigkeit, sich angemessen abgrenzen und die Grenzen anderer respektieren zu können. Auch versteht die Person, die über eine gesunde Selbstliebe verfügt, sich angemessen wertzuschätzen und sich hinsichtlich ihrer Fähigkeiten realistisch einzuschätzen.

Eine übermäßig passive, abhängige, angepasste Persönlichkeit

Viele Priester, die Kinder missbraucht haben, so Stephen Rossetti, haben eine passive, abhängige, zwanghafte und angepasste Persönlichkeit. Weiter meint er: »Ein wenig Abhängigkeit und Anpassung sind für einen Priester nicht schlecht. Die Gemeindemitglieder mögen es, wenn ihr Pfarrer nicht allzu übermächtig ist und gerne das tut, was ihnen gefällt. In der Ausbildung werden oft diejenigen belohnt, die den Regeln gehorchen und keinen Ärger machen. Die Menschen wollen nette Pfarrer (...) Im Umgang mit Autoritäten verhalten sich diese Personen übermäßig respektvoll und ehrerbietig. Oft sind sie Perfektionisten. Es bedeutet ihnen viel, von anderen in gutem Licht gesehen zu werden, besonders von Vorgesetzten. Sie wollen gut sein und gemocht werden. Unglücklicherweise verbirgt sich hinter diesem Persönlichkeitsstil oft eine tiefe innere Unsicherheit. Das Selbstwertgefühl dieser Menschen ist gering. Sie hegen oft verborgene Vorbehalte gegen ihre Mitmenschen und Autoritätspersonen. Da es ihnen so wichtig ist, gemocht zu werden, verstecken sie meist ihre wahren Gefühle, Wünsche und Sehnsüchte. Sie versuchen, auch ihre Wut zu verstecken. Oft beschreiben sie sich selbst als ›ruhige‹ und ›furchtsame‹ Menschen. Im Priesteramt neigen sie dazu, ihren Mangel an gesundem Selbstbewusstsein spirituell zu rationalisieren, indem sie über ›heiligen Gehorsam‹ sprechen; darüber, dem Willen der anderen zu gehorchen. Die christliche Spiritualität schätzt echten Gehorsam und echte Selbstaufgabe am jeweils angemessenen Ort, doch diese zwanghaft abhängigen Menschen finden in ihrer exzessiven Selbstverleugnung keine Befreiung. Sie sind die Sklaven ihrer eigenen Ängste. Fühlt ein Mensch sich seinen erwachsenen Altersgenossen unterlegen, versucht er dies unter Umständen dadurch zu verbergen, dass er sich freundlich und angepasst verhält. Häufig glaubt er, sein wahres Selbst nicht zeigen zu können. Daher versucht er, so zu sein, wie es die anderen von ihm erwarten (...) Diese Persönlichkeitsstörung verhindert es, dass der Betroffene die menschliche Nähe und Wärme erhält, die für ein gesundes Leben notwendig ist. Bricht eine solche Persönlichkeitsorganisation zusammen, wie es normalerweise irgendwann geschieht, kann sich das auf vielfältige Art manifestieren, auch im Bereich der Sexualität. Wer Kinder als sexuell zugänglich und attraktiv erlebt, begeht dann möglicherweise leicht eine sexuelle Straftat.
Erwachsene Kindesmisshandler können viele verschiedene Persönlichkeitsstile haben, doch dieser eine Typus scheint bei männlichen Priestern vorherrschend zu sein. Psychologen sollten während der psychosexuellen Befragung besonders darauf achten, ob es Zeichen dafür gibt, dass der Befragte sich übermäßig passiv, abhängig und angepasst verhält« (Rossetti/ Müller 1996, 75ff).

Der so beliebte Pfarrer als Täter