Prof. Dr. Etta Wilken ist Sonderschullehrerin und Diplom-Sprachtherapeutin. Sie war bis zu ihrer Pensionierung an der Leibniz-Universität Hannover tätig im Lehrgebiet Allgemeine und integrative Behindertenpädagogik.
Etta Wilken hat bereits 1973 erstmalig zur Sprachförderung von Kindern mit Down-Syndrom publiziert. Sie besitzt langjährige Erfahrungen in der Ausbildung von Sonderpädagogen und Diplompädagogen sowie in der Elternarbeit und in der Therapie von Kindern mit Down-Syndrom. Die Gebärden-unterstützte Kommunikation (GuK) wurde von ihr entwickelt. Weitere Forschungsgebiete sind Unterstützte Kommunikation und Frühförderung.
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13., aktualisierte Auflage 2019
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© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
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ISBN 978-3-17-035054-0
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Die Sprachförderung von Kindern mit Down-Syndrom hat sich, wenn man auf die letzten Jahrzehnte zurückblickt, erheblich weiterentwickelt. Die Erfahrungen mit den Kindern und mit ihren Eltern erbrachten neue Erkenntnisse, die die Zielsetzungen und Methoden der Kommunikations- und Sprachförderung veränderten. Aber auch die Erfahrungen mit offengebliebenen Möglichkeiten und mit Grenzen, mit Hoffnungen, die eingelöst werden konnten, und Erwartungen, die sich nicht erfüllten, Freude über unvermutete Fortschritte oder Ratlosigkeit, warum im Einzelfall Weiterentwicklung nur sehr langsam erfolgte, bewirkten eine Neuorientierung und die Erweiterung um Angebote der alternativen und ergänzenden Kommunikation.
Während es mir anfangs wichtig war nachzuweisen, dass eine behinderungsspezifische Therapie beim Down-Syndrom nötig, möglich und sinnvoll ist (Wilken 1973), wurde in den nachfolgenden Jahren zunehmend deutlich, dass sprachliche Förderung nicht überwiegend als spezielle Therapie zu sehen ist, sondern möglichst in den Familienalltag integriert werden sollte (Wilken 41985). Sprachförderung hat das Ziel, die Kommunikationsfähigkeit und Partizipation des Kindes in und außerhalb der Familie zu erweitern. Deshalb sind in der Familie, in der Krippe, im Kindergarten und in der Schule entwicklungsgemäße Kommunikations- und Lernsituationen zu gestalten, die dem Kind ermöglichen, sprachliches Handeln als bedeutsam zu erleben. Dazu ist es wichtig, die nötigen individuellen therapeutischen Maßnahmen möglichst in Alltagssituationen zu integrieren.
Die Familienstruktur von Kindern mit Down-Syndrom hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich verändert: Das Alter der Eltern entspricht heute dem allgemeinen Durchschnitt und auch die Stellung innerhalb der Geschwisterreihe ist nicht mehr als »exponiert« zu bezeichnen. Damit hat sich auch die Einstellung und das Verhalten der Eltern gewandelt. Sie erleben nicht mehr so sehr ihr Kind als ein besonderes, sie wollen vielmehr die besonderen und nötigen Hilfen.
Das Engagement der Eltern und ihr Vertrauen in die Entwicklungsmöglichkeiten ihres behinderten Kindes sind gewachsen, und die Chancen für gemeinsames Spielen und Lernen im Kleinkind-, Kindergarten- und Schulalter haben sich erheblich ausgeweitet. Auf der Grundlage der UN-Behindertenrechtskonvention haben sich auch die Möglichkeiten für Integration bzw. Inklusion deutlich erweitert. Gerade die Förderung der sprachlichen Kompetenzen hat dabei für das angestrebte gemeinsame Spielen und Lernen der Kinder und Jugendlichen eine herausragende Bedeutung.
Das Down-Syndrom ist eine besondere genetische Bedingung, die typische physische und psychische Veränderungen verursacht. Aber trotz vieler syndrombedingter Gemeinsamkeiten ist die Individualität des behinderten Kindes zu betonen. Kinder mit Down-Syndrom sind vor allem Kinder mit den jeweiligen Bedürfnissen, Wünschen und Interessen ihres (Entwicklungs-)Alters und haben familientypische Vorlieben und Gewohnheiten.
Eine Sprachförderung für Kinder mit Down-Syndrom muss nicht nur auf individuelle und syndromspezifische Besonderheiten eingehen, sondern hat auch alters- und entwicklungsbezogene Aspekte im systemischen Kontext zu berücksichtigen. Deshalb werden sowohl die aktuellen familiären und gesellschaftlichen Bedingungen beachtet als auch Erkenntnisse über die allgemeine Entwicklung und das Lernverhalten von Kindern mit Down-Syndrom.
Kinder mit Down-Syndrom benötigen besondere Unterstützung beim Spracherwerb und bei der weiteren sprachlichen Entwicklung. Eine syndromspezifische entwicklungsbegleitende Sprachförderung vermag frühzeitige Hilfen zu geben, damit nicht nur Verständigung besser gelingt, sondern auch das kognitive Potenzial der Kinder sich günstiger entfalten kann. Vor allem die vielfältigen Erfahrungen mit der Gebärden-unterstützten Kommunikation (GuK) zeigen, wie durch diese Methode basale sprachliche Kompetenzen erworben werden und die Kommunikation weniger frustrierend verläuft. Auch die speziellen Schwierigkeiten beim Spracherwerb von Kindern mit Down-Syndrom können damit vermindert werden.
In der Sprachtherapie sind die unterschiedlich ausgeprägten orofazialen Schwierigkeiten differenziert zu erfassen und zu behandeln. Zudem müssen beim methodischen Vorgehen die syndromtypischen und individuellen Besonderheiten im Lernen und Verhalten berücksichtigt werden.
Durch eine solche Gestaltung der Sprachförderung als Teil einer ganzheitlichen Förderung können sich die Fähigkeiten der Kinder heute zunehmend günstiger entfalten.
Das Buch möchte mit der vorliegenden 13. Auflage pädagogisch relevante Erkenntnisse vermitteln und vielfältige Anregungen zur sprachlichen Förderung von Kindern mit Down-Syndrom für Eltern, Pädagogen und Therapeuten bieten.
Ich danke den vielen Familien von Kindern mit Down-Syndrom für gemeinsame Erfahrungen, für interessante Gespräche bei Seminaren und Tagungen sowie für das freundliche Überlassen von Bildern, von denen ich nur einige für das Buch auswählen konnte. Dem Deutschen Down-Syndrom InfoCenter in Lauf danke ich für langjährige Zusammenarbeit und ebenfalls für das Zusenden von Bildern.
Prof. Dr. phil. Etta Wilken
Leibniz Universität Hannover
Langdon Down war als Arzt und Leiter einer großen Anstalt für Menschen mit geistiger Behinderung tätig, als er 1866 eine Schrift verfasste zur »ethnische(n) Klassifizierung von Schwachsinnigen«, mit dem Ziel, durch solche Zuordnung sichere Prognosen für die Entwicklung geben zu können. Die auffällige Lidfalte (Epikanthus) bei einigen Patienten veranlasste ihn anzunehmen, dass bei diesen Menschen ein »mongolischer Typus« der geistigen Behinderung vorliege (Langdon Down 1996, 261). Deshalb bezeichnete er diese Form der Intelligenzbeeinträchtigung als »Mongolismus«. Dieser Begriff wird heute abgelehnt, da die zugrunde liegende historisch zu verstehende Annahme über die Entstehung dieser Behinderung falsch und diskriminierend ist. Die typischen klinischen Merkmale sind bei allen Rassen gleich und immer deutlich als pathologisch zu erkennen.
In Anerkennung der Bemühungen von Langdon Down, Übungen und Fördermöglichkeiten für Menschen mit dieser Beeinträchtigung zu gestalten, hat sich heute die Bezeichnung Down-Syndrom durchgesetzt. Daneben werden Begriffe wie (Langdon) Down(’s)-Syndrom oder Down Anomalie, Morbus Down und – seit einiger Zeit– auch Trisomie 21 benutzt. Betroffene Menschen lehnen den Begriff Down-Syndrom jedoch wegen der negativen Konnotation von »down« (= nieder) zunehmend ab. Es ist deshalb zu überlegen, wie der Anspruch der betroffenen Personen auf begriffliche Mitbestimmung respektiert werden kann und ob nicht ein neutralerer Begriff gefunden werden könnte. Da aber gerade erst der stigmatisierende Begriff »Mongolismus« auch international durch Down-Syndrom abgelöst wurde, erscheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine erneute Änderung nicht sinnvoll (vgl. Wilken 2017, 17). Auch zeigt die Diskussion über eine mögliche Umbenennung des Schwerbehindertenausweises (»Schwer-in-Ordnung-Ausweis«) wie schwierig es ist, eine als nicht diskriminierend empfundene Bezeichnung zu finden ohne damit die Eindeutigkeit und die nötige Zuwendung von Ressourcen zu gefährden.
Manchmal werden auch Bezeichnungen wie »Down-Baby«, »Down-Kind«, »Downie«, »Down-Syndrom-Kind« oder »Trisomie-Kind« benutzt. Dagegen ist jedoch einzuwenden, dass durch solche Begriffe die Behinderung zur dominierenden Kennzeichnung der Person wird. Aber auch Kinder mit Down-Syndrom sind vor allem Kinder, mit den ganz normalen Bedürfnissen, die alle Säuglinge und Kinder haben, sind Jugendliche und Erwachsene, zeigen als Kinder ihrer Eltern familientypische Vorlieben und Gewohnheiten, sind ihren Geschwistern Bruder oder Schwester. Allerdings bedingen syndromspezifische Beeinträchtigungen typische Veränderungen. Aus diesen Gründen bezeichne ich die von dieser Behinderung betroffenen Personen als Säuglinge, Kinder und Erwachsene mit Down-Syndrom.
Menschen mit Down-Syndrom bilden trotz der syndrombedingten Gemeinsamkeiten eine sehr heterogene Gruppe. Nicht nur die gesundheitlichen Beeinträchtigungen sind in Art und Ausprägung recht verschieden, sondern auch das individuelle Potenzial weist eine große Streubreite auf.
Es ist deshalb wichtig, mögliche syndromspezifische gesundheitliche Probleme durch entwicklungsbegleitende Vorsorgeuntersuchungen rechtzeitig zu erkennen und zu behandeln, um so typische Folgebeeinträchtigungen zu verringern (vgl. Leitlinien 2016).
Für eine entwicklungsbegleitende Förderung der Kinder mit Down-Syndrom sind sowohl individuelle als auch syndromspezifische Aspekte zu beachten. Zudem müssen die familiären Bedürfnisse und Kompetenzen angemessen reflektiert werden.
Die Feststellung von Langdon Down, dass bei Menschen mit Down-Syndrom durch Übung viel mehr erreichbar ist als zunächst vielleicht angenommen wird, ist noch immer aktuell. Es ist deshalb wichtig, neue Möglichkeiten zu nutzen und die Grenzen des Erreichbaren zu erweitern und offener zu sehen. Das betrifft besonders auch die sprachlichen Kompetenzen.
Die Ursachen des Down-Syndroms waren lange Zeit nicht bekannt. Zahlreiche Vermutungen und absurde Theorien wurden geäußert (z. B. Alkoholismus, Tuberkulose, Regression in der menschlichen Entwicklung), die zeitweise zu problematischen Einstellungen gegenüber Betroffenen und ihren Familien führten. Obwohl schon 1932 aufgrund der Vielzahl auftretender Veränderungen vermutet wurde, dass beim Down-Syndrom eine Chromosomenstörung vorliegen müsse (Waardenburg), gelang erst 1959 einer französischen Forschergruppe (Lejeune, Gautier, Turpin) der Nachweis, dass dem Auftreten des Down-Syndroms eine Trisomie der G-Gruppe zugrunde liegt.
Jede Körperzelle des Menschen besitzt in ihrem Kern 46 Chromosomen, die paarweise angelegt sind. Jeweils die Hälfte der Chromosomen stammt von der Mutter bzw. dem Vater. 22 dieser Paare bezeichnet man als Autosomen, ein Paar bilden die Geschlechtschromosomen. Die Chromosomen mit ungefähr gleicher Größe werden in Gruppen zusammengefasst und mit den Buchstaben A–G gekennzeichnet. Die Darstellung der nach Größe geordneten Chromosomen wird als Karyogramm bezeichnet.
Bei der Bildung der Keimzellen wird der normale Chromosomensatz von 46 auf 23 Chromosomen halbiert. Dies geschieht in zwei Reifeteilungen (Meiose). Dabei können verschiedene Fehlverteilungen der Chromosomen entstehen.
Beim Down-Syndrom ist das Chromosom 21 nicht zweimal, sondern dreimal vorhanden. Dieses zusätzliche dritte Chromosom bewirkt erhebliche Störungen des normalen biochemischen Gefüges und führt zu deutlichen Abweichungen in der Entwicklung – obwohl es zu den kleinsten Chromosomen gehört (nur 1,5% der menschlichen Erbinformation liegen darauf). Die bei einer Trisomie 21 auftretenden prä- und postnatalen Veränderungen und Beeinträchtigungen sind trotzdem vielfältig und werden u. a. auf eine Überproduktion bestimmter Zellenzyme (Superoxydismutase – SO D1) zurückgeführt. Da diese besonderen Bedingungen für alle genetischen Formen des Down-Syndroms gelten, führen die verschiedenen chromosomalen Bedingungen auch meistens nicht zu deutlichen Unterschieden in der Entwicklung der betroffenen Kinder. Die große Heterogenität innerhalb der Gruppe von Menschen mit Down-Syndrom ist deshalb, bis auf einige sehr seltenen Ausnahmen, nicht die Folge einer besonderen genetischen Form des Down-Syndroms, sondern überwiegend mit einem individuell ungleichen Potenzial und unterschiedlich ausgeprägten gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu erklären.
Die Verteilungsfehler, die zum Entstehen einer Trisomie 21 führen, können im Verlaufe jeder der beiden Reifeteilungen bei der Mutter (90–95%) oder beim Vater (5–10%) erfolgen, entstehen aber überwiegend wohl bei der ersten Teilung. Aus noch unbekannten Gründen unterbleibt dabei das Auseinanderweichen der beiden Chromatiden des Chromosoms 21 (non-disjunction) und beide Chromatiden befinden sich dadurch zusammen in nur einer der beiden Tochterzellen. So entsteht eine Keimzelle, die ein Chromosom zu wenig, und eine andere, die ein Chromosom zu viel hat. Hat die Keimzelle nur 45 Chromosomen (46–1), ist sie nicht lebensfähig. Dagegen ist die Keimzelle mit dem überzähligen Chromosom entwicklungsfähig und bei einer Befruchtung entsteht eine Eizelle mit 47 Chromosomen. Diese so genannte freie Trisomie 21 ist zumeist die Ursache des Down-Syndroms; ihre Häufigkeit wird mit ca. 92% aller Fälle angegeben (Murken 1990, 12).
In einigen Fällen, so stellte man bei zytologischen Untersuchungen fest, ist das Down-Syndrom auf eine Mosaikstruktur zurückzuführen; dann haben zwei oder mehr verschiedene Zellstämme eine unterschiedliche Chromosomenzahl (Wunderlich 1977, 23). So können z. B. die Zellen von Haut, Schleimhäuten oder Blut verschiedene Chromosomensätze haben. Die Mosaikbildung ist wahrscheinlich auf Fehlverteilungen bei den Zellteilungen nach der Befruchtung zurückzuführen (mitotische Nondisjunction – Schwinger 1992, 34). Entsprechend ist der Anteil der trisomen Zellen umso größer, je früher die Teilungsstörung aufgetreten ist (Wendeler 1988, 165). Es ist jedoch auch möglich, »dass bei einer ursprünglich vollständigen Trisomie 21 nach einer der ersten Zellteilungen in einer Zelle das überzählige Chromosom 21 nicht mehr vorhanden ist und nun Zellen mit Trisomie 21 und Zellen mit der normalen Disomie 21 nebeneinander liegen« (Murken 1990, 14). Es gibt keine genauen Prozentangaben, bei welchem Anteil von trisomen Zellen es zu syndromspezifischen Auswirkungen kommt, aber es ist davon auszugehen, »daß das klinische Bild eines Down-Syndroms um so stärker abgeschwächt ist, je größer der Anteil der normalen Zellinie ist« (ebd.). Die intellektuellen Fähigkeiten von Kindern mit Mosaikform unterscheiden sich manchmal positiv von denen mit freier Trisomie und bei einem sehr geringen Anteil trisomer Zellen kann eine normale Entwicklung möglich sein (vgl. Fallbeispiele in Wilken 2017, 19 f.). Die Häufigkeit einer Mosaikstruktur beim Down-Syndrom wird mit 1–3% angegeben.
In einigen Fällen geht das Auftreten des Down-Syndroms auf eine Translokationssituation zurück. Translokationen entstehen, »wenn Chromosomen zerbrechen und wenn die Bruchstücke dann falsch zusammenheilen« (Fuhrmann, Vogel 1968, 51). Zum Erscheinungsbild des Down-Syndroms führt eine solche Translokation, wenn das zusätzliche Chromosom 21 oder ein wesentliches Stück davon sich mit einem der übrigen Autosomen verbindet und »hieraus ein neues, ganzes und genetisch wirksames Formelement« (Wunderlich 1977, 29) entsteht. Bei einer balancierten Translokation handelt es sich dagegen nicht um ein zusätzliches drittes Chromosom, weil in diesem Fall das Chromosom 21 nur an ein anderes Chromosom gebunden ist. Der Chromosomensatz ist deshalb balanciert und der Träger ist phänotypisch gesund. Beim Down-Syndrom konnten bisher Translokation des 21. Chromosoms auf verschiedene andere Chromosomen festgestellt werden (z. B. auf das Chromosom 13, 14 oder 15, aber auch eine 21/22- und eine 21/21-Translokation). Balancierte Translokationen bei einem Elternteil können beim Kind zu einem erblich bedingten Auftreten des Down-Syndroms führen, oft jedoch sind die Translokationen beim betroffenen Kind neu entstanden (ca. 50%). Im Vergleich mit der freien Trisomie 21 können sich Kinder mit Translokationen in ihren biochemischen Bedingungen unterscheiden (Pueschel u. a. 1987, 25). Deshalb kann es möglich sein, dass die Entwicklung im Einzelfall etwas günstiger verläuft als bei einer freien Trisomie.
Fortschreitende Techniken in der Zytogenetik und genauere Identifizierung der Chromosomen zeigten, dass in seltenen Fällen nur ein Teil des Chromosoms 21 dreifach vorhanden und in einem anderen der 46 Chromosomen integriert ist. Wirksam werden und zum Erscheinungsbild des Down-Syndroms führen kann diese partielle Trisomie, wenn es sich bei dem translozierten Teil um das Segment des Chromosoms 21 handelt, das für die Ausprägung der Behinderung entscheidend ist (Down-Syndrom Critical Region, zytogenetisch als 21q22.3 bezeichnet).
Für humangenetische Familienberatungen ist es sehr wichtig, die verschiedenen Formen der Translokationen voneinander zu unterscheiden (Leitlinien 2016, 16). Der prozentuale Anteil der Translokationsbefunde beim Down-Syndrom liegt bei 5% (Murken 1990, 14).
Die verschiedenen Formen der Trisomien, die dem Auftreten des Down-Syndroms zugrunde liegen, lassen sich zwar feststellen, aber es ist bisher nicht möglich, die Faktoren anzugeben, die diese Teilungsstörungen verursachen.
Immer wieder werden allerdings Vermutungen geäußert, dass neben den bekannten altersbedingten Faktoren auch eine Vielzahl unterschiedlicher ätiologischer Risiken wie Strahlenschädigungen oder vielfältige Umweltbelastungen eine auslösende Wirkung haben könnten. Bisher gibt es aber keine bewiesenen Zusammenhänge. Auch die Berliner Studie nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl konnte keinen eindeutigen Nachweis erbringen. Deshalb muss nach derzeitigen Erkenntnissen davon ausgegangen werden, dass viele dieser Faktoren zwar chromosomale Schädigungen und dadurch bedingte Behinderungen auslösen können, aber sie führen wohl nicht zu einer zahlenmäßigen Abweichung (Trisomie 21) von ansonsten unbeschädigten Chromosomen.
Das Down-Syndrom gibt es auf allen Erdteilen, bei allen Rassen und, wie einige alte Darstellungen und Funde belegen (Wendeler 1988, 14 f.), schon seit Jahrhunderten. Es ist deshalb eher wahrscheinlich, dass Chromosomenfehlverteilungen und Translokationen sich zufällig ereignende Störungen bei den Reifeteilungen sind.
Ob die Entschlüsselung des Chromosoms 21 zu neuen Erkenntnissen über die Ursachen des Down-Syndrom führt, nicht nur was einzelne krankheitsauslösende Gene betrifft, zeichnet sich bisher noch nicht ab.
Ein Zusammenhang, der bereits früh festgestellt wurde, besteht zwischen dem mit zunehmendem Gebäralter der Mutter auch vermehrt auftretenden Down-Syndrom. Beträgt die Wahrscheinlichkeit für die Geburt eines Kindes mit Down-Syndrom bei einem Alter der Mutter von 20–30 Jahren noch eine auf ca. 1500 Geburten und im Alter von 30–35 Jahren eine auf ca. 800 Geburten, so steigt das Risiko im Alter von 35–40 auf eine zu 280 und im Alter von über 40 Jahren auf eine zu 150 mit weiter zunehmender Tendenz.
Mütterliches Alter
Auf den Internet-Seiten der WHO wird die Empfehlung gegeben, Schwangerschaften bei älteren Frauen zu vermeiden, um die Anzahl der Kinder mit Down-Syndrom zu verringern. »Diese einfache Methode der primären Prävention könnte die Anzahl der davon betroffenen Kinder um bis zu 50% reduzieren« (WHO 2000, Übers. E. W.). Ein solcher Rat ist generell problematisch und berücksichtigt zudem nicht die vielfältigen individuellen Gründe für eine abweichende Familienplanung.
Obwohl die Wahrscheinlichkeit für die Geburt eines Kindes mit Down-Syndrom bei einem erhöhten Gebäralter der Mütter ansteigt, ist mittlerweile eindeutig festzustellen, dass die Altersstruktur der Mütter (und Väter) betroffener Kinder heute dem Durchschnitt entspricht. Das hat verschiedene Ursachen. So bekommen weit mehr Frauen ihre Kinder in jüngeren Jahren, weshalb trotz der geringeren Relationen die rechnerische Wahrscheinlichkeit für die Geburt eines Kindes mit Down-Syndrom in dieser Gruppe am größten ist. Zudem wird die Erstelternschaft heutzutage zeitlich deutlich später als noch vor zwei oder drei Jahrzehnten geplant und liegt mittlerweile bei etwa 29–30 Jahren. Diese typische Entwicklung trifft auch zu für Familien, die ein Kind mit Down-Syndrom haben. Somit entspricht das Alter der Eltern bei der Geburt ihres Kindes mit Down-Syndrom überwiegend der normalen Altersstruktur von Eltern heute und zeigt keine deutlichen Abweichungen mehr.
Eine eigene umfangreiche Untersuchung (Wilken 2001, 8 ff.) bestätigt diese Entwicklung.
Altersverteilung der Eltern
Alter der Mutter bei der Geburt des Kindes mit DSAlter des Vaters bei der Geburt des Kindes mit DS
Eine japanische Elternbefragung ergibt gleichfalls, dass 82% der Frauen bei der Geburt ihres Kindes mit Down-Syndrom unter 35 Jahre alt war mit einem Durchschnittsalter von 31 Jahren (Tatsumi-Miyajima u. a. 1997).
In einer Schweizer Untersuchung wurde festgestellt, »dass die Anzahl der Kinder mit Down-Syndrom bei Müttern im Alter von 35 Jahren und mehr abnimmt, und dass die Zahl der Down-Syndrom-Kinder von Müttern unter 35 Jahren … steigt« (Jeltsch-Schudel 1999, 55). Eine Datenauswertung von prä- und postnatal erfasster Fälle von Trisomie 21 in der Deutsch-Schweiz ergab, dass insgesamt »die Häufigkeit der mit Trisomie 21 geborenen Kinder seit 1985 konstant (ist), obwohl in der Periode 1992–1996 rund ein Drittel aller Fälle infolge Schwangerschaftsabbruch nach pränataler Diagnose nicht zur Welt kamen … Die Ursache ist eine Rechtsverschiebung der Altersverteilung der Mütter bei der Geburt. Dadurch stieg das mittlere Alter einer Mutter zwischen 1980 und 1986 von 26 Jahren auf 30 Jahre« (Binkert, Mutter, Schinzel 1999, 19). Insgesamt muss davon ausgegangen werden, dass die zunehmende Inanspruchnahme von pränataler Diagnostik durch ältere Schwangere (und Schwangerschaftsabbruch bei entsprechendem Befund) die Anzahl der Geburten von Kindern mit Down-Syndrom in dieser Altersgruppe verringert (Murken 1990, 13).
Ob auch zwischen dem väterlichen Alter und dem Auftreten einer freien Trisomie 21 ein Zusammenhang besteht, ist nicht hinreichend geklärt. Die bisher vorliegenden Untersuchungen ergaben widersprüchliche Ergebnisse. Während in einigen Erhebungen sich keine Anhaltspunkte für einen Alterseffekt bei Vätern von Kindern mit Down-Syndrom ergaben, wiesen andere Untersuchungen durchaus einen Zusammenhang nach. Wenn Auswirkungen des mütterlichen Alters ausgeschlossen wurden, zeigte sich jedoch – wenn überhaupt – bei Männern erst über 55 Jahren ein möglicher Effekt, während unterhalb dieses Alters keine Hinweise auf einen Zusammenhang erkennbar waren (Weber, Rett 1991, 16). Unabhängig vom Altersfaktor ist jedoch zweifelsfrei nachgewiesen, dass die Chromosomenfehlverteilung auch bei der väterlichen Keimzellbildung entstehen kann. Die geschätzte Häufigkeit wird mit etwa 20–25% angegeben (Wendeler, 1988, 166).
Die mit zunehmendem mütterlichen Alter erhöhte Wahrscheinlichkeit für die Geburt eines Kindes mit Down-Syndrom und das altersunabhängige zufällige Entstehen einer Trisomie ist bisher ursächlich nicht hinreichend zu erklären. Nicht beweisen ließ sich die oftmals geäußerte Hypothese, dass bei zunehmendem Alter der Mutter eine funktionelle Beeinträchtigung der Keimzelle erhöht wahrscheinlich wird. Gerade dann bleibt unverständlich, dass »der Karyotyp in allen Geweben gleich ist (und) nach Verteilungsstörungen der Chromosomen keine Form-, sondern Zahlenanomalien auftreten, d. h. Abweichungen von der Modalzahl« (Pfeiffer 1975, 678).
Ein Unterschied ergibt sich zwischen Familien ohne und mit einem Kind mit Down-Syndrom hinsichtlich der Anzahl der Kinder. Während es in der Gesamtbevölkerung heute relativ viele Einzelkinder gibt, wachsen Kinder mit Down-Syndrom selten ohne Geschwister auf. So ergab eine schweizerische Untersuchung zur Familiensituation von Kindern mit Down-Syndrom im Vergleich mit durchschnittlichen Familien: »Es gibt weniger Einzelkinder mit DS, etwas weniger Zweikindfamilien, dafür deutlich häufiger Familien mit drei und mehr Kindern« (Jeltsch-Schudel 1999, 57). Auch eine japanische Untersuchung kommt zu einem entsprechenden Ergebnis. Danach war das Kind mit Down-Syndrom in 40% der Familien das erste Kind, in 48% das zweite; 40% der Familien hatten nach der Geburt eines Kindes mit Down-Syndrom noch weitere Kinder. Die durchschnittliche Kinderzahl betrug 2,3 (Tatsumi-Miyajima u. a. 1997). Auch in einer Reutlinger Befragung lag der Anteil der Drei-Kind-Familien bei 21% im Gegensatz zu den durchschnittlichen 9% in anderen deutschen Familien (Klatte-Reiber 1997, 198).
In einer eigenen Untersuchung zur Familiensituation (Wilken 2001) zeigte sich, dass etwa 40% der Kinder mit Down-Syndrom als erste Kinder geboren wurden und in 42% der Familien waren die Kinder mit Down-Syndrom zweite Kinder. In vielen dieser Familien wurde danach noch ein drittes Kind geboren. In 18% der Familien waren die Kinder mit Down-Syndrom das dritte bis siebte Kind.
Für die Familiensituation von Kindern mit Down-Syndrom ergeben diese neueren Daten, dass es nur wenige Unterschiede zu anderen durchschnittlichen Familien gibt. Sowohl die Altersstruktur der Eltern als auch die Stellung in der Geburtenfolge der Kinder zeigt überwiegend Gemeinsamkeiten. Durch diese normale Einbindung der Kinder mit Down-Syndrom in ihre Geschwisterreihe – selbst wenn sie die Jüngsten sind, besteht kein übergroßer Altersabstand zu den anderen Kindern – sind sie auch in die normalen Spielaktivitäten und Freundschaften ihrer Geschwister stärker einbezogen. Sie erhalten so vielfältige Anregungen und sind ganz natürlich in das soziale Umfeld ihrer Familie integriert. Die Erfahrungen der Eltern mit diesem gemeinsamen Aufwachsen ihrer Kinder führen dazu, dass sie für ihr behindertes Kind die erlebte Integration im Familienalltag und in normalen sozialen Bezüge auch im Kindergarten und in der Schule erhalten wollen. Sie wünschen sich deshalb für ihre Söhne und Töchter entsprechende Möglichkeiten des gemeinsamen Spielens und Lernens mit anderen Kindern und Teilhabe in der Freizeit und später auch im beruflichen Bereich.
Die Chromosomenanalyse ist die Grundlage der zweifelsfreien Diagnostik des Down-Syndroms und Voraussetzung für eine genetische Beratung. Die Prognose für das Wiederholungsrisiko bei weiteren Schwangerschaften ist bei den verschiedenen zytogenetischen Formen des Down-Syndroms unterschiedlich.
Die mit ca. 92% häufigste Ursache des Down-Syndroms, die freie Trisomie 21, ist nicht auf erbliche Faktoren zurückzuführen, trotzdem muss von einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für das erneute Auftreten einer Chromosomenaberration ausgegangen werden. »Insgesamt kann das Wiederholungsrisiko unabhängig vom Alter bei einer Größenordnung von 1% angegeben werden, wobei sich bei einer weiteren Schwangerschaft nicht die gleiche Chromosomenaberration wiederholen muß« (Murken 1990, 22). Entsprechend müssen Eltern von Kindern mit Down-Syndrom bei der genetischen Beratung darauf hingewiesen werden, dass das Wiederholungsrisiko sich nicht allein auf die Trisomie 21 bezieht, sondern allgemein auf chromosomale Fehlverteilungen, durch die sowohl schwerere Behinderungen (Trisomie 13, 18) als auch weniger umfangreiche Beeinträchtigungen (Klinefelter-Syndrom) ausgelöst werden können.
Solche Informationen müssen mit ausführlicher und einfühlsamer Beratung erfolgen, damit sie die Eltern nicht unnötig verunsichern. Eine unzureichende Information über diese besondere Problematik ist jedoch nicht sinnvoll und deshalb abzulehnen.
Bei ca. 5% aller Kinder mit Down-Syndrom liegt eine unbalancierte Translokation vor. Sie kann beim Kind neu entstanden sein, was für etwa 50% zutrifft, oder sie wurde von einem Elternteil, der Träger einer balancierten Translokation ist, vererbt. Ist die Translokation beim Kind neu aufgetreten, kann für die Eltern von einem nicht erhöhten Risiko bei weiteren Kindern ausgegangen werden. Soweit ein Elternteil jedoch Träger einer balancierten Translokation ist, besteht ein deutlich erhöhtes Wiederholungsrisiko. Es beträgt z. B. bei der häufigen Form, der 14/21 Translokation, theoretisch 25% (Murken 1990, 16 f.), aber die empirische Wahrscheinlichkeit liegt deutlich niedriger. Bei mütterlicher Trägerin wird das tatsächliche Risiko mit 13% und bei väterlichem Träger mit 4% angegeben (Schwinger 1992, 33).
Mosaikstrukturen als Ursache des Down-Syndroms sind mit ca. 3% sehr selten. Wenn die Fehlverteilung erst bei den späteren Zellteilungen nach der Befruchtung aufgetreten ist, kann von einem nicht erhöhten Wiederholungsrisiko ausgegangen werden, während bei einer ursprünglichen Trisomie 21, wo erst im Verlauf der ersten Zellteilungen die Mosaikform entstand, ein vergleichbares Risiko wie bei der freien Trisomie 21 angenommen werden muss.
Die mit den verschiedenen Formen des Down-Syndroms gegebenen unterschiedlichen genetischen Bedingungen machen die Notwendigkeit einer differenzierten, individuellen Beratung deutlich (Leitlinien 2016, 17).
Die Vorsorgeuntersuchungen der schwangeren Frau haben das Ziel, gesundheitliche Probleme oder Risiken der werdenden Mutter oder des sich entwickelnden Kindes möglichst frühzeitig zu erkennen und ggf. zu behandeln. Dazu gehören auch routinemäßig drei Ultraschalluntersuchungen. Neben diesen Standardverfahren werden spezielle Maßnahmen angeboten, um mögliche Beeinträchtigungen beim ungeborenen Kind zu erfassen (Spezialultraschall, Serumscreening, Bluttest). Das führt zu einem immer üblicher werdenden Einsatz solcher Untersuchungen, selbst wenn es keine begründete Annahme für ein bestimmtes Risiko gibt. Der neu angebotene Praena-Test wird diese Entwicklung wahrscheinlich verstärken und damit langfristig die riskanteren invasiven Verfahren (Amniozentese) ersetzen.
Es ist wichtig, dass alle speziellen Untersuchungen nicht als Routine, sondern als ein offenes Angebot an Schwangere gesehen werden, die eine Abklärung aufgrund ihrer individuellen Situation wünschen. Die am häufigsten genannten Gründe für das Inanspruchnehmen von pränatalen Untersuchungen mit Bezug zum Down-Syndrom sind
• ein erhöhtes Alter der Mutter,
• die Eltern haben bereits ein Kind mit Down-Syndrom,
• bei einem Elternteil liegt ein Translokationsbefund vor,
• in der Familie eines Elternteils ist ein Betroffener,
• es bestehen diffuse Ängste vor der möglichen Geburt eines behinderten Kindes.
Fast immer bedeutet die pränatale Diagnose einer Trisomie des Kindes für die Eltern, eine schwierige und belastende Entscheidung zu treffen für das Leben mit einem behinderten Kind oder für den Schwangerschaftsabbruch (auf der Grundlage des § 218a).
Auch empfinden Eltern von Kindern mit Down-Syndrom den häufig undifferenzierten Umgang mit Angeboten zur Pränataldiagnostik oftmals als diskriminierend und sie befürchten problematische Auswirkungen auf die Bewertung von Geburt und Leben ihrer behinderten Kinder.
Der vermehrte Einsatz von pränatalen Untersuchungsverfahren vermittelt oft den Eindruck, dass durch solche Kontrollen während der Schwangerschaft die Geburt eines gesunden Kindes garantiert würde. Das ist jedoch nicht möglich. Auch können die meisten Beeinträchtigungen nicht vorgeburtlich erkannt werden und zudem entstehen viele Beeinträchtigungen erst peri- oder postnatal.
Es ist deshalb ein weit verbreitetes Missverständnis, wenn davon ausgegangen wird, dass Kinder mit Down-Syndrom heute vermeidbar seien. Diese falsche Annahme kann zu einer problematischen Schuldzuweisung hinsichtlich der Selbstverantwortung der Eltern für ihr behindertes Kind führen und ist deshalb nachdrücklich zurückzuweisen.
Meistens ist die pränatale Entwicklung von Kindern mit Down-Syndrom unauffällig. Nur manchmal ergeben sich aufgrund von abweichenden Organbefunden Hinweise, dass sich möglicherweise ein Kind mit Down-Syndrom entwickelt. Ohne eine weitere Abklärung mit anderen Diagnostikverfahren kann jedoch keine sichere Aussage getroffen werden.
Abweichende Befunde, ein erhöhtes mütterliches Alter (über 35 Jahre) oder die bereits erfolgte Geburt eines Kindes mit Down-Syndrom veranlassen Eltern, zur Abklärung eines möglichen Wiederholungsrisikos spezielle Verfahren der pränatalen Diagnostik in Anspruch zu nehmen. Wichtig ist dann eine ausführliche genetische Beratung, die den Eltern genügend Zeit gibt, die erhaltenen Informationen zu verarbeiten und die Risiken und den möglichen Konflikt nach Ermittlung der diagnostischen Ergebnisse zu bedenken (Leitlinien 2016, 17). Die individuelle und einfühlsame Unterstützung für eine eigenständige Entscheidungsfindung sollte unbedingt gewährleistet sein, damit nicht durch Inhalt und Form der Beratung die elterliche Entscheidungsfreiheit direkt oder indirekt beeinflusst wird. Auch die im sozialen Umfeld oft empfundene deutliche Erwartungshaltung bezüglich der Inanspruchnahme von pränataler Diagnostik kann für die Eltern eine Einschränkung ihrer Entscheidungsfreiheit bedeuten. Deshalb ist wichtig, weder durch moralisierende Einflussnahme pränatale Diagnostik zu verurteilen noch ihre Inanspruchnahme mit Nachdruck zu erwarten. »Wir müssen alle als Gesellschaft dafür sorgen, dass einerseits eine elterliche Entscheidung für die Geburt eines Kindes mit Down-Syndrom nicht als unzumutbare Belastung empfunden wird, und dass andererseits eine elterliche Entscheidung gegen die Geburt eines Kindes mit Down-Syndrom nicht als unzumutbarer Egoismus bewertet wird. Beide Sichtweisen wären einseitig« (Stengel-Rutkowski 1990, 44). Daraus ergibt sich hinsichtlich einer ethisch verantwortlichen elterlichen Entscheidungsfindung die Notwendigkeit für eine Beratung, die weder professionell noch moralisch dominiert sein darf. Anzustreben ist, dass »auf der Basis einer persönlich positiven Einstellung zu Menschen mit Behinderungen, eine angemessene und sachgerechte Antwort auf elterliche Fragen und Befürchtungen möglich wird, so dass Eltern kompetent für eine eigenverantwortliche Entscheidung werden« (Wilken, U. 1992, 189).
Verbesserte diagnostische Möglichkeiten und eine erhöhte Akzeptanz für den Einsatz entsprechender Verfahren haben dazu geführt, dass zunehmend mehr Eltern aufgrund von vorgeburtlicher Diagnostik erfahren, ein Kind mit Down-Syndrom zu bekommen.
Oftmals ergab ein Triple-Test einen auffälligen Wert, der dann aber noch durch eine ergänzende Amniozentese abgeklärt werden musste. Auch aufgrund eines Herzfehlers, der besonders häufig bei Kindern mit Down- Syndrom vorkommt und im Ultraschall feststellbar war, konnte in einzelnen Fällen eine Trisomie vermutet werden. In ähnlicher Weise wurde manchmal auch nach Feststellung einer typische Magen-Darm-Anomalie und daraufhin durchgeführter Amniozentese das Down-Syndrom erkannt. Auch ist es möglich, bei einer speziellen Ultraschalluntersuchung in der 11.–14. Schwangerschaftswoche ein Nackenödem festzustellen, dessen tatsächliche Bedeutung allerdings durch ein invasives Diagnoseverfahren noch bestätigt werden muss. Der relativ neu entwickelte Praena-Test, der kein Risiko mehr für das ungeborene Kind darstellt, wird voraussichtlich die Inanspruchnahme vorgeburtlicher Diagnostik deutlich verstärken.
Ausgesprochen problematisch wird besonders von den Müttern erlebt, dass Beratung und Begleitung bei einer Entscheidungsfindung nach der Diagnose eines sich entwickelnden Kindes mit Down-Syndrom nicht oder völlig unzureichend angeboten wird.
Langfristig werden sich die erweiterten Diagnosemöglichkeiten auf die Zahl der Geburten von Kindern mit Down-Syndrom auswirken. So zeigen die Daten einer großen Untersuchung in der Deutsch-Schweiz (Binkert, Mutter, Schinzel 1999, 19), dass von insgesamt 1118 Fällen von Down-Syndrom 396 pränatal und 722 postnatal erkannt wurden. Dabei stieg der Anteil der pränatalen Erfassung mit ansteigendem Alter der Mutter. Zudem wurden in den letzten Jahren durch Ultraschall- und Serum-Screening-Methoden bereits bei den 25–29-Jährigen ein Viertel und bei den 30–34-Jährigen ein Drittel der Fälle pränatal nachgewiesen. Nach einem solchen pränatalem Befund wurden die Schwangerschaften in 5,5% der Fälle ausgetragen (ebd.).
Es ist abzusehen, dass durch die angebotenen verschiedenen Diagnoseverfahren es insgesamt zu einer Verringerung der Anzahl von Menschen mit Down-Syndrom kommen wird. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass lebensbedrohliche Erkrankungen, wie die verschiedenen Herzfehler, heute besser behandelt werden können, und auch die Lebenserwartung ist durch bessere medizinische Versorgung deutlich gestiegen. Daten, die im Rahmen einer größeren Befragung erhoben wurden (Wilken 2000), zeigen, dass der Anteil der Schüler mit Down-Syndrom in Förderschulen bzw. mit dem entsprechenden Förderschwerpunkt von über 20% noch vor 30 Jahren auf etwa 11% gesunken ist, mit weiter fallender Tendenz (vgl. Wilken 2017, 22).
Während bei den meisten Kindern mit einer Behinderung sich erst im Laufe der Entwicklung herausstellt, dass eine Funktionsbeeinträchtigung oder eine Abweichung in einem oder mehreren Entwicklungsbereichen vorliegt, erfolgt die Feststellung Down-Syndrom meist unmittelbar nach der Geburt oder wenige Stunden bzw. Tage danach.
Der Schock, die Verzweiflung und die Fassungslosigkeit von Eltern, denen mitgeteilt wurde, dass ihr neugeborenes Kind das Down-Syndrom hat, kennzeichnet fast alle Elternberichte.
Dem mit Freude erwarteten Kind werden plötzlich alle Vorzüge genommen. Es sieht anders aus, syndromspezifische Merkmale werden oft wenig einfühlsam wie Negativlisten aufgezählt, häufig liegen noch spezielle gesundheitliche Probleme vor. Die Erstinformation wird von vielen Eltern noch immer als problematisch und wenig verständnisvoll erlebt, obwohl zunehmend auch positive Erfahrungen berichtet werden.
Bedenkt man die nachhaltige Wirkung gerade dieser ersten Gespräche über das Down-Syndrom des Kindes, wird die Notwendigkeit angemessener und hilfreicher Informationen deutlich. Als wichtig wird erachtet, dass
• die Eltern die Mitteilung über die Behinderung möglichst gemeinsam erfahren,
• nach Möglichkeit das Kind anwesend sein sollte,
• bei der Beschreibung auf stigmatisierende Begriffe verzichtet werden sollte,
• weder überzogen positive noch unnötige negative Perspektiven aufgezeigt werden,
• nicht alle Aspekte auf einmal angesprochen werden müssen.
So widersprüchlich, ablehnend und verzweifelt die Gefühle der Eltern anfangs auch sein mögen, es ist wichtig, ihnen deutlich zu machen, dass sie diese Reaktionen mit vielen anderen Eltern teilen, die sich mit der gleichen Situation auseinandersetzen mussten. Und es ist wichtig zu vermitteln, dass die meisten Eltern die anfänglichen Schwierigkeiten bewältigen lernen und zunehmend in der Lage sind, auch positive Aspekte wahrzunehmen. Immer wieder wird betont, wie durch die Kinder gelernt werden konnte, »die Welt mit anderen Augen zu sehen«, und wie dadurch Liebe, Freundlichkeit und individuelle Leistung neu erfahren und bewertet wurde.
So zeigen viele Elternberichte, wie es ihnen allmählich gelang, das Leben mit dem Kind zunehmend positiv zu gestalten: »Jeder kleine Entwicklungsschritt war mühsam, aber deshalb haben wir auch gelernt, uns zu freuen über noch so kleine Veränderungen.« »Unsere Tochter ist ein Schelm. Mit ihrer Fröhlichkeit kann sie alle anstecken.« »Das Leben mit unserem Sohn ist anders als wir es uns einmal erhofft haben. Aber es ist unser Leben und es ist auch schön« (Fürnschuß-Hofer, 2007).
Besondere Erfahrungen, wichtige Freundschaften und andere Perspektiven erschließen Erkenntnisse und vermögen den Lebenssinn neu zu beantworten, so dass trotz aller Erschwernisse das Leben mit dem behinderten Kind nicht nur als Aufgabe, sondern auch als Bereicherung erlebt wird. Eine pauschalierende Feststellung von dauerhaftem Leid durch die Geburt eines behinderten Kindes ist somit nicht gerechtfertigt. Nach anfänglichen, oft schwierigen Verarbeitungsprozessen gelingt den meisten Familien die Anpassung an ihre besondere Lebenssituation. Auch Geschwisterkinder haben in der Regel wenig Probleme im Umgang mit ihrem behinderten Bruder oder ihrer Schwester, wenn von ihnen nicht unnötig viel Rücksichtnahme und Verantwortung verlangt werden (Wilken 2017, 34 ff.).
Allerdings sind erfolgreiche Bewältigungsprozesse abhängig von entsprechenden Bedingungen. Sie beziehen sich auf individuelle und familiäre Faktoren, aber auch auf soziale, gesellschaftliche und materielle Ressourcen. Deshalb sollten Familien nicht in eine Sonderrolle geraten, sondern eingebunden bleiben in normale verwandtschaftliche, nachbarschaftliche und freundschaftliche Bezüge, die ihnen Solidarität und Verständnis im Lebensalltag bieten. Als eine besondere Hilfe bei der Neuorientierung haben sich Elternselbsthilfegruppen und spezielle Elternseminare bewährt. Durch Gespräche über eigene Erfahrungen, Informationen zu aktuellen Fragen, Diskussionen über das Angebot unterschiedlicher Therapien und Hilfen erleben die Eltern, dass sie mit ihren Problemen nicht alleine sind, und es wird möglich, ihr Selbsthilfepotenzial zu stärken (ebd., 33).
Das überzählige Chromosom 21, das zum Down-Syndrom führt, wirkt sich von Beginn an auf die embryonale Entwicklung aus und verursacht auffällige und gravierende Veränderungen und ein typisches Aussehen. Dabei ist es vor allem der untere Abschnitt auf dem langen Arm des 21. Chromosoms, der für die typischen Besonderheiten im äußeren Erscheinungsbild verantwortlich ist. Bereits 1887 schrieb Langdon Down, »daß es schwierig zu glauben ist, daß sie nicht Geschwister sind, wenn die Mitglieder dieses Typs nebeneinander gestellt werden. Tatsächlich ist ihre Ähnlichkeit untereinander unendlich größer als mit Mitgliedern ihrer eigenen Familie« (1996, 144). Wie Langdon Down betonen auch andere Autoren die große Ähnlichkeit aller Kinder mit Down-Syndrom. So schreibt z. B. König (1959, 23): »Das mongoloide Kind ist zunächst mongoloide und dann erst eine individuelle Persönlichkeit, … man begegnet zunächst dem Gruppenwesen und dann erst der Individualität.« Auch in neuerer Literatur wird noch oft die große Ähnlichkeit von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Down-Syndrom überbetont und behauptet, sie sehen »anderen Menschen mit der gleichen genetischen Veränderung ähnlich wie Geschwistern und unterscheiden sich von ihren leiblichen Geschwistern und Familienangehörigen … zum Teil erheblich« (Stengel-Rutkowski 1990, 31). Problematisch an solchen Beschreibungen ist, dass dadurch die typischen äußeren Merkmale als dominant und bestimmend gesehen werden.