INHALTSVERZEICHNIS
GELEITWORT DES REGIONSPRÄSIDENTEN
VORWORT
ARBEIT UND ALLTAG IM INDUSTRIEZEITALTER
EIN BLICK ÜBER DIE REGION HANNOVER
STUMME ZEUGEN FRÜHERER ARBEITS- UND LEBENSWELTEN
IM DORNRÖSCHENSCHLAF
DER „KALKJOHANN" UND SEIN SOHN
INDUSTRIELLER „TAKE-OFF"
GRÜNDERBOOM UND GRÜNDERKRISE
DIE INDUSTRIESTÄDTE HANNOVER UND LINDEN
SOZIALE PROBLEME
STINKENDER GLORIENSCHEIN
EINE EPOCHE GEHT ZU ENDE
WENIG GOLDENE ZWANZIGERJAHRE
UNTER DEM HAKENKREUZ
KEIN ORT FÜR JUNGFRÄULICHE TANTEN
WÄHRUNGSREFORM, WIRTSCHAFTSWUNDER UND GASTARBEITER
LANGSAMES ENDE DES INDUSTRIEZEITALTERS
TEIL 1: INDUSTRIE
TRIEBFEDER DER INDUSTRIALISIERUNG: WERTVOLLE ROHSTOFFE
VON DER NATUR BEGÜNSTIGT
KOHLE, DAS SCHWARZE GOLD DES DEISTERS
GEMÄCHLICHE ANFÄNGE
VORAUSSCHAUENDE INVESTITIONEN
DER SIEGESZUG DER KOHLE BEGINNT
DAS ENDE DER „GOLDENEN JAHRE"
EIN FASS OHNE BODEN
DAS ERSTE AUS FÜR EINE ZECHE IN DER BUNDESREPUBLIK
WAHRE KNOCHENARBEIT
LEBEN IN DER BERGMANNSSIEDLUNG
FRIEDFERTIGE KUMPEL
HISTORISCHE BERGWERKSTOLLEN IM DEISTER
SAMMANSTOLLEN
HOHENBOSTELER STOLLEN
EGESTORFER STOLLEN
KLOSTERSTOLLEN UND ZECHE BARSINGHAUSEN
ZECHE „ANTONIE" IN BARSINGHAUSEN-BANTORF
EINE REGION IM KALIFIEBER
DIE SALINE „EGESTORFFSHALL"
VOM ABFALLPRODUKT ZUM EXPORTSCHLAGER
HOCHPROZENTIGE VERHANDLUNGEN UM KALIGRUND
REGE BAUTÄTIGKEIT ÜBER UND UNTER TAGE
VOM BAUERNDORF ZUM INDUSTRIESTANDORT
EINE BEDEUTUNGSSCHWERE GESETZESLÜCKE
NIEDERGANG EINER INDUSTRIE
DIE SALZSTÖCKE DER REGION HANNOVER
SALZSTOCK WUNSTORF
SALZSTOCK BENTHE
Kaliwerk Hansa-Silberberg, heute Niedersächsisches Museum für Kali- und Salzbergbau in Ronnenberg-Empelde
SALZSTOCK SARSTEDT-SEHNDE
Bergwerk Hohenfels bei Sehnde-Wehmingen
Doppelschachtanlage „Bergmannssegen-Hugo" in Sehnde-Ilten
SALZSTOCK HÄNIGSEN
Kaliwerk „Riedel" bei Uetze-Hänigsen
MIT FÜSSEN GETRETEN: ASPHALT
VERBANDSMATERIAL UND BAUSTOFF AUS DEM MOOR: TORF
ZERBRECHLICHES GUT FÜR DIE GANZE WELT: GLASHÜTTE STEINKRUG
EINE VERWUNSCHENE WELT IM WALD
MIT VOLLER LUNGENKRAFT
DIE NATUR EROBERT TERRAIN ZURÜCK
DER BAUSTIL EINER REGION VERÄNDERT SICH: TON UND LEHM
ZIEGELEI IN NEUSTADT-NÖPKE
ZERMAHLEN, GEBRANNT, GELÖSCHT: KALK
KALKOFEN IN HANNOVER-AHLEM
KALKWERK IN WENNIGSEN-BREDENBECK
GÜNSTIG, DAUERHAFT UND FORMBAR: ZEMENT
VOM BAUERNDORF ZUM ZENTRUM DER DEUTSCHEN ZEMENTINDUSTRIE
EIN MEER VON SCHORNSTEINEN
„SCHWEINEIGELS" RISKIEREN IHRE GESUNDHEIT
EIN STÄNDIGES AUF UND AB
ZEMENTWERK TEUTONIA IN HANNOVER-MISBURG
ZÄHMUNG VULKANISCHER KRÄFTE: DIE METALLINDUSTRIE
EIN GANZ BESONDERER STOFF
„ALTE SCHMIEDE" IN NEUSTADT-HELSTORF (HUFSCHMIEDE-MUSEUM FREHRKING)
DIE „NEUSTÄDTER HÜTTE" IN NEUSTADT AM RÜBENBERGE
SPRUNGHAFTES WACHSTUM EINES LANDSTÄDTCHENS
DER „EISENBAHNKÖNIG" WAGT EINEN NEUANFANG
MASCHINENFABRIK HANOMAG IN HANNOVER-LINDEN
SELBSTBEWUSSTE INDUSTRIEARCHITEKTUR
VOM KOCHTOPF ZUR LOKOMOTIVE
ARBEIT IN DER „CYKLOPEN-WERKSTATT"
„DER KERL WIRD NÄCHSTENS DEUTSCHER KAISER"
„KLEIN-RUMÄNIEN" MITTEN IN LINDEN
EIN SCHWERER START
VOM BEINAHE-KONKURS ZUM „KRIEGSMUSTERBETRIEB"
SPIELBALL VON INVESTOREN
MASSENPRODUKTE FÜR DEN ALLTAG: DIE KONSUMGÜTERINDUSTRIE
GLEICHBLEIBENDE QUALITÄT ZU GÜNSTIGEN PREISEN
HANNOVER, DIE „STADT DES GUMMIS"
HOHER BLUTZOLL FÜR EIN NEUES PRODUKT
DAS CONTINENTAL-GUMMIWERK IN HANNOVER-LIMMER
VON DER KAMMFABRIK ÜBER EXCELSIOR ZUR „CONTI"
EIN WAHRZEICHEN FÜR LIMMER
CONTINENTAL-GUMMIWERK IN HANNOVER-VAHRENWALD
STATIONEN DES AUFSTIEGS
KAFFEEKÜCHEN UND PFIFFIGE WERBUNG
MARKANTE BAUWERKE
(FAST) SPURLOS VERSCHWUNDEN: DIE HANNOVERSCHE TEXTILINDUSTRIE
KINDERGARTEN STATT PROSTITUTION
DÖHRENER WOLLWÄSCHEREI UND -KÄMMEREI IN HANNOVER-DÖHREN
DIE ERSTE DEUTSCHE WOLLWÄSCHEREI
ARBEITSKRÄFTE VON WEIT HER
AUSSICHTSLOSER KAMPF GEGEN MARKTVERÄNDERUNGEN
PELIKANWERKE IN HANNOVER-LIST
MIT PFENNIGBETRÄGEN ZUM MILLIONENUMSATZ
WIE EIN VATER …
GELUNGENE WIEDERBELEBUNG EINER INDUSTRIEBRACHE
FÜR LEIB UND SEELE: AGRAR- UND LEBENSMITTELINDUSTRIE
EINE WACHSENDE BEVÖLKERUNG MUSS SATT WERDEN
VOM BÜRGERLICHEN NEBENERWERB ZUR INDUSTRIE: BIERBRAUEREIEN
VOLKSGETRÄNK MIT LANGER TRADITION
GILDE BRAUEREI AG IN HANNOVER
BRAUEREI SCHEELE IN HANNOVER-ANDERTEN
HOCHPROZENTIGES AUS GRUNDNAHRUNGSMITTELN: BRANNTWEINBRENNEREIEN
WIDER DEN „BRANNTWEINTEUFEL"
SCHNELLER RAUSCH IN EINER BESCHLEUNIGTEN ARBEITSWELT
KORNBRENNEREI WARNECKE IN WENNIGSEN-BREDENBECK
EHEMALIGE BRENNEREI IN WEDEMARK-BRELINGEN
UNABHÄNGIGKEIT VON TEUREN IMPORTEN: DIE ZUCKERINDUSTRIE
VON DER „RÜBENQUETSCHE" ZUR „BAUERNFABRIK"
HARTE ARBEIT UND BESCHWERLICHER TRANSPORT
HOCHSAISON IN DER FABRIK
UMWELTPROBLEME
ALLMÄHLICHER NIEDERGANG EINES GANZEN INDUSTRIEZWEIGS
LETZTE ARCHITEKTONISCHE ZEUGNISSE
KEKSFABRIK BAHLSEN IN HANNOVER
BESONDERE VORLIEBEN: ÄSTHETIK UND RATIONALISIERUNG
„MINISTERIUM" UND „KNUSPERHAUS"
DIE ZWEITE UND DRITTE GENERATION
KONSERVENFABRIK L. WARNECKE IN BURGDORF
OBST UND GEMÜSE ZU JEDER JAHRESZEIT
GENÜGSAME ARBEITERINNEN
WURSTFABRIK AHRBERG IN HANNOVER-LINDEN
TEIL 2: ENERGIE UND WASSER
MIT DER KRAFT DER NATUR: WIND- UND WASSERMÜHLEN
SCHLECHTER LEUMUND EINES GANZEN BERUFSSTANDES
VON DER TAUSCH- ZUR HANDELSMÜLLEREI
DIE WASSERMÜHLE IN NEUSTADT-LADERHOLZ
DIE BOCKWINDMÜHLE IN NEUSTADT-DUDENSEN
DIE HOLLÄNDERWINDMÜHLE IN NEUSTADT-BORSTEL
DIE BOCKWINDMÜHLE IN LANGENHAGEN-KALTENWEIDE
DIE HOLLÄNDERMÜHLE IN BARSINGHAUSEN-WICHTRINGHAUSEN
MEHR KOMFORT IM ALLTAG: STADTTECHNIK
KOSTBARES NASS: DIE WASSERVER- UND -ENTSORGUNG
KUBIKMETER UM KUBIKMETER
WASSERHOCHBEHÄLTER AUF DEM LINDENER BERG
WASSERWERK IN WEDEMARK-ELZE/WEDEMARK-BERKHOF
WASSERTURM IN HANNOVER-BRINK-HAFEN
WASSERTURM IN LANGENHAGEN
WASSERKUNST IN HANNOVER-HERRENHAUSEN
KARRIERE EINES ABFALLPRODUKTS: GAS
DAS ERSTE GASWERK AUF DEM EUROPÄISCHEN FESTLAND
GASOMETER IN HANNOVER-CALENBERGER NEUSTADT
ELEKTRIZITÄT, „DAS FÜNFTE ELEMENT"
HANNOVER GEHT ANS NETZ
STROM FÜRS UMLAND
DER TRAUM VOM „ELEKTRISCHEN SCHWIEGERSOHN"
KOHLEKRAFTWERK IN HANNOVER-AHLEM
TEIL 3: VERKEHR
DURCHQUERUNG VON ZEIT UND RAUM: DAS VERKEHRSWESEN
VOM BOCK ZUM EUROPAKAHN: TRANSPORT ZU WASSER
GARAUS DURCH DIE EISENBAHN: DIE LEINESCHIFFFAHRT
DIE WICHTIGSTE NATÜRLICHE WASSERSTRASSE DER REGION
DER ERNST-AUGUST-KANAL IN HANNOVER-HERRENHAUSEN
VON „KANALREBELLEN" UND „KANALMONARCHEN": DER MITTELLANDKANAL
SCHIFFE INMITTEN VON ÄCKERN UND WIESEN
WILDWEST IM HAFEN
DIE HINDENBURGSCHLEUSE IN HANNOVER-ANDERTEN
DIE SCHLEUSE BEI SEHNDE-BOLZUM
LOKOMOTIVE(N) DES FORTSCHRITTS: DIE EISENBAHN
VOM WIDERSTAND ÜBERS ZÖGERN ZUR EIGENREGIE
MIT WEISSEN HANDSCHUHEN AUF DER LOK
VORGESCHMACK AUF DIE MODERNE
HAUPTBAHNHOF UND HOCHBAHN IN HANNOVER
DUTZENDE VON PLÄNEN
EIN NEUES STADTZENTRUM ENTSTEHT
BAHNHOF IN LEHRTE
BAHNHOF IN WUNSTORF
DOPPEL-RINGLOKSCHUPPEN IN HANNOVER-BULT
AUSBESSERUNGSWERK IN HANNOVER-LEINHAUSEN
RANGIERBAHNHOF IN SEELZE
„SCHNELL / SICHER / BILLIG": DEUTSCHLANDS EINST GRÖSSTES STRASSENBAHNNETZ
SPRÜHENDE FUNKEN, SCHIEBENDE FAHRGÄSTE
AUF „TAUSENDFÜSSLERN" DURCH DIE REGION
„ROTER PUNKT" STATT LINIENVERKEHR
SPUREN DES ALTEN STRASSENBAHNNETZES
ZEITREISE ZU DEN ANFÄNGEN DER „ÜSTRA"
BETRIEBSHOF BUCHHOLZ
„FREIE FAHRT FÜR FREIE BÜRGER": AUTOBAHNEN
BLUFF BEIM AUTOBAHNBAU
DAS AUTO EROBERT DIE STRASSE
EIN VISIONÄR AUS HANNOVER
DAS LIEBE GELD
BAUBEGINN DER HAFRABA
LETZTE RELIKTE DER „VERGESSENEN AUTOBAHN"
ZUR ENTZERRUNG DES VERKEHRS: BRÜCKEN
AUF DIREKTEM WEG
LAVESBRÜCKEN IN HANNOVER-NORDSTADT
BRÜCKEN DER GÜTERUMGEHUNGSBAHN IN HANNOVER
LEINEBRÜCKE IN PATTENSEN-SCHULENBURG
LEINEBRÜCKE KÖNIGSWORTHER STRASSE IN HANNOVER-CALENBERGER NEUSTADT
TROGBRÜCKEN DES MITTELLANDKANALS
LITERATURHINWEISE UND INTERNETQUELLEN
BILDNACHWEIS
ÜBERSICHTSKARTE
INDUSTRIEKULTUR IN DER REGION HANNOVER
herausgegeben von Axel Priebs im Auftrag
der Region Hannover
Gefördert durch die Sparkasse Hannover und die Niedersächsische Sparkassenstiftung
Kartografie
Matthias Rößler und Henryk Pawlacyk, Team Gestaltung der Region Hannover
Projektorganisation in der Regionsverwaltung
Projektkoordination und Information: Michaela Mäkel
Administrative Begleitung: Rolf Himmelsbach
Team Regionale Naherholung der Region Hannover
Höltystraße 17, 30171 Hannover
Tel. 0511/61621011
www.naherholung-hannover.de
DANKE Die Region Hannover möchte an dieser Stelle allen danken, die neben den Autoren und dem Herausgeber sehr engagiert zum Gelingen des Projektes beigetragen haben: Dr. Wolf-Dieter Mechler (Historisches Museum Hannover), Bianca Bartels und Christina Bardeck (Stadtwerke Hannover AG), Udo Iwannek und Wolf-Rüdiger Termer (üstra Hannoversche Verkehrsbetriebe AG), Jürgen Wattenberg (Stadtarchiv Sehnde), Klaus Fesche (Stadtarchiv Wunstorf), Roswita Kattmann (Archiv der Region), Eckard Steigerwald (Stadt Barsinghausen) und Norbert Lopitzsch (Stadt Neustadt a. Rbge.). Besonderer Dank gilt auch Mareike Prahmann und Michael Nehring für die umfangreiche und sorgfältige Recherche historischen Bildmaterials, Gerd Körner von der Region Hannover, Michael Heinrich Schormann von der Niedersächsischen Sparkassenstiftung für die kompetenten Hinweise zum Kapitel HAFRABA und Kerstin Tietgens von der Region Hannover (ÖPNV-Beratung), Beatrice Donné und Uwe Ilgenfritz-Donné (Plakatsammlung Donné) sowie Andreas-Andrew Bornemann (Postkartenarchiv).
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
© Hinstorff Verlag GmbH, Rostock 2010
Lagerstraße 7, 18055 Rostock
Tel. 0381/4969–0
www.hinstorff.de
Alle Rechte vorbehalten. Reproduktionen, Speicherungen in Datenverarbeitungsanlagen, Wiedergabe auf fotomechanischen, elektronischen oder ähnlichen Wegen, Vortrag und Funk – auch auszugsweise – nur mit Genehmigung des Verlages.
1. Auflage 2010
Herstellung: Hinstorff Media
Titelgestaltung und Layout: Beatrix Dedek
Lektorat: Dr. Florian Ostrop
eISBN: 978-3-35601-470-9
GELEITWORT DES REGIONSPRÄSIDENTEN
In der Region Hannover lässt es sich gut leben. Nicht nur die abwechslungsreiche Landschaft zwischen Norddeutscher Tiefebene und den Ausläufern des Mittelgebirges lädt zum Wohlfühlen ein. Die Menschen, die in der Region Hannover wohnen, identifizieren sich auch mit den Städten und Dörfern in dieser Kulturlandschaft. Kein Wunder also, dass viele von ihnen mehr über die Geschichte der Region Hannover erfahren wollen. Wie haben die Menschen in der Vergangenheit gelebt? Wie haben sie gewirtschaftet? Wie erklärt sich die Baukunst aus den unterschiedlichen Epochen?
Mit den „Routen der Industriekultur" beantwortet die Region Hannover – deren Aufgabe unter anderem darin besteht, die regional bedeutsame Naherholung zu fördern – zumindest einen Teil dieser Fragen. Ziel ist es, die Industriekultur vergangener Zeiten sowohl für Einheimische wie für Besucherinnen und Besucher von außerhalb erlebbar zu machen. Hobby-Historiker können fünf Routen zu Fuß oder mit dem Fahrrad erkunden. Sie erfahren dabei, wie Arbeits- und Alltagwelten einst aussahen und wie sie sich im Lauf der Zeit verändert haben. Das vorliegende Buch liefert hierzu leicht lesbare, aber fundierte Hintergrundinformationen.
„Man sieht nur, was man weiß", heißt es. In den vergangenen 150 Jahren hat die Region Hannover im Zuge der Industrialisierung eine spannende Entwicklung erfahren. Die „Routen der Industriekultur" helfen, die Spuren dieser Umwälzung zu lesen. Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern eine anregende Lektüre und interessante Entdeckungen auf ihren Wanderungen, Spaziergängen oder Radtouren.
Der Autorin und den Autoren, dem Herausgeber sowie den Fotografen danke ich für ihre engagierte Arbeit an diesem Buch. Allen anderen, die zum Entstehen beigetragen haben, gilt ebenfalls mein Dank – nicht zuletzt dem Historischen Museum der Landeshauptstadt Hannover sowie den öffentlichen und privaten Archiven, die Dokumente und Bildmaterial zur Verfügung gestellt haben. Der Sparkasse Hannover und der Niedersächsischen Sparkassenstiftung danke ich für die finanzielle Unterstützung der Drucklegung. Schließlich freue ich mich über die gute Zusammenarbeit mit dem Hinstorff Verlag, der auch die ansprechende Gestaltung ermöglicht hat.
Hannover, im November 2010
Hauke Jagau
Regionspräsident
Region Hannover mit den im Buch enthaltenen Zeugnissen der Industriekultur
VORWORT DES HERAUSGEBERS
Ein Buch über Industriekultur in der Region Hannover? Die großen deutschen Industriezentren, das waren doch das Ruhrgebiet, Berlin, das Saarland, das Rhein-Main-Gebiet oder Sachsen? Ja – und auch große Teile der Stadt Hannover sowie ihres unmittelbares Umlandes, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert eines der größten norddeutschen Industriezentren bildeten.
Während viele einstige Industriezentren ihr technikgeschichtliches Erbe mittlerweile als Teil des europäischen Netzwerks „European Route of Industrial Heritage" in touristischen Themenstraßen erfahrbar machen, stehen die noch erhaltenen baulichen Zeugnisse der hiesigen Industriekultur weitgehend unverbunden für sich. Je mehr der Zahn der Zeit an den verbliebenen Industriedenkmalen nagt, je weiter die persönliche bzw. familiär tradierte Erinnerung an einst weltbekannte Unternehmen und vor allem an die Arbeitsprozesse in ihren Werkshallen schwindet, desto gebotener erscheint die Herausgabe des vorliegenden Bandes.
Am Beginn des dafür maßgeblichen Projekts stand die Idee, im Rahmen von Vorschlägen für Ausflugsrouten, die das Team Regionale Naherholung der Regionsverwaltung erstellt, auf markante Industriedenkmale in der Region Hannover hinzuweisen. Schnell wurde deutlich, welche Vielfalt interessanter Relikte der Industriegeschichte in und um Hannover noch vorhanden ist. Zugleich zeigte sich, wie erklärungsbedürftig viele dieser Überreste für den Laien sind und welche vielfältigen wirtschafts-, sozial- und alltagsgeschichtlichen Facetten mit den Objekten verbunden sind. So gesellt sich zu Ausflugstipps mit knappen Hintergrundinformationen, die im Internet (www.industriekultur-hannover.de) abrufbar sind oder als Faltblätter von der Region Hannover (www.hannover.de) herausgegeben werden, ein eigenes Buch. Es stellt nicht nur viele Industriedenkmale der Region aus bau- und technikgeschichtlicher Perspektive vor, sondern leuchtet ausführlich ihren zeit- und sozialgeschichtlichen Hintergrund mit aus. Ausgehend von heute nochzu besichtigenden Objekten beschreiben die Autorin und die beiden Autoren einst bedeutsame Industriezweige in Hannover und seinem Umland sowie ihre Entwicklung von der beginnenden Industrialisierung in den 1830er-Jahren bis in die Gegenwart. Großes Gewicht räumen sie dabei dem ständigen Wandel von Arbeit und Alltag ein. Somit betreibt dieses Buch im weitesten Sinn Industriearchäologie: Es vollzieht Handwerks- und Technikgeschichte nach, beleuchtet die Sozialgeschichte der Arbeitswelt und schreibt die Geschichte von Industriearchitektur einschließlich des Wohnens in der Industrielandschaft. Sein Ziel ist, den Blick für zumeist übersehene Kostbarkeiten aus der Zeit der Industrialisierung zu schärfen.
Es gibt es kein Übersichtswerk zur breiten Palette der einstigen Industrien in der Region Hannover, auf das die Autorin und die Autoren für die Auswahl der im Folgenden vorgestellten Unternehmen hätten zurückgreifen können. So strebt dieses Buch auch keine Vollständigkeit an. Vielmehr beschreibt es eine große Zahl besonders anschaulicher Industrieobjekte, die beispielhaft die (frühere) Vielfalt der im Raum Hannover angesiedelten Industrien verdeutlichen und die wenigstens in Teilen unter Denkmalschutz stehen. Deswegen werden auch bedeutende Industriebetriebe, die heute die Wirtschaft der Region Hannover prägen, in diesem vorwiegend historisch orientierten Buch nicht vertieft behandelt. Das gilt etwa für das VW-Werk in Stöcken, das bekanntlich erst nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet wurde. Obwohl eine Fülle von Literatur ausgewertet und hier oft erstmals in einen neuen Zusammenhang gebracht wurde, unterscheiden sich die einzelnen Kapitel in ihrer Ausführlichkeit und Bildhaftigkeit. Dies hat einen einfachen Grund: Die hier vorgestellten Arbeitswelten waren, so fremd sie uns heute oft schon geworden sein mögen, einst gewöhnlicher Alltag. Alltagszeugnisse aber – Werkzeuge beispielsweise oder Fotografien von Arbeitssituationen – werden oft nicht wertgeschätzt und landen im Abfall tatt im Museum oder Archiv. Selbst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts entsorgten einige Unternehmen nach Besitzerwechseln und Umstrukturierungen das eine oder andere langjährig gepflegte Firmenarchiv im Müllcontainer. Die hierdurch entstandenen Überlieferungslücken kann die bau-, technik-, kultur- oder sozialhistorische Forschung oft nur noch mühsam schließen. Auch manches der im Folgenden beschriebenen Objekte ist hochgradig in seinem Bestand gefährdet, wenn nämlich den hohen Kosten für eine Erhaltung keine entsprechenden Einnahmemöglichkeiten gegenüberstehen. Selbst der Denkmalschutz kann in solchen Fällen keine Garantie für die dauerhafte Erhaltung der Gebäude und Anlagen bieten.
Fassade der ehemaligen Kohlenzeche „Antonie", Detail
Umso wichtiger ist es der Region Hannover, das Bewusstsein für die industriearchäologischen Zeugnisse vor der Haustür zu schärfen. Die hier präsentierten Bauwerke und die Geschichte(n), in die sie eingebettet sind, sollen Appetit machen, selbst auf Spurensuche zu gehen. Genaue Angaben zur Lage und Erreichbarkeit am Ende jeder Objektbeschreibung erleichtern dabei das Auffinden der vorgestellten Industriedenkmale. Hier finden sich auchentsprechende Hinweise, wenn einzelne Objekte nicht frei zugänglich sind, sei es, weil sie sich in Privatbesitz befinden, sei es, weil der unmittelbare Zugang aus Sicherheitsgründen nicht erlaubt ist. In all diesen Fällen ist es aber möglich, sich von außen einen guten Eindruck zu verschaffen. Auch wenn das Buch mit wissenschaftlicher Sorgfalt geschrieben wurde, stand doch für Herausgeber und Autorenteam an erster Stelle eine gute Lesbarkeit des Textes. Deswegen wurde auf ausführliche Verweise und Fußnoten, wie sie in einem wissenschaftlichen Werk üblich wären, verzichtet. Wer aber noch tiefer in die Geschichte der regionalen Industrie oder einzelner ihrer Branchen eintauchen will, findet am Ende des Buches ein vollständiges Quellenverzeichnis und damit auch zahlreiche Literaturtipps zum Weiterlesen.
Hannover, im November 2010
Prof. Dr. Axel Priebs
Erster Regionsrat der Region Hannover
ARBEIT UND ALLTAG IM INDUSTRIEZEITALTER
EIN BLICK ÜBER DIE REGION HANNOVER
Im Jahre 1925 ließ ein Redakteur der sozialdemokratischen Tageszeitung „Der Volkswille" seinen Blick vom Turm des hannoverschen Neuen Rathauses über die Stadt und ihre Umgebung schweifen: „Wir blicken in die Ferne und sehen bei klarem Wetter den Deister, das Steinhuder Meer, weit hinaus in die Ebene. Wenn wir uns daran satt gesehen haben, richten sich die Augen auf den Wald der Schornsteine, der die Stadt westlich und nördlich im Halbkreis dicht umsäumt. Da sind Ricklingen, Linden, Limmer, deren Hauptgebäude die Fabriken sind, über den Orten liegt drückend die Atmosphäre der Industrie: Qualm, Rauch, Ruß. Wenig Grün erfreut das Auge. Straßen, Häuser sind grau, eng, winkelig; denn die Hauptsache sind ja die Fabriken. Sie machen rein baulich den Eindruck von Gefängnissen. Auf jedem der unzähligen Schlote eine Rauchfahne. (…) In [Hannovers] Nordstadt ist das Bild etwas gemildert. Vom Zentrum hinauf führen einförmige Straßen mit einförmigen Häusern. Ein unfreundliches Bild, eingefaßt von den Fabriken nach Hainholz und Vahrenwald zu. Drüben an der Eilenriede ändert sich das Bild. Die Mietskasernen hören auf, die Häuser werden zunehmend Einfamilienhäuser, Villen in Gärten. Die Straßen sind breiter, freundlicher, vielfach mit Vorgärten. (…) Durch eine Lücke des Waldes blicken die Dutzende Schornsteine der Zement-Germania in Misburg. Villenvororte schließen im Osten und Süden den Ring."
Dem Journalisten bot sich ein durch seine Gegensätzlichkeit besonders beeindruckendes Panorama. Fast in Reichweite lag ihm ein pulsierendes Industriezentrum zu Füßen, das – mit deutlich verändertem Gesicht – bis heute zu den wichtigsten Standorten der niedersächsischen Wirtschaft gehört. Eingebettet war es in ein seinerzeit noch stark landwirtschaftlich geprägtes Umland, auch wenn sich gleichwohl hier und dort Schornsteine kleinerer industrieller Anlagenzum Himmel reckten. Das gesamte Blickfeld des Zeitungsmannes entsprach ziemlich genau dem Gebiet der heutigen Region Hannover.
Zu dieser Gebietskörperschaft wurden zum 1. November 2001 die Stadt Hannover und die zwanzig Städte und Gemeinden des zu diesem Zeitpunkt aufgelösten Landkreises Hannover zusammengeschlossen. Sie nimmt verschiedene öffentliche Aufgaben wahr, die zuvor der Stadt, dem Landkreis sowie dem Kommunalverband Großraum Hannover (KGH) oblagen; darüber hinaus sind ihr Verantwortlichkeiten der 2005 aufgelösten Bezirksregierung Hannover zugefallen. Eine der für die Entwicklung der Region besonders wichtigen Aufgaben ist die Wirtschafts- und Beschäftigungsförderung und damit die Sicherung von Arbeitsplätzen für die rund 1,2 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner.
Drei Viertel aller Erwerbstätigen der Region arbeiten heute in den verschiedenen Dienstleistungsbranchen. Da die Land- und Forstwirtschaft als Arbeitgeber heute kaum noch eine Rolle spielen, ist demnach etwa ein Viertel aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im sogenannten produzierenden Gewerbe tätig. Hierzu zählen Industrie-sowie mittlere und kleine Handwerksbetriebe. Besonders bedeutsam sind der Bau von Straßenfahrzeugen, die Gummiverarbeitung und, etwas abgeschwächt, der Maschinenbau, die Chemische Industrie, die Kunststoffverarbeitung, die Nachrichtentechnik sowie die Energiewirtschaft. Dabei behaupten sich vor allem die Unternehmen, deren Produkte einen hohen technologischen Stand aufweisen und die mithilfe modernster Technologie von hoch qualifizierten Arbeitskräften hergestellt werden. Den Herstellern standardisierter Massenprodukte hingegen macht die internationale Konkurrenz, die ihre Güter durch die zunehmende globale Verflechtung der Wirtschaft auf den Weltmarkt wirft, zu schaffen. Die Industrie, die sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in kurzer Zeit zum mit Abstand stärksten Wirtschaftsfaktor entwickelte, hat zum Ende des 20. Jahrhunderts also offensichtlich ihren Zenit überschritten. Gerade in jüngster Zeit häufen sich die Nachrichten, dass Firmen und Konzerne Arbeitsplätze abbauen oder einzelne Standorte gar komplett aufgeben. Von dieser allgemeinen Entwicklung ist auch die Region Hannover nicht ausgenommen. Hier entstanden im Verlauf des 19. Jahrhunderts etliche Industriebetriebe, deren Produkte oftmals überregionalen, gar internationalen Ruf erlangten. Einige konnten ihren Untergang schon im 20. Jahrhundert nicht mehr aufhalten, andere sehen derzeit einer unsicheren Zukunft entgegen.
Blick vom Turm des Neuen Rathauses Hannover in Richtung Ricklingen und Deister
STUMME ZEUGEN FRÜHERER ARBEITS- UND LEBENSWELTEN
Die Geschichte des Industriezeitalters ist eng mit den politischen Wechseln der letzten gut 150 Jahre verzahnt. In seinen Anfängen im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts war die Stadt Hannover Residenz eines gleichnamigen Königreichs, das allerdings die Preußen 1866 annektierten. Fünf Jahre später taten sich im Anschluss an den gewonnenen Deutsch-Französischen Krieg fünfundzwanzig deutsche Staaten – unter ihnen Preußen mit seiner Provinz Hannover – zum Deutschen Kaiserreich zusammen. Der Kaiser dankte nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg (1914–1918) ab; mit der anschließenden Weimarer Republik erlebte Deutschland seine erste parlamentarische Demokratie. Sie währte nur kurz, denn 1933 übernahm das nationalsozialistische Regime die Macht und hinterließ am Ende des Zweiten Weltkriegs (1939–1945) eine Trümmerlandschaft. Die britische Militärverwaltung stellte die Weichen für die Gründung des Bundeslandes Niedersachsen mit seiner Landeshauptstadt Hannover. Im Westen Deutschlands etablierte sich mit der sogenannten Bonner Republik wieder ein demokratischer Staat, der sich 1989 mit der 1949 abgespaltenen DDR wiedervereinigte. Diese „große Geschichte" prägte immer, wenn auch manches Mal mit zeitlicher Verzögerung, die Arbeitswelt und den Alltag.
In der Region Hannover existieren noch heute etliche Industriebauwerke, die bei genauerem Hinsehen viel über die vergangene Geschichte erzählen. Unter ihnen befinden sich unterschiedlichste Produktionsstätten, in denen zur Blütezeit der Industriegesellschaft viele Hundert Menschen ihr Brot verdienten. Einige beherbergen immer noch industriell arbeitende Betriebe, andere sind umgenutzt und mit neuem Leben gefüllt, wieder andere stehen, vom endgültigen Verfall bedroht, seit langer Zeit leer. Dieses Buch würdigt – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – eine große Zahl jener Industriebauten. Darüber hinaus stellt es technische Bauwerke aus den Bereichen Verkehrswesen und Stadttechnik vor. Ihr Entstehen wurde möglich und nötig zugleich durch die immensen wirtschaftlichen und technischen Umwälzungen infolge der Industrialisierung.
Die folgenden Kapitel laden durch ausführliche Beschreibungen dazu ein, sich an ganz unterschiedlichen Orten in der Region auf die Spurensuche zu begeben und die erhaltenen Reste der Industriekultur kennenzulernen. Doch das Buch möchte mehr als nur auf die architektonischen, handwerklichen, kunsthandwerklichen oder technischen Besonderheiten der Industriebauwerke aufmerksam machen. Diese dienen zugleich als Anknüpfungspunkte, noch einmal in einstige Arbeits- und Alltagswelten einzutauchen und ihren fortlaufenden Wandel nachzuvollziehen.
IM DORNRÖSCHENSCHLAF
Das Mutterland der Industrialisierung war England. Hier wurden seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert immer weniger Produkte in traditionellen Handwerksbetrieben hergestellt. Stattdessen zogen Kinder, Frauen und Männer in großer Zahl in neu entstehende Fabriken. Dort fertigten sie in arbeitsteiligen Abläufen und mithilfe dampfgetriebener Maschinen die unterschiedlichsten Güter. Diese neuartige Massenproduktion entwertete die menschliche Arbeitskraft so sehr, dass die Löhne sanken und viele Familien kaum noch ein Auskommen fanden. Deshalb zerstörten ab 1810 immer wieder verzweifelte und aufgebrachte englische Textilarbeiter als sogenannte Maschinenstürmer ihre stählerne Konkurrenz in den Fabriken, wofür sie mit dem Tod, der Deportation nach Australien oder hohen Gefängnisstrafen büßten.
Hannovers Innenstadt
Zu diesem Zeitpunkt lag das damalige Königreich Hannover mit der gleichnamigen Stadt als politischem, wirtschaftlichem und kulturellem Zentrum noch im Dornröschenschlaf. Zwar regierten die hannoverschen Herrscher seit 1714 in Personalunion auch das Königreich Großbritannien und fanden gelegentlich noch ihren Weg von London nach Hannover, doch investierten sie nicht in die Wirtschaft ihres Stammlandes. Es blieb im Wesentlichen ein Agrarland, dessen überwiegend ländliche Bevölkerung den Boden bestellte.
Der hannoversche Staatsmann Christian Ludwig Albrecht Patje (1748–1817), der zeitlebens die wirtschaftlichen Verhältnisse seines Vaterlandes genau beobachtet hatte, stellte am Ende des 18. Jahrhunderts fest: „Man ersparet lieber an der Ausgabe, als daß man die Einnahme zu vergrössern trachtet, man lebet mehr in negativem Wohlseyn, als in positiven Ergötzlichkeiten. (…) Genügsamkeit und ein sicherer ruhiger Genuß der zeitlichen Güter, ein kleinerer aber gewisserer und gemächlicher Zuwachs des Vermögens, stimmet mehr mit dem Character der Landeseinwohner überein, als ein grösserer aber turbulenter Gewinn." Dabei hatte der Staatsbedienstete vor allem die kapitalkräftigen Familien der Stadt Hannover vor Augen: Sie lebten von ihren Anteilen an den Harzbergwerken (der Harz war seinerzeit das einzige „industrielle" Zentrum des Königreichs), den Erträgen ihrer im Umland Hannovers liegenden Güter oder den Gewinnen, die sie durch die verkehrsgünstige Lage der Stadt im Speditions- und Kommissionshandel machten. So verspürten die kapitalkräftigen Hannoveraner laut Patje „so wenig Lust als Nothwendigkeit (…), Fabrik-Anlagen zu machen, oder auswärtige Handels-Speculationen zu unternehmen." Während in anderen deutschen Territorien bereits die Industrialisierung einsetzte, blieben Stadt und Königreich Hannover noch der traditionellen Wirtschaftsweise verhaftet. Ein 1847 erschienener „Führer durch die Haupt- und Residenzstadt" beobachtete, dass durch die aufwendige Hofhaltung, auswärtige Besucher des Hofs, die Beamten der Landesbehörden und die hier stationierten Garnisonsangehörigen soviel Geld für Handwerksprodukte und Dienstleistungen in die Stadt floss, „daß es auch dem geringsten Handwerker nicht an Beschäftigung fehlt und er sich seinen Lebensunterhalt auf eine anständige und bequeme Weise verschaffen kann." Allerdings verkannten die zeitgenössischen Beobachter, dass einem wirtschaftlichen Aufschwung der Stadt zu diesem Zeitpunkt enge Grenzen gesetzt waren. Das dicht bebaute Weichbild ließ neuen, größeren Gewerbebetrieben keinen Raum. Zudem beharrten die Städte auf den Privilegien, die sie den Mitgliedern ihrer Handwerkszünfte seit dem Mittelalter gesichert hatten. Dazu gehörte ein weit gezogener Bannkreis um die Städte, in dem kein Handwerker tätig werden durfte, ohne als „Bönhase" oder „Pfuscher" belangt zu werden. Die Landesherrschaft kam den städtischen Interessen entgegen, weil von dort deutlich mehr Steuern in das Staatssäckel flossen als vom Land. Allerdings machte sie Ausnahmen, wollte sie doch im ganzen Territorium die Produktion und damit die Staatseinnahmen steigern. Außerdem war es unrealistisch zu glauben, dass die ländlichen Haushalte alle Gegenstände für Haus und Hof selbst herstellten oder in den Städten und Flecken besorgten. Deshalb durften wenige, fest umrissene Berufsgruppen ihr Handwerk, wenn auch unter strengen Auflagen, auf dem Land ausüben. Dazu zählten Schneider und Schuster, die gemeinhin als arm galten, weil viele Familien Kleidung und Schuhwerk selber fertigten und ausbesserten. Zu einem gewissen Wohlstand brachten es hingegen Müller, Radbzw. Stellmacher und Schmiede. Ihre Arbeiten konnte kein Haushalt in Eigenregie ausüben, denn hierfür waren teures Arbeitsgerät, umfangreiche Kenntnisse und langjährige Erfahrung nötig. Die erlaubten Handwerker stellten im 18. Jahrhundert gerade einmal 8 bis 10 Prozent der erwerbstätigen Landbevölkerung. Schließlich sperrte sich die Obrigkeit einer wirtschaftlichen Expansion in den Städten, um nicht das Entstehen eines städtischen Proletariats zu begünstigen – welches sich möglicherweise zu einer umstürzlerischen Kraft entwickeln oder der Armenkasse zur Last fallen konnte. Deshalb erschwerten verschiedene Gesetze den Zuzug auswärtiger Arbeitskräfte erheblich.
Ummittelbar vor den Toren Hannovers jedoch begannen sich zu diesem Zeitpunkt Wirtschaft und Leben längst umzukrempeln, denn eigentlich verfügten die Stadt und ihr Umland über alle wesentlichen Faktoren, deren Zusammenwirken hier wie in anderen Industriezentren zum Ausgangspunkt der neuen Wirtschaftsweise wurde.
DER „KALKJOHANN" UND SEIN SOHN
Zu den Grundvoraussetzungen für den Industrialisierungsprozess gehörten leicht ausbeutbare Rohstofflagerstätten, eine verkehrsgünstige Lage, die Nähe zu einem großen Absatzmarkt, ein ausreichend großes Reservoir an Arbeitskräften und schließlich ein neuer Unternehmertypus, der sich von traditionellem Wirtschaftsdenken löste.
Das Gebiet der heutigen Region Hannover liegt im Hinblick auf seine naturräumliche Ausstattung in einem ausgesprochenen Gunstgebiet und war zu Beginn der Industrialisierung reich an Bodenschätzen. Der südwestlich der Stadt Hannover gelegene, etwa zwanzig Kilometer lange und fünf Kilometer breite Höhenzug des Deisters lieferte eine breite Palette verschiedener Rohstoffe, nämlich Bau- und Brennholz, Stein, Kalk, Ton und Steinkohle. An anderen Stellen des Regionsgebietes gab es ergiebige Kieselgur-, Asphalt-, Kali-, Mergel-, Erz- und Tonlagerstätten. Mit etwa 17 000 Einwohnerinnen und Einwohnern (1823) bot die Stadt selber zunächst ein ausreichend großes Potenzial an Arbeitskräften wie auch einen ersten Absatzmarkt für neue Produkte. Außerdem lag sie äußerst verkehrsgünstig im Knotenpunkt von jahrhundertealten Nord-Süd- und Ost-West-Handelswegen. Besonders erfolgreich machte sich all dies der „Kalkjohann" zunutze, der als Initiator der Frühindustrialisierung im Raum Hannover gilt.
Johann Hinrich Egestorff (1772–1834) war der zweitgeborene und damit nicht erbberechtigte Sohn eines Kleinbauern aus dem Dörfchen Lohnde bei Seelze. Der Überlieferung nach sprach er fehlerhaft Hochdeutsch, las schlecht und schrieb nur mit Mühe seinen Namen. Nach seiner Schulzeit arbeitete er zunächst bei einem Bauern. 1786 ging er zu einem hannoverschen Böttcher in die Lehre, bei dem er nach seiner Gesellenprüfung weiterarbeitete. 1803 pachtete er einen Kalksteinbruch am Lindener Berg. Dies war der Grundstein für das erste Großunternehmen der Region, das Egestorff unter intensiver Ausnutzung der nahen Rohstofflager mit Geschick, unternehmerischem Mut und sicherem Gespür für neue Chancen aufbaute. Er stellte den im hiesigen Raum zuvor bescheidenen Abbau von Rohstoffen auf eine breitere Basis und erweiterte seine Unternehmungen Zug um Zug. Systematisch baute er ein Firmenimperium auf, das alles anbot, was die hannoverschen Bauunternehmer brauchten: Bauholz, Kalkstein, Branntkalk und Ziegelsteine. Egestorff investierte die Gewinne aus seinen Geschäften zielgerichtet in neue Unternehmen, statt sie-wie zu seinerzeit üblich-zur Bestreitung eines standesgemäßen Lebensstils zu verbrauchen. Seine neuen Unternehmungen verknüpfte er so mit seinen bestehenden Firmen, dass sie sich gegenseitig sinnvoll ergänzten. Bei Wennigsen erwarb er ein Kohlebergwerk, um seine Betriebe günstig mit Brennstoff zu versorgen. Kalk aus seinen Steinbrüchen verschiffte er nach Bremen, wo der dort nicht vorkommende Rohstoff bessere Preise als im Raum Hannover erzielte. Als Rückfracht brachte er Rohzucker mit, der in der Hafenstadt günstiger als im Binnenland war. Diesen ließ er in der mit seinem Schwiegersohn betriebenen Lindener Zuckersiederei Egestorff und Hurtzig zum begehrten und teuren Endprodukt veredeln. In seinem Todesjahr beschäftigte der „Kalkjohann" direkt oder indirekt die damals immense Zahl von 1 000 Menschen. Der einstige Bauernjunge war nach dem Grafen von Alten größter Grundbesitzer in Linden geworden.
Georg Egestorff (1802–1868) trat in die Fußstapfen seines Vaters. Er steht für Hannovers „Take-off", den Übergang von der Frühindustrialisierung, die sich im Wesentlichen auf die Gewinnung und Verarbeitung von Rohstoffen beschränkte, zur Hochindustrialisierung mit der sich entfaltenden Schwerindustrie. Noch im Geist der Frühindustrialisierung baute der Filius 1831 im damaligen Bauerndorf Badenstedt, heute ein Stadtteil Hannovers, die Saline „Egestorffshall" auf, die bis ins 20. Jahrhundert hinein die bedeutendste Salzgewinnungsanlage der Provinz Hannover war. Eine angeschlossene chemische Fabrik verarbeitete Produktionsrückstände zu Soda; den dafür nötigen Kalk lieferten die familieneigenen Steinbrüche am Lindener Berg. Ein Großteil des Sodas ging in Georg Egestorffs 1856 gegründete Ultramarinfabrik, die den Farbstoff für die Baumwollindustrie lieferte. 1835 gründete der Junior in Linden auch eine Eisengießerei und Maschinenfabrik, die spatere Hanomag. Die rasch wachsende Maschinenindustrie setzte hier wie anderenorts eine Kettenreaktion in Gang: Sie lieferte neben Dampfmaschinen, die im ganzen Königreich Hannover verkauft wurden und die Arbeitsprozesse tief greifend veränderten, auch Zubehör für den Aufbau des Eisenbahnnetzes. Dieses verbesserte die Absatzmöglichkeiten für industrielle Produkte aller Branchen. Außerdem erleichterte die Bahn Rohstofftransporte sowie den Zuzug von Arbeitskräften an die neuen Fabrikstandorte. Hier ermöglichte eine rasch wachsende Bevölkerung den Übergang von der textilen Heimarbeit zur Bekleidungsindustrie, zudem führte die steigende Nachfrage in den Städten nach Lebensmitteln zum Aufbau der Nahrungsmittelindustrie.
Bodenschätze und Verarbeitungsbetriebe im Raum Hannover, Verwaltungsgrenzen aus der Zeit vor der Gebietsreform von 1974
INDUSTRIELLER „TAKE-OFF"
Seit den 1830er-Jahren zeigten sich immer mehr Gewerbetreibende der neuen Wirtschaftsweise aufgeschlossen. 1834 gründeten einige von ihnen in Hannover den „Gewerbe-Verein für das Königreich Hannover". Dieser wollte mit einer Fachzeitschrift, Vorträgen und regelmäßigen Ausstellungen „den vaterländischen Gewerbefleiß" fördern und ermutigte alle Betriebe zum Einsatz von Dampfkraft und neuen Techniken sowie zur Umstellung auf industrielle, arbeitsteilige Herstellungsprozesse. Außerdem prüfte der Verein neu entwickelte Geräte, Maschinen, Apparaturen und Verfahrensweisen und prämierte gelungene Innovationen. Im gleichen Jahr stampfte und zischte in einer Lindener Lederfabrik die erste Dampfmaschine im Königreich. Bis 1861 wuchs ihre Zahl in der Stadt Hannover auf 27 Maschinen mit insgesamt 242 PS, während im benachbarten Amt Linden jetzt 29 Maschinen kraftvolle 1 368 PS lieferten.
Das Jahr 1834 zeigte zugleich, dass die hannoverschen Staatslenker ungeachtet des erwachenden Unternehmergeistes einzelner Untertanen an einer konservativen Wirtschaftspolitik festhielten. In diesem Jahr schlössen sich nämlich einige deutsche Staaten zum Deutschen Zollverein zusammen, um durch die Beseitigung der innerdeutschen Zollschranken zwischen ihren Territorien die wirtschaftliche Entwicklung jedes einzelnen Mitgliedsstaates zu fördern. Das Königreich Hannover jedoch lehnte diese wirtschaftliche Öffnung ab.
1837 endete die hannoversch-britische Doppelmonarchie und mit König Ernst August (1771–1851) bezog erstmals seit über einhundert Jahren wieder ein hannoverscher Monarch dauerhaft das Leineschloss in Hannovers Altstadt. Dies bewirkte rege Bautätigkeiten in der Stadt. Zunächst entstanden vorwiegend repräsentative öffentliche Gebäude und prächtige Wohnbauten der Reichen und Vornehmen. Seit 1845 entwickelte sich die neu angelegte Ernst-August-Stadt auf dem Gebiet der ehemaligen hannoverschen Vororte Westwende, Bütersworth, Fernrode und „Vorort" mit ihren Geschäften, Hotels und Gaststätten zum neuen Stadtzentrum, das den alten Zentren Altstadt und Calenberger Neustadt den Rang ablief. Großen Anteil daran hatte der Bahnhof, der ebenfalls ab 1845 in unmittelbarer Nachbarschaft der Ernst-August-Stadt entstand. Erst kurz zuvor hatte das Königreich dem Drängen benachbarter Territorien nachgegeben, eine Eisenbahnlinie quer durch sein Territorium zu errichten und an die benachbarten Netze anzuschließen.
Hannovers Einbindung in das neue Verkehrsnetz stärkte seine Knotenpunktfunktion und belebte Handel und Verkehr. Auch dies war eine wesentliche Voraussetzung für die Entfaltung der lokalen Industrie. Doch noch immer schränkten die althergebrachten Privilegien der städtischen Handwerkerzünfte ein gewerbliches Wachstum ein. Die hannoversche Stadtverwaltung lehnte beispielsweise in den 1840er-Jahren mehrfach Gesuche von Wagenbauern ab, die ihren Betrieb auf den fabrikmäßigen Bau von Eisenbahnwaggons umstellen wollten. So konnten sich in der Stadt zunächst nur Industriebetriebe entfalten, deren Produkte und Produktionsweisen derart neu waren, dass sie nicht in den Aufsichtsbereich einer Zunft fielen. Dies war der Fall, wenn Handwerker verschiedener Gewerke unter einem Dach arbeiteten, die-obwohl auf ihrem Gebiet zunächst noch allesamt handwerklich tätig – nur Teile des Ganzen herstellten. Unter diesen Bedingungen ließensich die hannoverschen Fabriken des Jahres 1847 fast an einer Hand abzählen: Es gab eine Bronze- und Knopffabrik sowie eine Tapetenfabrik, eine Mechanische Weberei, je eine Baumwollgarnbzw. Flachs- und Hedespinnerei, eine Farben- und Asphaltfabrik, eine Furnierschneiderei und schließlich eine Zichorienfabrik, die Kaffee-Ersatz herstellte. Die Bezeichnung „Fabrik" ist sogar irreführend, denn viele dieser sogenannten Etablissements beschäftigten kaum ein Dutzend Leute.
Hauptbahnhof Hannover, vor 1945
Allmählich öffnete sich der Staat neuen ökonomischen Modellen. Ihm lag daran, das Geld im heimischen Wirtschaftskreislauf zu halten, statt es für Importe auszugeben. Dazu setzte er auf Produktionssteigerungen, die sich nach traditionellem Verständnis nur durch mehr Arbeitskräfte, also eine wachsende Bevölkerung, erreichen ließ. Um diese ernähren zu können, führte er unter anderem vom ausgehenden 18.Jahrhundert bis in diezweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein umfassende Agrarreformen durch. Zunächst wurden die mehreren Orten oder Grundherren gehörenden Waldstücke und Weideflächen geteilt, dann erhielt jeder dörfliche Hofbesitzer einen Anteil an diesen entflochtenen Gemeinheitsflächen. Den Abschluss machten örtliche Verkoppelungen, in denen die zuvor stark zersplitterten landwirtschaftlichen Flächen im Sinne einer Flurbereinigung neu parzelliert und durch neue Wegesysteme erschlossen wurden, um sie effektiver zu nutzen. Die Umverteilung der Landwirtschaftsflächen kam vor allem den besitzenden Bauern zugute, während sich die Erwerbssituation von nahezu besitzlosen Dorfbewohnern verschlechterte. Viele zogen in den folgenden Jahrzehnten in der Hoffnung auf ein besseres Einkommen als Industriearbeiter in die Städte.
1848 sollte eine nach preußischem Vorbild erneuerte Gewerbeordnung für das Königreich Hannover die neue Wirtschaftspolitik flankieren, scheiterte aber am vehementen Protest der städtischen Zunftvertreter. 1854 schloss sich das Königreich dem Deutschen Zollverein an. Der Wegfall der innerdeutschen Zollgrenzen sowie die gegen Importe, vor allem englische Textilien, verhängten Schutzzölle erhöhten die Verkaufschancen hannoverscher Produkte und gaben dem Raum Hannover neue wirtschaftspolitische Impulse. Er erlebte zwischen 1848 und 1858 eine wahre Gründungswelle von Industriebetrieben, unter ihnen vor allem Textilfabriken. Ein Großteil dieser neuen Betriebe ließ sich in Linden nieder.
GRÜNDERBOOM UND GRÜNDERKRISE
1866 erhielten viele königstreue Untertanen einen „Schlag in die Magengrube": Im Zuge des Deutschen Krieges besiegte Preußen das Königreich Hannover und verleibte es sich als Provinz ein. Der letzte hannoversche König, Georg V. (1819–1878), wurde entthront und ging ins Exil; ein von Preußen eingesetzter Oberpräsident führte fortan die Provinz. Die Annexion erwies sich als Motor für neuen wirtschaftlichen Schwung, denn eine 1858 einsetzende weltweite Depression hatte auch in Hannover zu Massenentlassungen geführt; in Linden schnellte die Erwerbslosenquote teilweise auf 25 Prozent hoch. Unter preußischer Hoheit nun wurde im Hannoverschen in den Jahren 1867 bis 1869 die Gewerbefreiheit eingeführt. Der Wegfall jeglichen Zunftzwangs machte für Unternehmer den Weg frei, auch Handwerksprodukte industriell herzustellen. Ein neues Gesetz zur sogenannten Freizügigkeit erlaubte jedermann, sich am Ort seiner Wahl niederzulassen. Dies ermöglichte die Wanderung von Arbeitskräften in neue Industriezentren im großen Maßstab.
In den frühen 1870er-Jahren erlebte der Raum Hannover einen wahren Gründungsboom. Es entstanden, zunächst vornehmlich am westlichen Stadtrand oder in den dort angrenzenden Dörfern, Unternehmen der verschiedensten Branchen, von denen etliche rasch wuchsen und einen überregionalen Ruf erlangten. Doch nicht nur Gewerbefreiheit und Freizügigkeit waren dafür ausschlaggebend. Ab 1870 erleichterte eine Gesetzesnovelle die Gründung kapitalkräftiger Aktiengesellschaften, sodass Unternehmern nicht mehr wie zuvor nur ihr Privatvermögen für eine Firmengründung zur Verfügung stand. Daneben brachte der deutsche Sieg im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 hohe französische Entschädigungszahlungen ins Land. Zudem löste er eine patriotische Hurra-Stimmung aus, die der deutschen Kleinstaaterei ein Ende setzte und den Zusammenschluss zum Deutschen Kaiserreich bewirkte. Zwischen 1871 und 1873 entstanden allein in Preußen über fünfhundert neue Aktiengesellschaften. Auch in anderen europäischen Industrienationen und in Nordamerika wuchs die Wirtschaft ungesund schnell, sodass ein weltweiter Gründerkrach 1873 den deutschen Gründerjahren ein jähes Ende setzte. Banken erklärten ihre Zahlungsunfähigkeit, Anleger zogen ihr Geld zurück und Aktienkurse fielen ins Bodenlose. Dank der Vielseitigkeit der in Hannover ansässigen Industriebranchen sowie der noch immer stark im regionalen Wirtschaftsleben vertretenen Kleinbetriebe wirkte sich diese Krise hier nicht so verheerend aus wie in anderen Industrieregionen.
DIE INDUSTRIESTÄDTE HANNOVER UND LINDEN
Der industrielle „Take-off" erreichte nicht das ganze Königreich bzw. die ganze Provinz, sondern nur wenige Ortschaften. Hierzu zählten im Wesentlichen Harburg, das damals noch nicht zu Hamburg gehörte, Standorte von neu gegründeten Hüttenbetrieben wie Neustadt am Rübenberge, Groß Ilsede bei Peine oder Georgsmarienhütte bei Osnabrück sowie die Stadt Hannover und ihr Nachbarort Linden. In diesen neuen, industriellen Ballungszentren änderte sich das Ortsbild innerhalb Wenigerjahrzehnte drastisch. Die einst beschauliche Residenz Hannover wurde 1873 mit mehr als 100 000 Einwohnerinnen und Einwohnern Großstadt und war 1880, gemessen an ihrer Bevölkerungszahl, die zehntgrößte Stadt im Deutschen Reich.
Das Dorf Linden mit dem Schloss und dem Park derer von Alten und dem königlichen Küchengarten war bis zu den 1830er-Jahren ein bevorzugter Villenvorort wohlhabender hannoverscher Familien gewesen. Ihre stattlichen Anwesen lagen zwischen den Höfen des bäuerlich geprägten Dorfes, vor allem aber an der Ihme, die lauschig hinter den Gärten der Villen entlangfloss. 1837 noch als „das erste und schönste Dorf im ganzen Königreiche" gerühmt, erlebte der Schriftsteller Julius Rodenberg (1831–1914) 1871 ein ganz anderes Linden: „Wie sich im Osten [Hannovers] nach dem Walde zu das Terrain mit den saubersten Häuserreihen und Gärtchen bedeckt, so wächst gen Westen ins freie Feld hinaus Schornstein nach Schornstein empor; eine ganze Vorstadt von Arbeiterwohnungen ist dort entstanden und wo ich als Kind durch stille Dorfstraßen an Gräben und Hecken botanisieren ging, da saust jetzt die Maschine, steigt Qualm aus himmelhohen Schloten, führen die Wege durch Kohlenstaub und Schlacken." 1875 zählte die Bevölkerung Lindens bereits 20 000 Köpfe. Weder genügte die alte Gemeindeordnung den neuen Verhältnissen noch konnte die Gemeinde die hohen finanziellen Belastungen für die Schaffung einer ausreichenden Infrastruktur tragen. So suchte sie mehrfach bei der Stadt Hannover um Eingemeindung nach, um die Verantwortung und die finanzielle Last zu teilen, doch diese weigerte sich nachdrücklich. Schließlich bemühte Linden sich um die Zuerkennung eigener Stadtrechte, die es 1885 erhielt. Fortan verfügte es über höhere Steuereinnahmen und konnte durch eine geregelte Stadtplanung mehr Einfluss auf seinen weiteren Ausbau nehmen. 1909 gemeindete Linden eine Reihe seiner Nachbardörfer, unter anderem Limmer, Davenstedt und Badenstedt, ein. Damit wurde es zweitgrößte Stadt der Provinz Hannover und überflügelte mit seinen 86500 Einwohnerinnen und Einwohnern einst im Territorium so bedeutende Städte wie Osnabrück, Hildesheim oder Lüneburg. Nach wie vor bemühte Linden sich aus Kostengründen um den Schulterschluss mit Hannover, das jedoch erst 1920 der Eingemeindung zustimmte. Andere hannoversche Stadterweiterungen erfolgten hingegen im raschen Einverständnis beider Seiten. Mit der Industrialisierung Hannovers und Lindens verloren auch viele Nachbardörfer ihren einst bäuerlichen Charakter. Viele Arbeiter pendelten von dort in die Fabriken; es war durchaus üblich, einen Arbeitsweg von sechs Kilometer Länge zu Fuß zurückzulegen. Ebenso wichen Industriebetriebe in die Randgemeinden aus. So wuchsen die beiden großen Städte allmählich mit ihrem Umland zusammen. Die auf diese Weise rasch an Größe gewinnenden Gemeinden trugen wie Linden schwer an den Kosten für die notwendigen öffentlichen Einrichtungen und Aufgaben und teilten diese gerne mit der Stadt Hannover. Dort spülte ihre Eingemeindung willkommene Steuern in die Stadtkasse und brachte eine Baulandreserve für das weitere Wachstum. So wurden zwischen 1891 und 1913 unter anderem Stöcken, Hainholz, Herrenhausen, Vahrenwald, List, Bothfeld, Groß und Klein Buchholz, Kirchrode, Wülfel, Döhren und Ricklingen mit seinem für die Stadt bedeutsamen Wassergewinnungsgebiet zu hannoverschen Stadtteilen. Nachdem die Eisenbahn ab 1872 und die Straßenbahn ab der Wende zum 20. Jahrhundert den Raum Hannover durchzogen, hatten auch die Gemeinden in einem größeren Radius um die Stadt herum größeren Anteil an der Industrialisierung. Die neuen Transportwege förderten den Abbau von Rohstoffen in der Region; Arbeitskräfte und Marktfrauen mit bäuerlichen Produkten pendelten fortan auch über größere Entfernungen nach Hannover.
Abstellgleis der Straßenbahn und Niederlage der Städtischen Lagerbierbrauerei Hannover in Barsinghausen
SOZIALE PROBLEME