Buch
Judith Kepler ist Tatortreinigerin und kennt den Tod wie keine andere. Sie ist eine der Besten ihres Fachs und glaubt, schon alles gesehen zu haben. Doch dann geschieht etwas, das ihr Leben aus den Angeln hebt, denn dieser eine Tatort ist anders als die anderen. Er rührt an Judiths Kindheit, an den Verlust ihrer Eltern, an ein furchtbares Trauma, das ihrem Leben eine komplett andere Wendung gab. Die Schuldigen scheinen viele Jahre nach den Ereignissen dank Judiths Hilfe gefasst, doch durch das Dunkel ihrer Vergangenheit schleicht immer noch ein Schatten.
Denn als Eva Kellermann, eine frühere Stasi-Spionin, stirbt, setzt ihr letztes Geheimnis eine tödliche Jagd in Gang. Eine Jagd auf einen der größten Verbrecher dieser Zeit: Bastide Larcan. Er ist Judiths Vater und ein Mann, der unglaublich viel Leid verursacht hat, ohne sich jemals dafür verantworten zu müssen. Judith weiß, dass sie ihn finden muss, um endlich Antworten auf all ihre Fragen zu bekommen. Ohne Hilfe, ganz auf sich allein gestellt, macht Judith sich auf, diesen Schatten zu jagen …
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Elisabeth Herrmann
Schatten der Toten
Thriller
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V003
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Für Shirin,
meine wunderbare Tochter!
Mein ist alles!, sprach das Gold;
Mein ist alles!, sprach der Stahl.
Alles kauf’ ich!, sprach das Gold;
Alles nehm’ ich!, sprach der Stahl.
Alexander Sergejewitsch Puschkin
Odessa, Seamen’s Club – Club der Seemänner
Der Anruf kam spät. So spät, dass Bastide Larcan zusammenzuckte, als das Handy vibrierte. Die Schüssel mit den Flusskrebsen war fast leer. Er wischte sich hastig die Finger an der Papierserviette ab und sah sich unauffällig um. Der schmucklose, gekachelte Raum war gut besetzt an diesem Abend, sogar die Telefonzelle wurde benutzt. Nebenan spielten angetrunkene Seeleute Tischfußball, die Luft war geschwängert von Rauch und Sehnsucht. Der Seamen’s Club im Herzen des Handelshafens war das Wohnzimmer der Matrosen, die Insel der Schiffbrüchigen, der Ankerplatz der Heimatlosen. Die frontsy, die hier strandeten, fremde Segler, sie hatten nicht genug Zeit, um über die Potemkinsche Treppe hinauf in die Stadt zu steigen oder gleich hinter dem Tor zu den lockenden Lichtern und den Kellerbars mit den mehr oder weniger schönen Frauen. Oder nicht genug Geld. Oder keine Papiere. Oder es fehlte einfach an allem zusammen. Die meisten saßen über ihre Smartphones gebeugt, das Wodkaglas in der einen und die elf Zoll Familie in der anderen Hand.
»Ja?«
Brüllende Dieselmotoren. Knatternder Wind. Heisere Rufe. Todesangst.
»Scheiße! Scheiße!«
Poltern. Knarren. Ein Brecher musste das Schiff erwischt haben. Einige Sekunden lang hörte Larcan nichts anderes als die beängstigenden Geräusche von Gefahr. Lebensgefahr.
»Was ist los?«, fragte er leise. Im Aufstehen warf er ein paar Gryfni-Scheine auf den Tisch und griff zu seinem Glas. Der junge Mann hinter dem Tresen nickte ihm zu. Sie kannten sich. Obwohl sie bisher keine drei Worte miteinander gewechselt hatten. Worte galten hier nichts.
»Habt ihr sie?«
»Ja! Ja! Aber sie sind hinter uns her! Scheiße! Verhurte Jungfrau Maria! Ich bring dich um!«
»Moment.«
Larcan verließ den Club. Niemand achtete auf ihn. Nur der Luftzug beim Öffnen der Tür ließ einige Köpfe nach oben rucken. Er war anders. Keiner von ihnen. Vielleicht dachten sie an einen Captain oder Owner oder, was am nächsten lag, einen bisinesmen. Keiner von ihnen und trotzdem Teil dieser Zufallsgemeinschaft, die sich jeden Abend neu zusammenfand. Ihr Interesse verschwand zeitgleich mit dem Schließen der Tür.
Der Sturm hatte vor einer guten halben Stunde das Festland erreicht. Er pfiff über die Container und jaulte um die hohläugigen Fassaden der alten Speicher und trieb diesen Schneeregen vor sich her, der sofort wie mit tausend Nadeln durch jeden noch so schmalen Spalt der Kleidung stach. Die Lampen schaukelten an ihren hohen Masten und ließen Larcans Schatten wie betrunken schwanken.
»Ganz ruhig. Es läuft wie geplant.«
»Du verfickter Hurensohn! Nichts läuft! Die haben die Security erhöht! Vlad hat’s erwischt. Das hast du gewusst, du …«
Es folgte eine Kanonade von Schimpfwörtern und Flüchen, die selbst Larcan nicht geläufig waren. Russisch und Ukrainisch unterschieden sich eben doch. Er suchte Schutz vor den peitschenden Regenschauern um die Ecke im alten Haupteingang des Clubs, der schon lange nicht mehr genutzt wurde.
»Es bleibt wie geplant. Wir treffen uns um Mitternacht in Fontanka.«
Fontanka war ein kleiner Ort an der Schwarzmeerküste, keine dreißig Kilometer nordöstlich die Küstenstraße entlang. Dort hatte Larcan von Ljubko, einem mürrischen Kleinbauern, eine Wellblechhütte gemietet, zum Fischen, wie er behauptet hatte, und noch etwas draufgelegt, als der Mann die elegante Kleidung seines seltsamen Mieters beäugt und schließlich begehrlich auf dessen Armbanduhr geschielt hatte. Seitdem schaute Larcan mindestens zwei Dutzend Mal am Tag instinktiv auf den hellen Streifen an seinem Handgelenk. Aber er brauchte keine Uhr, er brauchte ein Versteck. Letzte Woche hatte er noch eine beachtliche Auswahl an Angelzubehör dort deponiert, das er billig auf dem Markt der tausend Wunder erstanden hatte. Das Interessante an der Hütte war nicht nur die Lage – weit genug von der Küste entfernt, um nicht in den Verdacht einer Urlaubsdatsche zu geraten (dies hätte wiederum Einbrecher neugierig gemacht) –, es war der Keller. Larcan vermutete, dass er weniger zur Vorratshaltung denn zur Unterbringung von Partisanen gedacht gewesen war. Es gab sogar einen Wasseranschluss. Die Matratze und das Bett hatte er bei Nacht angekarrt. Davon musste niemand etwas mitbekommen. Alles war bereit. Tag und Stunde waren gekommen. Der Anruf hätte das Startsignal zu Larcans Aufbruch in eine bessere Zukunft sein sollen. Doch der Mann am anderen Ende der Verbindung schien nicht mehr viel von diesem Plan zu halten.
»Hörst du mir nicht zu, du Vollidiot?« Das Knattern des Windes und sein Atem klangen wie Maschinengewehrfeuer. »Die haben uns auf dem Radar! Vlad blutet wie ein Schwein. Wir müssen an Land! Sofort!«
»Was ist mit …?«
»Arschloch! Nichts ist, kapiert? Du kriegst sie nicht, wenn du mir nicht sofort sagst, wo wir anlegen können. Ich werf sie ins Meer, kapiert? Und dich dazu, wenn ich dich erwische, du Hurensohn! In Einzelteilen! Das hast du gewusst!«
»Maksym, bleib ruhig. Wo genau bist du?«
»Auf dem Wasser, du Arsch! Auf diesem gottverdammten Kahn! Und die haben Zodiacs! Ich piss auf deine Mutter, wenn du mir nicht sofort sagst, wo wir an Land gehen! Ich kill sie! Ich kill euch alle!«
Sie mussten den Plan ändern, aber im Gegensatz zu Maksym hatte Larcan vierzig Jahre Improvisation hinter sich. In Bruchteilen von Sekunden kombinierten seine Synapsen jede verbliebene Möglichkeit und rasteten bei der naheliegendsten ein. »Der Leuchtturm. In zehn Minuten. Macht die Lichter aus.«
»Und was sag ich der Kontrolle?«
»Du hast ein Fischerboot. Da draußen ist Sturm. Das reicht.«
»Wenn du uns nicht reinholst, ich fick dich und deine …«
Larcan versuchte, durch die Regenschleier den Weg hinunter zum alten Hafen zu erkennen, doch die Sicht war miserabel. Er beendete die Verbindung, schlug den Mantelkragen hoch und machte sich auf den Weg.
Zu seiner Rechten erhob sich hinter Kränen, Containern und Verwaltungsgebäuden die natürliche Zollmauer: eine Steilwand, unterbrochen nur von der Zufahrtsstraße und der Potemkinschen Treppe, die durch Eisensteins Film in die Geschichte eingegangen war. Darunter, tief in der Erde, die Katakomben. Ein unterirdisches Netz von Schmugglerwegen und Partisanenverstecken, über zweitausend Kilometer lang und Schauplatz verstörender Legenden. Jede Generation erfand sie neu, gemeinsam hatten sie alle die Schreckensvision eines Labyrinths ohne Ausgang, in dem man als Ortsfremder verloren war. Und dass es Wege vom Hafen in die Stadt gab, von denen nur noch wenige wussten …
Zu seiner Linken lag das Passagierterminal mit dem Odessa-Hotel, das niemals eingeweiht worden war – eine noble Bauruine mit ungewisser Zukunft wie so vieles hier. Er dachte an die kleine Kirche am Ende des Terminals, in die er noch bei Tageslicht für ein kurzes Gebet eingekehrt war. An den Weg zurück über schmelzenden Schnee und den kurzen Halt am Bronzedenkmal der Matrosenfrau, an ihren leeren Blick hinaus aufs Meer, dazu verdammt, der ewigen Rivalin zu unterliegen: der See.
Während eisiger Regen seine Wangen ertauben ließ, lief er die Eisenbahntrasse entlang und hob die Hand zum Gruß, als ein Zollfahrzeug seinen Weg kreuzte, kurz verlangsamte und dann weiterfuhr. Er kam an niedrigen Lagerhäusern vorbei, erbaut aus rostrotem Ziegelstein, verziert mit Giebeln und Vorsprüngen, marode und vernachlässigt, aber Zeugen einer Zeit, in der ein Haus nicht nur dem Zweck, sondern auch der Repräsentation der Erbauer diente. Was das über die heutige Architektur aussagte? Er beließ es bei dem Gedanken, wollte ihn aber zu einer späteren Zeit vertiefen.
Nach Minuten, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen und in denen er den Mantel und die dünnen Lederschuhe verfluchte, bog er endlich in die schmale Gasse zur Wetterstation ein. Rohre, meterdick und verrostet, führten über seinem Kopf quer über die Straße. Hier und da verdeckte Wellblech die schlimmsten Zeichen des Verfalls. Satellitenschüsseln krönten das Dach, zwei Wagen parkten vor der Station auf zersprungenem Beton, in dem das Schmelzwasser schon wieder zu spiegelglatten Pfützen gefror. Dahinter lag das älteste Haus des Hafens: eine zerfallende Ruine, von der sich der Putz löste und durch deren Ritzen der Wind pfiff. Hier wohnte Djeduschka Mayak – mit Großväterchen Leuchtturm nur unzulänglich übersetzt. Ein hochbetagter Mann, weit über achtzig, der sich zusammen mit seiner Frau um das Seefeuer kümmerte, das von Land nur über eine sechshundert Meter lange, kaum zehn Meter breite Mole zu erreichen war. Maria, sein treues Weib, war stocktaub. Djeduschka Mayak – niemand konnte sich mehr an seinen richtigen Namen erinnern – war am Mittag hinaus zum Leuchtturm aufgebrochen und würde dort bis zum Ende des Sturms bleiben. Maria schlief. Oder sparte Strom. Das Haus lag im Dunkeln, wie Larcan erleichtert bemerkte.
Dieses Gebäude auf halbem Weg zur Ruine, das man wirklich nur noch bewohnen konnte, wenn man sein Leben darin verbracht hatte, lag an der alten Kaimauer am westlichen Ende des Hafenbeckens. In früheren Zeiten hatte sich auf dem kleinen Platz davor der Fischmarkt befunden. Wie die Spitze eines Bugs ragte der Flecken hinein in die Bucht, und der Wind erreichte fast Orkanstärke, als Larcan ein paar Meter hinaustrat und in Richtung Leuchtturm spähte. Die Lichter der Stadt umsäumten das weite Ufer zu seiner Linken. Das Passagierterminal und die Hotelruine waren, obwohl kaum ein paar Hundert Meter entfernt, nur noch schemenhaft zu erkennen. Alle Arbeit ruhte. Das Haus hinter ihm blieb dunkel. Für die Leute in der Wetterstation lag diese Ecke im toten Winkel. Es gab keinen besseren Ort, um unerkannt an Land zu kommen, wenn es denn Odessa sein musste. Er holte mit steifen Fingern sein Handy heraus.
»Wo bist du?«, fragte er.
»Hab gerade den Leuchtturm passiert. Was jetzt?«
Die Wellen schwappten mit brodelnder Gischt über die Kaimauern.
»Zu Djeduschka. Ich warte.«
Er legte auf und warf das Handy ins Wasser. Dann checkte er, wie schnell er im Falle eines Falles die Waffe ziehen konnte. Nicht schnell genug. Es war zu kalt. Und er war keine zwanzig mehr.
An der Bar des Hotels Londonskaya, an einem der Marmortische des Pushkin Square, bei der Lektüre der Financial Times auf einer Bank im Stadtpark machte er immer noch eine hervorragende Figur. Aber hier, bei Nacht und Nebel, sturmumtost, mit nur wenigen Grad über null, spürte er die Kälte in seinen Knochen und Eiskristalle in seinem Blut.
Warum Odessa?, dachte er und trat ein paar Meter zurück. Wenn alles anders gelaufen wäre, könnte ich jetzt auf der Terrasse einer Wohnung an der Côte d’Azur sitzen, bei einem Glas Meursault, zusammen mit der Frau, die mich von genau so einem Mist abgehalten hätte … Weil du dumm gewesen bist, gab er sich selbst die Antwort. Nicht im Denken, aber in der Tat. Es war verlockend, sich in diesen Gedanken zu verlieren. Was wäre, wenn … Aber das konnte er später tun. Nun wartete er auf ein morsches Fischerboot mit einer kostbaren Fracht und mit zwei Männern, die unberechenbar waren wie angeschossene Tiere.
Das Brüllen eines Dieselmotors, der sich gegen die Kraft der Elemente warf, riss ihn zurück in die Gegenwart. Aus den Regenschleiern löste sich eine dunkle Silhouette, lang gestreckt und auf den Wellen tanzend. Sie hielt auf die Kaimauer zu. Larcan stemmte sich gegen den Wind und lief ihr entgegen.
»Fang!«, brüllte Maksym und warf ihm ein Tau zu. Larcan gelang es erst beim vierten Versuch, es einzuholen und um den Poller zu winden.
Neben Maksym tauchte Vlad auf. Unnatürlich verkrümmt, die Hand an der Seite. Das Schiff tanzte auf und ab. Er sprang und brach direkt im Aufprall zusammen. Ihm folgte Maksym. Er war einen Kopf größer und um einiges breiter, vor allem aber: zwanzig Jahre jünger als Larcan.
»Du dreckiger Hurensohn!«
Larcan wurde am Kragen gepackt. Er ließ es geschehen. Er musste seine Kräfte aufsparen für den Moment der Übergabe. Das hier war nicht gefährlich. Das war nichts anderes als Adrenalinabbau. Im selben Augenblick wurde er weggestoßen und wäre um ein Haar über den stöhnenden Vlad gestolpert, der sich zusammengekrümmt auf dem matschigen Boden wand. Maksym folgte ihm drohend.
»Die haben ihn angeschossen! Die Scheißkerle haben ihn angeschossen!«
Larcan sah auf den Mann am Boden. Wenn er es geschafft hatte, an Land zu kommen, konnte es nicht lebensgefährlich sein. Ihn interessierte nur die Fracht.
»Wo ist sie?«
»Wo wohl? In einer Kiste auf Deck.«
»Ich will sie sehen.«
»Erst das Geld.«
»Erst die Kiste.«
Maksym näherte sich ihm noch einen weiteren Schritt. Die blitzenden Goldzähne waren das einzig Erhellende in seinem groben Gesicht. Larcan hob die Hände. »Ich habe es nicht bei mir. Falls du an was anderes als einen sauberen Deal denkst. Wir holen jetzt die Kiste. Dann schaffen wir sie zu meinem Wagen. Dann kriegst du das Geld. Und dann, vielleicht, werfe ich Vlad vor der Haustür eines Arztes ab, der nicht allzu viele Fragen stellt.«
Maksym hob die Faust. Für einen Augenblick sah es so aus, als ob er Larcan einen Kinnhaken verpassen wollte. Aber er fuhr sich nur über die stoppelkurzen Haare.
»Beeilung«, knurrte er. »Ich hab sie am Leuchtturm abgehängt. Weiß aber nicht, für wie lange.«
Larcan ging zum Kai. Bei jeder Welle krachte das Schiff an die Kaimauer. Er wartete, bis die Reling in seine Richtung kippte, sprang, verharrte dann für einen Augenblick, um seine Kräfte zu sammeln und bis es sich wieder auf die andere Seite legte, nahm den Schwung mit und landete schlitternd auf dem glitschigen Deck. Hinter sich hörte er Maksym, dem der Aufstieg ohne Probleme gelang.
»Dahinten.«
Die Kiste stand neben dem Steuerhaus. Gut vertäut. Maksym war nicht nur einer der übelsten Verbrecher Odessas, sondern auch ein guter Seemann. Was Larcan gar nicht gefiel, war das schwere Schloss, das den Deckel verriegelte.
»Mach auf.«
Maksym suchte mit zusammengekniffenen Augen das Meer hinter dem Leuchtturm ab. Lichter bewegten sich in der Dunkelheit wie Glühwürmchen. Blitzschnell ließ er ein Messer aufklappen.
»Keine Zeit.« Er durchtrennte die Seile. »Fass an.«
Gemeinsam schoben sie die Kiste zur Reling. Sie kam Larcan leicht vor. Zu leicht für das, was sie bergen sollte. Er blieb stehen und richtete sich schwer atmend auf.
»Du verarschst mich auch nicht?«
Maksym sprang an Land. »Halt die Fresse! Los jetzt!«
Larcan schob, die Kiste kippte über Bord. Maksym fing sie auf und ließ sie zu Boden krachen. Er hatte sogar die Freundlichkeit, Larcan die Hand zu reichen, damit auch er sicher landete.
»Und jetzt das Geld.«
»Ich habe gesagt, dass …«
Schon spürte Larcan die Klinge an der Kehle.
»Die Kohle. Ich hab geliefert. Wo steht deine Karre?«
Die Lichter kamen näher. Und mit ihnen, weit entfernt und leise wie das Surren einer Nähmaschine, das Geräusch von Motoren. Maksyms Augen verengten sich.
»Die Kohle! Ich stech dich ab. Ich schwör’s dir.«
Larcans Synapsen spielten augenblicklich verrückt. Nach Plan B gab es kein C mehr. Das Spiel war aus. Keine zwei Minuten, und die Zodiacs wären am Ziel. Die Männer an Bord dieser ultramodernen, schnittigen Schlauchboote würden kugelsichere Westen tragen, Nachtsichtgeräte und vermutlich russische AK-12, Schnellfeuergewehre, mit denen sie dem Spuk innerhalb von Sekunden ein Ende setzen würden. Die privaten Sicherheitsdienste waren mittlerweile besser ausgerüstet als die Armee. Es war vorbei. Zack. Etwas rastete ein in seinem Hirn. Nicht Plan C, eher Plan Z. Die letzte, die dreckige Chance.
Seine Hand fuhr nach links unter den Mantel. Er holte die Waffe heraus, erstaunt, wie schnell ihm das gelang, und noch bevor Maksym begriff, zerschmetterte der Schuss die Schulter. Mit dem Schrei eines Tiers taumelte der Angreifer zurück. Im Aufbäumen traf ihn die nächste Patrone genau zwischen die buschigen Augenbrauen. Er kippte nach hinten und blieb reglos liegen. Larcan trat zu Vlad.
Der hatte sich, die Wunde haltend, halb aufgerichtet. Fast noch ein Junge, keine zwanzig. Zerstört von Alkohol und Drogen, ein Tagelöhner des Bösen. Er hob die blutige Hand.
»Nein. Nein!«
Larcan schoss. Das dritte Nein blieb ungeschrien.
Er kehrte zu Maksym zurück und stieß die Leiche mit der Schuhspitze an. Dann beugte er sich herunter und suchte den Schlüssel. Das zornige Sirren der Zodiacs wurde lauter. Was die Leute in der Wetterstation wohl dachten? Wahrscheinlich, dass in diesen Minuten der sicherste Platz auch der wärmste war: drinnen.
Maksym trug den Schlüssel an einer Kette um den Hals. Ein Ruck, und Larcan hielt ihn in den Händen. Ein neues Spiel begann. Als er sich aufrichtete, schwindelte ihm. Was zum Teufel war das? Seit wann spielte in solchen Situationen sein Kreislauf verrückt? Er ging zur Kiste und wollte das Schloss öffnen. Aber seine Hände zitterten so sehr, dass ihm der Schlüssel durch die Finger in den eisigen grauen Matsch fiel. Er konnte die Rufe hören, die der Wind zu ihm herübertrieb. Das Fischerboot scheuerte so brünstig am Kai, als wolle es ihn besteigen. Los jetzt! Keine Zeit! Mit tauben Fingern pickte er den Schlüssel auf. Ruhig. Ganz ruhig. Du hast noch dreißig Sekunden.
Rein ins Schloss. Drehen. Klick. Verriegelung lösen. Deckel heben. Sein Herzschlag galoppierte, sein Blutdruck fuhr Achterbahn. Er zwang ein Lächeln auf sein Gesicht.
»Hallo, meine Kleine«, sagte er.
Es war ein Mädchen. Es war blond. Die Locken umrahmten ein herzförmiges, verschlafenes, ängstliches Gesicht. Es öffnete die Augen. Sie waren blau. Der Blick traf ihn mitten ins Herz und ließ ihm den Atem stocken. Mit dieser Ähnlichkeit hatte er nicht gerechnet.
»Komm raus.« Seine Stimme war heiser.
Er half dem benommenen Kind, aus der Kiste zu steigen. Als die Zodiacs anlegten und schwer bewaffnete Männer an Land sprangen, nahm er die Kleine auf den Arm. Augenblicklich schmiegte sie sich an ihn. Das Gefühl war … ein Schock.
»Alles ist gut«, sagte er und strich ihr über die Haare. Er hörte schwere Schritte, Rufe, das metallische Klacken, mit dem Waffen entsichert wurden. »Alles ist gut.«
Sie bauten sich um ihn auf wie eine Armee der Schatten. Ihr Anführer, ein breitschultriger Mann mit Titanhelm und heruntergeklapptem dunklem Visier, gab seinen Männern das Zeichen, die Waffen herunterzunehmen. Wachsam umrundeten sie ihn, bis sich der Kreis geschlossen hatte. Sie schwiegen. Um sie herum tobte der Sturm. Er spielte mit den Haaren der toten Männer auf dem Pflaster.
Der Anführer ging zu den Leichen und betrachtete die Gesichter, wahrscheinlich um sich ein Bild von Larcans Hinrichtung zu machen. Als er zurückkehrte, den Helm und die Sturmhaube abnahm, war das kein gutes Zeichen. Er war einen halben Kopf größer als Larcan. Sein Körperbau verriet eine mindestens paramilitärische Ausbildung. Glatt rasiert, Züge wie aus Stein gemeißelt. Ein Elitekämpfer.
»Gib her.«
Das Mädchen klammerte sich noch enger an Larcan. Ein Leichtgewicht.
»Los!«
Der Mann griff nach dem Kind. Es schrie. Hoch und durchdringend. Ein Schrei, der Larcan durch Mark und Bein fuhr. Er hielt das Kind fest, so fest, wie er konnte, doch dann wurde ihm der warme Körper aus dem Arm gerissen, und die Kälte überfiel ihn zeitgleich mit dem mörderischen Schlag. Der Schrei aber begleitete ihn in die Dunkelheit.
Hoch. Gellend. Todesangst.
Judith Kepler schlug um sich, fegte ein Glas Wasser vom Nachttisch und kam schweißgebadet zu sich. Bis sie begriff, wo sie sich befand, dauerte es ein halbes Dutzend panische Atemzüge.
Sie lief zum Fenster, riss es auf und sog, so tief es ging, die kühle Nachtluft in die Lunge. Ihr T-Shirt war schweißnass. Ihr Atem flog, ihr Herz raste, das Adrenalin peitschte ihr Blut wie einen Wasserfall durch die Venen. Ein Schuss. In Panik fuhr sie zusammen und brauchte Sekunden, bis sie begriff, dass sie die Fehlzündung eines Automotors unten auf der Lichtenberger gehört hatte. Es war so nah. Es griff immer noch nach ihrer Seele. Der Albtraum begleitete sie, mehr oder weniger intensiv, seit ihrem fünften Lebensjahr. Jedes Mal endete es mit derselben Todesangst, jedes Mal mit demselben Gefühl von abgrundtiefem Verlust.
Sie fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. Es waren nicht die Toten, die sie jagten. Es waren die Lebenden.
Er wird nicht kommen.
Kein Trost. Abgrundtiefe Verzweiflung.
»Fertig.«
Es war ein kalter, toter Montag Ende Februar im Norden Berlins. Krähengeschrei hatte Judith ins Haus begleitet. Die Polizei war schon fort. Ihre Anweisungen hatte sie am Telefon erhalten.
Sie sah dem tiefroten Wasser hinterher, das im Strudel seinen Weg in den Abfluss fand. Ihre Hände waren von scharfen Reinigern gerötet. Sie trug einen dicken Wollpullover in einem undefinierbaren Grünbraun, der schon bessere Tage gesehen hatte, und eine ausgewaschene Jeans. In dem Moment, in dem sie hochgesehen hatte, war das Deckenlicht auf ein schmales Gesicht mit blauen Augen gefallen, fast jungenhaft und ernst, mit ersten Falten um die Augen und einem forschenden, aber nicht unfreundlichen Blick.
»Kai?«
Durch das geöffnete Badezimmerfenster wehte eine Ahnung von Zigarettenrauch. Sie vermischte sich mit den Erinnerungen an Erbrochenes, getrocknetes Blut, Schleifspuren im Flur und frischen Beton. Der Betongeruch kam aus der Garage, aber die konnten sie auslassen. Der Täter hatte sein Opfer ordentlich verpackt und dort in die Grube gelegt. Mitten im Anrühren und Einfüllen war er von einem Postboten überrascht worden, der Ahnung von Paketen hatte und wusste, dass dieses dort, in einem ausgestemmten Loch im Boden, nicht zum Versand gedacht war.
Der Täter hatte noch bei der Festnahme gestanden. Die Leiche seiner Frau war von der Rechtsmedizin abgeholt worden. Tatortspuren und Aussage stimmten überein. Der Mord war beim Frühstück geschehen – Rührei, Kaffee, verbrannter Toast. Ein scharfes Messer, sie dreht ihm den Rücken zu, er kommt von hinten … Blut, literweise Blut. Die Abrinn- und Spritzspuren waren leicht zu beseitigen. Sie hatte es bei den Fliesenfugen hinter der Spüle mit Chlor versucht, doch wer wusste, was hier geschehen war, würde die Spuren erkennen.
Ein scharfer, irreversibler Schnitt hatte das Leben dieser Menschen zerteilt, eine blutige Fahne wie ein Signal in den Boden des Alltags gerammt: Alles ist zerbrechlich wie ein Schneckenhaus, das jemand mit schwerem Tritt zermalmt. Da lagen sie nun, die Scherben. Und Fremde waren erschienen, wanderten durch dieses nach außen gestülpte, ins Blitzlicht der Polizeifotografen getauchte Leben und kehrten zusammen, was man zusammenkehren konnte. Zu kitten gab es nichts mehr. Das war vielleicht das Traurigste, wenn Judith einen Anruf bekam, der sie von ihrem normalen Arbeitsplatz wegrief an einen Tatort. Dass sie immer zu spät aufkreuzten. Dass sie ein Stillleben des Todes erwartete, der manchmal ganz leise herangeschlichen war und einen Menschen mitgenommen hatte wie einen Gast, der sich da draußen im Leben verlaufen hatte und den man heimführen musste. Solche Tode hatten etwas von einer Heimkehr, und Judith stand in diesen Wohnungen mit dem Gefühl, als Stellvertreterin der Reisenden die letzten Dinge zu ordnen. Dann war es gut, wenn sie fertig war. Sie konnte zurückkehren zu ihrer Kolonne und den mitfühlenden Blicken der Kollegen, die keine hochspezialisierte Zusatzausbildung zum Tatortreiniger hatten, und ihnen mit einem kleinen Lächeln begegnen.
Doch Cleaner wurden auch gerufen, wenn der Tod als kaltblütiger Killer oder im Furor von Hass und Wahn gekommen war. Mitten aus dem Leben gerissen, diese Formulierung erhielt an Tatorten wie diesen eine ganz neue Bedeutung. Hatte die Frau sich gewehrt? Wie lange dauerte es, bis jemand mit durchschnittener Kehle starb? Im Film ging es immer ganz schnell. In der Realität zeugten die Spuren von fürchterlichen Kämpfen.
Durch Zufall lag der verbrannte Toast ganz oben in dem blauen Müllsack, dessen Öffnung sie nun zusammenzwirbelte und verschloss. Vielleicht der Auslöser für die Tat, aber keinesfalls der Grund. Es gab immer eine Vorgeschichte. Gewalt im vertrauten Umfeld erfolgte nie aus dem Nichts, das hatte auch Judith schnell gelernt.
»Kai!«
»Komme gleich.«
Mit einem ärgerlichen Seufzen ließ sie Wasser in den Eimer laufen und kehrte zurück in den Flur. Sie hasste falsches Parkett. Eigentlich müsste das Laminat ausgetauscht werden. Blut war auch hier zwischen die Ritzen gesickert. Viel Blut. Handabdrücke in Kniehöhe an der weiß getünchten Wand. Die Frau hatte noch gelebt … Judith ging in die Knie und legte aus einem Impuls heraus ihre Hand auf den letzten Abdruck. Wie starb man, wenn man ermordet wurde? Konnte Schock eine Gnade sein? Wusste man, was geschah? Sie schloss die Augen und spürte die Struktur der Raufaser unter ihren Fingern, so nah an der Tür, so nah an der letzten Hoffnung … und sie, Judith, zu spät, viel zu spät.
Schritte von draußen, jemand klopfte die Schuhsohlen vorm Betreten des Bungalows ab. Kais hohe, kräftige Silhouette zeichnete sich vor dem einfallenden Licht ab. Aus dem pickligen Jungen, den das Arbeitsamt vor Jahren zu Dombrowski geschickt hatte, war ein kräftiger Mann geworden. Ein Zupacker. Die Haare, mittlerweile schulterlang, erinnerten mit ihren blonden Spitzen an einen Surfer. Der Dreitagebart stand ihm. Die Muskeln, durch harte körperliche Arbeit und nicht im Fitnessstudio erkämpft, auch. Ein hübscher Kerl. Wurde langsam erwachsen. Erkannte, dass mehr in ihm stecken könnte. Schob es auf Judith, seinen Boss. Ohne sie wäre er Kolonnenführer. Aber sie hatte nicht vor, höflich beiseitezutreten und ihn durchzuwinken. Dombrowski Facility Management war eine Firma aus dem vorigen Jahrhundert. Hier wurde Aufstieg erarbeitet. Erstaunlich, dass er trotzdem schon so lange bei ihnen war.
Sie wies auf die Müllsäcke. »Bring das schon mal nach draußen.«
»Mehr nicht?«
Judith warf einen schnellen Blick ins Wohnzimmer. Couchgarnitur, Fernseher, Anrichte. Die Frau hatte ein Faible für Porzellankatzen gehabt. Sie standen überall; eine verwaiste Großfamilie. Schicksal: ungewiss. Auftraggeber war der Vermieter gewesen. Judith hatte nirgendwo Familienfotos gesehen. Vermutlich hatten die Katzen einiges ersetzen müssen.
»Küche und Flur. Wisch noch einmal durch, dann sind wir fertig.«
Über Kais jungenhaftes Gesicht huschte ein Grinsen. Halb sieben. Ein früher Feierabend für die Spätschicht. Duschen, umziehen und dann …
Ihr Handy klingelte. Liz war am Apparat. Immer noch etwas aufgeregt und atemlos von der plötzlichen Verantwortung, mit der Judith sie erst vor ein paar Tagen betraut hatte: Aufträge entgegennehmen und weiterleiten. »Einkaufszentrum Landsberger Allee. Eine Frau hat ein Baby gekriegt. Direkt vor dem Supermarkt, der bis Mitternacht aufhat.«
»Das macht MacClean«, antwortete Judith, die über die einzelnen Herrschaftsbereiche der Berliner Gebäudereinigungsunternehmen bestens informiert war. Sie arbeitete schon seit fast zehn Jahren für Dombrowski Facility Management, hatte sich aus den Gelegenheitsjobs auf den Umzugswagen hochgeschuftet in die feste Belegschaft der Putzkolonnen. Die Einzige, die bei der Eignungsprüfung zum death scene cleaner nicht gekotzt hatte. War immer eine der Stillen, Ruhigen gewesen. Bis zu jenem Tag, der ihr Leben in den Abgrund geführt hatte … Nicht dran denken. Sie atmete tief durch. Du hast es überlebt. Was willst du eigentlich?
»Eben nicht.« Liz’ Stimme bekam einen verschwörerischen Unterton, auf den sich Judith zunächst keinen Reim machen konnte. »Alle krank.«
»Echt jetzt?«
»Kein Mindestlohn, keine Überstunden. Da sengt die Luft.«
Brennt, wollte Judith sagen und hielt sich gerade noch rechtzeitig zurück.
»Wilder Streik?«
Liz lachte leise. »Hat eben nicht jeder einen Boss wie wir.«
Dombrowski, Judiths Chef, hatte schon immer seine eigenen Vorstellungen von Betriebsrat, Arbeitszeiten und Lohn. Sie waren oft hart an der Grenze, aber eine unterschritten sie nie: Wer hart arbeitet, soll auch davon leben können. Streiks gab es bei ihm nicht. Er hätte jeden Einzelnen persönlich zur Arbeit gezerrt und ihm anschließend sein Entlassungsschreiben in die Hand gedrückt.
Liz, die in letzter Zeit ein gewisses betriebswirtschaftliches Händchen entwickelte, fuhr fort: »Unsere Chance. Oder?«
Judiths Blick fiel auf Kai, der sich gerade die letzten beiden Müllsäcke schnappte und sich wohl vorstellte, was er mit den geschenkten zwei Stunden alles anfangen konnte. Sie holte den Transporterschlüssel aus der Hosentasche, rief »Hepp!« und warf sie ihm zu. »EKZ Landsberger. Schnelle Nummer. Ich nehm den Bus.«
Mit der Ratlosigkeit eines ausgesetzten Welpen sah er erst auf den Schlüssel und dann zu seiner Chefin, die an ihm vorbei hinaus in die spätwinterliche Kälte trat.
»Wie jetzt? Und du?«
Sie grinste ihn an. Die frische Luft tat gut, der Marsch zur Haltestelle im fast ländlichen Berliner Norden würde die Erinnerungen an den Arbeitstag löschen.
»Ich habe ein Date.«
»Und ich?«
»Sorry für dein Liebesleben«, warf sie ihm noch über die Schulter zu. Und für meins, setzte sie in Gedanken hinzu und vergrub sich noch im Laufen tief in ihre Jacke. Ihre Fingerspitzen stießen an ein Stück Papier. Sie zögerte. Die Entscheidung lag in ihrer Hand. Es könnte ein gemütlicher Abend werden, mal wieder eine Langspielplatte auflegen – Robert Plants Carry Fire war gerade ihr Favorit –, die halbe Flasche Wein, die schon seit drei Tagen offen im Kühlschrank stand, irgendwas vom Vietnamesen auf dem Weg von der S-Bahn nach Hause. Oder … Im Bus holte sie den Zettel heraus und faltete ihn auseinander. Noch immer schlug ihr Herz schneller, wenn sie diesen Namen las.
Quirin Kaiserley.
Der Mann, dem sie einmal ihr Leben anvertraut hatte …
Es war eine Einladung, auf Handzettel gedruckt. Mit ein paar persönlichen, hingekritzelten Worten, die sie nicht ernst nehmen konnte. Er wollte sie besänftigen, wenn sie nach einem ersten flüchtigen Blick begriff, um was es ging: eine Buchvorstellung. Gähn, fällt ihm denn nichts Neues ein? Im Deutschen Spionagemuseum. Wie witzig. Spione, Schläfer und Agenten – Geheimdienstoperationen im Kalten Krieg. Noch vor Erscheinen ein Ladenhüter. Wer zum Teufel interessierte sich denn noch für die alten Geschichten? Und dann der Untertitel: Die Operation Saßnitz und ihre Folgen.
Zack. Messer im Herz.
Sie zerknüllte die Einladung und steckte sie in die Ritze zwischen Sitz und Fahrzeugwand. Am S-Bahnhof Waidmannslust nahm sie die S1. Sie könnte am Alexanderplatz umsteigen Richtung Lichtenberg – nach Hause. Sie könnte auch weiterfahren und am Potsdamer Platz aussteigen. Sag, Judith, wie wirst du dich entscheiden?
Vor dem Fenster der Bahn flog die Stadt vorbei, zersprang das Licht in tausend bunte Funken.
Herzlich willkommen. Alte Freunde, alte Feinde und all die, die sich heute um diese Positionen keine Sorgen mehr machen müssen.«
Der Mann auf dem Podium machte eine rhetorische Pause. Er strich sich durch die kurzen eisgrauen Haare. Eine Geste der Verlegenheit. Oder gut gespielter Verlegenheit. Sein Blick wanderte über die Stuhlreihen des voll besetzten Saals. Vor dem Podium hatten sich einige Zuhörer sogar auf dem Fußboden niedergelassen. Wer auch dafür zu spät gekommen war, stand an der Wand oder in der geöffneten Tür, die hinaus zum Museumsshop führte.
»Ich bin immer wieder erstaunt, dass meine Themen nach wie vor auf solches Interesse stoßen«, sagte er und wandte sich eher symbolisch zu dem großen Werbeaufsteller neben der Bühne. Buchvorstellung, stand darauf. Spione, Schläfer und Agenten – Geheimdienstoperationen im Kalten Krieg. Autor: Quirin Kaiserley. Ein paar der jüngeren Besucher lachten leise. Die älteren blieben mehrheitlich regungslos. Es waren hauptsächlich Männer gekommen – graue Windjacken, bequeme Schuhe, hier und da ein Gehstock. Im Gang standen mehrere Rollatoren.
»Die Operation Saßnitz 1984 – nein, das ist kein Rechtschreibfehler. Das ›ß‹ wurde erst in den neunziger Jahren in die heute gültige Schreibweise geändert, die Operation Saßnitz gilt bis heute als eine der größten Fehlleistungen von gleich zwei Geheimdiensten: dem Bundesnachrichtendienst und der HV A.«
Er wandte sich an drei junge Frauen, vermutlich Studentinnen, die mit gekreuzten Beinen auf dem Teppichboden saßen und zu ihm aufblickten. »Das war die Hauptverwaltung Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit, der Auslandsnachrichten der DDR.«
Den anderen musste er das nicht erklären.
»Und bis heute, mehr als dreißig Jahre danach, sind noch längst nicht alle Einzelheiten geklärt. Bleiben wir zunächst bei dem Mann, der den Stein ins Rollen gebracht hat: Richard Lindner. Einer der besten, wenn nicht gar der beste Auslandsaufklärer der Stasi. Und ein Romeo. Sie wissen, was ein Romeo ist? Ein charmanter junger Mann mit einer bemerkenswerten Ausbildung. Seine Aufgabe: junge Frauen in Westdeutschland kennenzulernen. Aufzureißen, wie man heutzutage zweifellos sagen würde.«
Die Studentinnen kicherten. Die grauen Männer blieben ernst.
»Junge Frauen, die meist als Sekretärinnen bei der NATO, der Bundeswehr, im politischen Bonn oder beim BND arbeiteten. Ja, auch der BND war infiltriert. Diese Damen verrieten dem Romeo hochgeheime Informationen. Und wenn Sie jetzt wissen wollen, wie das möglich sein kann, dass junge Frauen im Kalten Krieg ihr Land verraten, dann …«
Sein Blick fiel auf die Groupies zu seinen Füßen.
»Dann fragen Sie sich selbst, was Sie bereit wären, für die Liebe zu opfern.«
In der vorletzten Reihe saß Judith. Sie hielt den Blick zu Boden gerichtet, die blonden Haare zu einem Knoten gezwirbelt. Sie wusste, dass er den Raum nach ihr abscannte. Aber das Letzte, wonach ihr der Sinn stand, war sein Wiedersehenslächeln und, bewahre!, vielleicht noch ein persönliches Grußwort in ihre Richtung. Zeitzeugin Judith Kepler, Opfer des Kalten Krieges, damals noch ein kleines Mädchen mit einem anderen Namen …
Jetzt aber hob sie die Augenbrauen und stieß einen missbilligenden Laut aus. Der Mann neben ihr, ein Kinn wie ein Backstein, die Hände über seinem Gehstock gekreuzt, als ob dies ein Zepter wäre und er ein gestürzter König (was er bestimmt auch war, denn die halbe Ex-HV A war hier versammelt), zischte: »Ruhe!«, und dann fuhr Kaiserley auch schon fort.
»Bis heute gibt es nur Vermutungen, wer die Frau war, die unser Romeo umgarnte. Eine Sekretärin in der Bonner Republik. Alleinstehend, autoritär erzogen, vermutlich vaterfixiert. Verfällt diesem gutaussehenden jungen Mann, der ihr das Märchen von der großen Liebe vorspielt. Womit hat er sie so weit gebracht? Ein Heiratsversprechen? Eine Notlage, aus der ihn nur Verrat befreien kann? Die Verführungsmechanismen der Romeos füllen Regalmeter an Büchern. Sie sollen nicht unser Thema sein. Bleiben wir bei dem, was wir wissen. Ende 1984 verriet eine junge Angestellte des Bundesnachrichtendienstes eine hochgeheime Aktion an den DDR-Agenten Richard Lindner. Wir haben das Protokoll, es ist in meinem Buch nachzulesen. Unser junger Spion hält den Coup seines Lebens in der Hand. Was wird er tun? Natürlich sofort seinen Führungsoffizier informieren und das Geheimprotokoll bei der Stasi abliefern. Können Sie mir bis jetzt folgen?«
Nur die Studentinnen in der ersten Reihe nickten. Der Rest blieb weiterhin bewegungslos sitzen.
»Aber dann geschah etwas Seltsames. Etwas noch nie Dagewesenes: Er behielt das Papier für sich.«
Verstohlen sah Judith sich um. Die grauen Männer rührten sich immer noch nicht. Wahrscheinlich erzählte Kaiserley ihnen nichts Neues. Aber die anderen, die, die nicht grau waren und wie versteinert auf ihren Plätzen hockten, interessierte Besucher des Spionagemuseums vielleicht oder Leute, die zu viel John le Carré gelesen hatten und die es deshalb an diesem eisigen Wintertag zum Leipziger Platz getrieben hatte, die anderen also flüsterten, sahen sich fragend an, scharrten mit den Füßen oder sahen auf ihre Armbanduhr, wann der Vortrag wohl endlich vorbei wäre. Judith bereute ihre Entscheidung. Sie könnte schon längst zu Hause auf der Couch liegen … Wann rückte er endlich heraus mit der »Wahrheit über die Operation Saßnitz«? Gib es doch zu: Du hast alten Käse in neue Schachteln verpackt, mehr nicht.
»Dieses Papier, es wurde dem Archiv erst später hinzugefügt. Warum? Weil Lindner sich damit selbst an die Stasi verraten hätte.«
Judith wartete darauf, dass Kaiserley fortfuhr. Jetzt würde er sicher bildhaft erzählen, wie Lindners Geliebte ihm vermutlich nach einem Schäferstündchen das Geheimprotokoll überreichte – und es war nichts als kalter Kaffee. Das Protokoll war wertlos. Makulatur. Er würde ja wohl kaum den ganzen Übermittlungsapparat in Gang setzen – tote Briefkästen, konspirative Treffen, Kuriere –, um seine Aktion an die eigenen Leute zu verraten … Kein Wunder, dass es nicht in Ostberlin landete. Es war das Papier nicht wert, auf dem es geschrieben stand.
»Lindner war mehr als …«
Er brach ab. Er musste jemanden im Publikum entdeckt haben. Judith ruckte wieder mit dem Kopf hinunter. Der Backsteinmann rechts neben ihr musterte sie misstrauisch.
»Richard Lindner war nicht nur ein Romeo. Er hatte einen zweiten, nicht minder konspirativen Auftrag erhalten: einen Schlag gegen die BRD auszuführen. Darum ging es in diesem Papier. Er hätte seinen eigenen Auftrag weitergeleitet. Nun fragen Sie sich sicher: Warum hat er es nicht getan? Darauf gibt es nur eine Antwort: Lindners Geheimauftrag kam nicht von der HV A. Nicht von seinen eigenen Leuten.«
Es war still. Keiner rührte sich. Entweder weil niemand ihm mehr folgen konnte oder weil er gerade eine Bombe mit dreißig Jahre altem Zeitzünder hatte hochgehen lassen. Ein Stasi-Romeo, der für eine zweite, noch geheimere Abteilung arbeitete? Kaiserley ließ seine Worte einen Moment lang wirken.
»Ich kann verstehen, dass das verwirrend klingt. Ich versuche, es so einfach wie möglich zu erklären. Lindner ist jung und ehrgeizig. Er arbeitet sehr erfolgreich als Romeo. Das fällt auf. Nicht den Funktionären, aber vielleicht dem einen oder anderen, der seine ganz eigenen Pläne im Ministerium für Staatssicherheit verfolgte. Der nimmt Lindner zur Seite und weiht ihn ein in einen hochgeheimen Plan. Niemand darf davon erfahren. Die beiden operieren quasi an der Leitungsebene vorbei. Das konnte nur jemand sein, der uneingeschränkte Machtbefugnisse besaß. Damit war die Operation Saßnitz entstanden. Mit nur zwei Beteiligten: Lindner und seinem hochrangigen Auftraggeber.«
Eine der jungen Frauen meldete sich. »Wer war das?«
Kaiserley lächelte sie an. Sie strich sich durch die Haare.
»Das wissen wir bis heute nicht. Doch der Einsatz war so hoch, dass wir von jemandem in der Führungsriege ausgehen.«
Die grauen Männer rührten sich nicht. Nur einer wechselte mit einer Frau zwei Reihen weiter einen schnellen Blick. Sie musste in seinem Alter sein, also weit über sechzig, und ihr hartes Gesicht wurde mit einem Mal von einem winzigen Lächeln aufgebrochen. Wir wissen mehr als du, schien es zu sagen. Immer noch …
»Die Geheimoperation Saßnitz hatte ein Ziel: einen BND-Agenten zu fangen. Mich.«
Wieder der fast verlegene Strich durchs Haupthaar. Du bist so eitel, dachte Judith. Selbst nach so langer Zeit muss es dich noch stolz machen, einmal so wichtig gewesen zu sein …
»Ich, ein BND-Agent im Westen, muss mir im MfS, im Ministerium für Staatssicherheit, einen ganz besonderen Feind gemacht haben. Wer das gewesen ist, darüber kann wie gesagt nur spekuliert werden. Aber der Plan war, mich quasi in flagranti zu schnappen, bei der Schleusung einer DDR-Familie in den Westen. Und dafür musste mir ein Köder ausgelegt werden. Sie wissen, was eine Schleusung ist?«
Die Studentinnen nickten. Seit der Flüchtlingskrise war das Wort mit enormer sozialer Sprengkraft aufgeladen.
»Ich sollte Lindners Familie in den Westen holen. Das war ein sehr hohes Risiko, das man nur einging, wenn auch ordentlich etwas für den Westen herauskam. Lindner nahm also Kontakt mit uns auf. Wohlgemerkt im Auftrag des Mannes, der mich fangen wollte. Er bot uns, dem BND, Mikrofilme mit den Namen aller DDR-Agenten im Ausland. Diese Mikrofilme, unter Lebensgefahr aus dem Labor geschmuggelt, waren der Jackpot. Das Riesending. Es war, als hätte man uns den Heiligen Gral unter die Nase gehalten.«
Es schien, als ob alle im Saal den Atem anhielten.
»Ein Riesenfisch, dachten wir. Lindners Bedingungen waren einfach: die Schleusung in die BRD für sich, seine Frau und seine kleine Tochter. Dass es eine Falle war, daran dachten wir nicht einen Moment. Es klingt ja heute noch absurd. Alle, ausnahmslos alle DDR-Agenten sollten verraten werden! Nur um mich zu fangen?«
Er sah sich um, mit einem gespielt ungläubigen Ausdruck im Gesicht. Ihm schlug eiserne Reglosigkeit entgegen. Er klatschte in die Hände.
»Bravo! Sie haben den springenden Punkt erkannt! Sie sollten ja gar nicht verraten werden. Es war ein Fake, wie man heute sagt. Denn Lindner hatte nie die Absicht gehabt, sein Land zu verraten.«
Nur seine eigene Familie, dachte Judith. Geopfert, in die Höhle des Löwen geschickt, dem »Feind« auf dem Silbertablett dargeboten wie eine Ware. Und für was? Damit der große Unbekannte eine Rechnung mit Kaiserley begleichen konnte?
»Aber«, fragte eine Studentin in die Stille hinein, »es hat nicht geklappt?«
Kaiserleys Gesicht verzog sich schmerzlich. »Nein, es hat nicht geklappt. Denn Lindner, seine Familie, sein Plan, wir alle wurden verraten. Nicht von unserer jungen, naiven Sekretärin übrigens, sondern von einem Maulwurf in unseren Reihen. An die Stasi, die ja nichts davon wusste und deshalb glauben musste, dass Lindner tatsächlich einen Landes- und Hochverrat plante.« Er griff nach einem Buch und hielt es in die Höhe. »Das alles können Sie hier nachlesen.«
»Auch den Namen des geheimnisvollen Unbekannten?«
Plötzlich also ein namenloser Schatten. Einer, der im Hintergrund alles geplant und eingefädelt hatte und der nicht wollte, dass die eigenen Leute Wind von der Sache bekamen. Wer war dieser Mann? Von wem redete Kaiserley? Ein General, ein Leutnant? Um Lindner konspirativ an der Stasi vorbeizuführen, musste es ein hohes Tier gewesen sein. Es änderte nichts an Judiths Verachtung. Es war egal, ob Lindner den Verrat gemeinsam mit der HV A oder einem Einzelnen geplant hatte. Das Ergebnis wäre in beiden Fällen das gleiche gewesen: eine Katastrophe.
»Ich kenne den Namen nicht, leider. Glauben Sie mir, ich würde sehr gerne ein paar Worte mit ihm wechseln.«
»Dann war die Sache also zweimal in Gefahr?«, fasste die Studentin zusammen. »Einmal, als die Tippse ihm das Protokoll gab und er es nicht weitergereicht hat. War das nicht schon ein ziemliches Dienstvergehen für einen Spion?«
Kaiserley nickte wohlwollend. Es gefiel ihm, wenn man aufmerksam zuhörte.
»Aber dann gab es einen zweiten Verrat?«
»Und dieses Mal konnte Lindner nichts dagegen tun. Es war eine Doppelagentin der CIA.«
Ein Schuss, laut wie eine Detonation. Die Waffe scheint in Judiths Hand zu explodieren. Sie kann noch immer den Schmerz spüren, den Rückstoß, die Todesangst. Sieben Jahre ist es her, dass sie die Frau gestellt haben. So lange kennen wir uns schon, du da oben, ich da unten. Eine Weile sind wir mal nebeneinandergegangen, Seite an Seite. Wieder kreuzten sich ihre Blicke. Ob er auch gerade daran dachte?
Die Jüngeren lachten leise, manche tuschelten miteinander. Die grauen Männer rührten sich nicht.
»Und was genau ist in Sassnitz passiert?«
»Nun, wir im Westen glaubten, wir schleusen eine Familie und ein paar Mikrofilme. Doch im Transit wurden wir von bewaffneten Grenzposten gestellt. Lindners Frau wurde noch auf dem Bahnhof erschossen, ihr Kind, ein Mädchen …«
Wieder starrte Kaiserley ins Publikum. Judith starrte zurück.
Kaiserley räusperte sich, als hätte ihn dieser Blick etwas aus der Fassung gebracht.
»… wurde schwer traumatisiert ins Heim gesteckt. Lindner wechselte nach der Wende zum damaligen sowjetischen Geheimdienst KGB und seinen Nachfolgeorganisationen FSB und SWR und machte als Waffenhändler eine erstaunliche Karriere. Man sagt, dass er später an einem der größten Attentatsversuche Russlands auf die Demokratie Europas beteiligt war. Sein Aufenthaltsort ist unbekannt. Wir wissen nur seinen letzten Namen: Bastide Larcan.«
Eine der Studentinnen, die weiter hinten saß, meldete sich. Ein Mitarbeiter reichte ihr das Mikrofon.
»Also, wenn ich das richtig verstehe: Richard Lindner heißt jetzt Bastide Larcan?«
»Ob er sich immer noch so nennt, weiß ich nicht.«
»Er war ein Romeo und gleichzeitig ein Lockvogel?«
»Ja.«
»Und jetzt ist er ein russischer Terrorist?«
»Ein Mann mit vielen Gesichtern. Und vielen Einsatzgebieten. Agent. Heiratsschwindler. Hochverräter.«
Jedes einzelne Wort traf in Judiths Herz. Er ist ein mieses Stück Dreck, dachte sie. Und er ist mein Vater.