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James Rollins:Das Flammenzeichen
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© der Originalausgabe 2009 by Jim Czajkowski
Published in agreement with the author,
c/o BAROR INTERNATIONAL, INC., Armonk, New York, U.S.A.
© der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by Blanvalet Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Covermotiv: © Johannes Wiebel | punchdesign,
unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-06630-7
V003
www.blanvalet.de
www.penguinrandomhouse.de

Inhaltsverzeichnis

Widmung
DOOMSDAY-BUNKER
NORDEUROPA UND POLARKREIS
VORBEMERKUNG ZUM HISTORISCHEN HINTERGRUND
VORBEMERKUNG ZUM WISSENSCHAFTLICHEN HINTERGRUND
EINS - DIE SPIRALE UND DAS KREUZ
Viatus will künftige Nahrungsmittelversorgung sicherstellen
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
ZWEI - FEUER UND EIS
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
DREI - DIE SAAT DER ZERSTÖRUNG
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
VIER - DIE SCHWARZE MADONNA
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
EPILOG
NACHBEMERKUNG DES AUTORS: WAHRHEIT ODER FIKTION?
DANKSAGUNG
Copyright

DANKSAGUNG

Alle Autoren sind auf Unterstützung angewiesen. Ohne festen Boden gibt es kein Fundament, auf dem man aufbauen könnte. Ich stelle da keine Ausnahme dar. Deshalb möchte ich mir einen Moment Zeit nehmen, um den Menschen zu danken, die in den vergangenen Jahren mein Fundament gewesen sind. Zunächst möchte ich meiner Kritikergruppe danken, die dafür sorgt, dass ich aufrichtig und produktiv bleibe: Penny Hill, Judy Prey, Dave Murray, Caroline Williams, Chris Crowe, Lee Garrett, Jane O’Riva, Sally Barnes, Denny Grayson, Leonard Little, Kathy L’Ecluse und Scott Smith. Mein besonderer Dank gilt Steve Prey, der mir bei der Erstellung der Landkarten und schematischen Darstellungen eine große Hilfe war. Außer meinen Schreibkollegen haben Carolyn McCray und David Sylvian meine Höhen und Tiefen begleitet. Für jahrelange Unterstützung bei Geschichten und Artikeln und allem, was explodieren kann, danke ich Cherei McCarter. Und da ich muss – er zwingt mich nämlich, das zu schreiben –, möchte ich Steve Barry für einen entscheidenden Hinweis zum Plot danken. Aus freien Stücken füge ich hinzu, dass er ein großartiger Autor und ein noch besserer Freund ist. Zum Schluss möchte ich noch vier Menschen danken, die mir auf allen Stufen der Buchproduktion eine große Hilfe waren: meiner Lektorin Lyssa Keusch und ihrer Kollegin Wendy Lee, sowie meinen Agenten Russ Galen und Danny Baror. Und wie immer möchte ich ausdrücklich betonen, dass alle Fehler und Irrtümer zu meinen Lasten gehen.

EPILOG

23. Oktober, 23:55 Washington, D. C.

PAINTER STIEG DIE Treppe zur untersten Region der Sigma-Zentrale hinunter. Es war ein paar Minuten vor Mitternacht, ein unglücklicher Zeitpunkt, um einen Obduktionsraum aufzusuchen.

Das Paket war jedoch erst vor einer Stunde eingetroffen. Die Arbeit musste rasch getan werden. Anschließend würden alle Beweise vernichtet und an Ort und Stelle eingeäschert werden. Er hatte den Obduktionsraum erreicht.

Dr. Malcolm Reynolds, Sigmas Chefpathologe, erwartete ihn bereits und geleitete ihn hinein. »Der Leichnam ist vorbereitet. «

Painter folgte dem Pathologen in den angrenzenden Raum. Es roch nach verbranntem, vergammeltem Fleisch. Auf dem Tisch lag eine mit einem Tuch zugedeckte Gestalt. Daneben stand ein Rolltisch mit einem Sarg. Dr. Reynolds hatte das Diplomatensiegel des Sargs bereits gebrochen.

Painter hatte alle Hebel in Bewegung setzen müssen, um den Leichnam mit falschen Papieren heimlich aus Frankreich hierherschaffen zu lassen.

»Ist kein schöner Anblick«, sagte Malcolm. »Der Leichnam war stundenlang der Backofenhitze ausgesetzt, bevor jemand daran dachte, ihn zu bergen.«

Painter war nicht sonderlich empfindlich. Dennoch schreckte er zurück, als der Pathologe Dr. Wallace’ Leichnam enthüllte. Das Gesicht des Mannes war aufgedunsen, an einer Seite verkohlt und an der anderen Seite purpurrot. Die verkohlte Seite hatte vermutlich Kontakt mit dem Backsteinboden der unterirdischen Kammer gehabt. Gray hatte erwähnt, dass die Brandbombe den Boden stark erhitzt habe.

»Helfen Sie mir, ihn auf den Bauch zu wälzen«, sagte Painter.

Mit vereinten Kräften drehten sie Wallace um.

»Ich hol mal eben einen Rasierer.«

Malcolm verschwand.

Painter musterte den ausgedörrten Leichnam. Wallace hatte behauptet, zu Echelon zu gehören, womit Seichan zufolge die wahren Anführer der Gilde gemeint waren. Über weitergehende Informationen verfügte sie nicht, abgesehen von einem Gerücht, das ihr nur ein mal zu Ohren gekommen war.

Malcolm kehrte mit einer Haarschneidemaschine und einem Einmalrasierer zurück. Painter entfernte zunächst mit dem Haarschneider das Haar von Wallace’ Hinterkopf, dann rasierte er die Stelle mit dem Einmalrasierer.

Als er fertig war, wurde das Gerücht bestätigt.

Auf dem Hinterkopf prangte eine Tätowierung von der Größe eines Daumennagels. Sie stellte die Werkzeuge eines Steinmetzen dar: Zirkel und Winkeleisen.

Dies war das Symbol der Freimaurer, einer weltweit tätigen Bruderschaft. Das Zeichen in der Mitte gehörte allerdings nicht dazu. Normalerweise stand dort der Buchstabe G, stellvertretend für »Gott« oder »Geometrie«.

Manchmal stand er auch für »Gilde«.

Painter wusste, dass Seichans Terrororganisation keinen richtigen Namen hatte, und wenn doch, war er nur der obersten Führungsriege bekannt. Verwies dieses Symbol mit seinem Freimaurerbezug vielleicht auf einen geläufigeren Namen?

Painter betrachtete das Symbol eingehend. In der Mitte waren ein Halbmond und ein Stern dargestellt. Dergleichen hatte er noch nie gesehen. Wer immer diese Leute waren, Freimaurer waren sie jedenfalls nicht.

Jetzt, da das Symbol offen zutage lag, wurde Painter von Unruhe erfasst. Er hatte gefunden, wonach er gesucht hatte.

»Verbrennen Sie den Leichnam«, wies er Malcolm an. »Äschern Sie ihn ein.«

Painter wollte nicht, dass seine Entdeckung bekannt wurde. Über Seichans ehemalige Vorgesetzte war nur wenig bekannt. Jetzt aber hatte er zwei Puzzlesteine.

Den Namen Echelon … und das seltsame Symbol.

Einstweilen musste das reichen.

Doch es war noch nicht vorbei – das galt für beide Seiten.

Malcolm stellte ihm eine letzte Frage. »Was hat das zu bedeuten? «

Painter antwortete im Brustton der Überzeugung: »Es gibt Krieg.«

NACHBEMERKUNG DES AUTORS: WAHRHEIT ODER FIKTION?

Alles in diesem Buch ist wahr, abgesehen von dem, was nicht wahr ist. Zum Schluss möchte ich ein paar Haarspaltereien betreiben. Zwei Dinge waren der Auslöser für diese Geschichte. Zunächst waren sie ganz unabhängig voneinander, doch mir war klar, dass eine Verbindung bestand und Sigma den Zusammenhang würde untersuchen müssen.

 

Die Geschichte des Keltenkreuzes. Es gibt eine faszinierende und verblüffende Untersuchung der Geschichte des Kreuzes, worin darüber spekuliert wird, dass es in der fernen Vergangenheit als Navigationsinstrument gedient haben könnte. In dem fesselnden Buch The Golden Thread of Time von Crichton Miller finden sich dazu eine Menge Informationen, Diagramme und Analysen.

 

Die Geschichte des neolithischen England. Die in diesem Buch erwähnten Hinweise darauf, dass die Ägypter Kolonien in England angelegt haben könnten, sind durch Fakten belegt. Sollten Sie weitere Informationen suchen, möchte ich Sie auf das Buch Kingdom of the Ark von Lorraine Evans verweisen. Und was die Fomoren-Stämme angeht, die von den keltischen Siedlern in England vorgefunden wurden, so spekulieren einige Historiker, dass ihre Beschreibung – dunkelhäutig und in der Landwirtschaft bewandert – sich auf einen unbekannten ägyptischen Stamm beziehen könnte.

 

Alte Symbole. In meinem Roman werden zahlreiche Symbole erwähnt, die im Laufe der Jahrhunderte einem stetigen Wandel unterlagen. Die sie betreffenden Theorien beruhen auf Fakten, und das gilt auch für die in mittelalterlichen Kirchen gefundenen Weihekreuze.

 

Heilige. Wie zu Anfang des Buches erwähnt, war Malachias ein irischer Heiliger, der im zwölften Jahrhundert lebte, angeblich Wunderheilungen vollbrachte und die berühmte Papstprophezeiung verfasste. Er wurde tatsächlich in einer Gruft der Abtei Clairvaux bestattet, deren Ruinen merkwürdigerweise auf dem Gelände eines Hochsicherheitsgefängnisses liegen, das von Napoleon gegründet wurde. Für zwei Euro Eintritt kann man an der wöchentlichen Besichtigungstour teilnehmen. Die Geschichten über das Leben des heiligen Bernhard – das Wunder der Lactatio, seine Beziehungen zu den Tempelrittern und sein Eintreten für den Kult der Schwarzen Madonna – sind historisch verbürgt. Falls Sie mehr über die Heiligen und die Kultur der Kelten erfahren möchten, empfehle ich Ihnen die Bücher How the Irish Saved Civilization von Thomas Cahill und The Quest for the Keltic Key von Karen Ralls-MacLeod und Ian Robertson.

 

Was die Prophezeiungen betrifft: Hier sind die letzten Päpste aufgeführt, die in der Aufzählung des heiligen Malachias Erwähnung finden:

 

a. Papst Paul VI. (1963 – 1978) wird als Flos Florum charakterisiert, als Blume aller Blumen. In seinem Wappen sind drei Lilien abgebildet.

b. Papst Johannes Paul I. (1978) wird von Malachias De Medietate Lunae oder Halbmond genannt. Seine Amtszeit währte nur einen Monat, was dem Wechsel von Halbmond zu Halbmond entspricht.

c. Papst Johannes Paul II. (1978 – 2005) wird als De Labore Soli oder Von der Mühsal der Sonne charakterisiert, eine Metapher für eine Sonnenfinsternis. Bei der Geburt dieses Papstes fand eine Sonnenfinsternis statt.

d. Papst Benedikt XVI. (seit 2005) findet unter dem Namen De Gloriae Olivae Erwähnung, von der »Herrlichkeit der Olive«. Der Benediktinerorden, von dem der Papst seinen Namen hat, führt einen Olivenzweig im Wappen.

e. Dann wäre da noch der letzte Papst, der das Ende der Welt erleben soll: Petrus Romanus. Seine Beschreibung ist die längste von allen.

Auf Lateinisch: In persecutione extrema S.R.E. sedebit Petrus Romanus, qui pascet oves in multis tribulationibus: quibus transactis civitas septicollis diruetur, et ludex tremendus iudicabit populum. Finis.

In deutscher Übersetzung: In höchster Bedrängnis wird der Papstthron der Heiligen Römischen Kirche von Petrus dem Römer eingenommen werden, der seine Schäfchen durch schwere Drangsal geleiten wird, an deren Ende die Stadt der Sieben Hügel vernichtet und der höchste Richter über sein Volk richten wird. Ende.

 

Wie Vigor gegenüber Gray hervorgehoben hat, war diesem Papst im Gegensatz zu allen anderen keine Zahl zugeordnet. Dies wurde dahingehend interpretiert, dass auf Papst Benedikt XVI. noch weitere Päpste folgen könnten, bis Petrus Romanus sein Amt anträte. Nur die Zeit kann erweisen, welche Deutung zutreffend ist.

 

Nun zu den Sündern.

 

a. Biotreibstoffe: Von dem Mais, der benötigt wird, um den Tank eines SUVs mit Ethanol zu füllen, könnte ein Mensch ein Jahr lang leben. Außerdem gilt als ausgemacht, dass die Umstellung vom Nahrungsmittelanbau auf die Produktion von Biokraftstoff zu einer massiven Verteuerung der Nahrungsmittel geführt hat.

b. Genmodifizierte Nahrung: Zu diesem Thema gibt es Berge von Literatur, teils pro, teils contra. Folgende zwei Bücher stellen eine verstörende Lektüre dar. In Seeds of Deception deckt Jeffrey M. Smith auf, wie lax die Vorschriften sind, denen die Industrie unterworfen ist. Die bedrohlicheren Aspekte schildert Seeds of Destruction von F. William Engdahl – besonders im Hinblick auf das im Buch erwähnte empfängnisverhütende Saatgut.

c. Bienen: Kennen wir die Ursache des Bienensterbens? Michael Schackers Buch A Spring without Bees zufolge gibt es eine gut belegte Erklärung, die sowohl unterdrückt als auch ignoriert wird. Und in Frankreich kehren die Bienen tatsächlich zurück.

d. Vernichtungswaffen: In diesem Buch entfalten WASP-Dolche, thermobarische Bomben und kinetische Feuerbälle ihre zerstörerische Wirkung. Alle diese Waffen gibt es wirklich.

 

Überbevölkerung. Den Club of Rome gibt es, und er leistet hervorragende Arbeit. In dem Bericht »Die Grenzen des Wachstums« wird das von Ivar Karlsen erwähnte Untergangsszenario ausgemalt, wonach die Menschheit auf einen Punkt zusteuert, der neunzig Prozent der Bevölkerung das Leben kosten wird.

 

Das Domesday Book. Wie in der Einleitung erwähnt, handelt es sich um einen historischen Wälzer. Einige der erwähnten Siedlungen sind tatsächlich als »verwüstet« gekennzeichnet. Das Werk wurde in einer Zeit verfasst, da es zumal im Grenzland Spannungen zwischen Christen und Heiden gab.

 

Orte, Orte, Orte. Die meisten im Buch erwähnten Orte gibt es, und die ihnen zugeordneten Geschichten entsprechen den Fakten.

 

a. Die Burg Akershus liegt am Rande des Osloer Hafens, wo Kreuzfahrtschiffe anlegen. In der Burg wurden tatsächlich die erwähnten Hinrichtungen durchgeführt. Auch die Geschichte des Münzmeisters Henrik Christofer Meyer, der für seine Vergehen hingerichtet und an der Stirn von König Frederik IV. gebrandmarkt wurde, ist historisch belegt.

b. Die globale Saatgutbank von Svalbard trägt den Spitznamen »Doomsday Vault«, Gruft des Jüngsten Gerichts. Die Anlage ist zutreffend geschildert, einschließlich der stärksten Abwehrwaffe, der Eisbären.

c. Die Insel Bardsey ist tatsächlich mit Avalon identisch. Sämtliche Geschichten und Mythen, welche die Insel betreffen, sind zutreffend, das gilt auch für Merlins Grab, Lord Newboroughs Gruft und die zwanzigtausend bestatteten Heiligen. Der Bardsey-Apfel gedeiht noch immer, inzwischen gibt es auch Ableger des uralten Baums zu kaufen. Auch die widrigen Strömungen sind Realität. Deshalb sollten Sie nur bei schönem Wetter übersetzen!

d. Der englische Lake District ist tatsächlich ein Land der Mysterien und Steinkreise. Außerdem ist dies die Heimat der arbeitsamen Fell-Ponys. In der Gegend gibt es zudem zahlreiche Torfmoore, wenngleich sie weniger bewaldet und nicht so feurig sind wie in diesem Buch geschildert. Doch es ist bekannt, dass manche Torffeuer jahrhundertelang gebrannt und auch schneereiche Winter überstanden haben. Einige dieser Feuer werden dazu genutzt, den besten schottischen Whisky zu brennen – doch das ist eine ganz andere Geschichte. Auch die Torfmumien gibt es tatsächlich – und das gilt auch für den Laden in Hawkshead, der ausschließlich Teddybären verkauft: Sixpenny Bears.

 

Also schenken Sie Kowalski einen Teddybären … ich finde, er hat ihn verdient.

1

9. Oktober, 4:55 Mali, Westafrika

GEWEHRFEUER RISS JASON Gorman aus dem Tiefschlaf. Es dauerte einen Moment, bis ihm wieder einfiel, wo er war. Er hatte geträumt, er sei im See beim Ferienhaus seines Vaters im Hinterland von New York geschwommen. Das Moskitonetz, das sein Feldbett umhüllte, und die frühmorgendliche Kühle der Wüste holten ihn jedoch schnell in die Gegenwart zurück.

Die Kühle und die Schreie.

Mit hämmerndem Herzen warf er das dünne Laken ab und streifte das Netz beiseite. Im Innern des Rotkreuz-Zeltes war es stockdunkel, doch durch die Zeltwände flackerte rötlicher Feuerschein, der an der Ostseite des Flüchtlingslagers seinen Ursprung haben musste. Immer mehr Flammen tanzten über die vier Zeltwände.

Ach Gott

Trotz seiner Panik war Jason sich darüber im Klaren, was da vor sich ging. Vor dem Flug nach Afrika hatte man ihn über die Lage informiert. Im Jahr zuvor waren andere Flüchtlingslager von den Rebellenstreitkräften der Tuareg angegriffen und die Nahrungsmittelvorräte geplündert worden. Nachdem der Preis für Reis und Mais sich in der Republik Mali verdreifacht hatte, waren in der Hauptstadt Hungeraufstände ausgebrochen. Drei Millionen Menschen waren vom Hungertod bedroht.

Deshalb war er hergekommen.

Sein Vater sponserte das Farmprojekt, das man auf einer fünfundzwanzig Hektar großen Fläche an der Nordseite des Lagers hochgezogen hatte und das von der Viatus Corporation finanziert und von Biologen und Genetikern der Cornell University beaufsichtigt wurde. Auf dem ausgelaugten Boden der Versuchsfelder wurde gentechnisch veränderter Mais angebaut. Die ersten Felder waren vergangene Woche abgeerntet worden. Die Pflanzen benötigten nur ein Drittel der normalen Wassermenge. Offenbar war das den falschen Leuten zu Ohren gekommen.

Jason stürzte ins Freie, barfuß. Am Abend zuvor war er mit Kakishorts und T-Shirt ins Bett gesunken. Draußen war der Feuerschein die einzige Lichtquelle.

Offenbar waren die Generatoren ausgefallen.

MG-Feuer und Schreie hallten durch die Dunkelheit. Schattengestalten huschten umher, verängstigte Flüchtlinge suchten Deckung. Da die Gewehrschüsse und das Geknatter der Maschinengewehre von allen Seiten kamen, wusste niemand, in welche Richtung er flüchten sollte.

Jason wusste es.

Krista hielt sich noch im Forschungszentrum auf. Vor drei Monaten hatte er sie in den Staaten bei der Vorbereitungsveranstaltung kennengelernt. Seit einem Monat schlüpften sie gemeinsam unter Jasons Moskitonetz. Gestern Abend aber war sie nicht gekommen. Sie hatte die Nacht über eine Gen-Analyse der frisch geernteten Maiskörner fertigstellen wollen.

Er musste sie finden.

Jason stemmte sich gegen den Strom und eilte zur Nordseite des Lagers. Wie befürchtet war das Gewehrfeuer dort am heftigsten und die Flammen am hellsten. Die Rebellen hatten es auf die Ernte abgesehen. Sollten sie die Ernte ruhig haben. Solange sich ihnen niemand in den Weg stellte, bräuchte auch niemand zu sterben. Wenn sie den Mais hatten, würden sie ebenso schnell wieder verschwinden, wie sie aufgetaucht waren. Der Mais würde auf jeden Fall vernichtet werden. Solange die Untersuchungen nicht abgeschlossen waren, war er nicht für den menschlichen Verzehr zugelassen.

Als Jason um eine Ecke bog, stolperte er über die erste Leiche, einen Halbwüchsigen, der bäuchlings in der Gasse zwischen den primitiven Hütten lag, in denen die Menschen hier lebten. Der Junge war erschossen und dann zertrampelt worden. Jason krabbelte von der Leiche weg und richtete sich auf. Er rannte weiter.

Nach einem panischen Hundert-Meter-Sprint hatte er den Nordrand des Lagers erreicht. Überall lagen Leichen, teilweise in Haufen, Männer, Frauen und Kinder. Das Lager hatte sich in ein Schlachthaus verwandelt. Die Wellblechhütten der Forschungsabteilung standen wie dunkle Schiffe in der westafrikanischen Savanne. Nirgendwo brannte Licht – da waren nur Flammen.

Krista ...

Jason war wie erstarrt. Er wollte weiterlaufen und verfluchte seine Feigheit. Doch er konnte sich nicht mehr bewegen. Tränen der Enttäuschung liefen ihm über die Wangen.

Dann vernahm er hinter sich das Geräusch von Hubschraubern. Zwei Maschinen näherten sich im Tiefflug dem Lager. Das mussten die Regierungsstreitkräfte vom nahe gelegenen Stützpunkt sein. Die Viatus Corporation hatte eine Menge Dollars verteilt, um sich den Schutz des Militärs zu sichern.

Jason stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Die Helikopter würden die Rebellen sicherlich verjagen. Mutiger geworden, trat er aufs Feld, hielt sich aber immer noch geduckt. Er wandte sich zur Rückseite der nächstgelegenen Wellblechhütte, die knapp hundert Meter entfernt war. Im tiefen Schatten würde man ihn nicht sehen, und Kristas Labor befand sich in der angrenzenden Hütte. Er konnte nur hoffen, dass sie sich dort versteckt hatte.

Als er die Hütte erreicht hatte, flammte hinter ihm blendend helles Licht auf. Vom vorderen Hubschrauber ging ein Scheinwerferstrahl aus, der über das Lager schwenkte. Jason seufzte.

Das Licht würde die Rebellen verscheuchen.

Plötzlich flammte auf beiden Seiten des Helikopters Mündungsfeuer auf. Die MGs zielten ins Flüchtlingslager. Jason schien das Blut in den Adern zu gefrieren. Das war kein chirurgischer Schlag gegen Rebellenangreifer. Hier wollte jemand die Lagerinsassen abschlachten.

Der zweite Helikopter schwenkte zur anderen Seite ab, zur Peripherie des Lagers. Aus der hinteren Luke rollten Fässer hervor, die beim Aufprall explodierten. Stichflammen schossen in den Himmel. Das Geschrei wurde lauter. Jason sah einen Mann, der nackt und mit brennender Haut in die Wüste flüchtete. Die Explosionen der Brandbomben näherten sich Jasons Position.

Er machte kehrt und rannte an der Hütte vorbei.

Vor ihm lagen Felder und Getreidespeicher, doch auch sie versprachen keine Sicherheit. An der anderen Seite des Maisfelds machte er Schattengestalten aus. Jason musste die Freifläche überqueren, wenn er Kristas Labor erreichen wollte. Die Fenster waren dunkel, und die einzige Tür war dem offenen Feld zugewandt.

Er hielt inne und schöpfte Atem. Ein kurzer Sprint, und er hätte die Hütte erreicht. Plötzlich aber flammte auch an der gegenüberliegenden Seite des Felds Feuer auf. Männer mit Flammenwerfern schritten die Ackerfurchen ab und verbrannten die noch nicht abgeernteten Maispflanzen.

Was zum Teufel hatte das zu bedeuten?

Zu seiner Rechten explodierte ein Speicherturm. Die Stichflamme schraubte sich in den Himmel empor. Trotz seines Schrecks nutzte Jason die Gelegenheit, um zur Tür der Wellblechhütte zu laufen und hindurchzuschlüpfen.

Der vom Feuerschein erhellte Raum machte einen unbeschädigten Eindruck und wirkte beinahe aufgeräumt. In der hinteren Hälfte der Hütte waren die Geräte untergebracht, die für die genetischen und biologischen Untersuchungen benötigt wurden: Mikroskope, Zentrifugen, Inkubatoren, Thermozykler, Elektrophorese-Geräte. Rechts waren die Arbeitsplätze mit den WLAN-Notebooks, dem Gerät für die Satellitenverbindung und den Ladevorrichtungen.

Bei einem der Notebooks leuchtete der Bildschirmschoner. Er stand auf Kristas Arbeitstisch, doch seine Freundin war nirgendwo zu sehen.

Jason eilte zum Tisch und fuhr mit dem Daumen übers Touchpad. Der Bildschirmschoner machte einem geöffneten E-Mail-Fenster Platz. Im Absenderfeld stand Kristas Mailadresse.

Jason blickte sich in der Hütte um.

Krista musste geflüchtet sein – doch wohin?

Er öffnete seinen eigenen Mail-Account und gab die Adresse des Büros seines Vaters auf dem Capitol Hill ein. Mit angehaltenem Atem schilderte er in knappen Sätzen den Angriff. Falls er es nicht schaffen sollte, wollte er wenigstens Bericht erstatten. Bevor er den Sendebutton anklickte, kam ihm eine Idee. Kristas Datenfiles waren noch geöffnet. Er fügte sie der Mail als Anhang bei und schickte sie ab. Krista würde nicht wollen, dass die Daten verloren gingen.

Die Mail wurde nicht sofort übermittelt. Die angehängte Datei war groß, und der Upload würde etwa eine Minute in Anspruch nehmen. Jason aber konnte nicht länger warten. Er konnte nur hoffen, dass der Akku nicht vorzeitig schlappmachen würde.

Jason wandte sich zur Tür. Er hatte keine Ahnung, wohin Krista geflüchtet war. Hoffentlich war sie in die Wüste gerannt. Das Gleiche hatte auch er jetzt vor. Dort draußen gab es zahlreiche ausgetrocknete Wasserrinnen und Mulden. Dort konnte er sich notfalls tagelang verstecken.

Als er zum Eingang eilte, tauchte darin auf einmal eine dunkle Silhouette auf. Jason schnappte erschreckt nach Luft und prallte zurück. Die Schattengestalt trat in die Hütte und flüsterte.

»Jase?«

Das Gefühl der Erleichterung war überwältigend.

»Krista...«

Er eilte ihr mit weit geöffneten Armen entgegen. Sie würden gemeinsam flüchten.

»Ach, Jason, Gott sei Dank!«

Er war nicht minder erleichtert als sie – bis sie auf einmal eine Pistole hob und ihm dreimal in die Brust schoss. Die Treffer fühlten sich an wie Faustschläge und warfen ihn zu Boden. Erst dann flammte der Schmerz auf, und die Nacht wurde noch finsterer. Von ferne hörte er MG-Feuer, Explosionen und Schreie.

Krista beugte sich über ihn. »Du warst nicht in deinem Zelt. Wir dachten schon, du wärst entkommen.«

Er hustete. Antworten konnte er nicht, denn sein Mund war voller Blut.

Beruhigt durch sein Schweigen, machte Krista auf dem Absatz kehrt und trat wieder hinaus in den Albtraum aus Feuer und Tod. Einen Moment lang hob sie sich als Silhouette von den brennenden Feldern ab, dann verschwand sie in der Nacht.

Jason bemühte sich, zu begreifen.

Warum?

Er fand keine Antwort. Doch während sich die Dunkelheit um ihn schloss, hörte er das Bestätigungssignal des Laptops auf Christas Schreibtisch. Seine Mail war übermittelt worden.

2

9. Oktober, 7:04 Prince William Forest Virginia

ER MUSSTE SCHNELLER fahren.

Tief über den Rennlenker des Motorrads gebeugt, schoss Commander Grayson Pierce um eine scharfe Ecke. Er legte sich mit seinen über eins achtzig so tief in die Kurve, dass er sich fast das Knie aufgeschrammt hätte.

Mit brüllendem Motor richtete sich die Maschine wieder auf. Fünfzig Meter vor ihm fuhr eine kleinere Rennmaschine von Honda. Gray verfolgte sie auf einer älteren Yamaha V-Max. Beide Motorräder waren Vierzylinder, doch seines war größer und schwerer. Wenn er die Honda einholen wollte, würde er sein ganzes Können aufbieten müssen.

Vielleicht brauchte er auch nur eine Portion Glück.

Sie hatten eine kurze Gerade erreicht, die durch die Parklandschaft des Prince William Forest führte. Die zweispurige Straße wurde von Alleebäumen gesäumt. Die hohen Buchen und Espen gaben einen hübschen Hintergrund ab, zumal jetzt im Oktober, da das Laub sich verfärbte. Leider hatte in der Nacht ein Unwetter die Blätter auf dem Asphalt zu einer rutschigen Angelegenheit werden lassen.

Gray gab noch mehr Gas. Mit einem kaum wahrnehmbaren Flattern schoss das Motorrad die Gerade entlang. Die Mittellinie verwischte zu einem Schemen.

Die Honda hatte jedoch ebenfalls aufgedreht. Bislang war die Route 619 eine Achterbahn scharfer Kurven, gefährlicher Serpentinen und wogender Hügel gewesen. Die Verfolgungsjagd war gnadenlos gewesen, doch Gray wollte den anderen Fahrer nicht entwischen lassen.

Als das vorausfahrende Motorrad vor der nächsten Kurve abbremste, verringerte sich der Abstand. Gray wollte noch nicht runterschalten. Vielleicht war es leichtsinnig, doch er wusste genau, was er seiner Maschine zumuten konnte. Nach der Anschaffung hatte er von einem der Roboterspezialisten der DARPA – der Forschungs- und Entwicklungsbehörde des Verteidigungsministeriums – ein paar Umbauten vornehmen lassen.

Dort war man ihm noch einen Gefallen schuldig gewesen.

Grays Gruppe – Sigma genannt – war eine schlagkräftige Unterabteilung der DARPA. Der Organisation gehörten ehemalige Soldaten der Spezialeinsatzkräfte an, die eine Zusatzausbildung auf unterschiedlichen wissenschaftlichen Gebieten erhalten hatten und für Sondereinsätze zuständig waren.

Zu den verschiedenen Modifikationen des Motorrads gehörte auch das in den Helm eingebaute Head-up-Display. An der linken Seite des Visiers wurden Geschwindigkeit, Umdrehungszahl, der Gang und die Öltemperatur angezeigt. Auf die rechte Seite wurde eine Navigationskarte mit dem günstigsten Gang und der empfohlenen Höchstgeschwindigkeit projiziert.

Aus dem Augenwinkel beobachtete Gray, wie die Tachometernadel in den roten Bereich vordrang. Der Navigationsbereich blinkte bereits. Er fuhr zu schnell in die Kurve.

Dennoch gab Gray weiter Gas.

Der Abstand zwischen den beiden Maschinen verringerte sich weiter.

Als sie die Kurve erreichten, betrug der Abstand noch etwa dreißig Meter.

Der vorausfahrende Fahrer legte seine Maschine auf die Seite und schoss um die Kurve. Kurz darauf hatte Gray die Stelle erreicht. Er versuchte, einen weiteren Meter herauszuschinden, indem er die nicht einsehbare Kurve besonders eng nahm und die gelbe Mittellinie schnitt. Zum Glück war zu dieser frühen Stunde kein Verkehr unterwegs.

Für die Wildtiere galt das leider nicht.

Hinter der Kurve hockte am Seitenstreifen ein Schwarzbär neben seinem Jungen. Beide hatten die Nasen in einer FastFood-Tüte vergraben. Das erste Motorrad schoss an den beiden Bären vorbei. Vom Lärm und dem plötzlichen Auftauchen der Maschine erschreckt, richtete sich die Bärin auf die Hinterbeine auf, während sich ihr Junges instinktiv zur Flucht wandte – und mitten auf die Straße lief.

Gray konnte ihm nicht mehr rechtzeitig ausweichen. Da ihm keine andere Wahl blieb, riss er den Lenker herum und schlitterte mit qualmenden Reifen über den Asphalt. Als er gegen den weichen Lehm der gegenüberliegenden Böschung prallte, ließ er die Maschine los und stieß sich ab. Vom eigenen Schwung getragen, rutschte er auf dem Rücken übers feuchte Laub. Die Maschine prallte unter lautem Getöse gegen eine Eiche.

Gray landete in einer feuchten Wasserrinne und drehte sich auf den Bauch. Er sah gerade noch das Hinterteil der Bärenmutter, die mit ihrem Jungen in den Wald flüchtete. Offenbar hatten sie im Moment genug von Fast Food.

Da hörte er ein Geräusch.

Das andere Motorrad näherte sich.

Gray setzte sich auf.

Na großartig ...

Gray lockerte den Kinnriemen und nahm den Helm ab.

Das zweite Motorrad bremste heftig. Der Fahrer war klein, aber so muskulös wie ein Pitbull. Als seine Maschine zum Stillstand gekommen war, nahm er ebenfalls den Helm ab und entblößte seinen kahl rasierten Schädel. Stirnrunzelnd blickte er Gray an.

»Alles heil?«, fragte Monk Kokkalis, ebenfalls Sigma-Angehöriger und Grays bester Freund. In seinem wie aus Stein gemeißelten Gesicht spiegelte sich aufrichtige Besorgnis.

»Nichts passiert. Mit einem Bären auf der Straße hab ich nicht gerechnet.«

»Wer tut das schon?« Monk grinst breit, bockte seine Maschine auf und stieg ab. »Aber glaub ja nicht, du könntest dich um deine Wettschuld drücken. Von natürlichen Hindernissen war keine Rede. Das Essen nach der Besprechung geht auf deine Rechnung. Porterhousesteaks und das dunkelste Bier, das es in dem Seerestaurant gibt.«

»In Ordnung. Aber ich fordere Revanche. Du hattest einen unfairen Vorteil.«

»Vorteil? Ich?« Monk zog einen Handschuh aus und hielt seine Prothese hoch. »Mir fehlt eine Hand. Und ein großer Teil meines Langzeitgedächtnisses. Außerdem bin ich für ein Jahr krankgeschrieben. Von Vorteil kann da keine Rede sein!«

Sein Grinsen verflüchtigte sich auch dann nicht, als er Gray seine von der DARPA angefertigte Prothese reichte. Gray ergriff die Hand, deren Finger seinen Händedruck erwiderten. Monk konnte damit Walnüsse knacken.

Monk zog ihn auf die Beine.

Als Gray sich feuchtes Laub vom Kevlar-Anzug streifte, klingelte das Handy in seiner Brusttasche. Er nahm es heraus und las die Nummer des Anrufers ab. Seine Miene verhärtete sich.

»Die Zentrale«, sagte er und drückte sich das Handy ans Ohr. »Commander Pierce.«

»Pierce? Wurde allmählich auch Zeit, dass Sie drangehen. In der vergangenen Stunde habe ich schon viermal versucht, Sie zu erreichen. Und dürfte ich fragen, was Sie mitten in einem Wald in Virginia verloren haben?« Es war Grays Boss, der Sigma-Direktor.

Um eine triftige Erklärung verlegen, sah Gray zu seinem Motorrad hinüber. Das eingebaute GPS-System hatte anscheinend seine Position übermittelt. Gray fiel auf die Schnelle keine brauchbare Ausrede ein. Er und Monk waren von Washington nach Quantico gefahren, um an einem FBI-Symposium zum Thema Bioterrorismus teilzunehmen. Heute war der zweite Veranstaltungstag, doch sie hatten sich entschieden, die Vorträge am Vormittag zu schwänzen.

»Lassen Sie mich mal raten«, fuhr Painter fort. »Sie haben eine kleine Spritztour gemacht.«

»Sir...«

Der Tonfall des Direktors wurde milder. »Hat es Monk wenigstens gutgetan?«

Wie immer ahnte Painter die Wahrheit. Der Direktor besaß die geradezu unheimliche Fähigkeit, eine Situation instinktiv zu erfassen. Das zeigte sich auch jetzt wieder.

Gray blickte seinen Freund an. Monk hatte die Arme vor der Brust verschränkt und machte ein besorgtes Gesicht. Für ihn war es ein schweres Jahr gewesen. Er war in einer Forschungseinrichtung brutal gefoltert worden. Der Gegner hatte ihm einen Teil des Gehirns entfernt und sein Gedächtnis zerstört. Obwohl er sich bereits wieder gut erholt hatte, waren Lücken zurückgeblieben, und Gray wusste, dass ihm das immer noch zu schaffen machte.

In den vergangenen zwei Monaten hatte Monk seine Arbeit bei Sigma in bescheidenem Rahmen wieder aufgenommen. Er übte eine Schreibtischtätigkeit aus und unterstützte kleinere Operationen in den Staaten. Dabei musste er sich auf die Informationsbeschaffung und die Auswertung der Daten beschränken, wobei er eng mit Captain Kat Bryant, seiner Frau, zusammenarbeitete, die ebenfalls im Sigma-Hauptquartier beschäftigt und früher für den Marine-Geheimdienst tätig gewesen war.

Gray wusste, dass Monk gern mehr getan hätte und sich das Leben zurückerobern wollte, das man ihm geraubt hatte. Alle fassten ihn mit Glacéhandschuhen an, und allmählich reagierte er allergisch auf die mitfühlenden Blicke und aufmunternden Sprüche.

Deshalb hatte Gray ein Rennen quer durch den Park vorgeschlagen, der an den Stützpunkt des Marine Corps in Quantico grenzte. Er hatte Monk Gelegenheit geben wollen, ein wenig Dampf abzulassen, den Staub im Gesicht zu spüren und mal ein bisschen Risiko einzugehen.

Gray deckte das Handy mit der Hand ab und flüsterte: »Painter ist sauer.«

Sein Freund grinste breit.

Gray hielt sich das Handy wieder ans Ohr.

»Ich hab’s gehört«, sagte sein Boss. »Und wenn Sie Ihren Spaß gehabt haben, möchte ich, dass Sie heute Nachmittag im Sigma-Hauptquartier erscheinen. Sie beide.«

»Jawohl, Sir. Dürfte ich erfahren, worum es geht?«

Die Stille dehnte sich, während der Direktor überlegte, was er sagen sollte. Als er sich wieder meldete, wählte er seine Worte mit Bedacht. »Es geht um den Vorbesitzer Ihres Motorrads.«

Gray warf einen Blick auf die verunglückte Maschine. Um den Vorbesitzer? Er dachte an jene Nacht vor zwei Jahren und hatte wieder das Brüllen des Motors in den Ohren, mit dem ein Motorrad ohne Licht über die Vorortstraße gebrettert war, am Lenker eine mordsgefährliche Fahrerin, eine heimtückische Mörderin mit wechselnder Loyalität.

Gray schluckte und sagte: »Was ist mit ihr?«

»Das sage ich Ihnen, wenn Sie hier sind.«

13:00 Washington, D. C.

STUNDEN SPÄTER SASS Gray geduscht und in frischer Jeans und Sweatshirt an der Satellitenüberwachungsanlage im Sigma-Hauptquartier. Bei ihm waren Painter und Monk. Auf dem Bildschirm war eine digitale Landkarte abgebildet. Eine krumme rote Linie führte von Thailand nach Italien.

Der Weg der Mörderin endete in Venedig.

Sigma hatte sie über ein Jahr lang überwacht. Ihre Position war auf einem Monitor mit einem kleinen roten Dreieck markiert. Es leuchtete mitten auf der Satellitenkarte von Venedig. Gebäude, krumme Gassen und gewundene Kanäle waren in Grauwerten präzise dargestellt, bis hin zu den kleinen, mitten in der Bewegung erstarrten Gondeln. Der Zeitpunkt der Aufnahme wurde zusammen mit den Koordinaten in der Monitorecke angezeigt:

10:52:45 GMT 9. OKT
Breite 41°52’56.97” N
Länge 12°29’5.19” O

»Wie lange hält sie sich schon in Venedig auf?«, fragte Gray.

»Seit über einem Monat.«

Painter fuhr sich müde durchs Haar und kniff argwöhnisch die Augen zusammen. Er wirkte erschöpft. Für den Direktor war es ein anstrengendes Jahr gewesen. Bei der Büroarbeit und den vielen Besprechungen blass geworden, zeigte sich Painters Indianererbe nur noch in seinen wie gemeißelt wirkenden Gesichtszügen und der weißen Strähne im schwarzen Haar, die an eine Schmuckfeder erinnerte.

Gray studierte die Karte. »Wissen wir, wo sie wohnt?«

Painter schüttelte den Kopf. »Irgendwo in Santa Croce. Das ist eines der ältesten Viertel von Venedig, nicht sonderlich touristisch. Ein Labyrinth von Brücken, Gassen und Kanälen. Dort kann man sich leicht verstecken.«

Monk saß Gray und Painter gegenüber und justierte gerade die Verbindung seiner Handprothese. »Weshalb hat Seichan sich ausgerechnet in dieser Stadt verkrochen?«

Gray blickte auf die Ecke des Monitors. Dort war ein Foto der Mörderin abgebildet, eine Frau Ende zwanzig. Sie vereinigte vietnamesische und europäische Einflüsse. Ihre bronzefarbene Haut, die schmalen Gesichtszüge und die vollen Lippen deuteten auf ein französisches Elternteil hin. Bei ihrer ersten Begegnung mit Gray vor drei Jahren hätte sie ihn beinahe mit einem Brustschuss aus kürzester Entfernung getötet. Auch jetzt wieder stellte er sie sich in dem schwarzen Ganzkörperanzug mit Rollkragen vor, der ihre geschmeidige Gestalt umhüllt und ihre Härte und Weichheit verborgen hatte.

Außerdem dachte Gray an ihr letztes Zusammentreffen. Sie war vom US-Militär gefangen genommen worden, nachdem sie durch einen Bauchschuss viel Blut verloren hatte. Diesmal hatte Gray ihr zur Flucht verholfen, da sie ihm zuvor das Leben gerettet hatte – doch für ihre Freiheit hatte sie einen Preis zahlen müssen.

Bei der Operation hatte Grays Boss ihr einen passiven Polymer-Tracker in die Bauchhöhle implantieren lassen. Das war die Bedingung für ihre Freilassung gewesen, eine Rückversicherung, die es ihnen erlauben würde, Seichans Position zu bestimmen und ihre Bewegungen nachzuvollziehen. Sie war zu wichtig und ihre Beziehungen zur Gilde, einem Terroristennetzwerk, zu eng, um sie einfach gehen zu lassen. Niemand kannte die eigentlichen Drahtzieher dieser Organisation – man wusste nur, dass ihr geheimes Netz die ganze Welt umspannte.

Seichan hatte behauptet, sie sei eine Doppelagentin und habe den Auftrag, die Gilde zu infiltrieren, um die wahren Strippenzieher zu entlarven. Beweise konnte sie allerdings nicht vorlegen. Gray hatte ihr zur Flucht verholfen, ohne den implantierten Tracker ihr gegenüber zu erwähnen. Das Ortungsgerät bot dem US-Geheimdienst die Chance, mehr über die Gilde zu erfahren.

Gray vermutete allerdings, dass ihre Entscheidung, nach Venedig zu fliegen, nichts mit der Gilde zu tun hatte. Er spürte Painter Crowes Blick auf sich ruhen, als erwartete der Direktor von ihm eine Erklärung. Die Miene seines Vorgesetzten war undurchdringlich, nur das Flackern der eisgrauen Augen verriet, dass es sich um einen Test handelte.

»Sie kehrt an den Schauplatz des Verbrechens zurück«, sagte Gray und straffte sich.

»Was?«, sagte Monk.

Gray wies mit dem Kinn auf die Satellitenkarte. »In Santa Croce liegen die ältesten Gebäude der Universität von Venedig. Vor zwei Jahren hat sie dort einen Museumskurator ermordet, der auch Verbindungen zur Universität hatte. Sie hat ihn kaltblütig erschossen. Sie meinte, das sei nötig gewesen, um die Familie des Mannes zu schützen. Seine Frau und die Tochter.«

Painter konnte das bestätigen. »Das Kind und die Mutter leben noch in dem Viertel. Wir haben Leute vor Ort, die sich bemühen, ihren Aufenthaltsort zu bestimmen. Aber das ist ein passiver Tracker. Ihre Position lässt sich nur bis auf fünf Quadratkilometer genau bestimmen. Für den Fall, dass sie dort auftauchen sollte, haben wir die Familie des Kurators unter Bewachung gestellt. Da so viele Augen nach ihr Ausschau halten, ist davon auszugehen, dass sie sich getarnt hat.«

Gray dachte daran, wie angespannt Seichan gewirkt hatte, als sie versucht hatte, die kaltblütige Ermordung des Museumskurators zu rechtfertigen. Wahrscheinlich hatten sie Gewissensbisse und nicht die Gilde wieder nach Venedig geführt. Aber was wollte sie dort? Und wenn irgendetwas an der Sache faul war? Wenn es sich um ein raffiniertes Täuschungsmanöver handelte? Seichan war eine ausgezeichnete, vielleicht sogar herausragende Strategin.

Er fixierte den Monitor. Irgendetwas stimmte da nicht.

»Weshalb zeigen Sie mir das?«, fragte Gray. Sigma überwachte Seichan seit über einem Jahr. Weshalb hatte man ihn ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt in die Zentrale bestellt?

»Von der NSA sind über den neuen Leiter der DARPA Informationen zu uns durchgesickert. Da im vergangenen Jahr keine wesentlichen Erkenntnisse von Seichan gewonnen wurden, haben die maßgeblichen Regierungsstellen die Geduld verloren und die unverzügliche Festnahme angeordnet. Sie soll in ein geheimes Vernehmungszentrum in Bosnien gebracht werden.«

»Aber das ist verrückt. Sie wird niemals reden. Diese Operation bietet die besten Chancen, konkrete Informationen über die Gilde zu gewinnen.«

»Ganz meine Meinung. Bedauerlicherweise sind wir die Einzigen, die das so sehen. Wenn Sean noch immer die DARPA leiten würde...«

Painter verstummte gequält. Dr. Sean McKnight war der Gründer von Sigma und der ehemalige Leiter der DARPA gewesen. Im vergangenen Jahr war er bei einem Angriff auf die Sigma-Zentrale ums Leben gekommen. General Gregory Metcalf, der neue Leiter der DARPA, war noch unerfahren und hatte noch immer mit den politischen Nachbeben des Angriffs zu kämpfen. Von Anfang an hatten er und Painter sich aneinander gerieben. Gray vermutete, dass sich Painter Crowe nur aufgrund der Unterstützung durch den Präsidenten im Amt gehalten hatte. Doch auch diese Unterstützung hatte ihre Grenzen.

»Metcalf möchte keinen der zahlreichen Geheimdienste vor den Kopf stoßen und hat sich der Einschätzung der NSA angeschlossen. «

»Dann wird man Seichan also festnehmen.«

Painter zuckte mit den Schultern. »Wenn möglich. Aber diese Leute haben keine Ahnung, mit wem sie es zu tun haben. «

»Ich habe gerade Leerlauf. Ich könnte rüberfliegen. Meine Hilfe anbieten.«

»Hilfe, wobei? Um sie zu finden oder um ihr zur Flucht zu verhelfen?«

Gray schwieg. Bezüglich Seichan hatte er gemischte Gefühle. Schließlich sagte er entschieden: »Ich werde tun, was man von mir verlangt.« Dabei blickte er Painter an.

Der Direktor schüttelte den Kopf. »Wenn Seichan Sie sieht oder auch nur Verdacht schöpft, Sie könnten sich in Venedig aufhalten, weiß sie, dass sie überwacht wird. Dann haben wir unseren Vorteil verloren.«

Gray runzelte die Stirn. Er musste dem Direktor recht geben.

Das Telefon läutete, und Painter nahm ab. Gray war froh über die Gelegenheit, seine Gedanken zu ordnen.

»Was gibt es, Brant?«, fragte Painter. Während der Direktor seinem Assistenten lauschte, vertieften sich seine Stirnfalten. »Stellen Sie den Anruf durch.«

Nach einer Weile reichte Painter den Telefonhörer an Gray weiter. »Leutnant Rachel Verona, aus Rom.«

Gray vermochte seine Überraschung nicht zu verhehlen. Er hielt sich den Hörer ans Ohr und wandte sich ein wenig ab.

»Rachel?«

Ihre Stimme klang tränenerstickt. Sie schluchzte nicht, sprach aber stockend und rang offenbar um Fassung. »Gray... ich brauche... deine Hilfe.«

»Du kannst auf mich zählen. Was ist los?«

Er hatte seit Monaten nicht mehr mit ihr telefoniert. Über ein Jahr lang war er mit der Polizistin mit dem rabenschwarzen Haar liiert gewesen. Sie hatten sogar an Heirat gedacht, doch es hatte nicht funktioniert. Sie hatte ihre Anstellung bei den italienischen Carabinieri nicht aufgeben wollen, während Gray zu sehr in den Staaten verwurzelt war. Die Entfernung war einfach zu groß gewesen.

»Es geht um meinen Onkel Vigor«, sagte sie. Plötzlich sprudelten die Worte nur so aus ihr hervor, als wären sie die Vorboten eines Tränenstroms. »Gestern Abend gab es eine Explosion im Petersdom. Er liegt im Koma.«

»Mein Gott, was ist passiert?«

Rachel setzte ihren Bericht fort. »Ein Priester wurde getötet, einer seiner ehemaligen Studenten. Man geht von einem terroristischen Hintergrund aus. Aber ich darf nicht … man lässt mich nicht … Ich wusste nicht, wen ich sonst hätte anrufen sollen. «

»Schon gut. Wenn du willst, komme ich mit dem nächsten Flieger.« Gray wechselte einen Blick mit Painter. Sein Boss nickte; Erklärungen waren unnötig.

Monsignore Vigor Verona hatte Sigma bei zwei Operationen geholfen. Seine Kenntnisse auf dem Gebiet der Archäologie und Geschichte sowie seine Verbindungen zur katholischen Kirche waren für deren Erfolg von ausschlaggebender Bedeutung gewesen. Sie standen in der Schuld des Monsignore.

»Danke, Gray.« Rachel klang bereits ruhiger. »Ich maile dir die Ermittlungsakte. Allerdings sind darin nicht alle Details aufgeführt. Den Rest erzähle ich dir, wenn du hier bist.«

Grays Blick war zum Monitor gewandert, wo mitten in Venedig das rote Trackersignal leuchtete. Aus der Monitorecke heraus schaute ihn Seichan an, kalt und zornig. Sie hatte ebenfalls mit Rachel und deren Onkel zu tun gehabt.

Und jetzt war sie wieder in Italien.

Gray wurde von bösen Vorahnungen erfasst.

Irgendetwas war hier faul. Da braute sich etwas zusammen, doch er wusste noch nicht, aus welcher Richtung der Wind wehte. Eines aber war sicher.

»Ich werde mich beeilen«, versprach er Rachel.