Ursula Heinzelmann

Vom Käsemachen

Tradition, Handwerk und Genuss

Mit Fotos von Manuel Krug

Insel

Inhalt

Einleitung. Warum Käse?

Hier oben bin ich ein ganz anderer Mensch: Senner und Alpkäse im Bregenzerwald

Marianne Schwarz, Alpe Helmingen Emma und Richard Fuchs, Alpe LochAnton Sutterlüty, Untere Falz-Alpe Bregenzerwald/Österreich

Sura Kees und Mascarplin: Spurensuche in Graubünden und im Montafon

Daniel Mangeng, Alpe Vergalda Montafon/Österreich Vreni und Dionis Zinsli, Sennerei Sufers Graubünden/Schweiz

Vielleicht nicht schon immer, aber schon immer ganz anders: Norwegischer Brunost

Gunnhild Borlaug und Anna Karine Marstein, Undredal Stølsysteri Anne Karin Hatling, Skjerdal Sognefjord/Norwegen Tove und Knut Åland, Aalan Gård Lofoten/Norwegen

Die Wieder-Entdeckung der Tradition: Cheddar

Montgomery's, Keen's und Westcombe Somerset/Großbritannien Ruth Klahsen, Monforte Dairy Ontario/Kanada

Zwei Brüder aus Vermont und ein Prinz aus dem Jura

Andy und Mateo Kehler, Jasper Hill Creamery & Cellars Greensboro, Vermont/USA Patrick Hauser, Laiterie Le Lieu Jura/Schweiz

Love me tender: Stilton, Stichelton und englische Vorurteile

Billy Kevan, Colston Bassett Dairy Joe Schneider, Stichelton Dairy Nottinghamshire/Großbritannien

Unfälle, Zufälle, glückliche Fügungen: Der Blues

David Gremmels, Rogue Creamery Oregon/USA Arturo Chiriboga, Bad Hindelang/Allgäu Lyndell Findlay, Blue Harbour Cheese Halifax/Kanada Mike Thomson, Mike's Fancy Cheese Newtonards/Nordirland

Hippies und Aussteigerinnen: Die kalifornischen Käsefrauen

Laura Chenel, Sally Kendall, Sally Jackson, Jennifer Bice, Soyoung Scanlan, Mary Keehn, Sue Conley & Peggy Smith Kalifornien/USA

Das Terroir des Capriolenhofs in Brandenburg

Sabine Denell und Hanspeter Dill, Capriolenhof Bredereiche/Brandenburg

Wild und geheimnisvoll wie die Insel: Milleens

Veronica, Norman und Quinlan Steele Beara, West Cork/Irland

Pragmatismus und Risiko: Deuschlands Norden

Familie Koll, Ostenfelder Meierei und Inselkäserei Pellworm Schleswig-Holstein Familie Metzger-Petersen, Hof Backensholz Oster-Ohrstedt/Schleswig-Holstein

Hörner, Mist und Schmetterlinge: Die Biodynamiker

Katharina Goldammer, Hof Marienhöhe Bad Saarow/Brandenburg Familie van de Voort Lunteren/Niederlande

Schafe, Hirten, Pecorino: Unterwegs auf Sardinien und Sizilien

Salvatore Tarantino, Tasca d'Almerita Vallelunga/Sizilien Gianfranco Bussu Macomer/Sardinien

Eine Zeitreise zu den Ursprüngen: Schweizer Käsetradition in Anatolien

Ilhan Koçulu Familie Ömür Boğatepe Kars, Anatolien/Türkei

Auf den Spuren unserer nomadischen Vorfahren: Höhlenkäse aus der Türkei

Niğda Ay, Karaman Divle Obruğu, Üçharman Anatolien/Türkei

Abbildungsverzeichnis

Register

Einleitung

Warum Käse?

Warum nicht? Denn es waren Hirten auf dem Felde ‌… und die hüteten ihre Schafe beileibe nicht nur für warmes Gewand, Fleisch im Kessel und Dünger auf dem Acker.

Käse ist einfache Stärkung und gleichzeitig wundersame Verwandlung. Aus Milch entsteht mithilfe eines Gerinnungsmittels wie Lab und (in den allermeisten Fällen) Salz und durch die Aktivität verschiedener Kleinstlebewesen ein wahres Feuerwerk aus den unterschiedlichsten Käsesorten. Käse kann unprätentiös und volksnah sein, es gibt ihn in einfacher Form im Supermarkt, gleichzeitig kann er als begehrte, teure, langgereifte Rarität auch ganz exklusiv auftreten. Ob Scheiblette oder Unikat, industriell oder handwerklich hergestellt, Käse ist immer Konzentrat und Ausdruck einer ganz bestimmten Situation. Er spiegelt Klima und Landstriche, Wirtschaft, Sozialordnung, Politik, Erinnerungen und Träume wider.

Bei dir hat jeder Käse eine Geschichte, bemerkte jemand vor kurzem ‒ das war nicht einmal vorwurfsvoll gemeint, wurde aber doch mit ziemlichem Erstaunen in der Stimme vorgebracht. Doch genau das ist es, was mich interessiert: die Geschichte, die hinter jedem Käse steckt. Ich bin überzeugt, dass das Erzählen dieser Geschichten Horizonte erweitert, uns einander näherbringt. Milch ist unsere allererste Nahrung, und Käse ist uns daher auf eine ganz besondere Art sehr nah. Gleichzeitig führt er uns in die Welt hinaus.

Ich kann gar nicht sagen, wie und wann ich »auf den Käse« gekommen bin, und ich glaube, das liegt daran, dass er zu mir gekommen ist, eigentlich schon immer da war. Seit einigen Jahren bekenne ich mich ganz offiziell dazu: Heinzelcheese ist eine eingetragene Marke, meine Marke. In der englischsprachigen Welt heißt es ja, der Mond sei aus Käse. Das stimmt zwar nicht, aber an manchen Abenden, wenn der Mond besonders tief steht und riesig goldgelb leuchtet, könnte man es glauben.

Eines ist sicher: Käse ist ein wunderbarer Leitstern. Er hat mich nicht nur Deutschland mit neuen Augen sehen lassen, sondern auch in die äußersten Ecken Europas geführt, im Norden bis hinauf zu den Lofoten, nach Irland, wo der Atlantik sich mit dem Festland vereinigt, nach Sizilien und Sardinien, wo Afrika schon beinahe zu ahnen ist, und in den Osten Anatoliens, wo Europa mit Asien verschmilzt. Käse hat mich die Westküste Nordamerikas bereisen lassen und Vermont ganz im Nordosten, ich habe mir bis dahin unbekannte Landschaften erlebt und andere aus einer ganz neuen Perspektive gesehen. Ich habe großartige Menschen kennengelernt und Zusammenhänge neu begriffen.

Immer wieder werde ich nach meinem Lieblingskäse gefragt, und immer wieder entgegne ich darauf, dass die Antwort von Stimmung, Situation und Jahreszeit abhängt, und die Antwort wie beim Wein eigentlich unmöglich ist, weil es so viele großartige Käse gibt. Spannend muss er sein, um mir zu gefallen!

Seit 2014 gibt es die monatlichen Heinzelcheese-Talks, bei denen wir um einen großen Tisch in der Markthalle Neun in Berlin-Kreuzberg sitzen und zusammen Käse (und Wein) erschmecken und diskutieren. Diese Treffen sind entstanden, weil ich von meinen Reisen immer wieder ungewöhnliche Käse mitbringe, die es hier nicht überall gibt und die ich gerne mit anderen Menschen teilen möchte. An jenem Tisch habe ich verstanden, dass Käse auch ein wunderbares Mittel ist, um uns von so manchem stereotypen, von Medien und Politik verbreitetem Vorurteil zu befreien. Wenn ich türkischen Käse auf die Holzbretter lege, sage ich erst einmal gar nichts über seine Herkunft. Erst wenn der Käse über alle Sinne im Kopf angekommen ist, schicke ich entsprechende Informationen hinterher. Dann beobachte ich immer wieder, wie sich bei vielen ein Schalter umlegt: DIE Türken, das sind nicht nur die Gesichter aus den Nachrichten, sondern Menschen, in diesem Fall Menschen, die Käse machen ‌…

Käse hat die Fähigkeit, Menschen zu verbinden, über so manche Grenzen hinweg. Aus diesem Grund engagiere ich mich auch intensiv bei der Organisation der Cheese Berlin, dem Käsefestival, das alljährlich im November stattfindet und Käsemacher aus der ganzen Welt für ein wunderbares Wochenende unter dem alten, hohen Dach der Markthalle zusammenbringt.

Und warum gerade diese Käse? Diese Länder? Und warum kommt der französische Käse nur ganz am Rande vor? Das ist tatsächlich Zufall ‒ es gibt viele ganz fantastische Käse in Frankreich. Dies ist eine persönliche Auswahl, und eine sehr persönliche Reise, Es war nicht immer einfach, diese Prachtexemplare aufzutreiben, aber hier sind sie. Meine Erzählungen sollen dazu ermuntern, selbst aufzubrechen und nach Käse, Menschen und ihren Geschichten, wie ich sie erlebt habe, Ausschau zu halten.

Hier oben bin ich ein ganz anderer Mensch: Senner und Alpkäse im Bregenzerwald

Marianne Schwarz, Alpe Helmingen
Emma und Richard Fuchs, Alpe Loch
Anton Sutterlüty, Untere Falz-Alpe
Bregenzerwald/Österreich

Bei Sonnenschein im Lecknertal zu wandern, das sich hinter Hittisau im Bregenzerwald in Richtung Gunzesried im Allgäu zieht, gleicht einem Ganzkörperbad in Wohlgefühl. Meine Großstädterseele baumelt, die pflastergewohnten Füße federn über wassergesättigte Bergwiesen. Und die Augen staunen über wahre Wolken von kleinen wilden Orchideen, Knabenkraut, das in allen Schattierungen von Rosa bis Violett blüht. Daneben gibt es Erdbeeren, Heidelbeeren, ganze Felder von Minze ‒ ich habe keine Ahnung, wie sich das in Kuhmägen auf die Milch auswirkt, aber es duftet so gut.

Kühe gehören zu dieser Landschaft wie der Geißenpeter zur Heidi, das gänzlich unorchestrierte und dennoch harmonische Geläut ihrer Glocken bildet den Soundtrack der Alpen. Aber die braunen, grauen, gefleckten oder gesprenkelten Wiederkäuer stehen natürlich nicht zur reinen Erbauung einer erholungsbedürftigen Touristin, wie ich es bin, vor dem Gipfelpanorama. Das glückliche Wohlgefühl an einem warmen Sommertag trügt ‒ der Winter ist lang, die Natur unnachgiebig. Das Sennerleben auf der Alp (wie die Alm, die Sommerkäserei der Berge, hier heißt, von denen es in der Gemeinde Hittisau so viele gibt wie sonst nirgends) ist hart, rund hundert Tage von Ende Mai bis in den September, ohne Wochenende oder Ruhepause. Keine Lust, zu müde ‒ das geht hier nicht. Beschaulich ist das nur mit der passenden Einstellung, nennen wir es die Älplerseele. Wer die besitzt, hat Geduld und innere Ruhe, und das zeigt sich im Käse. Und auch ich bin nicht zur Erholung hier (das ist ein großartiger Nebeneffekt), sondern um zwei ganz besondere Alpen zu besuchen.

Gleich hinter dem Parkplatz am Ende der schmalen Mautstraße, die von Hittisau ins Tal hineinführt, steigt ein Weg rechts am Hang hinauf. Er führt nach etwa einer Stunde, genau dann, wenn ich schwitzend die Unzulänglichkeiten meiner städtischen Kurzjogger-Kondition zu spüren beginne, zu einer eher unscheinbaren Sennhütte mit den für die Gegend typischen Holzschindeln. Im Schatten davor stehen zwei einfache Tische mit Bänken. Wochentags ist es ruhig auf der Alpe Helmingen, auch heute sind außer mir keine Touristen hier, aber die Sennerin hat Besuch aus dem Dorf, und der breite Wäldler-Dialekt der Frauen mischt sich in den Alpen-Soundtrack der Glocken. Einen Becher Milch, ein Käsebrot? Unbedingt. Die Milch schmeckt süß, sahnig, würzig ‒ der Winter scheint weit weg, die Welt ist schön. Dann der Biss in den kräftigen Käse, der in dicken Scheiben auf schlichtem, gebuttertem Mischbrot liegt …

Marianne Schwarz, die Sennerin, strahlt eine geerdete Ruhe aus. Sie zieht seit vielen Jahren zusammen mit ihrem Mann im Sommer hier hinauf, und man sieht der kräftigen, entschiedenen Frau Mitte fünfzig an, dass der Alpsommer mit viel körperlicher Arbeit verbunden ist. Ich habe sie stets nur in weißer Gummischürze erlebt, das Gesicht ein wenig gerötet, die schwarzen kurzen Haare unter einer weißen Kappe. Trotzdem wirkt sie alles andere als gestresst. »Natürlich ist immer viel zu schaffen«, sagt sie gut gelaunt, »aber sobald ich hier hochkomme, bin ich einfach ein ganz anderer Mensch.« Kaum ein Alpsenn, ob auf der eigenen Alpe wie Marianne Schwarz oder im Auftrag eines oder mehrerer Bauern, steht auch den Rest des Jahres am Käsekessel, viele arbeiten als Zimmerleute oder Skilehrer. Der hunderttägige Alp-Sommer wirkt auf dem Kalender viel kürzer als die restlichen 265 Tage des Jahres, dauert aber in seiner Intensität mindestens ebenso lang, und erst der Wechsel verleiht beiden Lebensformen ihre besondere Qualität.

Alpkäsereien sind einfache Bauten, tritt man ein, steht man sofort in der Käserei, die hier Käsküche heißt. Der imposante Kupferkessel hängt über einer offenen, rund gefassten Feuerstelle. Jeden Morgen verarbeitet Marianne Schwarz darin nach dem Melken die gänzlich unbehandelte Milch ihrer dreißig Kühe zu zwei großen runden Alpkäse. Zwei noch ganz embryonale, rindenlose weiße Laibe liegen in Leintücher geschlagen und von Spannringen in Form gehalten auf einem Tisch an der Wand daneben, unter einer einfachen Spindelpresse. In der angrenzenden Milchkammer sind flache, runde hölzerne Gefäße aufgereiht, die Gebsen, die manche auch Stotzen nennen. »In denen steht die Abendmilch über Nacht, das machen wir schon immer so«, sagt sie, »die Milch muss säuern, muss reifen an der Luft.« Strom ist knapp, aber zum Kühlen ist er sowieso nicht nötig. Das Brunnenwasser ist kalt, und als wir in den Keller hinabsteigen, weil ich ein großes Stück Käse vom Vorjahr mit nach Hause nehmen möchte, spüre ich einmal mehr die wunderbare feuchte Frische dort unten.

Wenn ich von Reisen wie dieser zurückkehre, wiegt mein Koffer immer um einiges mehr und duftet aromatisch. Doch nur allzu schnell gehören die mitgebrachten Schätze dank ähnlich turophiler (ein schönes Wort, das »käseliebend« bedeutet) Freunde der kulinarischen Erinnerung an. Wenn dann im dunklen grauen Winter der Stadt die Sehnsucht nach den Bildern und Tönen, dem Duft und Aroma jener Landschaft aufsteigt, dann lockt die nächste Käsetheke mit ihrem Angebot an Vorarlberger Bergkäse als Gegenmittel. Doch funktioniert das leider nur selten. Denn was dort angeboten wird, kommt mit großer Wahrscheinlichkeit nicht von einer Alp wie der Helmingen, sondern aus einer der Dorfsennereien, die es im Bregenzerwald in jedem größeren Ort gibt. Kein schlechter Käse, aber ihm fehlt die elegante, komplexe Helmingen-Würze.

Alpkäse ‒ vor allem, wenn er von einer so gewissenhaften, erfahrenen Sennerin wie Marianne Schwarz hergestellt wird ‒ bildet die Spitze der Qualitätspyramide der Bergkäse. Dorfsennereien hingegen liefern die solide Basis, wenn Kühe und Senner nach dem Sommer wieder unten auf den Höfen sind (selbst wenn »unten« im Hochtal des Bregenzerwalds immerhin eine Höhe von 700 Metern bedeutet). Denn Kühe sind ausgesprochen wählerisch, sogenannte Selektivfresser. Das ist genauso wenig angeboren wie unser eigenes Essverhalten. Im ersten Alpsommer lernen Kälber von Mutter und Tanten, sich in der Bergwelt zurechtzufinden, bekommen die Unterschiede zwischen gutem und schlechtem Grünzeug beigebracht. Die Milch jeder einzelnen Kuh schmeckt ein wenig anders; das ist ein Grund für den ausgeprägten Charakter der besten Alp-Bergkäse.

Am nächsten Tag steige ich die andere Seite des Lecknertals hinauf, zu Richard und Emma Fuchs. Ihre Alpe Loch liegt auf 1200 Meter Höhe an der Nordseite des Tals der Alpe Helmingen mehr oder weniger gegenüber. Doch anders als die sanfte Weite, die Marianne Schwarz umgibt, fällt der Hang hier steil ab, die Landschaft hat eine gewisse Dramatik. »Die Nachbarn wundern sich, warum wir nicht längst die Felsen aus der Alpe gesprengt haben«, sagt Richard Fuchs, »dann hätt's genug für zwei, drei Kühe mehr, die halten uns für blöd.« Was den zierlichen, aber sehnigen Anfang-Sechziger nicht im Geringsten stört, denn die Felsen gehören zur Loch. Achtzehn, maximal zwanzig Liter Milch geben die Tiere hier oben am Tag, im Winter im Dorf ist es die doppelte Menge. Aber das liegt nicht nur an den Felsen. Richard und Emma Fuchs haben sehr genaue Vorstellungen, und die setzen sie sehr konsequent um: Ihre dreißig Kühe ernähren sich im Sommer tatsächlich ausschließlich von dem, was an den steilen Hängen wächst. Das klingt für unbedarfte, erholungssuchende Städter selbstverständlich: glückliche Alpkühe auf grünen Wiesen, Punkt. Dabei übersehen sie jedoch, dass bei den meisten Alpen vor dem Viehauftrieb im Mai der Lieferwagen der Getreidemühle aus dem Tal vorfährt und Kraftfutter bringt, damit die Milchmenge nicht so extrem abfällt und es mehr Alpkäse gibt ‒ ein Paradox der Alpen-Realität. Kraftfutter (aus Getreide, Mais und Raps) ist nicht nur weitab der Alp gewachsen, es zwingt die Tiere auch zur Einheitsnahrung, abgesehen davon, dass Kuhmägen nicht auf Körner ausgelegt sind. Die Käse der Alpe Loch hingegen sind tatsächlich ganz und gar in Milch umgewandelte Alpe-Loch-Wiesen.

Spätestens an diesem Punkt stellt sich der Städter die Frage, wie Bergkäse denn überhaupt definiert ist. Ganz einfach: gar nicht. Es ist ein derart ungeschützter Begriff, dass selbst eine Meierei in Schleswig-Holstein direkt hinterm Deich, wo die »Berge« in Minus-Metern gemessen werden, ihn herstellen kann. Was wir landläufig unter Bergkäse verstehen, ist ein klassisches Beispiel für eine Käseform, die sich unter ganz spezifischen Bedingungen entwickelt und dann als Rezeptur verselbständigt hat.

Da ist zuerst einmal die geographische Situation: die Alpen. An Hängen, die für den Getreideanbau zu steil oder zu steinig waren, ist Vieh die sinnvollste Möglichkeit, um dem Boden Nahrung abzutrotzen, denn Wiederkäuer können dank ihrer vier Mägen das für Menschen unverdauliche Gras in Milch umwandeln. Richtig Sinn machte das allerdings erst, wenn man die leicht verderbliche und in ihrer flüssigen Form außerdem schwierig zu transportierende Milch zu Käse verarbeitete. Damit war man selbst über den Winter mit Protein versorgt, der Lehnherr im Tal konnte abgegolten werden, und was übrig blieb, konnte man auf den Märkten anbieten. In den Bergen, wo die Wege ins Tal beschwerlich und nicht jederzeit möglich waren, setzte sich mit dem harten Bergkäse eine Konservierungsform durch, die die Lebensdauer der Milch um ein ganzes Jahr oder darüber hinaus verlängerte und sie im Volumen auf ein Zehntel konzentrierte: Aus zehn Litern Milch entsteht ein Kilo Käse.

Für diese Verarbeitung ist viel Energie nötig, und Bergkäse wäre nicht das, was wir heute darunter verstehen, gäbe es da nicht den Wald vor der Tür, mit viel Holz, um die Flammen unterm Käsekessel am Lodern zu halten. Auch Werkzeuge, Bretter und Behältnisse fertigte man aus Holz. Weil man es hatte und weil es funktionierte. Denn Holz hat einen wichtigen Nebeneffekt: Es fungiert als Informationsspeicher, in seinen Poren bildet sich eine ganz bestimmte Stammkultur von Bakterien.

Vor der modernen Versorgung mit heißem Wasser durch einfaches Aufdrehen eines Hahns (was in Alpsennereien nach wie vor nicht selbstverständlich ist) lag es nahe, zum Reinigen dieser Utensilien die heiße Molke zu nutzen (beziehungsweise, um ganz genau zu sein, die Schotte, das Käsewasser). Die schwappt sowieso dampfend im Kessel, nachdem man die feste Käsemasse mit Tüchern »ausgezogen« hat. Spült und schrubbt man damit all die hölzernen Gerätschaften, bildet der auskristallisierte Milchzucker eine Schutzschicht, und in den Holzporen siedeln sich Milchsäurebakterien an, ganz besonders in den flachen runden Gebsen. Wenn in diesen über Nacht der Rahm aufsteigt, freuen sich die in der Milch von Natur aus vielfältig vorhandenen Milchsäurebakterien über die Ermunterung aus dem Holz. Weil die Milch vom morgendlichen Melken (die zusammen mit der vom Vorabend in den Kessel kommt) ebenfalls eine Ermunterung zum Säuern braucht, bewahren Senner wie Marianne Schwarz und Richard Fuchs jeden Tag einen guten Liter gesäuerter Molke an einem warmen Ort auf. Die kommt dann am nächsten Morgen zur euterwarmen Milch in den Kessel, ähnlich wie beim Sauerteig. Während die meisten Käsereien längst speziell gezüchtete Fertigkulturen aus dem Labor verwenden, ist dies ein autarker Kreislauf. Denn wer eigene Tiere hat, braucht eigentlich nichts anderes zum Käsemachen als Salz. Und viel Erfahrung: Dieses gewachsene System funktioniert nur, wenn der Senner jeden Tag den gleichen Käse macht und dabei kein »Standardrezept« durchzieht, sondern auf die jeden Tag ein wenig unterschiedliche Milch eingeht, die hier ein Grad Hitze mehr, dort einige Minuten Rühren weniger erfordert.

Als ich die Alpe Loch vor ein paar Jahren zum ersten Mal besuchte, hatte ich auf dem Weg dorthin Emma Fuchs auf ihrem Hof in Lingenau abgeholt, und wir waren zusammen den zwar nicht sehr langen, aber ziemlich steilen Weg vom Parkplatz zur Käserei hinaufgestiegen. Ich merkte bald, dass die schlanke Frau unter Atemnot litt, und sie drängte mich, allein weiterzugehen, um am Käsekessel nichts zu verpassen. Neben der kleinen Hütte, die ein wenig versteckt und doch Wind und Wetter ausgesetzt auf einer Kuppe liegt, flatterten Leinentücher. Richard Fuchs war gerade dabei, die Laibe vom Vortag aus der Presse zu nehmen, die hier, anders als auf der Helmingen, aus einer sehr einfachen hölzernen Hebel-Konstruktion besteht und von einer mit Wasser gefüllten Milchkanne beschwert wird. Ebenso einfach und sichtlich alt war das kleine Messer, mit dem er die Ränder der Käse glattschnitt. Der dunkle, schmale Holzgriff schien wie eins mit den Händen des bedächtigen Mannes, der mir mehr mit Gesten als Worten vermittelte, dass ich gerne zuschauen dürfte.

Im großen Kupferkessel (der hier ummantelt ist, so dass die kleine Käsküche nicht wie auf der Helmingen und vielen anderen Alpen vom offenen Feuer rußgeschwärzt ist) stand bereits die Milch. »Zeit fürs Einlaben«, sagte er, schüttete eine helle trübe Flüssigkeit hinein, verrührte sorgfältig und nahm die Schürze ab: Eine halbe Stunde braucht das Lab, um zu wirken, und währenddessen kann der Käser frühstücken. In der Küche nebenan standen schon Brot, eigene Butter, Marmelade, kleine Frischkäse und Kaffee bereit.

Inzwischen war seine Frau nachgekommen, und als er wieder zum Kessel ging, stellte sie sich dazu. Ihre ganze Aufmerksamkeit war auf die Milch gerichtet, als hörten sie lautlose Stimmen. Sie rührten mit ruhigen Bewegungen, er mit der sogenannten Harfe, an einem langen Rahmen gespannte Drahtfäden, die die gestockte Milch in weiche weiße Würfel schnitten, sie mit der flachen Schaufel ‒ Schapfen sagt man hier. Sie reagierten auf die Milch. Einziges »Messinstrument« war ein ganz normales Thermometer, viel wichtiger aber Beobachtung, Intuition, Körperwissen.

Als ich dieses Mal zur Loch hinaufkomme, unterhalte ich mich eine Weile mit Richard und bemerke wieder, wie einfach hier alles ist und welche wichtige Rolle Holz als Material spielt. Ihm nötigt das nur ein Schulterzucken ab ‒ so müsse das eben sein. Was bei anderen längst durch Plastik und Edelstahl ersetzt wurde, ist bei ihm selbstverständlich aus Holz. Als ich schließlich nach Käse frage, schickt er mich zu Emma hinunter nach Lingenau, das ist ihre Aufgabe. Der Hof scheint wie verlassen in der spätmittäglichen Sommersonne, doch auf mein Rufen kommt Emma aus der Küche und freut sich sichtlich über die Abwechslung. Die dunklen Augen strahlen, das glatte graue lange Haar ist zu einem lockeren Knoten zusammengesteckt. Sie lädt mich sofort zum Kaffee ein, es sei noch Kuchen vom Geburtstag gestern da, und schon sitzen wir am Küchentisch. Und reden, als ob wir uns seit langer Zeit kennten.

Irgendwann kommen wir auf das Thema Lab, das mich besonders interessiert. Lab ist ein Enzym, das das Kasein, das Hauptprotein der Milch, zum Gerinnen bringt, also Flüssiges in Festes verwandelt. Die ganz jungen, noch säugenden Wiederkäuer produzieren es im vierten Magen, weil sie nur aus der geronnenen Milch das Kalzium der Muttermilch verwerten können.

Emma fertigt das Lab, aus den Mägen männlicher Alpe-Loch-Kälber, die der örtliche Metzger für sie schlachtet, selbst. Das ist heutzutage eine große Ausnahme. Manche Senner kaufen immerhin Mägen vom örtlichen Metzger, andere vom Käsereibedarf (also einem Händler, der alles bereithält, was der moderne Käser so braucht) fertig getrocknete, die wahrscheinlich aus Neuseeland stammen. Allgemein üblich in der Käsewelt ist jedoch standardisiertes Lab in flüssiger, gefriergetrockneter oder pulverisierter Form, oder mikrobielles (sogenanntes vegetarisches), oder auch gentechnisch manipuliertes. Emma erklärt mir, wie sie die Mägen behandelt, sie säubert, trocknet und dann aufschneidet. Schließlich steht sie auf und holt einen der getrockneten Mägen, der etwas kleiner als ein Volleyball ist. Wie dickes Pergament wirkt die dunkelgelbe Haut, auf der unregelmäßige rötliche Adern zu erkennen sind, das ist das Lab. Acht bis zehn Mägen legt sie aufgeschnitten kreuzweise übereinander und rollt sie auf, davon wird dann jeden dritten Tag eine Scheibe mit Molke zur »Renne« angesetzt (ein Wort, das an das englische rennet für Lab erinnert). Das Dosieren mit eigener Renne ist anspruchsvoll und erfordert viel Erfahrung, aber es ist ein weiterer kleiner Baustein, der dem Alpe-Loch-Käse seinen ausgeprägten Charakter verleiht.

Die trockene Bergluft umweht nicht nur die leinenen Käsetücher und all das Holzgerät, sondern lässt auch die harten Laibe langsam reifen. Jahrhundertelange Erfahrung hat gezeigt, dass sich dabei durch regelmäßiges Wenden und feuchtes Abwischen eine schöne Rinde bildet, die alles in Schach hält, was sich auf so einem jungen, wehrlosen Käse ausbreiten will. Also werden Bergkäse »geschmiert«, das heißt, die Rinde wird durch regelmäßiges Wischen und Bürsten feucht gehalten, damit sich die sogenannten Rotschmierkulturen ansiedeln und wohlfühlen können. Die Helmingen-Käse sind Bilderbuch-Exemplare einer »schönen« Bergkäse-Rinde: grauweißorange, nicht zu dick und nicht zu feucht. Handelsübliche Standardkäse hingegen sind oft ein wenig klebrig und aufdringlich im Geruch. Im großen zentralen Reifekeller der Dorfsennereien in Lingenau (aber auch im Allgäu und in der Schweiz macht man das so) wird das Käseschmieren längst von Robotern erledigt ‒ die erkennen keine Unterschiede, sondern können ganz im Gegenteil nur dann arbeiten, wenn die Käse genormt sind, einer aussieht wie der andere.

Aber jeder einzelne Laib ist ein wenig anders, wie jede Kuh, sagt Emma, ein selbständiges Lebewesen. Einer hat es gerne trockener im Reifekeller, ein anderer feuchter, und darauf geht sie dann auch ein, wendet die Laibe, wie sie es brauchen, wäscht und bürstet meist nur ganz zart und einfühlsam. Trotz aller impulsiven Herzlichkeit wirkt sie stets, als lausche sie noch ganz anderen Stimmen, in sich selbst, in anderen, ob von den Menschen oder den Tieren. »Manchmal«, sagt sie, »habe ich Sehnsucht nach den Tieren, die ich aufgezogen habe« ‒ neben der Alpsennerei züchten und verkaufen sie Rinder ‒, »und ich frage mich, ob es ihnen gut geht. Die stehen nicht einfach im Stall, die brauchen Zuwendung. Manche erkennen mich noch nach Jahren an der Stimme und kommen aus der hintersten Ecke angelaufen.«

Wie die Loch-Käse nun eigentlich schmecken? Anders als viele andere durchaus angenehme und gut gemachte Käse, die sich bereitwillig und einer breiten Masse erschließen, sind sie Langsamentwickler. Ihre Rinde ist im ersten Jahr nicht orange und klebrig, sondern oft eher gelb und mattglänzend, beinahe wie beim Sbrinz oder Parmesan. Sie brauchen mindestens ein Jahr, um ihr Aroma zu entfalten, und auch dann sind sie nie laut oder üppig. Im Gegensatz zu den Helmingen-Käse legen sie das Milchige der Jugend erst spät ab, finden sich nur langsam in den nussigen, ganz dezent süßlichen »erwachsenen« Aromen zurecht. Später glaubt man den Geschmack von Aprikosen oder anderen getrockneten Früchten wahrzunehmen ‒ was aber die Komplexität nur ganz unzureichend beschreibt. Diese Käse sind Unikate, jeder einzelne, in Kultur gefasste Natur.

Warum das so ist, verstehe ich noch besser, seit ich Anton kenne, der den in Vorarlberg sehr weit verbreiteten Namen Sutterlüty trägt. Der hochgewachsene Anfang-Fünfziger mit den grauen Locken ist in Österreich vor allem dadurch bekannt geworden, dass er 2001 in der ORF-»Millionenshow« als erster Kandidat sämtliche Fragen korrekt beantworten konnte. Dieser Fakt ist ein merkwürdiges Puzzleteil seiner komplexen Persönlichkeit, das ich bis jetzt eher beiseitegeschoben habe. Anton lebt in Wien, hat Kunstgeschichte studiert und bezeichnet sich als Kunstvermittler.

Außerdem verkauft er Käse, den er in einem Keller eines Hauses aus dem 13. Jahrhundert mitten in Wien pflegt und reifen lässt. Denn Anton ‒ Firmenname »anton macht ke:s« ‒ ist in Egg im Bregenzerwald mit der Sennerei aufgewachsen, und er zieht nach wie vor jeden Sommer auf die Untere Falz-Alp zum Käsen. Ich war auf ihn innerhalb weniger Wochen von mehreren Seiten aufmerksam gemacht worden ‒ immer ein Zeichen, dass etwas seine »kritische Masse« erreicht hat ‒ und schrieb ihm daher einfach. Worauf er sich sofort zurückmeldete und schließlich 2016 an der Cheese Berlin teilnahm ‒ meine erste Messe, sagte er. Beim begleitenden Heinzelcheese-Talk (der turophilen Verkostungsreihe, die ich in der Markthalle Neun ins Leben gerufen habe) erklärte er uns das System, das auf den alten Gebsen basiert, den flachen Holzbottichen, wie sie sowohl auf der Helmingen als auch auf der Loch gebräuchlich sind. »Wenn ein Senn auf diese Weise Käse macht«, sagte er in seiner bedächtigen Art, »muss er sehr aufmerksam sein. Der Prozess ist ein sehr lebendiger und jeden Tag etwas anders. Das Lebendige steckt voller Überraschungen, es gibt uns immer wieder Rätsel auf und birgt Geheimnisse. Es obliegt der Sensibilität und Erfahrung des Senners, die Zeichen zu lesen, den Dingen ihren Lauf zu lassen und gleichzeitig ausgleichend einzugreifen.«

Anton erklärte auch, wie wichtig es für diesen Kreislauf ist, dass die Molke sorgfältig »abgesennt« wird. Dafür legt man nach dem Ausziehen des Bruchs (der geronnenen, festen Bestandteile der Milch) einen Scheit Holz nach und bringt die grünliche Flüssigkeit beinahe zum Kochen. Zuerst steigt Fett auf, das gekühlt zu Butter verarbeitet wird (oder zu Butterschmalz, dem traditionellen Fett der Alpen, das ohne moderne Kühlung über Monate haltbar ist). Dann schüttet man nochmals vom Vortag gesäuerte Molke in den Kessel, als letzten Stubser für das Molkeneiweiß, das dann zu hellen, duftigen Flocken gerinnt. Viel weiter südlich, am Mittelmeer, schöpft man es zum Abtropfen in kleine Körbe: So entsteht Ricotta. Hier im »Norden« essen die Senner die Eiweißflocken mit ein paar Kellen Molke als Sennsuppe; ein stärkendes zweites Frühstück. Abgetropft und getrocknet lässt es sich aber auch zu Zigerkäse verarbeiten, also wiederum haltbar machen (dazu kommen wir im nächsten Kapitel). Erst diese abgesennte Molke, eigentlich korrekterweise Schotte oder eben auch Käsewasser, taugt als »Impfstoff« für den nächsten Tag und zum Reinigen der Holzgerätschaften. Und hat selbst danach noch einen Zweck, weil die Schweine, die traditionell zum Mikrokosmos einer Alpe gehören, es gerne saufen und zu Wurst und Schinken verwandeln.

In Berlin hatte Anton Käse mehrerer Altersstufen mitgebracht. Je reifer ein Käse ist, desto deutlicher kommt sein besonderer Charakter zum Vorschein. »Die vielen Sommer auf der Alpe«, sagte er, »haben meine Beziehung zur Milch immer mehr geprägt. Ich kann von mir auf die Milch schließen: Wie das Wetter und die Atmosphäre körperlich und stimmungsmäßig auf mich wirken, so wirken sie auch auf die Milch. Leichtigkeit oder Schwere, Frische oder Trägheit … die Verbindung ist gegenseitig. So wie ich auf die Milch zugehe, so kommt sie mir auch entgegen.«

Das ist, trotz vieler Parallelen, der Unterschied zwischen Winzern und Käsern: Milch ist ein Teil des Menschen. Ein Leben ohne Trauben ist möglich (wenn auch ohne Trauben in vergorener Form vielleicht nicht erstrebenswert), Leben ohne Milch ist zumindest anfänglich unmöglich, und wenn wir uns darauf einlassen, nimmt sie uns mit zurück zu unseren Ursprüngen.