ÜBER DIESES BUCH

Neben Porträt ist "An der Ruhr" auch Selbstporträt, in Kinderzeiten. Jedoch kein Gruppenbild mit Kind, sondern dynamisch, eine Entwicklungsstudie, insofern eine Art Vexierbild mit Kind.

Wäre der Blickwinkel anfangs etwa der eines Babys, das vielleicht auf einer Decke auf dem Boden liegt und auf dem Bauch kaum weiter als unter einen Stuhl oder bis an die Wand rutschen und daher sicher nicht über den Tisch gucken kann, später der eines Dreikäsehochs, den man nicht mit dem Fahrrad losschicken kann, dann der eines Kleinkindes, das noch an den Weihnachtsmann glaubt, der eines Grundschülers, dem die Schuhe des Vaters kaum passen können, und so weiter, erhielte man eine Darstellung, die Tiefe hat, wo alles und jedes gleichzeitig quasi an einem Stuhlbein vorbei, von hinten an der Wand aus, durch die Tischplatte verdeckt, bei Mama hinten drauf, mit Weihnachtsmann in Herrenschuhen steckte, was ich mich bemüht habe, deutlich und unsichtbar zu realisieren.

J. M.

Vlissingen, im Februar 2018

Inhalt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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© 2018 Judith Masanke
Herstellung und Verlag:
BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7460-2645-9

Umschlagbild: die Ruhr bei Mülheim; Mischtechnik; J.M.

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In der Schwebe

Die Jahrtausendwende, den Moment, als sich die Erde allen Unkenrufen zum Trotz weiterdrehte wie bisher, haben natürlich nicht mehr alle der im folgenden genannten Personen noch miterlebt. Die genannten Orte bestehen jedoch auch heute noch, und das weiß ich deshalb, weil wir ab und zu hinfahren und nachsehen.

Etwas anderes ist es mit dem Haus, in dem wir wohnen, denn es steht fest, dass es nicht mehr lange dauert, bis hier kein Stein mehr auf dem anderen steht und der gesamte Komplex abgerissen sein wird.

Bevor wir also ein neues Ziel ins Auge fassen und unsere Verhältnisse neu ordnen, möchte ich noch einmal auf Zeiten zurückkommen und auf eine Welt, die es schon jetzt nicht mehr gibt.

Zeiten, zum Beispiel, als wir noch damit rechnen konnten, von meinen Eltern - sei es aus Berlin, aus London oder später aus Middelburg, Niederlande - ab und zu einen Brief zu erhalten, oft von Zeitungsausschnitten begleitet, die sie auch für uns für lesenswert hielten und auf die sie sich bezogen.

Zeiten, als wir mit ihnen vor allem Ferngespräche führten, in verschiedenen Zusammensetzungen, abhängig davon, von wem die Initiative ausgegangen war und wann jeweils der Hörer weitergereicht wurde.

Während unserer Zeit in Hamburg nahm ich eines Tages, ich denke, es wird kurz nach der genannten Wende gewesen sein, einen Anruf meiner Mutter entgegen, aus Middelburg. Ich weiß noch, ich stand im Flur unserer Wohnung mit dem Hörer in der Hand, an so einem schwarzen Spiralkabel.

Meine Mutter, in ihrer unvergleichlichen Art, brachte das Gespräch auf etwas, das sie aus den dortigen Fernsehnachrichten beziehungsweise aus ihrer landesweiten Zeitung erfahren hatte. "Habt er die Berichte auch gehabt?", könnte sie mich gefragt haben. Meine Mutter war nämlich Niederländerin, früher sagten wir: Holländerin. Sie wurde in Surabaja geboren, laut ihrem Pass: Soerabaja. Das habe ich früher in der Schule für das Klassenbuch immer sagen müssen. Manche Leute scheinen dann davon auszugehen, sie stammte daher. Vor allem hier in den Niederlanden wurde ich auch schon prüfend angesehen mit einer Bemerkung wie: ach so, daher. Dabei waren meine Großeltern meines Wissens einfach Niederländer, und zwar aus Vlissingen, englisch: Flushing. Mein Großvater war Maschinist bei der Marine und im damaligen Kolonialreich Niederländisch-Indien stationiert. Auch meine Großmutter, Onkel und Tante haben dort Jahre verbracht.

Jedenfalls welche Angelegenheiten meine Mutter damals am Telefon meinte, habe ich mir erst irgendwann anschließend erklären können, nämlich den Anstieg des Meeresspiegels, bis zum Ende des Jahrhunderts, ein komplettes Abschmelzen des Grönlandeises, des antarktischen Eisschilds, was den globalen Meeresspiegel um sieben Meter heben würde.

Den eigentlichen Anlass des Gesagten kenne ich nicht beziehungsweise habe ich vergessen. Vielleicht hatte es eine Studie gegeben oder ein Symposium, der Akademie der Wissenschaften, der "Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen".

Ob bei dem Gespräch von konkreten Voraussetzungen für dies Abschmelzen die Rede war, weiß ich auch nicht mehr. Jedenfalls gesagt hat meine Mutter: "In 2007 geht die Nordsee bis Utrecht."

Und das möchte ich hier mal so stehenlassen, aber dazu dreierlei ergänzen, nämlich erstens, dass meine Mutter Äußerungen wie diese nach meiner Erfahrung ernst meinen konnte, zweitens, dass ein Szenario wie dieses eine noch wieder andere Welt bedeuten würde, und drittens, dass ich mich frage, ob ich in dem Versuch aufzuzeichnen und festzuhalten, was wirklich existiert hat, was war, den Grundstein zur Neuorientierung legen kann, die zweifellos erfolgen muss.

Leibnizstraße

Ich wurde am Montag, dem 5. Mai 1958, in einem Hinterzimmer der Parterrewohnung eines großen Mietshauses in der Mülheimer Leibnizstraße geboren. Gegen Mittag, Kirchenglocken läuteten, erinnerte sich meine Mutter. Sie hieß Mary. "Meeri", sagte mein Vater, manche sagten "Merri". Mein Vater hieß Klaus.

Meine Eltern hatten damals keine eigene Wohnung. Sie wohnten bei meiner Großmutter ein, der Mutter meines Vaters, einer Witwe und Rentnerin. Ein weiterer Mitbewohner in dieser Wohnung mit Garten war ein gewisser Onkel Willi, unverheiratet und ebenfalls Rentner.

Meine Mutter war neu in Deutschland. Sie war dort meines Vaters wegen. Mit ihm teilte sie das Durchgangszimmer zum Bad und das kleine Hinterzimmer. Die beiden hatten neun Monate zuvor geheiratet. Und jetzt war das Baby da, ein Mädchen. Und mein Vater hatte eine neue Stelle, als Lokalredakteur einer großen regionalen Tageszeitung.

Meine Mutter hat später öfter wiederholt, dass sie dort in Mülheim keine gute Zeit gehabt hätte. So fand sie es abweisend, dass man abends überall die Rollläden herunterließ.

Mir jedoch gefiel das. Ich betrachtete morgens im Bett in Onkel Willis Zimmer oft die Muster, die das Tageslicht, das die Rolllade hindurchließ, auf Wände und Decke warf. Hatte Onkel Willi sie schon ein Stück hochgezogen und das Fenster geöffnet, konnte man die Leute hören, die auf dem Bürgersteig unter dem Fenster entlanggingen. War die Rolllade ganz heruntergelassen, war es stockdunkel.

Meine erste - hier sagt man "älteste" - Erinnerung habe ich jedoch an eine Begebenheit in den Niederlanden, im Hause meiner Urgroßmutter in der Vlissinger Glacisstraat. Das Haus steht heute noch, ich komme oft daran vorbei. Es muss bei einem Besuch im Spätsommer gewesen sein, als die Sonne gegen Abend schon niedrig am nordwestlichen Himmel stand. Ich weiß, ich stand dort im Gang, hinter mir die Haustür und vor mir ein Fenster, durch das die Sonne hell hereinschien. Zwischen mir und dem Fenster stand aber jemand. Und das Besondere war, dass diese Person unvollständig war, dass ihr nämlich ein Bein fehlte, ich meine, das rechte. Und weil ich dies einmal meiner Tante erzählt habe, habe ich erfahren, dass die Person oom Ubbe gewesen sein muss, ein Bruder meiner Großmutter dort, meiner Oma Holland. Deswegen ist klar, dass es 1959 gewesen ist, weil dieser Großonkel in dem Jahr kurz vor Weihnachten verstorben ist.

Dann habe ich noch eine weitere Erinnerung an dies Jahr, das Jahr übrigens, in dem, genau wie ich am 5. Mai, meine Schwester geboren ist. Auch dort in der Leibnizstraße. Das muss man meiner Mutter erst mal nachmachen, könnte man meinen. Vor allem deshalb, weil der 5. Mai nicht irgendein Tag ist, sondern was die Niederlande angeht "Befreiungstag", der nationale Feiertag, an dem die Befreiung der Niederlande von der deutschen Besatzung im Jahr 1945 gefeiert wird. Außerdem die Befreiung des ehemaligen Niederländisch-Indien.

Ich denke, es ist im Spätherbst gewesen, denn es kommt mir so vor, als wäre der Kohleofen in dem Durchgangszimmer an gewesen. Dort bei der Tür stand auch das Gitterbettchen meiner Schwester, noch ein Baby, das alleine noch nicht sitzen kann. Es war Nacht, die Eltern waren aus. Das Schwesterchen hatte wohl geschrien, und ich war wach geworden und aus dem Bett gestiegen, und schon kam Onkel Willi, und ich habe mit ihm an dem Bettchen gestanden.

Ansonsten, muss ich gestehen, kann ich mich nicht daran erinnern, wie meine Eltern sich dort eingerichtet hatten. Meine Mutter beschrieb es später so, dass sie "mit Apfelsinenkisten angefangen" hätten. Gut, aber dann frage ich mich nun, ob sie auch damals schon diese Krankenhausbetten hatten, die aus den Niederlanden gewesen sein sollen, aus Stahlrohr, die sich klappen ließen, so dass man das eine unter das andere schieben konnte. Andererseits kann ich mich dunkel erinnern, dass meine Mutter gesagt hat, dass sie mit nichts als der Seemannskiste meines Großvaters nach Mülheim gekommen sei, plus Inhalt. Andere Gegenstände aus ihrem Besitz, weiß ich, waren eine alte Kommode, ein niedriger, schwarzer, hölzerner Stuhl ohne Armlehne, wovon ich letztens hier in Vlissingen ein weiteres Exemplar gesehen habe, und ein Schaukelstuhl aus demselben leichten, aber stabilen Holz. Woher sie diese Möbel hatte und wann sie sie nach Deutschland hat kommen lassen, weiß ich aber nicht.

Meine Mutter hatte ja, genau wie mein Vater, keine eigene Wohnung, sondern wohnte meines Wissens bis sie nach Mülheim kam im Schwesternheim in Leiden, wo sie im Universitätskrankenhaus als Krankenschwester und Hebamme arbeitete, und zwischendurch bei ihrer Mutter auf der Bree, einer Straße in Middelburg.

Sie hätten sich auf einem Campingplatz kennengelernt, erzählten meine Eltern, in Mülheim an der Mosel, ich meine, im Sommer 1955. Mein Vater arbeitete dort als sogenannter Campingwärter, registrierte die Gäste und so. Meine Mutter war mit einer Kollegin und Freundin auf dem Motorroller unterwegs in Deutschland, und so trafen sie sich.

Als Verlagslektor schickte mein Vater danach an die Holländerin offenbar insgesamt sechs Briefe in dem Bemühen, den Kontakt zu intensivieren und sie an sich zu binden. Diese Briefe, die meine Mutter manchmal erwähnte, sind für mich jedoch nicht einsehbar.

Nun, sie heirateten tatsächlich, zeitlich kein halbes Jahr nach den römischen Verträgen, in Mülheim und dies auch kirchlich, dazu musste meine Mutter die Konfirmation nachholen. Trauzeugen waren der jüngere Bruder meines Vaters, Student in Braunschweig, und der Schwager meiner Mutter, Volksschullehrer in Middelburg.

Diesbezüglich wage ich übrigens zu behaupten, dass mein Vater die Stelle als Lokalredakteur deswegen bekommen hat, weil er glaubhaft darlegen konnte, kurz zuvor mit einer Niederländerin sozusagen eine "europäische Gemeinschaft" eingegangen zu sein und darum sehr besondere Erfahrungen in die Redaktion würde einbringen können.

Dort in der Leibnizstraße haben meine Eltern mit meiner Großmutter und Onkel Willi fast alles geteilt, von der Küche mit der Speisekammer über Bad und Toilette, das Telefon in dem einen großen Zimmer mit Esstisch und Klavier, auch Schlafzimmer meiner Großmutter, den Fernseher in dem anderen großen Zimmer, dem Wohnzimmer mit Sofaecke, den Garten, bis zum Waschofen im Keller.

Ob sie in ihrem Durchgangszimmer oder in dem Hinterzimmer wohl Bilder an den Wänden hatten, frage ich mich, denn mein Vater hatte schließlich einige Semester Kunstgeschichte studiert. Aber auch das weiß ich nicht. Denn obwohl meine Großmutter sich darauf verstanden hat, ihre Umgebung fotografisch festzulegen und mit Text versehen in Alben zu verarbeiten, existiert doch keine Dokumentation darüber, wie meine Eltern sich dort eingerichtet hatten. Es ist, als hätte mein Vater meiner Großmutter - selbstverständlich - gestattet, das Aufwachsen ihrer Enkelinnen zu dokumentieren, nicht aber das Leben von ihm selbst und das seiner Frau. Wozu er natürlich jedes Recht gehabt hätte.

Und so existieren aus dieser Zeit wohl einige - schwarzweiße - Baby- und Kleinkinderfotos, zum Beispiel das von mir als "Wasserratte" in der Wanne im Badezimmer, aber sonst eher nichts, was meine Fragen beantwortet hätte. Meine Großmutter hat aber zum Beispiel in eines ihrer Alben auch ein Zeitungsbild eingeklebt, auf dem meine Mutter und ich zu sehen sind, und zwar an einem trüben Tag, wie sie mit Mantel und Kopftuch gegen den Regen mit einem Kinderwagen an der Ruhr entlang spazierengeht und wie ich als Kleinkind auf einem Trittbrett hinter den Hinterrädern des Kinderwagens mitfahre. Ergänzt hat meine Großmutter diese Fotos mit Urlaubsfotos aus Holland, die sie wahrscheinlich zu diesem Zweck von meinen Eltern geschenkt bekommen hat. Es sind Bilder, auf denen auch die Familie dort zu sehen ist, auch am Strand. Diese Fotos haben dann vielleicht meine Tante oder mein Onkel gemacht, ich weiß es nicht. Die Alben sind jedenfalls für mich nicht mehr einsehbar.

Was ich hier zunächst noch zu ergänzen habe, ist, dass der Umstand, dass meine Schwester und ich damals manche frühen Morgenstunden in Onkel Willis Bett zubrachten - sie links, ich rechts von ihm neben der Wand - vermutlich mit dem Lebensrhythmus meiner Eltern zu tun hatte, denn mein Vater ging zwar erst am späten Morgen zur Arbeit, kam aber auch erst spät abends wieder. Ferner wäre zu ergänzen, dass er sich im Garten unter anderem um die Rosen kümmerte und den Rasen mähte. Und dass die Wohnung mittels dreier Kohleöfen beheizt wurde, und zwar das Wohnzimmer mit der Sofaecke mittels Dauerbrenner und das Durchgangszimmer und die Küche mittels einfacher Brikettöfen, die mehr Versorgung nötig hatten. Und dass das Wasser im Badeofen mit einem Gasbrenner erwärmt wurde, wo sonst nur kaltes Wasser aus dem Hahn kam und dass auch Kochen und Backen mit Stadtgas geschah.

Dass Onkel Willi sich morgens in der Küche rasierte, mit heißem Wasser in einem Emaillebecher, dass jedermann rauchte, Zigaretten, Zigarren oder Pfeife, außer meiner Großmutter.

Aber im Sommer 1961 zogen meine Eltern mit uns Kindern in eine eigene Wohnung um.

Priestershof

Der Priestershof liegt im Mülheimer Stadtteil Heißen, knapp drei Kilometer von der Leibnizstraße entfernt in Richtung Essen, auf den Hügeln über dem Rumbachtal, und war damals eine Schotterstraße. Das grauverputzte Haus, in das wir einzogen, war noch nicht alt und stand auf einem Grundstück, das der Nachbar vom eigenen Grundstück abgeteilt und verkauft hatte. Das Haus war vierstöckig, wir bezogen die Dachgeschosswohnung. Die Decken waren niedrig, und bis auf den schmalen Flur und das mittlere Zimmer hatten alle Räume schräge Wände, die etwa einen Meter über dem Boden ansetzten. Das Bad bestand aus Toilette, Waschbecken und Badewanne. Es hatte ein schräges Dachfenster zur Straße, das zu hoch lag, um hinauszugucken. Das kleine Zimmer zwischen Wohnungstür und Bad war etwa zwei mal zwei Meter groß und hatte ebenfalls so ein schräges Dachfenster zur Straße. Nach hinten hin hatte die Wohnung vier nebeneinanderliegende aus dem Dach herausgebaute senkrecht stehende Fenster mit Aussicht nach Süden, weit über das Rumbachtal hinaus bis zum Mülheimer Flughafen mit der Zeppelinhalle. Das erste Fenster gehörte zu dem Zimmer links hinten, das ich mir mit meiner Schwester teilte. Darin war Raum für zwei Betten und einen Schrank plus kaum zwei Quadratmeter Fußboden zum Spielen. Die beiden mittleren Fenster gehörten zu dem einzigen Zimmer ohne schräge Wände, das meine Eltern das "Morgenzimmer" nannten. Darin befanden sich eine Essecke, ein Schlafsofa ohne Armlehnen, dazu ein Tischchen und außerdem ein Schrank, darin auch offene Regale. Das vierte Fenster gehörte zum "Abendzimmer", dem Zimmer meiner Eltern mit den zusammenschiebbaren Krankenhausbetten, einem Schreibtisch, den beschriebenen schwarzen Stühlen, einem runden Eichentischchen, ebenfalls aus Holland, Bücherregalen an der Wand und dem alten Vertiko ohne Aufsatz, von der Familie in Mülheim. Oben darauf - man stelle sich vor - zwei Telefonapparate, einer weiß, einer schwarz. Ersterer nur für den beruflichen Gebrauch meines Vaters, letzterer für den privaten. Dies Zimmer hatte ein weiteres Fenster, Richtung Westen. Das ganz rechte und letzte Zimmer war die Küche, mit einem Fenster ebenfalls nach Westen. Darin befand sich neben einem niedrigen Kühlschrank, einem Elektroherd und einer Spüle mit darüber ein paar Hängeschränken ein kleiner Küchentisch mit einer dreisitzigen Eckbank mit farbigem Plastiküberzug, deren Sitzflächen man hochklappen konnte, um dort Gegenstände wie Spielsachen und Bücher unterzubringen. Außerdem stand dort die genannte alte Kommode aus Holland. An der Wand rechts von der Tür war ein langes Brett angebracht mit einer farbigen Gardine bis zum Fußboden, dahinter an Haken und Bügeln manches Kleidungsstück, auch Schuhe. In den Zimmern waren Heizkörper, die man im Winter nur aufdrehen brauchte. Eine Waschmaschine gab es auch hier nicht.

Hierzu wäre noch zu ergänzen, dass draußen vor der Wohnungstür neben der Treppe noch Raum war für einen Schrank, der als Garderobe diente, dahinter, mit nur noch wenig Deckenhöhe, Raum zum Beispiel für einen Kasten Bier. Das alles störte nicht weiter, weil es ja die obere Etage war, wo niemand vorbei musste. Es gab einen Keller, in dem meine Eltern einen Raum hatten mit einer Kartoffelkiste. Außerdem standen dort im Keller die Mülleimer aus schwerem Metall und das große, schwarze Fahrrad meines Vaters.

Hinter dem Haus befand sich ein langgestreckter Hof mit einer seitlichen mit Schotter aufgeschütteten Zufahrt zu vier hintereinanderliegenden Garagen, im toten Winkel ein Apfelbaum. Zwischen Haus und Garagen gab es ein recht großes Stück Wiese, von dem sich die Mieter in Parterre mit einem niedrigen Jägerzaun einen Teil abgesteckt hatten als Garten und Zugang von außen auf ihre Terrasse. An die Seitenwand der ersten Garage war eine Teppichstange montiert, an die man auch eine Schaukel hängen konnte. Und dann befand sich neben dieser Seitenwand noch ein quadratischer Sandkasten, Seitenlänge vielleicht 1,5 Meter, mit hölzerner Umrandung. Aus unerfindlichen Gründen bezeichneten wir Kinder diesen ganzen Bereich als "hinterm Hof".

An der Vorderseite befanden sich rechts und links des kleinen Zugangswegs vom Fußweg aus Richtung Haustür zwei Stück Vorgarten, so dass das Haus etwas zurückgesetzt stand. Meine Mutter bezeichnete es als das "zurückspringende" Haus. Zwischen dem rechten Vorgarten und der Zufahrt gab es eine kleine Mauer, neben dem linken Vorgarten nur die hohe, fensterlose Seitenwand des Nachbarhauses.

Im Erdgeschoss dieses Nachbarhauses befand sich ein kleines Einzelhandelsgeschäft, ein Tante-Emma-Laden, genannt "Thölke", wo sich innerhalb der Öffnungszeiten eine gewisse Gitta aufhielt. Man stieg ein paar Stufen hoch und gelangte so in einen nicht sehr großen Verkaufsraum mit einer Theke, die die hintere und die rechte Wand zur Tür hin abgrenzte. Rechts war ein großes Schaufenster, in dem nach meiner Erinnerung aber nichts weiter ausgestellt wurde. An den anderen Wänden standen hohe Regale, gefüllt mit Lebensmitteln. Unter der Theke hatten sie manchmal Sachen stehen wie ein Fass mit Sauerkraut, das man auch tütchenweise kaufen konnte. Morgens hatten sie frische Brötchen für ein paar Pfennig das Stück. Für Wurst und Käse hatten sie Schneidemaschinen. Sie hatten eine Waage und eine Registrierkasse mit Kurbel und Klingel.

Zum nächsten Lebensmittelladen, dem "Konsum", meine ich, musste man von dort aus ein ganzes Stück gehen, aber ich kann mich nicht mehr gut daran erinnern. Als Kind in Mülheim war ich nicht oft einkaufen. Ab und zu wurde ich zu Thölke geschickt, wegen Brötchen und vielleicht auch deswegen, weil sie manchmal gratis Wurstenden abgaben, Waren, die nicht mehr zu verkaufen waren.

Die hintere der vier Garagen gehörte eigentlich zu unserer Wohnung, aber mein Vater hatte kein Auto, auch keinen Führerschein, und außerdem besetzte sie der Milchmann, der ein Stück die Straße hinunter wohnte und eine Auslieferungsstelle hatte und mit seinem Lieferwagen regelmäßig Touren fuhr und an festgelegten Stellen anhielt und seine Glocke läutete. Auch meine Mutter kaufte bei ihm Milch, Quark, Frischkäse und so. Der Milchmann sprach Plattdeutsch, an das ich mich aber gut gewöhnt habe.

Es war nur so, dass ich fand, er solle die Garage an uns abgeben, weil ich da ein Pferd einstellen wollte. Aber da wollten meine Eltern nichts von wissen.

Glacisstraat