Zum Text
In kaum einem Strafprozess sind Möglichkeiten und Grenzen der Rechtsprechung so ausgelotet worden wie im Verfahren gegen Beate Zschäpe und ihre Mitangeklagten. Gisela Friedrichsen, Deutschlands bekannteste Gerichtsreporterin, zeigt in ihrer glänzenden Analyse, warum dieser fünf Jahre dauernde Prozess, der erstmals nach 1945 eine rassistisch motivierte Mordserie aufklären musste, für die bundesdeutsche Rechtsprechung so bedeutend ist. Anschaulich schildert sie die Beteiligten und ihre Strategien, von der sphinxhaften Hauptangeklagten über die ungewöhnliche Riege der Verteidiger und dubios agierende Nebenklägeranwälte bis hin zum Vorsitzenden Richter, der sich nicht das Heft aus der Hand nehmen ließ. Anders als manche Kritiker, die ein Versagen der Justiz erkennen, kommt sie zu dem Schluss, dass die Justiz die Bewährungsprobe bestanden hat.
Zur Autorin
Gisela Friedrichsen arbeitete 16 Jahre lang als Redakteurin bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und berichtete danach von 1989 bis 2016 als Gerichtsreporterin für den Spiegel. Seit 2016 schreibt sie für die Welt. Sie veröffentlichte mehrere Bücher, darunter eine Sammlung von Gerichtsreportagen, Ich bin doch kein Mörder (DVA, 2004) und ein Buch über den Fall Pascal, Im Zweifel gegen die Angeklagten (DVA, 2008). Gisela Friedrichsen wurde für ihre Gerichtsreportagen mehrfach ausgezeichnet.
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GISELA FRIEDRICHSEN
Der Prozess
Der Staat gegen
Beate Zschäpe
u. a.
Reinhard Birkenstock postum gewidmet
Inhalt
Vorwort
Vor Prozessbeginn
Die ersten Verhandlungstage
Das Terrain wird sondiert
Die Beweisaufnahme
2014, das zweite Jahr
2015, das dritte und entscheidende Prozessjahr
Die Verteidigungskrise
Die Jahre 2016 und 2017
Die Gutachten
Die Plädoyers der Ankläger
Die Plädoyers der Verteidigung
Das letzte Wort
Was bleibt
Das Urteil
Nachwort
Nachwort
In eigener Sache
Das NSU-Verfahren war für die journalistischen Berichterstatter einer der aufwendigsten und arbeitsintensivsten Gerichtsprozesse der vergangenen Jahrzehnte. Das lag nicht nur an seiner ungewöhnlich langen Dauer von mehr als fünf Jahren. Wenn auch im späteren Stadium des Verfahrens hin und wieder Verhandlungstage ausfielen, so wurde doch phasenweise, vor allem zu Beginn, dreimal pro Woche konzentriert verhandelt – Dienstag, Mittwoch, Donnerstag – von 9.30 Uhr an bis manchmal 18, 19 Uhr. Wer nicht in München wohnte, reiste außerdem meist schon am Montag an. Denn die Kontrollen im Justizzentrum waren langwierig und streng und die Plätze in den ersten zwei Reihen der Zuschauertribüne begehrt. War man nicht rechtzeitig zur Stelle, hatte man gegenüber Schulklassen, Studentengruppen und sonstigen Besuchern das Nachsehen. Sie nahmen dann jene Plätze in Beschlag, die eine halbwegs gute Sicht auf das Geschehen unten im Saal gewährleisteten. Weiter hinten sah man nichts mehr. So erging es jenen Journalisten, die den Prozess regelmäßig besuchen und möglichst viel mitbekommen wollten, nicht anders als den Verteidigern: Es blieb kaum Zeit zur Wahrnehmung anderer Gerichtsfälle.
Von den 438 Sitzungstagen dieser riesigen Prozessmaschinerie habe ich rund 400 selbst miterlebt. War ich einmal verhindert, versorgte mich ein Informant mit dem nötigen Wissen. Ich habe in mehr als 80 DIN-A4-Schreibheften notiert, was zu hören und zu sehen war, und in zahllosen mal mehr, mal weniger offiziellen Gesprächen mit Verteidigern, Nebenklagevertretern, Staatsanwälten und Gutachtern über ihre Einschätzung und die Probleme diskutiert, die in diesem Mammutprozess sichtbar wurden. Vieles davon ist als Hintergrundwissen in dieses Buch eingeflossen, manches blieb unerwähnt oder findet sich höchstens zwischen den Zeilen, weil Vertraulichkeit vereinbart worden war.
Henning Saß, der psychiatrische Sachverständige, begründete seine Erkenntnisse über die Hauptangeklagte Zschäpe gegenüber Verteidiger Wolfgang Stahl, als der ihn darüber befragte, unter anderem mit seinem »professionellen Blick«. Auch der Gerichtsreporter eignet sich irgendwann einen solchen Blick an, schon aus dem Bedürfnis heraus, stets Distanz zu wahren und eigene Emotionen hintanzustellen gegenüber Personen, mit denen er zu tun hat, sei es, dass er über sie schreibt oder sich mit ihnen austauscht. Der NSU-Prozess bot dazu jeweils Gelegenheit in Fülle. Auch was sonst in einem einzelnen Strafprozess vielleicht mal kurz aufscheint als Problem, als Besonderheit oder auch als Skurrilität, alles was der Strafprozess an Kalamitäten und Überraschungen zu bieten hat, war in dem einen Fall NSU zu erleben.
Welche Spuren hat der Prozess in der Rückschau hinterlassen? Die Erkenntnis, einem historischen Ereignis beigewohnt zu haben? Einen Blick geworfen zu haben auf die abgründigen Irrwege menschlicher Existenz? Dies lässt sich auch von anderen Strafprozessen sagen. Die Einsicht, dass der Weg der justiziellen Wahrheitsfindung in einem kontradiktorischen Verfahren vor einem unabhängigen Gericht eine der größten zivilisatorischen Leistungen in der Menschheitsgeschichte darstellt? Auch dies kann sich in jedem kleinen, unbeachteten Fall vor dem Amtsgericht ereignen. Der NSU-Prozess war ein ganz normaler, wenn auch herausragend geführter Strafprozess von ungewöhnlicher Dimension. Denn es ist Recht gesprochen worden über jene, die es nicht nur auf eigene Faust brechen zu dürfen meinten, sondern die, einige Jahrzehnte nach dem Holocaust, wieder mittels einer mörderischen Ideologie die Grundprinzipien des Rechtsstaats auszuhebeln sich anschickten. Sie unmissverständlich in ihre Schranken zu weisen und dies auch einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln, war die Pflicht des Senats. Sein Verdienst ist es, dass dies glückte.
Manche Prozessbeteiligte, heißt es, seien nach dem Urteil in ein tiefes Loch gefallen, fehlte ihnen doch plötzlich dieses Eingebundensein in eine Aufgabe mit hohem Ziel. Es ist schon richtig: Das Niveau des NSU-Prozesses hatte nichts mit den Niederungen der gewöhnlichen Strafjustiz zu tun, an denen man bisweilen verzweifeln kann. Bei mir führte die langjährige Beobachtung des souveränen Vorsitzenden dazu, dass ich mich dabei ertappe, seitdem jeden anderen Richter an ihm zu messen.
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Gesetzt aus der Minion
ISBN 978-3-641-21667-2
V002
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Vorwort
Ende des Jahres 2011 enttarnte sich der »Nationalsozialistische Untergrund« (NSU) selbst. Wenige Tage nach dem mutmaßlichen Doppelselbstmord von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos in Eisenach tauchten an den verschiedensten Orten in Deutschland Videos auf, in denen sich der NSU zu einer rassistisch motivierten Mordserie an Menschen nichtdeutscher Herkunft, zum Mord an einer Polizistin und Sprengstoffanschlägen bekannte. Über ein Jahrzehnt lang hatte die Terrorzelle, bestehend aus den beiden Männern und Beate Zschäpe, gewütet, ohne einen Hinweis auf ihr Motiv zu geben.
Sie töteten in Hamburg, in München, in Kassel, in Dortmund, in Nürnberg und einmal auch in Rostock. Sie töteten mit perfider Raffinesse Menschen, die sie nicht näher kannten und die nichts miteinander zu tun hatten. Dies stellte die Ermittler lange Zeit vor Rätsel. Profiler verglichen die Taten unter anderem mit den Verbrechen der RAF, stellten aber keine typischen Gemeinsamkeiten fest. Rechter Terror? Obwohl die Neonaziszene bis ins nächste Umfeld des NSU von V-Leuten des Verfassungsschutzes durchsetzt war, hielt niemand das Vorhaben dreier berufs- und arbeitsloser Verlierer aus Thüringen für möglich. Ausgerechnet sie sollten beabsichtigt haben, »die Welt zu retten«, was selbst einer ihrer Unterstützer, Holger G., ihnen kopfschüttelnd vorwarf? Durch das willkürliche Erschießen von Blumen- und Gemüsehändlern etwa?
Die Ermittler, die damals noch nicht länderübergreifend arbeiteten, erkannten nicht den rassistischen Hintergrund der Taten und dass sie von ein und denselben Tätern verübt wurden, denn es gab kein Bekennerschreiben. Stattdessen wurde im Osten halbherzig nach Bankräubern gefahndet, die in regelmäßigen Abständen vor allem Post- und Sparkassenfilialen überfielen. Auf die Idee, dass diese Überfälle mit den Tötungsdelikten im Westen Deutschlands zusammenhingen und dazu dienten, drei Ausländerhassern aus Jena den Lebensunterhalt zu sichern und das Morden zu ermöglichen, kam lange Zeit niemand.
Dann stellte sich Beate Zschäpe der Polizei. Plötzlich wurde klar, woran vorher niemand gedacht hatte. Ein Jahr später, am 5. November 2012, erhob der Generalbundesanwalt Anklage. Der Prozess sollte vor dem Oberlandesgericht München stattfinden.
Die Erwartungen waren übergroß. Es sollte ein historischer Prozess werden, einer von außergewöhnlicher Dimension, ein Mahnmal. Denn erstmals seit dem Ende des NS-Regimes standen wieder Nazis vor Gericht unter dem Vorwurf, allein aus rassistischen Gründen gemordet zu haben oder in solche Mordtaten verwickelt gewesen zu sein. Die Abgründe und das Ausmaß der modernen Hitlerei sollten nun endlich ans Licht der Öffentlichkeit kommen.
Auch ein politischer Prozess wurde beschworen, weil der Generalbundesanwalt staatliche Interessen verfolge, nämlich den Schutz seiner Dienste, denen bei der Aufklärung der Verbrechen verheerende Fehler unterlaufen waren. Angebliche Versuche des obersten Anklägers, diese Pannen und Irrtümer zu kaschieren, sollten im NSU-Prozess aufgedeckt werden. Vor allem für die Opferangehörigen galt es, viele Ungereimtheiten zu klären und Fragen beantwortet zu bekommen, die die Ermittler in ihrer Ignoranz und Voreingenommenheit absichtlich oder weisungsgemäß übergangen hätten.
Fünf Personen, vorweg Beate Zschäpe, wurden angeklagt. Für die gerichtlichen Feststellungen allerdings, ob und wie sich die Angeklagten schuldig gemacht hatten, spielten die Fragen der Angehörigen keine entscheidende Rolle. Trotzdem wurden sie wieder und wieder gestellt: Wieso musste ausgerechnet mein Vater, mein Bruder, mein Sohn sterben? Wer außer den verstorbenen Komplizen Zschäpes, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, hat noch gemordet? Es gab doch sicher viele Mittäter und Mitwisser! Wie viele? Gibt es sie noch immer? Warum wurden jahrelang die Opfer und ihre Angehörigen verdächtigt und nicht jene zwei Radfahrer, die von mehreren Zeugen an Tatorten beobachtet worden waren? Weil diese so deutsch aussahen? Oder weil Terroristen nicht mit dem Fahrrad zum Tatort fahren? Warum kam man nicht eher auf Rechtsterrorismus?
Die Antworten schienen so einfach zu sein. Man glaubte zu wissen – und wusste in Wahrheit nichts. Am Ende blieb erwartungsgemäß vieles offen, sehr zum Unmut der Opfer, die auf eine Ausleuchtung der rechten Szene bis in den letzten Winkel gehofft hatten. Immer wieder zitierten sie den Satz von Angela Merkel vom 23. Februar 2012, als die Kanzlerin versicherte: »Als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland verspreche ich Ihnen: Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Daran arbeiten alle zuständigen Behörden in Bund und Ländern mit Hochdruck.« Es war eine politische Aussage zur Beruhigung der verunsicherten Menschen. Die Opfer entnahmen ihr, dass es noch weit mehr Helfer und Hintermänner geben müsse als nur Ralf Wohlleben, André E., Carsten Sch. und Holger G., die neben Zschäpe auf der Anklagebank saßen.
Vielen Hinterbliebenen und Verletzten schien nicht klar gewesen zu sein, dass in einem Strafprozess weder das Vergangene eins zu eins rekonstruiert, noch so etwas wie die reine, eherne Wahrheit herausgefunden werden kann. Es ist immer nur der Versuch möglich, Eindrücke, Gefühle wiederzugeben und Zusammenhänge neu herzustellen, um das Maß an Wirklichkeit sichtbar zu machen, über das sich die Beteiligten als gemeinsame Wahrheit verständigen können. Nur in diesem Rahmen kann Schuld benannt und Strafe verhängt werden. Wer andere Ziele verfolgt und andere Versprechungen durchsetzen will, wird enttäuscht werden.
Das Ziel eines Strafprozesses, nämlich der versöhnende Rechtsfrieden, trat daher mit dem Urteil des 6. Strafsenats des Oberlandesgerichts München nicht ein. Neue Erwartungen wurden geschürt. Es dürfe nun keinesfalls ein Schlussstrich gezogen werden, hieß es, die Suche nach den wahren Tätern und Hintermännern beginne erst. Die Chance auf umfassende Aufklärung sei vom Gericht vertan worden. Die Richter hätten die Opfer abgespeist mit dürren juristischen Bewertungen der einzelnen Anklagepunkte und seien mit keinem Wort auf die Belange der Nebenklage, die Auswirkungen der Verbrechensserie auf die Gesellschaft und die Bedeutung des Strafverfahrens eingegangen.
Dessen ungeachtet zeigt sich jetzt in einigem Abstand, dass der NSU-Prozess in Wahrheit ein bedeutendes Stück deutscher Justizgeschichte darstellt. Einzelne Beobachter setzen ihn sogar mit den Frankfurter Auschwitz-Prozessen in den sechziger Jahren gleich. Doch da ging es um millionenfachen Mord an Juden und anderen von den Nationalsozialisten verfolgten Bevölkerungsgruppen. Es ging um eine in der Menschheitsgeschichte einmalige, weil industriell perfektionierte Menschenvernichtung, die zu ahnden eigentlich einer speziellen Rechtsanwendung bedurft hätte (wie sie Jahrzehnte später erst im Münchner Demjanjuk-Verfahren vollzogen wurde). Die NSU-Täter hingegen erschossen zehn Personen, brachten viele in Lebensgefahr und begingen 15 Raubüberfälle. Um die Angeklagten abzuurteilen, bedurfte es keiner neuen Interpretation des Gesetzes. Das Verfahren gegen Beate Zschäpe und ihre Helfer und Unterstützer folgte den üblichen Regeln der Strafprozessordnung, und der Senat hielt sich peinlich genau daran. Er befragte an den 374 Tagen Beweisaufnahme mehr als 600 Zeugen und Sachverständige, beschied 264 Beweisanträge, überstand 43 Befangenheitsanträge gegen den Vorsitzenden und seine Mitrichter, hörte sich an 51 Tagen die Schlussvorträge der Prozessbeteiligten an – zwischen den Plädoyers der Bundesanwaltschaft und dem Urteil verging ein ganzes Jahr – und legte bei alledem keine anderen Maßstäbe an als in anderen Mordprozessen auch.
Selbst wenn einzelne Hinterbliebene und Geschädigte enttäuscht auf den NSU-Prozess zurückblicken, da sie vom Gericht etwas anderes erwartet hatten als dessen Pflichterfüllung: Es war nicht Aufgabe des Senats, sich mit der Flut von Verschwörungstheorien, den Fiktionen von Thrillerautoren oder den Überzeugungen von Bloggern auseinanderzusetzen. Er hatte sich an Recht und Gesetz zu halten und sich mit der Anklage – und nicht mit Spekulationen und Fantasiegespinsten – gewissenhaft auseinanderzusetzen. Verjährungsfristen waren zu berücksichtigen, das Schweigerecht von Angeklagten und gegebenenfalls auch von Zeugen war zu beachten. Verschiedentlich wurde dem Vorsitzenden Manfred Götzl vorgeworfen, er habe Zeugen aus dem rechten Milieu nicht harsch genug angegangen und zur Wahrheit gezwungen. Haben diese Kritiker bedacht, dass der Vorsitzende dann umgehend von der Verteidigung wegen Befangenheit abgelehnt worden wäre? Und zwar erfolgreich.
Die beiden Haupttäter sind tot, die mit ihrer Komplizin 13 Jahre lang in der Illegalität gelebt hatten. Sie standen als unmittelbare Auskunftspersonen nicht mehr zur Verfügung. Beate Zschäpe und die Mitangeklagten schwiegen zu vielen Themen. Durch die Brandlegung in Zschäpes letzter Wohnung in Zwickau wurden überdies viele Beweismittel vernichtet. Der Senat drehte und wendete jedes verkohlte Fetzchen Papier aus dem Brandschutt, um in mühsamster Kleinarbeit Beweise für die mörderischen Absichten des NSU zusammenzutragen. Weitere Beweismittel gingen möglicherweise verloren durch das fatale Schreddern von Akten, durch Dummheit und/oder das Bestreben von Ermittlern, eigenes Fehlverhalten zu vertuschen. Aussagefreudige Informanten aus jener Zeit gab es nicht in großer Zahl. Sie wussten entweder tatsächlich nicht viel oder beriefen sich auf ihr Recht zu schweigen, um sich nicht selbst zu belasten. Es blieben also Fragen offen, was in so gut wie jedem Strafprozess vorkommt.
Aber sein Zweck, und dies war keineswegs nur ein Minimalziel, über die Angeklagten ein Urteil zu fällen, wurde erfüllt. Dass dies gelungen ist, trotz des langen Tatzeitraumes, trotz vieler verloren gegangener Beweismittel, trotz des langen Schweigens der Hauptangeklagten und ihrer dann zum Teil höchst unzulänglichen und wenig glaubhaften Angaben, trotz einer zunächst planlosen, schließlich chaotischen Verteidigung sowie untereinander uneinigen, bisweilen auch unseriös agierenden Nebenklagevertretern – es verdient allen Respekt. Auch trotz einer anfangs keineswegs in allen Punkten überzeugenden Anklageschrift, die nur durch ihren Umfang von 488 Seiten beeindruckte.
Der Vorsitzende bemühte sich an 438 Verhandlungstagen, nennenswerte Fehler zu vermeiden. Jahrelange Versuche, den Prozess oder das Gericht in Misskredit zu bringen, scheiterten über kurz oder lang. Vor allem hielt Manfred Götzl der immensen Belastung durch die ungewöhnlich hohe Zahl von 60 Nebenklageanwälten stand, die sich als dritte Prozesspartei verstanden und die Kontroverse nicht nur mit der Verteidigung, sondern fast mehr noch mit den Vertretern der Anklage und dem Gericht suchten. Sogar seine schärfsten Kritiker erkennen mittlerweile die enorme Leistung dieses Senats an.
Es gab unzählige Redundanzen während der mehr als fünf Jahre langen Verhandlung. Es kam so manches Mal zu überflüssigem, unwürdigem Gezeter, was der Vorsitzende souverän unterband. Er ließ vor allem den 95 Nebenklägern viel Raum, weit mehr als üblich ist. Er ließ zu, dass manche Opferfamilien bis zu neun Anwälte beschäftigten, denen jeweils ein Frage- und Antragsrecht zustand. Auch das trug zu fünf Jahren Verhandlungsdauer bei.
Ungewöhnlich war auch, dass die Ziele der vielen Nebenkläger keineswegs deckungsgleich waren. Die einen sehnten ein baldiges Ende herbei, um mit dem Tod ihres Angehörigen abschließen oder eigene Verletzungen überwinden zu können. Anderen lag vor allem an Entschädigungszahlungen für erlittene Verluste. Aber auch einzelne Opferanwälte verstanden die eigene Rolle anders als so mancher Kollege. Jede Schattierung – von reiner Interessenwahrnehmung der Mandanten bis hin zu reflexhaften Affekten gegen die Bundesanwaltschaft oder dem Bestreben, aus der Opfervertretung eine möglichst einträgliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahme durch Anwalts-Hopping zu machen – war vertreten.
Das Gericht musste mühsam Stein um Stein aneinanderfügen, bis sich langsam ein Bild ergab. Der Vorsitzende brachte Verstockte und Ängstliche zum Reden, er verlor nie die Kontrolle über die widerstreitenden Interessen der vielen Beteiligten. Er ließ sich nicht hinreißen von ungerechten Anwürfen und brachte einigen Anwälten, denen der Strafprozess fremd war und die in nagelneuen Roben erschienen, die sie sich offenbar eigens für den Prozess zugelegt hatten, mehr oder minder geduldig bei, wie man gemäß der Strafprozessordnung verhandelt und Anträge oder Fragen an Zeugen richtig formuliert. Der NSU-Prozess war für so manchen der Ort, an dem zu lernen war, wie Strafjustiz in Deutschland funktioniert.
In einer Erklärung zum Prozessauftakt hatten einzelne Anwälte der Nebenklage vorgebracht, die Familien der Getöteten und Verletzten treibe die Frage um, ob nicht ein Großteil oder sogar alle Taten hätten verhindert werden können, wenn die Ermittler und die V-Leute der Nachrichtendienste bereits von Beginn der Aktivitäten des NSU angemessen gehandelt, die Gefahr rechtsextremer Gruppierungen ernst genommen und entsprechend verfolgt hätten. Das ist eine Einschätzung ex post. 1998 suchte man Uwe Böhnhardt, der sich vor dem Antritt einer Haftstrafe drückte und stattdessen mit zwei Freunden, nämlich Uwe Mundlos und Beate Zschäpe, untertauchte. Fünf Jahre später, 2003, war die Sache schon verjährt. Gegen Zschäpe lag so gut wie nichts vor. Und von Mundlos wusste man zwar, dass er ein irrer, hochfahrender Typ war. Doch dass von ihm und seinen Kumpanen eine tödliche Gefahr für Menschen nichtdeutscher Herkunft in Westdeutschland ausgehen sollte, überstieg die Vorstellungskraft der Ermittler.
Auch die V-Leute in der Umgebung von Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe rechneten offenbar nicht damit. Innerhalb der rechten Szene galten die drei als elitäre, sich von den anderen abgrenzende und daher geheimnisumwitterte Kleinstgruppe, die sich ihren Lebensunterhalt anscheinend durch Überfälle sicherte. Dass sie nicht nur rechtsradikale Ansichten hatten und sich auf offensichtlich dubiose Weise Geld beschafften, sondern ganz konkret zu perfiden Mordtaten entschlossen waren – wer hielt das damals für möglich?
Die Anwälte der Nebenklage widersprachen in ihrer Erklärung mit der Überschrift »Minimalanklage« der Verteidigung und dem Generalbundesanwalt, dass es sich um eine »maximale Anklage« handle. Denn: »Die Vorstellung, der NSU habe aus nur drei besonders gefährlichen Rechtsextremisten bestanden«, sei nur schwer nachvollziehbar. »Bundeskriminalamt und Bundesanwaltschaft ermitteln gegen eine Vielzahl weiterer Personen, die dem Unterstützernetzwerk zugerechnet werden. Es gibt Hinweise darauf, dass der NSU an den Tatorten lokale Helfer gehabt hat«, hieß es in der Erklärung. Hinweise war wohl zu viel gesagt. Es gab mehr Spekulationen, Unterstellungen und Behauptungen als konkrete Anhaltspunkte dafür.
Im Lauf des Verfahrens trat eine Fülle von Zeugen auf, die mit den dreien vor deren Untertauchen im Jahr 1998 Kontakt oder zumindest von ihnen gehört hatten. Mancher hat auch seine Wohnung oder einen Ausweis den Kameraden kurzzeitig zur Verfügung gestellt, hinter denen die Polizei her war, oder andere Hilfsdienste geleistet oder angeboten. Das alles wurde ermittelt und abgeklärt. Vieles davon war jedoch zu Prozessbeginn schon verjährt und nicht mehr justiziabel. Wen oder was hätte man da noch anklagen sollen? Aber von Mitwissern oder gar Mittätern beim Töten – keine Spur. Jeder Mitwisser hätte das Entdeckungsrisiko außerdem um ein Vielfaches erhöht.
Ähnliches gilt für die folgende Spekulation mancher Opferanwälte: »Schließlich ist nicht auszuschließen, dass weitere Anschläge, die bisher nicht Gegenstand der Anklage sind, durch den NSU begangen worden sind.« Die Behauptung der Bundesanwaltschaft, sie habe sämtliche ungeklärten Fälle darauf überprüft, ob sie mit dem NSU in irgendeinem Zusammenhang stünden, ist nicht widerlegt worden. Ein vom Mitangeklagten Carsten Sch. gestandener Anschlagsversuch in Nürnberg mittels einer Taschenrohrbombe, die keinen großen Schaden anrichtete, rechneten die Ermittler fälschlicherweise nicht dem NSU zu. Mag sein, dass Böhnhardt und Mundlos auf ihren unzähligen Ausspähfahrten den einen oder anderen Versuch eines Anschlags unternahmen, davon aber wegen irgendwelcher Komplikationen schließlich absahen. Aber konkrete Hinweise auf weitere Taten gibt es bis heute nicht.
Wie wurden Tatorte und Opfer ausgewählt? Warum mussten Enver Şimşek und die anderen Männer sterben? Warum Michèle Kiesewetter? Es sind Fragen, die vor allem die Hinterbliebenen und die Geschädigten plagen. Beate Zschäpe könnte sie wahrscheinlich beantworten. Doch sie nahm ihr Recht in Anspruch, dies nicht zu tun, wohl auch deshalb, weil sie damit nicht nur sich selbst, sondern auch andere Personen in eine hochnotpeinliche Situation hätte bringen können. Waren die Morde Zufallstaten, weil die Gelegenheit gerade günstig war? Oder waren alle oder einzelne ausgekundschaftet und planvoll ausgeführt worden? Für die letzte Tat in Heilbronn, die Attacke gegen zwei Polizisten, kann es keinen Plan gegeben haben, folgt man den Angaben des schwerverletzten Überlebenden Martin A., der sich an jenen Tag bis zum Moment der Schussabgabe genau erinnert. Demnach hatten die junge Polizistin Kiesewetter und ihr Kollege die fatale Entscheidung, wo sie ihre Mittagspause verbringen wollten, spontan getroffen. Böhnhardt und Mundlos mögen zwar beabsichtigt haben, auch Repräsentanten des Staates zu terrorisieren. Vielleicht war auch der Besitz von Polizeiwaffen besonders reizvoll für sie. Irgendwelche belastbaren Anhaltspunkte jedoch für einen konkreten Plan, ausgerechnet Kiesewetter und ihren Kollegen zu überfallen, wurden nicht gefunden.
Der Prozess beruhte zunächst nur auf den Aussagen der geständigen Angeklagten Carsten Sch. und Holger G., die das Gericht mit unsicheren Erinnerungen konfrontierten. Während Sch. sich schon 2001 von der rechten Szene abgewandt hatte und also über das folgende Jahrzehnt nichts mehr sagen konnte, blieb G. dieser Szene durch seine Freundschaft zu Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe fast bis zum Schluss verbunden. Doch es war eine nur lockere Verbindung.
In diesen schwankenden Boden schlug das Gericht aber bald Pflöcke ein und errichtete starke Säulen, die am Ende das Fundament stabilisierten und das gesamte Prozessgebäude trugen. An Füllmaterial war in den langen Jahren zwischen 1998 und 2011, als der NSU aufflog, ohnehin einiges zusammengekommen. Lücken, die sich nicht hatten schließen lassen, bieten bis heute Raum für Spekulationen, dass alles vielleicht auch ganz anders hätte gewesen sein können. Nur: Solange es dafür keine belastbaren Beweise gibt, handelt es sich tatsächlich nur um »Fliegengesumme«, wie sich Bundesanwalt Herbert Diemer ausdrückte.
Das Gerüst eines Strafprozesses ist stets dasselbe: Anklage, Vernehmung der Angeklagten, Beweisaufnahme, Schlussvorträge, Urteil. Doch die sichtbare Architektur eines Urteilsgebäudes variiert von Fall zu Fall. Da der NSU-Senat den geständigen Angaben des Angeklagten Carsten Sch. Glauben schenkte, ergaben sich daraus Hinweise auf die Rolle von Ralf Wohlleben. Hatte der den Auftrag zum Erwerb der Ceska 83 gegeben, die wie eine Signaturwaffe bei neun von zehn Morden eingesetzt worden war, folgten daraus Anhaltspunkte für die dahinterstehende Ideologie, die Zschäpe als Dritte im Bunde mitgetragen haben muss, zumal der Mitangeklagte Holger G. dazu Angaben machte.
In diesem Buch soll diese Architektur beschrieben werden. Es soll gezeigt werden, anhand welcher Indizien und Aussagen das Gericht zu der Überzeugung gelangte, der Kern des NSU habe aus nicht mehr als drei Personen bestanden, die, zwar nicht ohne Mithilfe, aber doch ohne konkretes Mitwissen anderer, die Verbrechen begingen. In mehr als fünf Jahren Hauptverhandlung schossen zwar Spekulationen von Journalisten, Politikern, Filmschaffenden, Autoren und am Fortbestehen ihres Mandats interessierten Anwälten sowie fantasiebegabten Internetforisten ins Kraut, die das Gegenteil propagierten. Einen Beweis dafür blieben sie alle schuldig.
Vor Prozessbeginn
Kritik von allen Seiten
Der Start geht erst einmal daneben. Am 17. April 2013 hätte die Hauptverhandlung beginnen sollen. Vier Tage zuvor demonstrieren Tausende in München »gegen Naziterror, staatlichen und alltäglichen Rassismus«, wozu ein Bündnis mehrerer Dutzend linksgerichteter Gruppen aufgerufen hatte. Einen Tag vor dem geplanten Prozessbeginn verteilen Neonazis am Justizgebäude Flugblätter, auf denen die Freilassung des Angeklagten Ralf Wohlleben gefordert und das Verfahren als »Schauprozess« verunglimpft wird. Verantwortlich zeichnet dafür das sogenannte Freie Netz Süd.
Es dauert dann drei Wochen, bis der Prozess am 6. Mai 2013 tatsächlich eröffnet werden kann. Fünf Personen sind angeklagt, vier Männer und Beate Zschäpe, gegen die sich der schwerste Vorwurf – Mittäterschaft bei zehn Morden – richtet. Zwei Angeklagten wird Beihilfe zu neun Morden vorgeworfen, zwei weiteren die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung.
Vorausgegangen war ein Debakel mit der Akkreditierung von Journalisten, das zu der Verzögerung geführt hatte. Ausgerechnet mehrere türkische Medien hatten die Anmeldefrist verstreichen lassen und beklagten sich dann, als alle Plätze vergeben waren, über angebliche Diskriminierung. Ein Versuch, das Verfahren bereits vor Eröffnung der Hauptverhandlung in Misskredit zu bringen? Dieser Verdacht wurde nie ausgeräumt. Eine Erklärung für ihre späte Anmeldung boten die türkischen Medien nicht an.
Neben den großen deutschen und internationalen Medien hatten sich Frauenzeitschriften, aber auch lokale Blätter und der Münchner Sender »Radio Arabella«, akkreditiert, nicht aber die größte türkische Zeitung in Deutschland Hürriyet. Auf den Protest der türkischen Medien hin gab das Bundesverfassungsgericht dem Münchner Senat auf, eine »angemessene Zahl von Sitzplätzen an Vertreter ausländischer Medien mit besonderem Bezug zu den Opfern der angeklagten Straftaten zu vergeben«.
Zwischen den Zeilen las sich das Papier so, als wäre von dem Senat schon zu erwarten gewesen, die türkischen Medien besonders im Blick zu haben. Aber war damit zu rechnen, dass ausgerechnet sie den Beginn der Anmeldefrist nicht beachten würden? Die Karlsruher sparten nicht mit Vorschlägen, »ein Zusatzkontingent von nicht weniger als drei Plätzen« für ausländische Medien zu eröffnen. Oder »die Akkreditierung insgesamt nach anderen Regeln« zu gestalten, was dem Senatsvorsitzenden »unbenommen« sei.
Das Windhundverfahren, wonach all jene einen Platz bekommen, die sich schnell genug anmelden, gilt seit langem als bewährte Methode der Akkreditierung von Journalisten in spektakulären Fällen. Dem Vorsitzenden Götzl blieb nun nichts anderes übrig als das Los. Denn wohin mit weiteren Stühlen? Die Karlsruher Richter hatten keine Ahnung, wie eng es auf der Münchner Zuschauertribüne zuging.
Also fing alles wieder von vorn an, und wer sich von den Journalisten schon sicher wähnte, einen Sitzplatz ergattert zu haben, stand von neuem mit leeren Händen da. Beim Windhundverfahren hatte jedermann die Chance auf einen Sitzplatz, hielt er sich nur an die Regel einer möglichst frühen Anmeldung. Gegen das Los aber war man machtlos. Wieder gab es Unzufriedene. Die Situation war schließlich so verfahren, dass das Gericht, welche Regelung es auch traf, dafür gescholten wurde. Die Münchner Justiz schien sturmreif geschossen, noch ehe der Prozess begann. Der Vorsitzende stand da wie ein überforderter bayerischer Provinzrichter. Welch ein Irrtum.
Kritik kam von allen Seiten: das Akkreditierungsverfahren unkorrekt, die Öffentlichkeit unzulässig beschränkt bei gleichzeitig maximaler öffentlicher Aufmerksamkeit. Die Pressearbeit dilettantisch, der Saal zu klein, der Platz der Verteidiger zu eng und vor allem zu nahe an der Richterbank. Zu unbequem für die 95 Nebenkläger und deren 60 Anwälte. Die Arbeitsbedingungen für Journalisten nicht auszuhalten. Die Sicht von der Zuschauertribüne aus auf jenen Teil des Saales, in dem sich die Anwälte der Opfer und die Geschädigten aufhielten, unmöglich.
Doch größer ließ sich der Gerichtssaal mit seinen 250 Sitzen nicht machen. Den Mindestanforderungen an die Kapazität genügte er. Die 49 für die Presse reservierten Plätze auf der Tribüne reichten nach dem Gerichtsverfassungsgesetz aus, um dem Öffentlichkeitsprinzip zu genügen. Vorschläge, den Prozess in einen Konzertsaal oder eine Sporthalle zu verlegen, kamen wegen der Sicherheitsmaßnahmen, die grundsätzlich für Terrorverfahren zu treffen sind, nicht in Frage. Auch war die Dauer des Verfahrens nicht abzusehen.
In München gibt es keine andere Räumlichkeit, die für ein solches Strafverfahren auf unabsehbare Zeit hätte freigehalten werden können, als den fensterlosen, künstlich beleuchteten und schlecht belüfteten Sitzungssaal A 101 im Betonbunker des Strafjustizgebäudes an der Nymphenburger Straße. Mit seinen gelbgrünlichen Wänden und der in Betonblöcke aufgefächerten Decke, die sich kuppelartig über das Zentrum des Saales wölbt, ist er ein unwirklich anmutender Raum, von der Außenwelt abschottet wie eine Isolierstation, in der sich die Koryphäen ihres Fachs über Delinquenten beugen, die zumeist für lange Zeit ihre Freiheit verwirkt haben.
Hätte der Prozess nicht vor dem Staatsschutzsenat eines anderen Oberlandesgerichts stattfinden können? Warum ausgerechnet München? Weil fünf der zehn Mordanschläge des NSU in Bayern verübt wurden? Das Münchner Oberlandesgericht, in dem mehrere Staatsschutzsenate tätig sind, galt in Karlsruhe als geeignet, den Prozess um die Mordserie des »Nationalsozialistischen Untergrundes« zu führen. Geeignet wohl auch deshalb, weil das Verfahren beim 6. Strafsenat landen würde. Bei dessen Vorsitzendem Manfred Götzl.
Karl Huber, dem damaligen Präsidenten des Münchner Oberlandesgerichts, unterlief im Vorfeld des Verfahrens eine vieldeutige Bemerkung: »Ich habe das Thema zur Chefsache gemacht, meine besten, erfahrensten Richter dafür abgestellt …«, sagte er am 2. Februar 2013 in einem Interview gegenüber der Süddeutschen Zeitung. Die besten Richter abgestellt? Wo bleibt da der nach dem Gesetz zuständige Richter? Aber vielleicht war es ja nur ein Versprecher.
Die Verteidigung beantragte eine Tonbandaufzeichnung mit Verweis auf die Frankfurter Auschwitz-Prozesse und die Strafverfahren gegen die Mitglieder der RAF in Stuttgart-Stammheim, schon aus historischem Interesse. Aber in den sechziger und siebziger Jahren gab es noch nicht das Internet und eine Paralleljustiz in den sozialen Medien, wie sie heute üblich geworden sind. Jede Art von Aufzeichnung würde heute sogleich den Weg aus dem Gerichtssaal hinaus auf den Marktplatz der Meinungen finden. Der Senat lehnte den Antrag, wie nicht anders zu erwarten, ab.
Auch einer Übertragung der Hauptverhandlung in einen Nebenraum, wie sie vereinzelt gewünscht wurde, verweigerte sich der Senat. Sie wäre bereits daran gescheitert, dass nicht jeder Nebenkläger oder Zeuge sein Einverständnis dazu gegeben hätte. Jeder von ihnen hätte auf den Schutz seiner Persönlichkeitsrechte pochen können. Ähnliches galt für eine audiovisuelle Aufzeichnung der Hauptverhandlung, selbst wenn sie nur als Gedächtnishilfe für das Gericht gedacht gewesen wäre. Denn jeder Prozessbeteiligte hätte sie auch für sich – und damit für die Öffentlichkeit – beanspruchen können.
Es war die übliche Erregung vor einem vielbeachteten Strafprozess. Sie sollte sich bald legen.