Inhalt

  1. Über das Buch
  2. Über die Autorin
  3. Titel
  4. Impressum
  5. Goldsucher
  6. 1. TEIL
  7. 1
  8. 2
  9. 3
  10. 4
  11. 5
  12. 6
  13. 7
  14. 8
  15. 9
  16. 10
  17. 11
  18. 12
  19. 13
  20. 14
  21. 15
  22. 16
  23. 2. TEIL
  24. 17
  25. 18
  26. 19
  27. 20
  28. 21
  29. 22
  30. 23
  31. 24
  32. 25
  33. 3. TEIL
  34. 26
  35. 27
  36. 28
  37. 29
  38. 30
  39. 31
  40. 32
  41. 33
  42. 34
  43. 35
  44. 36
  45. 37
  46. 38
  47. Eukalyptusfeuer
  48. 1. TEIL
  49. 1
  50. 2
  51. 3
  52. 4
  53. 5
  54. 6
  55. 7
  56. 8
  57. 9
  58. 10
  59. 11
  60. 12
  61. 13
  62. 14
  63. 15
  64. 16
  65. 17
  66. 18
  67. 19
  68. 20
  69. 21
  70. 22
  71. 2. TEIL
  72. 23
  73. 24
  74. 25
  75. 26
  76. 27
  77. 28
  78. 29
  79. 30
  80. 31
  81. 32
  82. 33
  83. 34
  84. 35
  85. 36
  86. 37
  87. 38
  88. 39
  89. 40
  90. 41
  91. 3. TEIL
  92. 42
  93. 43
  94. 44
  95. 45
  96. 46
  97. 47
  98. 48
  99. 49
  100. 50
  101. 51
  102. 52
  103. Traumgesang
  104. 1. TEIL
  105. 1
  106. 2
  107. 3
  108. 4
  109. 5
  110. 6
  111. 7
  112. 8
  113. 9
  114. 10
  115. 11
  116. 12
  117. 13
  118. 14
  119. 15
  120. 16
  121. 17
  122. 18
  123. 2. TEIL
  124. 19
  125. 20
  126. 21
  127. 22
  128. 23
  129. 24
  130. 25
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  135. 30
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  137. 32
  138. 33
  139. 34
  140. 3. TEIL
  141. 35
  142. 36
  143. 37
  144. 38
  145. 39
  146. 40
  147. 41
  148. 42
  149. 43
  150. 44
  151. 45

Über das Buch

Eine dreiteilige Familiensaga voller Romantik und Leidenschaft vor der atemberaubenden Kulisse Australiens.

Goldsucher

Der Beginn einer Generationen überspannenden Familiensaga auf dem Roten Kontinent. Australien, 1853: Die junge Vicky Stewart kann ihrer neuen Heimat Melbourne nichts abgewinnen. Doch als sie den attraktiven Goldgräber Jonathan Boyle kennenlernt, erstrahlt der Rote Kontinent plötzlich in leuchtenden Farben. Vicky will ihr Leben mit ihm verbringen und verspricht, ihm treu zu bleiben. Aber während Jonathan auf den Goldfeldern von Ballarat bis zum Umfallen schuftet, drohen die Intrigen von Vickys Familie gegen den mittellosen Glückssucher die beiden für immer zu entzweien

Eukalyptusfeuer

Der Kongressabgeordnete und Anwalt Walter Cunningham verbringt mit seiner Familie die Weihnachtsferien in der Idylle der Blue Mountains. Bei einem Familienfest kochen die Gemüter hoch, denn Walter will einen Prozess gegen den Betrüger William Bradshaw führen. Da bringt seine Tochter Scarlet einen jungen Mann mit ins Haus, der von einer Schlange gebissen wurde. Die Familie kümmert sich um den Fremden, und Scarlet fühlt sich schon bald zu ihm hingezogen. Umso größer ist der Schock, als sich herausstellt, dass der junge Mann der Sohn von William Bradshaw ist.

Traumgesang

Sydney, 1942: Die berühmte Sängerin Julia Bradshaw verliert ihren Mann bei dem japanischen Angriff auf Darwin und heiratet wenig später den reichen Edward Caldwell. Eine Zerreißprobe für die Familie, denn dieser Mann ist der erbitterte Gegner ihrer Schwägerin Miranda, die sich als Anwältin für die Aborigines und gegen das grausame Gesetz einsetzt, das Zwangsadoptionen von Mischlingskindern durch weiße Familien erlaubt. Als sich auch noch Mirandas und Julias Töchter in denselben Mann verlieben, droht die Familie auseinanderzufallen und alles zu verlieren, was sie sich über Generationen auf dem Roten Kontinent aufgebaut hat …

Über die Autorin

Mirja Hein lebt in Hamburg und Berlin, wenn sie nicht gerade auf Recherchereise »Down Under« ist. Sie schreibt unter dem Pseudonym Laura Walden erfolgreiche Neuseelandromane und Jugendbücher, die auf dem Roten Kontinent spielen.

LAURA WALDEN
SCHREIBT ALS
MIRJA HEIN

Die Australia – Saga

Goldsucher

Eukalyptusfeuer

Traumgesang

Goldsucher

THE SONG OF AUSTRALIA

There is a land where summer skies

Are gleaming with a thousand dyes,

Blending in witching harmonies,

And grassy knoll and forest height,

Are flushing in the rosy light,

And all above is azure bright – Australia!

There is a land where honey flows,

Where laughing corn luxuriant grows,

Land of the myrtle and the rose,

On hill and plain the clust’ring vine

Is gushing out with purple wine,

And cups are quaffed to thee and thine – Australia!

There is a land where treasures shine

Deep in the dark unfathom’d mine

For worshippers at Mammon’s shrine;

Where gold lies hid, and rubies gleam,

And fabled wealth no more doth seem

The idle fancy of a dream – Australia!

There is a land where homesteads peep

From sunny plain and woodland steep,

And love and joy bright vigils keep,

Where the glad voice of childish glee

Is mingling with the melody

Of nature’s hidden minstrelsy – Australia!

There is a land where, floating free,

From mountain-top to girdling sea,

A proud flag waves exultingly;

And freedom’s sons the banner bear,

No shackled slave can breathe the air,

Fairest of Britain’s daughters fair – Australia!

Caroline J. Carleton

1. TEIL

Bearbrass lautete einer der zahlreichen Namen für die Ansiedlung am Yarra River und an der Port-Phillip-Bucht, bevor sie 1837 ihren heutigen Namen erhielt: Melbourne. Diese Kolonialstadt diente im Gegensatz zu anderen Orten auf dem australischen Kontinent nie als Straflager für britische Schwerverbrecher, sondern wurde zum Wohnen mit breiten Straßen und Parks angelegt.

Bereits damals sagte man Melbourne eine große Zukunft voraus. So hieß es 1839 im Cornwall Chronicle, einer Zeitung aus dem tasmanischen Launceston, dass Port Phillip das Zeug habe, eines Tages zur Königin der australischen Kolonien aufzusteigen.

Im Juli 1851 feierten die 29 000 Melbournians ihre Unabhängigkeit von New South Wales: Die neue britische Kolonie Victoria war aus der Taufe gehoben. Wenige Wochen zuvor hatte man Gold in Victoria gefunden, was der Bevölkerung aber erst nach den Feierlichkeiten bekannt gegeben werden sollte, um Tumulte zu vermeiden. Eine kluge Entscheidung, denn als die Goldfunde vier Tage später öffentlich gemacht wurden, war in Melbourne der Teufel los. Alles drehte sich nur noch um das gelbe Edelmetall. Aus der beschaulichen Kolonialstadt Bearbrass wurde innerhalb weniger Jahre die Handelsmetropole Melbourne. Die Bevölkerung der neuen Kolonie wuchs zu Zeiten des Goldrausches stetig an. Hatte Victoria 1851 noch 75 000 Einwohner, waren es zehn Jahre später bereits über eine halbe Million.

Das Gold machte die Stadt und die Kolonie reich, aber in dem Maß, in dem Goldsucher aus aller Welt in die Stadt strömten, stieg auch die Kriminalität in der Hauptstadt. Zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung wurden Richter und Polizisten aus dem Mutterland ins ferne Australien geschickt.

So auch Richter Samuel Stewart, der mit seiner Familie 1851 auf dem Auswandererschiff Parland von London nach Sydney und im Anschluss auf einem kleineren Schiff nach Melbourne gelangte, um am obersten Gericht der Stadt fortan Recht zu sprechen. Dieser Roman erzählt die Geschichte seiner Familie. Sie beginnt an einem heißen Februartag im Jahre 1853.

1

Sophie Victoria Stewart, die wegen ihrer Bewunderung für die englische Königin mit ihrem zweiten Namen gerufen werden wollte und von allen nur Vicky genannt wurde, hasste ihre neue Heimat Melbourne abgrundtief. Es gab nicht einen einzigen Tag, seit sie vor mehr als zwei Jahren mit dem Schiff aus London in der Bucht Port Phillip angekommen waren, an dem sie nicht über die Hitze, den Gestank oder die vom Regen und den Überschwemmungen schlammigen Straßen geschimpft hatte. Sie verabscheute den heißen Sommer, und besonders den Spätfrühling, an dem Wetterumschwünge, Temperaturstürze und Stürme an der Tagesordnung waren. Dann gebärdete sich das Wetter in dieser Stadt wie eine launische Diva. Wenn man Pech hatte, wechselte es binnen Sekunden von trocken und warm zu nass und kalt. Im Volksmund nannte man Melbourne deshalb auch die »Stadt der vier Jahreszeiten an einem Tag«. Melbourne war, seit man in Ballarat und Bendigo Gold gefunden hatte, zu einem regelrechten Hexenkessel geworden, in den es Glückssucher aus der ganzen Welt trieb. Davor sei es ein beschauliches, verschlafenes Städtchen gewesen, behaupteten die Einwohner Melbournes, die schon vor dem Goldrausch dort gelebt hatten. Doch die Geschichte dieser Stadt interessierte Vicky nicht, weil sie ohnehin nicht vorhatte, in Melbourne zu bleiben.

Am ehesten fand noch das kalte Winterwetter, das zuverlässiger war als die anderen Jahreszeiten, Gnade vor Vickys kritischem Auge, weil es sie entfernt an den Londoner Winter erinnerte. Aber nicht nur das Wetter glorifizierte Vicky, seit sie die alte Heimat hatte verlassen müssen, sondern alles an London geriet im Nachhinein zu einem romantischen Idealbild. Ob es die sauberen Straßen, die schönen Häuser, das großstädtische Ambiente oder der Nebel waren, Vicky schwärmte von London, wie sie es niemals auch nur annähernd getan hatte, als sie noch in der Stadt lebte.

Jedes Mal, wenn sie an den Tag dachte, an dem sie gegen ihren erklärten Willen mit ihrer Familie, zwei Hausangestellten und einem halben Hausstand auf einem Auswandererschiff die Themse flussabwärts gefahren war, und das in dem Wissen, für lange Zeit fortzubleiben, spürte sie nackte Wut in sich aufsteigen. Besonders auf ihren Vater, der sie dazu gezwungen hatte, ihr Zuhause zu verlassen, weil die Regierung ausgerechnet ihn für geeignet hielt, dieses hohe Richteramt in der Kolonie wahrzunehmen. Für ihn war das eine große Ehre und unbedingte Verpflichtung gewesen. Bei mir können sie sicher sein, dass meine Vorfahren keine Strafgefangenen sind, und sie brauchen jetzt dringend Männer wie mich … Mit diesen Worten hatte er der Familie mit stolzgeschwellter Brust seine Entscheidung, nach Australien zu gehen, eröffnet. Verabschiedet euch von London, am besten für immer, meine Kinder, hatte ihr Vater verlangt, aber Vicky hatte seine Worte ignoriert, und tat das bis heute. Nein, sie würde zurückkehren, sobald sie einen heiratsfähigen Engländer gefunden hatte, den es so wie sie in die Heimat zurücktrieb. Das hatte sie sich an jenem grauen Tag geschworen. Aber das war keineswegs so einfach. Rückkehrwillige und überdies heiratskompatible Engländer waren in Melbourne eine Seltenheit.

Vicky ballte bei dem Gedanken an ihren ersten mutigen Vorstoß in diese Richtung, der allerdings in einem schrecklichen Fehlschlag geendet war, die Fäuste. Doch selbst diese kleine körperliche Anstrengung brachte sie mächtig ins Schwitzen, denn von Melbournes wolkenlosem Himmel brannte an diesem Februarnachmittag die alles versengende Sonne herunter. Sie hatte Angst, ihr Haar könnte in Brand geraten. So heiß war es auf ihrem Kopf, hatte sie doch in der Wut nach dem Streit mit ihrer Schwester vergessen, ihr Hütchen aufzusetzen. Dass Louise sich aber auch immer so aufspielen musste, dachte Vicky erbost, man könnte meinen, sie sei schon uralt und nicht erst neunzehn Jahre.

Ach, wie gern würde Vicky das alles hinter sich lassen. Ihrer Familie würde sie kaum eine Träne nachweinen. Jedenfalls bildete sie sich das ein, solange sie mit ihnen unter einem Dach leben musste und sie ihr mächtig auf die Nerven gingen, allen voran die Petze Louise.

Es ist wirklich verhext, dass sich keiner findet, der sich erbarmt, mich nach London mitzunehmen, ging es Vicky trübsinnig durch den Kopf. Der erste Vorstoß, ihre Rückkehr nach London in die Wege zu leiten, war jedenfalls zum Fiasko geraten. Wenn sie an ihren völlig unüberlegten Auftritt neulich in der Küche dachte, spürte sie sofort die Schamesröte in ihren Wangen aufsteigen. Sie hatte sich Richard regelrecht an den Hals geworfen. Er war ein Polizist aus London, einer der vielen, die die Regierung in Scharen ins Land geholt hatte, um der durch den Goldrausch explodierenden Kriminalität in Melbourne Herr zu werden. Richard war ein gutmütiger Hüne und der Verlobte von Mary, der Köchin. Vicky saß gern bei Mary in der Küche und schwärmte gemeinsam mit ihr von London. Die Köchin hatte mindestens so viel Heimweh wie sie. Und an jenem Tag, an den sie sich gerade erinnerte, obwohl sie ihn vor lauter Peinlichkeit am liebsten für immer aus ihrem Gedächtnis streichen wollte, war Richard vorbeigekommen, um mit Mary einen Tee zu trinken. Er war weit über dreißig, was der siebzehnjährigen Vicky bereits als steinalt galt. Außerdem war er übergewichtig und litt außerordentlich unter der Hitze. Sein Gesicht glühte in allen erdenklichen Rottönen, und er wischte sich ständig den Schweiß aus dem Gesicht. Doch als er an diesem Tag schnaufend preisgegeben hatte, er würde, sobald seine Pflicht in zwei Monaten getan wäre, mit dem nächsten Schiff in die Heimat zurückkehren, war Vicky hellhörig geworden.

»Du gehst wirklich nach London zurück?«, fragte sie neugierig.

»So sicher wie das Amen in der Kirche. Und zwar zusammen mit meiner Frau.« Er strahlte Mary dabei an, über deren Gesicht jenes dümmliche Grinsen huschte, das Vicky schon von ihrer Schwester Louise kannte, wenn Vaters Freund, der Gefängnisdirektor Archibald Cumberland, zu Besuch kam. Obwohl sie hoffte, dass sie einen Mann niemals so schwärmerisch anschauen würde, fasste sie blitzschnell einen Plan und versuchte, dieses Lächeln nachzuahmen.

»Richard?«, säuselte sie. »Kannst du dir vorstellen, mich zu heiraten?«

Der Polizist musterte sie fassungslos, während ihm der Schweiß aus allen Poren gleichzeitig tropfte, sodass er gar nicht mit dem Wischen nachkam.

»Sophie Victoria, schäm dich!« Marys Stimme überschlug sich beinahe vor lauter Empörung.

Vicky ignorierte die Schelte der Köchin und trat einen Schritt auf den sichtlich verwirrten Polizisten zu.

»Heirate mich!«, verlangte sie.

»Aber, aber, du bist viel zu jung, und ich … ich liebe doch …«

»Bitte! Doch nur zum Schein. Wir werden uns gleich in London wieder scheiden lassen. Vater lässt mich niemals allein gehen! Wo denkst du hin? Ich will dich nicht wirklich zum Mann, sondern nur auf dem Papier, um dieses schreckliche Land zu verlassen.«

»Sophie Victoria! Schluss mit dem Unsinn!« Mary war außer sich.

»Aber was hast du denn? Natürlich kommst du mit, und dann heiratest du ihn. Und ich gehe zu meiner Tante Charlotte und wohne dort. Sie würde sich riesig freuen. Ich wollte doch ohnehin bei ihr bleiben, aber Vater hat es nicht erlaubt.«

Mary stieß einen tiefen Seufzer aus. »Genau, du sagst es. Einmal abgesehen davon, dass ich es nicht erlauben würde, wenn du Richard heiratest, dein Vater wäre entsetzt. Meine Tochter und ein einfacher Polizist

Mary hatte den Tonfall von Richter Samuel Stewart perfekt nachgeahmt und Vicky wider Willen zum Lachen gebracht. Doch das war ihr schon Sekunden später vergangen. »Du verpetzt mich doch nicht, oder? Wenn Dad erfährt, dass mir jedes Mittel recht wäre, nach London zurückzukehren, dann …«

»… dann wird er sagen. Sophie Victoria! Wann benimmst du dich endlich wie eine Lady? Nimm dir ein Vorbild an Louise

Mary hatte den Ton ihres Arbeitgebers erneut so echt getroffen, dass Vicky zusammenzuckte. Mary hatte recht. Ihr Vater würde eine solche Verbindung niemals dulden. Er war streng und doch der Einzige in der Familie, der sie trotz ihrer wilden Art von Herzen liebte. Nach jedem Streit nahm er sie in den Arm und bat sie inständig, Besserung zu geloben. Nein, Richard, der Polizist, war keine Lösung. Aber es musste doch in dieser Stadt irgendwo ein Mann zu finden sein, der den hohen Ansprüchen ihres Vaters gerecht wurde, der sie heiraten wollte und mit dem sie nach England zurückkehren konnte!

Wie soll ich denn in dieser Stadt eine Lady sein? Dass ich nicht lache, dachte Vicky, während sie die lange, schmutzige Straße hinuntersah. Ihr Zorn nach einem bösen Streit mit ihrer Schwester hatte sie ohne Begleitung aus dem Haus und in das verbotene Viertel getrieben, in dem sich das berüchtigte Melbourner Gefängnis und auch das Oberste Gericht, der Arbeitsplatz ihres Vaters, befanden.

Sie konnte sich im Übrigen lebhaft vorstellen, wie die Familienmitglieder reagierten, wenn sie erfuhren, dass sie, jederzeit und ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, das nächste Schiff nach London besteigen würde, wenn man es ihr doch nur erlaubte. Das ein oder andere Mal hatte sie schon mit dem Gedanken gespielt, sich heimlich an Bord eines Schiffes zu schleichen, aber das wollte sie ihren Eltern dann doch nicht antun. Sie traute sich ja nicht einmal, ihrer Familie zu gestehen, wie unendlich groß ihre Sehnsucht nach London war, dass sie dafür nahezu alles in Kauf zu nehmen bereit war. Das schrieb sie nur heimlich ihrer Tante Charlotte. Ihr Vater würde ihr auf diesen Wunsch hin wahrscheinlich ordentlich den Kopf waschen und ihr deutlich machen, dass es ihre Pflicht wäre, in der Kolonie zu bleiben. Und dann würde er sie lange und traurig ansehen. Ihre Mutter würde nach ihrem Riechwasser verlangen, während Louise lästern würde, dass das mal wieder typisch für Vicky wäre.

Vicky fragte sich manchmal, warum sie so anders war als ihre Mutter und ihre Schwester. Die beiden waren einander zum Verwechseln ähnlich. Sie hatten feine rotblonde Löckchen, rundliche Gesichter mit roten Apfelbäckchen, grüne, große Augen und herzförmige Münder. Auch von der Figur her ähnelten sie einander wie Schwestern. Sie waren beide klein und zart, wobei sie durchaus weibliche Rundungen besaßen, dort, wo sie hingehörten. Das jedenfalls behauptete Vickys Vater manchmal mit einem wohlwollenden Blick auf seine Frau.

Vicky hingegen kam voll und ganz nach ihrem Vater. Richter Samuel Stewart war ein hagerer, hochgewachsener Mann mit blondem, dickem Haar und einem kantigen Gesicht. Vicky war groß, schlank und hatte blondes, glattes Haar. Schon in London hatte sie die gleichaltrigen Jungen der Knabenschule um Haupteslänge überragt. Das mit der Schule war auch so eine Sache, die Vicky an Melbourne ganz und gar missfiel. Es gab hier noch nicht einmal eine Mädchenschule, sodass Richter Stewart seine Töchter von einem Privatlehrer hatte unterrichten lassen. Doch auch der war jüngst nach England zurückgekehrt. Beim alten Mister Cook war Vicky allerdings gar nicht erst auf den Gedanken gekommen, sich ihm anzudienen. Mister Cook war ein alter Herr jenseits der sechzig, der aus Gesundheitsgründen zurück in die kalte Heimat gegangen war, nachdem seine Frau an einem Fieber gestorben war.

Und was wird mein Bruder wohl sagen, wenn er erfährt, dass ich lieber heute als morgen nach London zurückkehren möchte?, fragte sich Vicky, während sie die Häuser, die die Straße säumten, skeptisch betrachtete. Nein, sie wusste partout nicht, wo sie sich gerade befand. Nur eines war auffällig: Die Gebäude wurden immer einfacher, je weiter sie sich aus der Gegend entfernte, in der ihr Vater ihnen ein nobles Anwesen mit einem Prachthaus gekauft hatte. Ihr neues Zimmer in Melbourne war das Einzige, das Vicky an ihrer neuen Heimat zu schätzen wusste. Das Haus war viel größer als ihre Stadtvilla in London, und Vickys Zimmer doppelt so groß wie ihr Mädchenzimmer in England. Ihre Gedanken kehrten zu ihrem Bruder Steven zurück. Was würde ihr großer Bruder zu ihren Plänen sagen? Wahrscheinlich würde er dem Gespräch nur mit halbem Ohr zuhören, weil er wie meist mit den Gedanken woanders ist, wenn es nicht um ihn geht, mutmaßte Vicky.

Steven würde die Familie ohnehin bald verlassen. In einigen Monaten begann sein Studium der Rechtswissenschaft an der Universität in Sydney. Für ihren Vater war es gar keine Frage gewesen, dass sein ältester Sohn beruflich in seine Fußstapfen trat. Steven widersprach den väterlichen Plänen zwar nicht, aber Vicky ahnte, dass ihm die Aussicht, Richter zu werden, überhaupt nicht behagte. Steven war im Grunde seines Herzens ein verhinderter Musiker. Nur, wenn er am Klavier saß und Sonaten von Händel spielte, bekam er diesen gewissen Glanz in den Augen, den Vicky sonst gar nicht von ihrem Bruder kannte. Manchmal begleitete er sie auf dem Klavier, wenn sie Lieder von Henry Purcell sang. Sie besaß eine wunderschöne Altstimme und liebte den Gesang. Die Musikalität lag in der Familie, denn der Vater ihrer Mutter, Anne Stewart, war ein bekannter Kirchenmusiker gewesen. Trotzdem würde Samuel Stewart es niemals gutheißen, wenn sein Sohn in die Fußstapfen des Großvaters trat. Er hörte seinen Kindern wirklich gerne zu und schmückte sich mit ihren Talenten, wenn sie ihr Können zu Festlichkeiten vorführten, aber beruflich würde er eine Musikerkarriere bei Steven niemals akzeptieren. Und, was Vicky anging, kam der Richter nicht einmal auf den Gedanken, dass sie überhaupt einen Beruf ausüben könnte. Junge Damen gehörten schließlich an die Seite eines Ehemannes. Er verhehlte allerdings nicht, dass er sich um Louises Zukunft keinerlei Gedanken machte, während er Zweifel daran hegte, ob Vicky überhaupt eine Chance auf dem Heiratsmarkt hatte.

Genau um diese Frage war es bei dem Streit der Schwestern vorhin gegangen. Vicky hatte sich darüber lustig gemacht, dass ihre Schwester sich wie ein Äffchen vor dem Spiegel hin und her gedreht hatte, weil ihr Verehrer sie zu einem kurzen Spaziergang abholen wollte. Louise hatte ihrer kleinen Schwestern daraufhin an den Kopf geworfen, dass sie sich darum keinerlei Sorgen machen müsste, weil sie ohnehin niemals in ihrem Leben in die Verlegenheit kommen würde, dass ein Mann sie zu einem Spaziergang abholen würde, schließlich sei sie hässlich wie die Nacht. Vicky hatte sich nicht anders zu helfen gewusst, als ihrer Schwester kurz entschlossen das Hütchen von den wohlfrisierten Locken zu reißen und darauf herumzutrampeln. Daraufhin war Louise empört zu ihrer Mutter gerannt und hatte die kleine Schwester verpetzt. Die Mutter war natürlich wieder einmal auf Louises Seite gewesen und hatte Vicky eine Strafpredigt gehalten. Wie kannst du dich nur so kindisch verhalten?, hatte sie ihrer Tochter vorgeworfen. Das tat Vicky natürlich weh. Sie war alles andere als ein Kind, aber eben auch keine Lady, wie man das von ihr erwartete. Dabei wusste Vicky ganz genau, warum sich ihre Mutter so über ihr »kindisches Verhalten« aufgeregt hatte. Anne Stewart war selbst ganz vernarrt in Archibald Cumberland und geradezu darauf versessen, dass er alsbald um die Hand ihrer älteren Tochter anhielt. Vicky war es allerdings ein Rätsel, was alle an dem Gefängnisdirektor fanden. Er war so groß wie Vicky und hatte zugegebenermaßen schöne dunkle Locken. Aber sahen sie denn alle nicht, dass ihm die Falschheit geradezu aus den Augen blitzte und er einen brutalen Zug um den meist zusammengekniffenen Mund hatte? Vicky verstand überhaupt nicht, dass offenbar die ganze Familie darauf erpicht war, Mister Cumberland als neues Familienmitglied willkommen zu heißen. Sie konnte auf diesen Kerl gut und gern verzichten. Und nun hatte sie das Hütchen ihrer Schwester beschädigt, mit dem sie vor ihrem Galan eine gute Figur hatte machen wollen. Eine Todsünde, wie Vicky vorhin schmerzhaft hatte erfahren müssen.

Sie hatte nicht lange überlegt, sondern war aus dem Haus, in den Garten und dann geradewegs hinaus auf die Straße gerannt. Sie kannte die ungefähre Richtung, in der das Oberste Gericht der Stadt zu finden war, doch sie war noch nie allein in der Russell Street gewesen. Ihr Vater hatte sie ein paarmal in der Kutsche mit dorthin genommen und ihr strengstens untersagt, sich jemals auf eigene Faust in diese Gegend aufzumachen, denn dort befand sich nicht nur das Gericht, sondern auch das Gefängnis, das man an der Grenze zum Buschland errichtet hatte. Wieder einmal hatte sie die Verbote ihres Vaters missachtet.

Bis zur Elizabeth Street hatte sie sich noch orientieren können. Diese Straße war ihr so verhasst, dass sie sie nicht verfehlen konnte. Es gab in der ganzen Stadt keinen Weg, der bei Regen derart im Moder versank wie diese Straße. Neulich erst hatte sie mit angesehen, wie eine Kutsche regelrecht in einem Schlammloch verschwunden war. Das Pferd hatte dieses Unglück mit dem Leben bezahlt. Nein, das war nicht der Ort, an dem Vicky ihre Zukunft sah. Trotzdem hätte sie jetzt gern gewusst, wo sie sich befand. Hier hatten die Straßen jedenfalls nicht einmal mehr Beschilderungen.

Vater wird sicher fuchsteufelswild werden, wenn ich in seinem Büro auftauche, sollte ich das Gerichtsgebäude jemals finden, dachte sie, als sie aus den Augenwinkeln drei finstere Kerle wahrnahm, die sich ihr näherten.

Die Kerle hatten struppige Bärte, langes ungepflegtes Haar und trugen zerschlissene Bekleidung. Sie sind entweder entflohene Sträflinge oder Glückssucher, denen das Schicksal nicht hold gewesen ist, mutmaßte Vicky, und sie vergaß, den Blick züchtig zu senken. »Wenn du jemals solchen Strolchen allein begegnen solltest, was ich nicht hoffen möchte«, hatte ihr die Mutter eingeschärft, »dann tu so, als ob du sie nicht siehst. Dann werden sie erkennen, dass du eine Dame bist und dich ignorieren.«

Schon traf sich der Blick von einem der Kerle mit ihrem. Ein begehrliches Funkeln sprach aus seinen Augen. Er pfiff anerkennend durch die Zähne. Alle drei Männer glotzten sie gleichermaßen gierig an.

»Na, mein Vögelchen, was möchtest du dafür haben, wenn du uns allen dreien ein kleines Vergnügen machst?«, erkundigte sich einer von ihnen grinsend.

Vicky wusste, dass es besser wäre, die Angebote der Burschen zu ignorieren und schnellstens das Weite zu suchen, aber es war nicht ihre Art, Frechheiten anderer schweigend hinzunehmen. Voller Verachtung musterte sie die abgerissenen Gestalten von oben bis unten. »Ihr irrt euch! Die Frauen, die ihr sucht, findet ihr unten am Hafen. Wenn ihr es auch nur wagt, mich anzurühren, bekommt ihr es mit meinem Vater zu tun.«

Der eine Kerl, ein kleiner, hagerer mit einem chinesischen Einschlag, trat bedrohlich einen Schritt auf sie zu, obwohl sie ihn um einen halben Kopf überragte. »Da machst du uns aber richtig Angst! Wenn du halbwegs eine Lady wärest, würdest du dich nicht allein in dieser Gegend aufhalten, zudem züchtig den Blick senken und einen Hut tragen. Also, was kostet der Spaß? Oder sind wir dir zu dreckig? Aber du …« Er sah ihr jetzt unverschämt auf den Busen. »… du bist auch nicht gerade das, was wir uns nach den anstrengenden Wochen in Bendigo erträumt haben. Also zier dich nicht, Bohnenstange!«

Vicky war weiß Gott kein ängstlicher Mensch, aber als in diesem Augenblick auch die beiden anderen, die im Gegensatz zu ihrem Freund wahre Hünen waren, Anstalten machten, sie mit ihren widerlichen, schmutzigen Händen zu begrapschen, wurde ihr mulmig zumute. Die dachten doch nicht etwa wirklich, dass sie eines der käuflichen Mädchen war?

Sie versuchte, den gierigen Männern, die sie gegen eine Häuserwand drücken wollten, auszuweichen, indem sie sich duckte, aber der hagere Chinese griff ihr grob unter das Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. Ihr wurde speiübel, als er ihr seinen stinkenden Atem entgegenhauchte, aber sie saß in der Falle, wie sie mit klopfendem Herzen feststellen musste. Seine Lippen kamen näher, und Vicky musste würgen, aber das hielt den Kerl nicht davon ab, sich mit halb geöffnetem Mund ihrem zu nähern. Vicky konnte mit Schaudern erkennen, dass ihm mehrere Zähne fehlten und der Rest gelblich verfärbt war. In diesem Augenblick bedauerte sie zutiefst, dass sie von zu Hause abgehauen war, und spürte, wie ihr vor lauter Verzweiflung die Tränen kamen. Aber das erweichte die Herzen der drei Kerle mitnichten. Im Gegenteil, der Chinese hielt zwar kurz inne, aber nur um sie zu verspotten. »Oh, jetzt weint unsere kleine Hure!« Der eine Hüne schubste seinen chinesischen Kumpan daraufhin zur Seite und zerrte grob an Vickys Kleid. »Wir haben nicht ewig Zeit«, grunzte er, als er mit einem Mal seinerseits von ein paar starken Händen gepackt und zu Boden geschleudert wurde. Eine schneidende männliche Stimme sagte: »Wagt es nicht noch einmal, meine Braut anzufassen, ihr miesen Schweine. Sonst seid ihr schneller im Melbourner Gefängnis, als ihr denken könnt!«

Die Männer warfen einander unschlüssige Blicke zu, während der Fremde Vicky seine Hand reichte. »Komm zu mir. Sie werden dir nichts mehr tun.« Sie nahm die rettende Hand entgegen. Er legte beschützend den Arm um sie. Die drei Kerle glotzten ihn dümmlich an, besonders der, den er zu Boden geschleudert hatte. »Ich zähle bis drei. Wenn ihr mir dann nicht aus den Augen seid …« Er drehte sich um und reckte den Hals. »Ach, da kommt ja ein Ordnungshüter des Weges …«

Der Fremde hatte den Satz noch gar nicht zu Ende gesprochen, da hatten sich die Angreifer getrollt, und Vicky musterte mit großen Augen ihren heldenhaften Retter.

2

Es kam selten vor, dass Vicky sprachlos war, aber in diesem Moment war sie es. Vicky sah den Fremden an, als hätte sie noch nie zuvor einen Mann gesehen. Und das hatte sie bislang auch noch nicht, jedenfalls nicht mit dem Blick einer Frau.

»Oh, entschuldigen Sie bitte«, sagte er höflich und zog seinen Arm fort. »Ich wollte mich Ihnen nicht derart vertraulich nähern, aber mir fiel in dem Augenblick nichts Besseres ein, als mich als Ihr Verlobter auszugeben.«

Seine tiefe, wohlklingende Stimme ging ihr durch und durch. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte er sie gern noch länger im Arm halten können. Sie hatte sich unendlich beschützt gefühlt.

»Aber, das haben Sie doch wunderbar gemacht. Sie sind mein Held«, erwiderte Vicky, ohne den Blick von ihm zu lassen. Sie blieb an einem Paar graugrüner Augen hängen. Die Intensität, die aus ihnen sprach, fesselte Vicky derart, dass sie den Rest des Mannes erst musterte, nachdem er sich ihr mit den Worten vorstellte: »Mein Name ist Jonathan Bowl.« Er streckte ihr seine Hand nun zur Begrüßung entgegen.

Jonathan war über einen Kopf größer als sie und schlank. Wie mein Zwilling, ging es Vicky durch den Kopf, während sie seine Hand nahm. Sein Händedruck war kräftig und angenehm. »Ich bin Victoria Stewart und danke Ihnen ganz herzlich, dass Sie mich vor diesen Strolchen gerettet haben. Die haben offenbar gedacht …« Vicky unterbrach sich hastig. Es gehörte sich nicht für eine junge Lady, über die käuflichen Mädchen am Hafen zu sprechen.

Jonathan verstand, was sie hatte sagen wollen. »Sie müssen sich nicht wundern. In dieser Gegend treibt sich bekanntlich allerlei Gesindel herum. Und junge Damen, die offenbar keine Furcht kennen. So wie Sie.«

»Wie kommen Sie denn darauf?«

»Na ja, nun, dafür, dass die Kerle drauf und dran waren, Sie in einen dunklen Hauseingang zu schleppen und sich an Ihnen zu vergreifen, waren Sie verdammt ruhig.«

»Was hätte ich denn tun sollen? Schreien? Zetern? Nein, ich musste doch überlegen, wie ich unbeschadet aus der Situation entkommen konnte. Und gerade, als sie mich gerettet haben, kam mir der Gedanke, dass, wenn er es wagen sollte, meinen Mund zu berühren, ich ihm die Zunge abbeißen sollte.«

Ein Lächeln erhellte seine Züge. Er hatte ein kantiges, bartloses Gesicht, was Vicky auf Anhieb gefiel. Noch nie war sie einem so gut aussehenden jungen Mann begegnet.

»Sie sind mir eine. Ja, in der Tat habe ich von einer jungen Lady erwartet, dass sie in einer solchen Lage um Hilfe ruft.«

»Dann hätten die Kerle mich geschlagen. Womöglich mitten ins Gesicht«, entgegnete sie ungerührt.

»Sie sind eine kluge junge Frau und nicht auf den Mund gefallen«, erklärte er lächelnd. »Aber was treibt Sie nur in diese unwirtliche Gegend?« Er musterte sie prüfend und blieb an ihrem Kleid hängen, das aus teurem Stoff gemacht war.

»Ich suche meinen Vater und habe mich verirrt.«

»Ihren Vater?«

»Ja, er ist Richter am Obersten Gericht, und ich wollte ihn in seinem Büro besuchen.«

Täuschte sie sich oder verdunkelte sich seine freundliche Miene?

»Soso, Ihr Herr Vater ist also am hiesigen Gericht tätig.«

Vicky nickte eifrig. »Ja, ich hatte einen hässlichen Streit mit meiner Schwester und war so aufgebracht, dass ich fortgelaufen bin und zu meinem Vater wollte.«

»Hm, und Sie meinen wirklich, dass er sich über Ihren Besuch freuen würde?« Das klang spöttisch.

»Das nicht gerade. Er wäre bestimmt einer Meinung mit meiner Schwester und meiner Mutter gewesen, aber er hätte mich wenigstens in den Arm genommen und mich dann erst gescholten. Außerdem hat er mir verboten, jemals zu Fuß in diese Gegend zu marschieren …«

»Was haben Sie denn Schlimmes angestellt?«

Vicky stieß einen tiefen Seufzer aus. Eigentlich sollte sie diesem Fremden gar nicht ihre ganze Lebensgeschichte erzählen, aber er machte so einen vertrauenerweckenden Eindruck, wenngleich … Ihr Blick blieb an seiner verschlissenen Kleidung hängen. So edel wie Louises Verehrer war er nicht gekleidet. Zur feinen Gesellschaft von Melbourne, auf die ihr Vater immer so viel Wert legte, gehörte er wohl eher nicht.

»Ich habe meiner Schwester den Hut vom Kopf gerissen und darauf rumgetrampelt«, gab sie zögerlich zu.

»Nicht gerade eine damenhafte Geste«, erwiderte er lachend. Sein Lachen war herzlich und kam aus voller Kehle.

Sie hatte sich niemals, wie Louise es so oft getan hatte, in allen erdenklichen Einzelheiten ausgemalt, wie der Mann, in den sie sich verlieben könnte, wohl aussehen müsste, aber wenn, so wurde ihr in diesem Augenblick klar, dann hätte es ein großer, hagerer Mann mit kantigem Gesicht und pechschwarzen Locken sein müssen … Sie konnte gar nichts dagegen tun; seit Jonathan den Arm um sie gelegt hatte, vermochte sie an nichts anderes mehr zu denken als daran, dass er das bitte noch einmal machen möge.

»Was hätten Sie denn getan, wenn Ihnen Ihr Bruder gesagt hätte, Sie seien so hässlich wie die Nacht und würden niemals eine Frau bekommen …«

»Ich habe keinen Bruder«, lachte er. »Aber, sollte Ihre Schwester Ihnen an den Kopf geworfen haben, dass Sie hässlich sind, hat sie keine Augen im Kopf. Sie sind wunderschön, und die Herren werden sich um Ihre Gunst reißen.«

Vicky sah Jonathan fassungslos an und spürte zu ihrem Ärger, dass sich ihre Wangen röteten. So etwas Nettes hatte noch nie jemand zu ihr gesagt. Kein Familienmitglied und schon gar kein junger Bursche. Ohne weiter nachzudenken, hörte sie sich da bereits fragen: »Sagen Sie, Jonathan, wollen Sie vielleicht demnächst nach London zurück?«

Nun war es an ihm, fassungslos zu gucken. »Äh, nach London? Mit Verlaub, was soll ich da? Nach England zieht mich gar nichts. Ich bin hier zu Hause, beziehungsweise drüben in Van Diemen’s Land geboren und nun auf der Suche nach dem großen Glück.«

»Sagen Sie bloß nicht, dass Sie einer von den Goldsuchern sind!« Das blanke Entsetzen stand ihr ins Gesicht geschrieben, denn sofort gingen ihr all die Sätze durch den Kopf, die ihr Vater für »dieses Gesindel«, wie er die Schürfer nannte, übrighatte. Sie sind arbeitsscheue Nichtsnutze, die früher oder später hinter den dicken Mauern des Gefängnisses landen, wenn sie nicht zu den wenigen gehören, die tatsächlich etwas finden … Aber auch die sind Abschaum!

»Sie sehen mich ja an, als wäre ich der leibhaftige Beutelteufel«, lachte Jonathan.

»Beutelteufel?«

»Das ist ein Raubbeutler aus Van Diemen’s Land. Er hat ein pechschwarzes Fell, und bei Aufregung bekommt er glühend rote Augen und fängt zu kreischen an.« Jonathan hob die Arme und machte das Schreien des gefürchteten Tieres nach.

Statt sich zu erschrecken, brach Vicky in lautes Lachen aus. Was für ein unterhaltsamer Mann, der mit kindlicher Freude Tierlaute imitiert, dachte sie. Ihr Herzschlag beschleunigte sich merklich.

»Sie sind entzückend«, bemerkte Jonathan plötzlich ernst und blickte ihr intensiv in die Augen. »Und Sie haben das herzlichste Lachen, das ich je aus dem Munde einer jungen Dame gehört habe.«

»Mutter sagt immer, das ziemt sich nicht für eine Lady.«

Er legte den Kopf schief und betrachtete sie schmunzelnd.

»Ladys sind langweilig. Sie hingegen scheinen eine richtige Frau zu sein. Eine Frau, die ein Mann wie ich auf der Stelle küssen möchte.«

Das brachte Vickys Herz nur noch mehr zum Rasen, vor allem, als sich sein Mund ihren Lippen näherte. Er wollte sie doch nicht etwa wirklich … in diesem Augenblick spürte sie, wie sie ein Schwindelgefühl ergriff. Ihr Kopf fühlte sich seltsam leer an, und sie kam ins Wanken. Allein die Vorstellung, er könnte es wagen und sie würde es zulassen …

Wenn Jonathan sie nicht aufgefangen hätte, sie wäre wohl zu Boden gestürzt.

»Mir ist so schummrig«, flüsterte sie, als sie sich in seinen Armen in Sicherheit fühlte.

Jonathan strich ihr über den Kopf und rief entsetzt aus: »Ihr Kopf steht ja förmlich in Flammen. Kommen Sie, nehmen Sie den.«

Mit der einen Hand hangelte er nach seinem breitkrempigen Sonnenhut und stülpte ihn Vicky über ihr blondes Haar.

»Aber jetzt sind Sie doch völlig ungeschützt der Sonne ausgeliefert«, protestierte sie halbherzig. Obwohl ihr sehr flau im Magen war, fühlte sie sich in seinem Arm wunderbar geborgen.

»Keine Widerrede. Und jetzt haken Sie sich bitte bei mir ein. Ich werde Sie auf schnellstem Weg bei Ihrem Herrn Vater abliefern.«

Vicky tat, was er verlangte.

»Sie kennen den Weg?«, fragte sie zaghaft, während sie an seinem Arm die staubige Straße entlangeilte, denn er konnte es nun offenbar kaum mehr erwarten, sie loszuwerden.

Kurze Zeit später tauchte auch schon das Gerichtsgebäude vor ihnen auf. Vor dem Portal entzog er ihr seinen Arm. »Schaffen Sie es allein?«, fragte er besorgt.

»Ich glaube nicht. Sie müssen mich noch hineinbegleiten«, stöhnte Vicky, obwohl sie sehr wohl spürte, dass ihr kleiner Schwächeanfall vorüber war.

»Ungern«, seufzte er. »Ich glaube nicht, dass Ihr Vater über meine Begleitung sehr erfreut sein wird.«

»Sie irren sich, Jonathan. Ich muss ihm doch meinen Retter vorstellen«, entgegnete sie entschlossen, nahm ihn bei der Hand und zog ihn in den Eingang des Gerichtsgebäudes.

»Ich weiß nicht recht«, murmelte Jonathan.

»Doch, oder haben Sie was auf dem Kerbholz, dass Sie sich scheuen, das Gerichtsgebäude zu betreten?«, fragte sie scherzend.

Jonathan wurde blass. »Nein, ich glaube nur, dass Ihr Vater keinen Wert darauf legt, mich kennenzulernen«, entgegnete er.

Vicky blieb abrupt stehen. »Mein Vater beißt nicht. Und ich möchte, dass er den wunderbarsten Mann kennenlernt, der mir in dieser Stadt jemals begegnet ist«, flüsterte sie. »Oder mögen Sie mich nicht?«, fügte sie erschrocken hinzu.

»Sie sind bezaubernd, aber ich … ich … wir kommen aus zwei Welten, die nicht zueinander passen. Wir müssen uns … also hier trennen sich unsere Wege«, stammelte er.

»Wollen Sie das wirklich?«, fragte Vicky und streichelte ihm zärtlich über seine glatte Wange.

»Ich, ich … ach, ich …« Und schon hatte er ihr Gesicht in beide Hände genommen und seinen Mund auf ihre Lippen gepresst. Vicky öffnete leicht den Mund und ließ sich auf das Spiel ihrer Zungen ein, als hätte sie schon hundertmal geküsst. Dabei hatte sie Louise gerade heute während des Streits noch voller Abscheu geschworen, dass sie allein den Gedanken, jemals einen Mann zu küssen, ekelhaft fände … Sie hatte natürlich an Archibald Cumberland gedacht. Wie hätte sie ahnen können, dass ihr nur wenig später ein Mann begegnen sollte, bei dem sie sich wünschte, der Kuss würde niemals enden.

Als sie ihre Lippen voneinander lösten, hatte Vicky weiche Knie und blickte Jonathan beseelt an.

In seinen Augen aber konnte sie keine Spur von strahlendem Glück erkennen, sondern eher einen Ausdruck gequälter Zerrissenheit.

Vicky zuckte erschrocken zurück. »Oh, das hätte ich nicht tun sollen. Das macht eine Lady nicht, oder?«

Jonathan atmete ein paarmal tief durch. »Wir beide, du und ich, Victoria …«

»Nenn mich einfach Vicky.«

»Vicky …«, flüsterte er.

Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Noch nie zuvor hatte jemand ihren Namen so zärtlich ausgesprochen. Und trotzdem ahnte sie, dass ihr das, was ihm auf der Zunge lag, nicht gefallen würde. Sie schluckte.

»… es ist besser, wenn wir uns auf diesem Flur verabschieden. Ich komme aus einer ganz anderen Welt als du. Und glaube mir, dein Vater wird niemals dulden, dass ich auch nur einen Fuß über eure Schwelle setze.«

»Hab doch keine Angst. Mein Vater ist im Grunde seines Herzens ein gutmütiger Mensch, der mir keinen Wunsch abschlagen kann. Und außerdem wird es ihn beruhigen, dass es einen Mann gibt, der mich mag. Er glaubt doch, ich würde nie einen Mann zum Heiraten finden …« Vicky schlug sich die Hand vor den Mund. »Das hätte ich niemals so direkt sagen dürfen. Junge Damen warten, bis der Mann ihnen einen Antrag macht, sagt meine Mutter immer. Und deshalb warten Louise und sie ja auch so fieberhaft darauf, dass ihr Verehrer endlich den Mund aufmacht.«

Zu ihrer Überraschung huschte über Jonathans Gesicht ein warmherziges Lächeln. »Weißt du eigentlich, wie bezaubernd du bist?«, sagte er. Die Qual aus seinen Augen war wie weggeblasen. Vicky konnte nur noch Zuneigung in ihnen lesen.

»Findest du wirklich? Du musst nämlich entschuldigen, ich habe keinerlei Erfahrungen im Umgang mit jungen Männern.«

»Du bist offen und unverstellt, und du glaubst gar nicht, wie herzerfrischend das ist.«

»Heißt das, du bringst mich zu meinem Vater?«

Jonathan rollte mit den Augen. »Gut, aber sei nicht enttäuscht, wenn er mich achtkantig hinauswirft.«

»Niemals!«, erwiderte Vicky voller Inbrunst, ergriff erneut seine Hand und zog ihn mit sich bis in die obere Etage. Vor einer großen Tür aus Eichenholz blieb sie stehen.

»Bist du bereit?«, lachte sie.

Jonathan nickte, aber glücklich sah er nicht aus.

Vicky klopfte energisch an die Tür, bis von innen die vertraute Stimme ihres Vaters »Herein!« rief.

Bevor sie die Tür öffnete, entzog Jonathan ihr seine Hand. »Es ist besser so«, raunte er.

Ihr Vater saß hinter einem Berg Akten am Schreibtisch. Als er aufsah, verhärteten sich seine Gesichtszüge.

»Sophie Victoria, was tust du hier?«

Vicky aber kümmerte sich nicht um seinen strengen Tonfall, sondern lief um den Schreibtisch herum und umarmte ihren Vater herzlich. »Schön, dich zu sehen, Vater«, säuselte sie. Jetzt erst schien der Richter auch den jungen Mann wahrzunehmen, der sich dezent im Hintergrund hielt.

»Und wer sind Sie?«, fragte er und musterte den Fremden voller Skepsis.

Bevor Jonathan antworten konnte, erzählte Vicky atemlos, wie er sie vor drei finsteren Kerlen gerettet hatte. Richter Stewart versuchte ein paarmal, den Redefluss seiner Jüngsten zu unterbrechen, aber sie ließ sich nicht beirren, sondern berichtete die Geschichte bis zu ihrem Ende. Dabei verschwieg sie natürlich, wie sehr es ihr der junge Mann angetan hatte. Das konnte sich Samuel Stewart aber offenbar selbst zusammenreimen, denn die Wangen seiner Tochter glühten, und sie strahlte in einer Art, wie er es noch nie bei ihr erlebt hatte.

»Schön«, sagte er knapp, nachdem sie ihre Schilderung beendet hatte. »Ich meine, schön, dass Sie im rechten Augenblick dazugekommen sind. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass ich es nicht gutheiße, dass du …« Er wandte sich mit zusammengekniffenen Augen an seine Tochter. »… dass du einfach blindlings von zu Hause losgerannt bist. Darüber werden wir unter vier Augen zu reden haben.« Er griff nach seiner Geldbörse, holte einen Schein hervor, winkte Jonathan heran. »Das ist für Sie!« Mit diesen Worten drückte er dem verblüfften Jonathan das Geld in die Hand. Der blieb wie angewurzelt stehen, woraufhin der Richter ihm ein Zeichen gab, dass seine Anwesenheit nicht länger erwünscht war. Ganz so, als wollte er eine lästige Fliege verscheuchen.

»Aber Vater, du willst mich den langen Weg doch nicht ohne Begleitung zurückschicken?«, bemerkte Vicky empört, als sie begriff, dass ihr Vater Jonathan soeben loswerden wollte.

»Nein, das ganz sicher nicht!«, entgegnete Samuel streng. »Ich habe gleich noch eine Sitzung. Und du, mein liebes Kind, wirst brav in einem Zimmer warten, um anschließend mit mir in der Kutsche nach Hause zu fahren. Wir brauchen die Dienste des jungen Mannes nicht mehr.« Das verkündete er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

Jonathan zögerte einen Augenblick, warf Vicky einen bedauernden Blick zu, bevor er sich zum Gehen bereit machte.

»Aber du kannst doch nicht einfach gehen. Ich weiß doch gar nicht, wo ich dich finden kann«, versuchte Vicky, ihn zurückzuhalten.

»Das ist auch gar nicht nötig. Siehst du nicht, dass der junge Mann gehen möchte«, fügte Richter Stewart unmissverständlich hinzu.

»Aber Vater, du kannst ihn doch nicht einfach hinauswerfen«, protestierte Vicky, stellte sich Jonathan in den Weg und sah ihn flehend an, als erwartete sie, dass er sich ihrem Vater offenbarte.

»Ich glaube, der junge Mann versteht mich«, sagte der Richter mit drohendem Ton, nicht ohne einen abschätzigen Blick auf Jonathans zerschlissene Hose zu werfen. »Oder?«

»Jawohl, Sir, ich denke, ich habe hier nichts mehr verloren«, gab Jonathan zurück.

»Aber Vater, das kannst du nicht machen. Ich dachte, du lädst ihn vielleicht zum Dank dafür, dass er mich gerettet hat, zum Essen zu uns ein.«