Zum Schutz der Personen wurden Namen, Biographien und Orte zum Teil verändert und Handlungen, Ereignisse und Situationen an manchen Stellen abgewandelt.

Das Buch

Der Erzähler in Ist das Liebe, oder kann das weg? ist eigentlich zutiefst romantisch – denn Singles sind die wahren Romantiker dieser Welt. Er ist unermüdlich auf der Suche nach der Liebe. In langen Clubnächten, auf den Straßen der Großstadt, im Alltag. Er beleuchtet die Beziehungen von Freunden, schreibt über skurrile Dates, seltsame Bekanntschaften und manische Exfreundinnen. Ein Buch über Missverständnisse, große Gefühle, großes Kino und große Egos. Und darüber, wie viele Sexpartner zu viele sind.

© Vivian Saleh

Der Autor

Michael Nast, 1975 in Berlin geboren, begann nach der Schule eine Buchhändlerlehre, gründete zwei Plattenlabels und arbeitete für verschiedene Werbeagenturen. Er hat für das Magazin der Berliner Zeitung geschrieben und veröffentlicht jede Woche eine neue Kolumne auf seiner Homepage.

www.michaelnast.com

Michael Nast

Ist das Liebe,
oder kann das weg?

Vom sonderbaren Verhalten
geschlechtsreifer Großstädter

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-0820-3

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2014
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Titelabbildung: © getty images, Maydaymayday (Banane)

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E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Mein Film

Vor einigen Jahren hat mir ein unglücklich verliebter Mann erzählt, dass er sich wie die Figur in einem Kinofilm vorkommt. Der Mann hieß Christian, und wir hatten uns auf dem Geburtstag eines befreundeten Architekten kennengelernt. Wir sprachen lange über Filme, dann wechselte Christian abrupt das Thema. Er begann, von der Frau zu sprechen, in die er verliebt war.

»Immer noch«, sagte er, denn sie hatten sich schon vor zwei Jahren getrennt. Und obwohl sie inzwischen seit einem halben Jahr mit einem anderen Mann zusammen lebte, sprach Christian von ihr, als würde sie ihn zu Hause erwarten, wenn er nachher aufbrach. Christian brauchte dringend einen Zuhörer, und ich hörte ihm zu, während ich betreten auf meine Schuhe blickte und an den richtigen Stellen nickte.

Irgendwann erwähnte Christian dann den Kinofilm. Er erzählte, dass er sich fühlte wie eine Figur in einer kleinen Nebenrolle in einem bereits abgedrehten Film, die nie begriffen hat, dass sie nicht die Hauptrolle spielt. Er sagte, diese Figur beginnt nun langsam zu verstehen, dass die große Geschichte bereits erzählt worden ist. Dass es irgendwo ein Happy End gegeben hat.

Das war der Moment, in dem ich aufblickte.

Das war natürlich ein tragisches, auf den zweiten Blick aber auch ein sehr schönes Bild. Vielleicht gefiel es mir auch deshalb, weil es ein Bild ist, das mir sehr nah ist. Meine Sicht auf die Welt wird häufig von Filmen bestimmt. Es ist nicht schwer, das Leben als eine Art universelle Filmproduktion zu begreifen. Vielleicht ist das die eigentliche Klammer, die die Geschichten in diesem Buch zusammenhält. Dieser Blick. Vielleicht hilft er mir, die Welt ein bisschen besser zu verstehen.

Wenn ein guter Film entstehen soll, funktioniert das nur durch das Zusammenspiel aller Beteiligten. Man braucht Requisiteure, Maskenbildner und Cutter, man braucht Regisseure, Schauspieler, das richtige Licht und die passende Musik. Jeder hat seine Rolle. Würde eine wegfallen, funktioniert das gesamte System nicht mehr richtig. Das lässt sich auf vieles anwenden, auf Politik, das Berufs- oder Privatleben. Allerdings fällt einem dann doch auf, dass viele Rollen falsch besetzt sind. Ich bin immer auf der Suche nach Momenten, in denen alles zusammenpasst. Nach der richtigen Mischung, dem perfekten Augenblick. Wie im Film. Mit den richtigen Darstellern, der passenden Kulisse, und einem Soundtrack, der im Hintergrund läuft.

Wie die Idee einer Traumfrau sind natürlich auch Filme eine Illusion, eine Idealvorstellung, der man nicht gerecht werden kann. Es gibt immer eine Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit.

Wenn man die Komponenten eines Films auf das Leben anwendet, ist Berlin die Kulisse dieser Texte. Viele Orte in dieser Stadt erinnern mich ans Kino. Das ist nicht metaphorisch gemeint. Im Café Schoenbrunn, einem Biergarten im Volkspark Friedrichshain, sind etwa die Stühle wie in einem Kinosaal angeordnet. Alle sehen in dieselbe Richtung. Die Promenade vor dem Café ist die Leinwand. Ähnlich funktionieren auch die angesagten Bars in der Berliner Mitte, in denen sich alle Köpfe hektisch zur Eingangstür drehen, sobald jemand den Raum betritt. In der Bar Mein Haus am See am Rosentaler Platz zieht sich über die hintere Wand des hohen Raums eine Tribüne, auf der die Zuschauer sitzen. Der hohe Raum ist die Bühne, auf der die Darsteller ihre Rollen spielen.

»Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.« Das hat Friedrich Schiller einmal geschrieben, und so wie es aussieht, hat er nicht ganz unrecht. Ich habe viele Menschen kennengelernt, die sich selbst zu spielen scheinen, Darsteller ihres Lebens, die versuchen, eine Version von sich zu spielen, die sie für interessant und aufregend halten. Leider gelingt ihnen meist nur eine unnatürliche, affektierte Version, wie bei schlechten Soapdarstellern. Ihre Rollen sind nicht mit Leben gefüllt.

Wenn ich neuen Menschen begegne, frage ich mich manchmal, welchem Filmgenre ihr Leben zuzuordnen ist. Was da wohl am besten passt? Ob es eine große, erzählenswerte Geschichte gibt, oder nur eine Vorabendserie? Hangover oder Rosamunde Pilcher? Skandinavischer Arthouse-Stoff oder Hollywood Blockbuster?

Man geht ja meist ins Kino, um für einige Stunden den Alltag hinter sich zu lassen. Wenn man das Kino nach einem guten Film verlässt, möchte man eigentlich gar nicht reden. Leute, die nach einem Kinobesuch erst einmal den Film analysieren und auswerten, stören einfach nur. Man will die Stimmung einfach noch ein bisschen halten. Den Moment hinauszögern, bis man wieder im Alltag ankommt. Man fühlt sich den Figuren des Films nahe, man übersetzt ihre Geschichten ins eigene Leben.

Filme erzählen oft Geschichten, in denen man sich wohler fühlt als im wirklichen Leben. Die Rollen sind verteilt, die Guten sind deutlich von den Bösen zu unterscheiden, alles ist klar. Und meistens enden sie mit einem Happy End, nach dem wir uns alle so sehr sehnen. Ich frage mich oft, wie es nach dem Abspann weitergeht. Wenn der Alltag beginnt.

Im Drehbuch des eigenen Lebens ist man natürlich selbst die wichtigste Figur, aber im Leben der anderen meist nur eine Nebenfigur, ein Statist, oft auch nur ein Zuschauer. Es werden Millionen Geschichten parallel erzählt. Viele Drehbücher, die miteinander verwoben sind, wie in einem großen, allumfassenden Episodenfilm. Sie berühren sich immer mal wieder, die Rollen werden aus der Perspektive jedes Erzählers anders verteilt. Schwierig bleibt, zu erkennen, wie wichtig die eigene Rolle in der jeweiligen Geschichte ist. Da kann es schon mal zu Fehleinschätzungen kommen. Sie sind der Anfang aller Missverständnisse. Ich habe meine Rolle noch nicht gefunden.

Der Schlag des dritten Gongs ist verhallt, der Saal wird abgedunkelt, und der Vorhang öffnet sich langsam. Lehnen Sie sich zurück, entspannen Sie sich, machen Sie es sich bequem.

Die Vorführung beginnt.

Vom Suchen und Finden der Liebe

Es gibt diese Fehler, aus denen ich nicht lerne. Fehler, die ich trotz umfangreicher Erfahrungswerte immer wieder mache. Einer dieser Fehler ist beispielsweise die Annahme, dass es nicht unwahrscheinlich ist, im Nachtleben die Frau meines Lebens zu finden. Es ist eine naive Annahme, ich weiß. Natürlich finde ich sie nicht. Perfekte Frauen haben andere Dinge zu tun, als sich um sechs Uhr morgens in irgendwelchen Bars oder Clubs aufzuhalten und den nächsten Gin Tonic zu bestellen. Bessere Dinge. Und – um mich an dieser Stelle auch mal selbstkritisch zu hinterfragen – perfekten Männern geht es da sicherlich ähnlich.

Ich kenne einen Mann in meinem Alter, der mir, als ich ihm mein Problem schilderte, in einem langen Gespräch erläuterte, dass man der perfekten Frau ausschließlich in Alltagssituationen begegnet. In der Straßenbahn, in Kaufhäusern oder in der Schlange beim Bäcker. Ich nickte zustimmend. Seine Ausführungen klangen schlüssig. So schlüssig, dass ich seit unserem Gespräch in alltäglichen Situationen darauf achte, ob meine potentielle große Liebe darin vorkommt.

Und was soll ich sagen, der Mann hatte recht.

Neulich stand vor mir in der Schlange beim Bio-Markt eine Frau, die in mein Bild einer perfekten Frau passte, und auch als ich kürzlich auf dem Weg zu einer Freundin war, entdeckte ich eine dieser perfekten Frauen in der vollbesetzten Straßenbahn. Ich war beeindruckt. Es gab sie, die Chancen waren da. Ich musste sie nur ergreifen. Leider, muss man wohl sagen, denn ich werde sie wohl nie nutzen. Ich bin einfach zu schüchtern, um in Alltagsmomenten spontan Frauen anzusprechen. Ich bin irgendwie nicht der Typ, der in der vollbesetzten Straßenbahn zu einer schönen Frau geht, um mit ihr auf natürliche Art ins Gespräch zu kommen, während uns die anderen Fahrgäste beobachten, als wären sie Rentner, die anderen beim Einparken zusehen. Ein Publikum, das auf einen Unfall hofft. Das erhöht den Druck schon sehr.

Ich glaube nicht, dass ich fähig bin, über meinen Schatten zu springen. Da stehe ich mir selbst im Weg. Aber es gibt ja noch andere Möglichkeiten. Letzten Sommer hat mir jemand erzählt, es gelte als statistisch erwiesen, dass die meisten Beziehungen am Arbeitsplatz entstehen. Das wäre ein Ansatz. Leider arbeiten in meiner Firma keine weiblichen Angestellten, und ich bin so durch und durch heterosexuell, dass ein Flirt mit meinen männlichen Kollegen keine Option ist.

Also bleiben mir nur die Nächte. Vorerst zumindest.

In den Nächten schlägt ja auch der Alkohol eine Brücke. Saufen verbindet. Das kann natürlich auch hin und wieder zu Fehleinschätzungen führen. Nach dem dritten Wodka Red Bull entdeckt man im Gespräch mit einer Unbekannten schon mal Verbindungen, vielleicht sogar auf mehreren Ebenen – emotional, intellektuell und womöglich sogar spirituell.

Am vorigen Samstagabend fragte mich eine Frau namens Judith: »Bist du glücklich?«

Bist du glücklich? Ein Satz, der vieles impliziert, vor allem, wenn er um vier Uhr morgens in einer Bar fällt, in der sich unzählige betrunkene und viel zu laute Menschen aneinanderdrängen. In einem Umfeld, in dem normalerweise so existentielle Themen erörtert werden wie die Frage, ob man zum Wodka Red Bull oder Bitter Lemon bevorzugt, kann man in einen solchen Satz vieles hineininterpretieren: Anteilnahme, Interesse, Menschenkenntnis, Einfühlungsvermögen und natürlich eine gewisse Tiefe der vorangegangenen Unterhaltung.

Tja.

Leider erzählt dieser Satz nicht die ganze Geschichte. Ich war mit meinem guten Freund Frederick im Trust. Das Trust ist eine Bar in Berlin-Mitte, die wir hin und wieder besuchen. Eine Bar, in der ausschließlich hochprozentige Spirituosen angeboten werden. Dort bestellt man kein Glas Gin Tonic, man bestellt eine Halbliter-Karaffe Gin. Tonic, Gläser und Eis werden dazu serviert. Man mischt seine Drinks selbst, das ist das Konzept. Ein Konzept, das Konsequenzen haben kann, wenn man bereits drei Gläser getrunken hat.

Vielleicht lag es unter anderem daran, dass ich gegen vier Uhr morgens eine Frau entdeckte, die mir gefiel. Als sich unsere Blicke trafen, lachte sie ein offenes und herzliches Lachen. Bevor ich das erwidern konnte, fiel mir der Mann auf, der neben ihr stand und herausfordernd in meine Richtung starrte. Ich lächelte müde und drehte mich kopfschüttelnd weg. Offen gestanden verstehe ich manche Frauen nicht. Warum gehen sie mit ihrem Freund in solche Bars? Man geht ja auch nicht mit einer Flasche Wein ins Restaurant. Den bestellt man dort.

Ich blickte mich nach Frederick um und entdeckte ihn im hinteren Teil der Bar, wo er sich angeregt mit zwei auffallend vollbusigen Frauen unterhielt. Es wirkte, als würden sie die Weltlage diskutieren, was in einer Bar wie dem Trust gewissermaßen ein Paradoxon darstellt. Ich gab ihm mit der Hand ein Zeichen und begann mich durch die Menge zu drängen. Plötzlich spürte ich eine Hand an meinem Arm und wandte mich um. Es war die Frau, die mich gerade so herzlich angelacht hatte.

»Hi«, sagte sie.

»Hi«, erwiderte ich.

»Bist du glücklich?«

Judiths Frage traf mich mit voller Wucht. Sie überforderte mich. Ich habe ja schon gewisse Schwierigkeiten, die Begrüßungsworte »Wie geht’s« als Floskel zu begreifen. Oft setze ich – gewissermaßen im Affekt – zu einer umfangreichen Antwort an, bevor ich begreife, dass es einfacher ist, jetzt einfach »gut«, »ausgezeichnet« oder »phantastisch« zu sagen. Ich begreife das recht schnell, aber anfangs gibt es immer diesen kleinen naiven Moment. Jemand mit solchen Affekten ist einem »Bist du glücklich?« natürlich schutzlos ausgeliefert. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob es nicht vielleicht eine Form der Ironie war, die ich nicht verstand. Das konnte sie nicht ernst meinen. Ich suchte nach einem Augenzwinkern, das alles aufgelöst hätte, aber Judith sah mich nur abwartend an.

Sie meinte es ernst.

Nun ja. War ich glücklich? Mit einem »gut«, »ausgezeichnet« oder »phantastisch« kam ich hier leider nicht weiter. Also sagte ich zögernd: »Na ja. Ich geb mir Mühe.«

Das schien die richtige Antwort zu sein, denn zwanzig Minuten später wusste ich, dass sie Judith hieß und Wein und Kaffee mochte, dass sie und ihr Ego »Freunde geworden« waren, dass sie »zu viel« Psychologie heute las und ihre Vergangenheit nach Phasen sortierte. Wenn ich es richtig verstand, hatte es eine Gothic-Phase gegeben, eine Hip-Hop-Phase und auch eine Bulimie-Phase, die irgendwie nicht so richtig in diese Aufzählung passte. Ich war mir nicht sicher, in welcher Phase Judith sich inzwischen befand. Ich wusste nur, dass es die Phase war, in der ich vorkam.

Tja – da hatte ich wohl mal wieder so richtig viel Glück gehabt.

Judith sprach sehr viel. Ich schien eine geeignete Projektionsfläche zu sein. Aber offenbar empfand sie jeden, der nicht viele Worte machte, als geeignete Projektionsfläche. Ich hatte in den letzten zwanzig Minuten nur einen zusammenhängenden Satz gesagt. Und es war nur ein kurzer Satz.

Ich sagte: »Ich bewundere deine Offenheit.«

Manchmal stellte Judith zwar Fragen, aber die liefen ins Leere, denn ich hatte mich noch nie ernsthaft mit den Auswirkungen meines Sternzeichens auf meine Persönlichkeit auseinandergesetzt. Ich wusste auch nicht, was mein Aszendent war. Genau genommen weiß ich nicht einmal, was ein Aszendent überhaupt ist. Ich überlegte kurz, sie danach zu fragen, entschied mich jedoch dagegen. Sonst würden wir die nächste Stunde nur noch über Astrologie reden, die viele Frauen ja – soweit ich das beurteilen kann – als eine Art Psychologie light verstehen. Ich lese keine Horoskope. Mir fehlt der Bezug zu Horoskopen. Genauso wie zu Judith. Aber das konnte ich ihr natürlich nicht sagen. Noch nicht. Ich wartete auf eine Pause in ihrem Redefluss, um mich schnell von ihr zu verabschieden. Ich hatte Glück. In genau diesem Moment unterbrach Judith ihren Redefluss, um einen Schluck von ihrem Gin Tonic zu trinken. Ich legte meine Hand auf ihren Arm und nutzte meine Chance.

»Ich will jetzt mal ganz offen sein«, sagte ich behutsam. »Ich würd heute gern mit dir zusammen einschlafen.«

Judith sah mich an. Einen Moment lang dachte ich ein wenig irritiert darüber nach, warum genau ich meinen Verabschiedungsvorsatz in den letzten Zehntelsekunden verworfen hatte. Es lag wohl am Alkohol.

»Das würd ich auch gerne«, sagte sie und überlegte kurz, bevor sie hinzufügte: »Damit du weißt, worauf du dich einlässt.«

Sie gab mir ihr Glas und streckte mir die Innenseiten ihrer Unterarme entgegen. Wir standen in dem Raum, der sich hinter dem DJ-Pult befand. Hier war es ziemlich dunkel. Es fiel mir schwer, überhaupt etwas zu erkennen. Als ich dann die Narben sah, hatte ich eine ungefähre Vorstellung davon, worauf ich mich da einlassen würde. Aber eigentlich hatte ja schon Judiths einleitende Frage ihr verhaltenspsychologisches Profil vorweggenommen.

Ich sah Judith in die Augen, nickte ein beruhigendes »Darüber-würde-ich-wirklich-gern-mit-dir-reden«-Lächeln und spürte verzweifelt, dass mir Eddie Murphy gerade sehr nah war. Eddie Murphy spielt in der Achtziger-Jahre-Komödie Der Prinz aus Zamunda einen afrikanischen Prinzen, der nach New York reist, um die Liebe seines Lebens zu finden. Er hat nur einen Monat Zeit. Die ersten sieben Tage verbringt er in den Bars und Clubs der Stadt. Er lernt dort viele Frauen kennen, und nach dieser Woche stellt er desillusioniert fest: »Offenbar haben alle Frauen in New York ein ernsthaftes psychisches Problem.«

Im Film dauern Murphys Bar-Erfahrungen ungefähr drei Minuten. Ich hob meinen Blick von Judiths Armen und hatte plötzlich das beunruhigende Gefühl, dass diese drei Minuten aus einer amerikanischen Komödie der achtziger Jahre mein Leben beschrieben.

Ich hatte einen Fehler gemacht. Ich warf noch einmal einen Blick auf die langen Narben, die sich über Judiths Unterarme zogen, und spürte, dass das hier gerade ein Schlüsselmoment war.

Ein Moment, der alles ändern konnte.

Ich blickte auf den Drink in meiner Hand und begriff, dass auch ich mich offenbar in einer Phase befand. Einer Phase, die ich noch nicht definiert hatte und die von Frauen wie Judith repräsentiert wurde. Ich könnte sie meine naive Phase nennen, dachte ich.

Ich blickte zu Judith, und mir fiel auf, dass sie mich an Franziska erinnerte, die ich vor einigen Monaten kennengelernt hatte, obwohl sie sich gar nicht so ähnlich sahen. Franziska war ebenfalls eine Repräsentantin meiner naiven Phase. Und auch die Begegnung mit ihr hatte mit einem Lächeln begonnen. Ich war mir nicht sicher, aber vielleicht zeichnete sich da ein Muster ab. Franziska lächelte mir im Weekend so vertraut und herzlich zu, dass ich zuerst dachte, sie meinte jemand anderen hinter mir. Aber sie meinte mich. Sie hatte schöne Augen, aber leider keinen Geschmack, was ihren Kleidungsstil betraf. Sie berlinerte auch sehr stark. Eigentlich zu stark.

»Ick komm eijentlich aus Brandenburg«, sagte sie. »Also ursprünglich.«

Na so was. Hört man gar nicht, dachte ich und versicherte mich in ihrem Blick, dass ich es wirklich nur gedacht hatte. Franziska bestätigte gerade mein Urteil über ihren Kleidungsstil. Sie erzählte, sie sei kürzlich mit einer Freundin am Kurfürstendamm verabredet gewesen, die sich etwas verspätete. Während Franziska wartete, hielt plötzlich ein Polizeiwagen am Straßenrand. Der Polizist auf dem Beifahrersitz gab ihr mit der Hand ein Zeichen und erklärte ihr, dass Prostitution am Kurfürstendamm nicht erlaubt sei. Franziska erzählte mir die Begebenheit entrüstet, aber ihre Entrüstung wirkte auch ein wenig gespielt. Ich glaube, dass sie ein bisschen stolz darauf war.

Ich blickte auf mein Handy, um zu sehen, wie spät es war. Es war vier Uhr früh, ich hatte drei Anrufe in Abwesenheit und eine SMS. Die SMS war von Sascha, mit dem ich an diesem Abend ins Weekend gekommen war. »Bin dann mal weg – fahr jetzt in die Arena zu dieser Fuck me now and love me later-Party«, las ich. »Mit einer Neunzehnjährigen, die eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau macht.« Dahinter hatte Sascha in Klammern geschrieben: »Kasse bei Rewe!«

Fuck me now and love me later? Kasse bei Rewe? Einen Moment lang war ich irritiert, obwohl es eigentlich schon passte, wenn ich darüber nachdachte. Denn Fuck me now and love me later ist eine Partyreihe, deren Titel Saschas Leben ganz gut zusammenfasste. Und auch mein Abend schien sich in diese Richtung zu bewegen, denn als ich das Handy wieder in die Innentasche meines Jacketts gleiten ließ, sagte Franziska, dass sie gerne meinen Schwanz lutschen würde. Einfach so, ganz unverbindlich. Sie hätte einfach Lust dazu.

»Ich mach das doch so gerne«, sagte sie.

Dieser ja etwas ungewöhnliche Vorschlag hätte mich wohl überrascht, wenn ich nicht schon zu betrunken gewesen wäre, um überrascht zu sein. Vielleicht hatte sie ihr Erlebnis am Kurfürstendamm inspiriert. Franziska beugte sich zu mir und küsste mich, erst sanft, dann drängte ihre Zunge in meinen Mund.

»Wollen wir gehen?«, fragte sie zehn Minuten später. Ich zögerte, bevor ich zustimmend nickte, denn irgendetwas in mir ahnte, dass das hier alles gerade in eine falsche Richtung lief. Aber ich hatte schon zu viel Wodka Red Bull getrunken, um Konsequenzen aus dieser Erkenntnis zu ziehen. Als ich auf der Straße ein Taxi heranwinkte, schmiegte sich Franziska an mich.

»Fahren wir zu dir?«, fragte sie.

»Nein«, sagte ich schnell. »Zu dir.«

Franziskas Wohnung gefiel mir, es gab hohe Decken, geräumige Zimmer und Flügeltüren. In der Küche drängte sie sich an mich, um mich zu küssen. Dann kniete sie sich hin und öffnete hastig meine Hose. Sie hatte recht, sie war ziemlich gut. Im Bett war sie dann nicht so gut, und ich hatte bald genug, was auch daran lag, dass Franziska sehr laut war. Ich konnte mich nicht fallen lassen. Und dass sie ständig »Ich liebe dich« rief, machte es nicht unbedingt besser. Ich kam mir wie eine Figur aus einem drittklassigen, unglücklich synchronisierten Pornofilm vor, und obwohl es natürlich albern war, sah ich mich vorsichtshalber nach möglichem Video-Equipment um.

Wir schnellten auseinander, als es an der Tür klingelte.

»Scheiße«, sagte ich atemlos. »Wer ist denn das?«

»Keine Ahnung.«

»Mach doch einfach nicht auf. Wie spät ist es eigentlich? Wer klingelt denn um diese Uhrzeit?«

Sie strich mir behutsam über den Kopf, erhob sich, zog sich schnell an und verließ das Zimmer. Ich lauschte ihren Schritten, hörte, wie die Wohnungstür geöffnet wurde und dann ein undeutliches Gespräch, das erst aufgeregt klang und dann ruhiger wurde. Die gedämpften Stimmen hatten eine beruhigende Wirkung. Fast wäre ich eingenickt. Dann fiel die Tür ins Schloss, und Franziska betrat lächelnd das Zimmer.

»Und? Wer war’s?«, fragte ich.

»Nur ein Nachbar«, erwiderte Franziska mit einem erleichterten Lachen. »Ich war beim Sex wohl ein bisschen zu laut. Er dachte, du verprügelst mich.«

Oh!

Franziska schien das wirklich lustig zu finden. Sie legte sich wieder ins Bett und schmiegte sich an mich. Ich starrte ausdruckslos zur Zimmerdecke.

»Schöne Wohnung«, sagte ich hilflos. »Wie groß ist die eigentlich?«

»Keine Ahnung«, antwortete sie. »120, 140 Quadratmeter?«

»Wohnst du hier allein?«, fragte ich, weil die Wohnung nicht nach einer WG aussah.

»Ach, das ist gar nicht meine Wohnung.«

»Ach?«, erkundigte ich mich vorsichtig. »Wer wohnt denn hier?«

»Die Eltern meines Freundes«, sagte sie. »Die sind verreist, und ich pass über die Woche auf die Wohnung auf.«

Ich richtete mich auf.

Dann fragte ich: »Wie lange seid ihr denn zusammen?« Die Frage war vollkommen sinnlos.

»Seit sechs Jahren«, sagte sie.

Seit sechs Jahren! So gesehen, hatten wir gerade im Schlafzimmer ihrer Schwiegereltern miteinander geschlafen. Moralisch verwerflicher ging es nicht. Ich muss hier raus, dachte ich. Ich musste ganz schnell hier raus. Und ich musste unbedingt duschen, wenn ich zu Hause war.

Die Situation erinnerte mich an ein Erlebnis, das mir in der zwölften Klasse ein Mitschüler erzählt hatte. Als seine Eltern einmal verreist waren, hatte er auf einer Party ein Mädchen kennengelernt und mit nach Hause genommen. Als sie im Schlafzimmer seiner Eltern standen, schlug sie ihm vor, sich beim Sex – gewissermaßen als Rollenspiel – mit deren Vornamen anzusprechen. Seine Eltern heißen Dieter und Ingeborg. Ich sah meinen Mitschüler hilflos an, als er seine Geschichte beendet hatte. Dieter und Ingeborg? Diese Information löste ein sehr unangenehmes, schwer zu beschreibendes Gefühl in mir aus. Ein Gefühl, das mich jetzt wieder beschlich, während mich Franziska sanft streichelte.

Ich sagte schnell, dass ich am Nachmittag mit meinen Eltern verabredet sei und jetzt losmüsse. Unbedingt. Franziska nickte und kuschelte sich wieder ins Ehebett der Eltern ihres Freundes. Als ich mich angezogen hatte, brachte sie mich noch zur Wohnungstür. Als sie mich zum Abschied küssen wollte, wich ich ihr ungeschickt aus.

Im Trust sah ich Judith an und war mit einem Mal wieder nüchtern. Ich fragte mich, was ich hier eigentlich machte. Ich ging in irgendwelche Clubs – in diese Parallelwelt, die nicht viele Grundlagen für tiefer gehende Beziehungen bot, wie man sie sich eigentlich wünscht – und sprach mit Frauen, die mich nicht interessierten. Vor einiger Zeit erklärte mir ein Kollege, er habe herausgefunden, warum er im Nachtleben Frauen kennenlerne, die ihn nicht wirklich interessieren. Sie seien ein Mittel zum Zweck. Mit ihnen zu schlafen sei gewissermaßen eine Form der Selbst-Therapie – um die Frauen zu vergessen, in die er einmal unglücklich verliebt war. Selbstbewusstseinsficks. Mein Kollege sprach mit mir, als würden wir diesen Ansatz teilen, und obwohl ich daran zweifle, sah ich mich noch einmal unauffällig im Trust um. Nein, hier hatte ich nichts mehr zu erwarten. Nicht einmal einen Selbstbewusstseinsfick. Ich würde jetzt gehen. Es war der richtige Zeitpunkt. Ich sagte Judith, dass ich im Spätverkauf auf der anderen Straßenseite Zigaretten holen müsste, so wie es Männer in Filmen sagen, um dann nie zurückzukehren.

»Aber du beeilst dich, ja?«, fragte sie.

»Na klar«, sagte ich mit einem Lächeln. »Ist ja nur auf der anderen Straßenseite.«

Als ich das Trust verließ, hatte ich das Gefühl, dass mir etwas weglief, zerrann. Das Single-Leben ist in Berlin sehr komfortabel. Es gibt viele Möglichkeiten, Frauen kennenzulernen. Die meisten schätzen schnellen Sex, sind aber sehr wählerisch, wenn es um den Partner für eine Beziehung geht. Auch ich selbst ertappte mich schon bei zweiten oder dritten Dates bei dem Gedanken, dass es da draußen sicherlich noch eine Frau gab, die besser zu mir passte. Traten erste Probleme auf, fiel mir ein, dass die Stadt voller Singles war, und ich orientierte mich neu. Ich ging den einfachen Weg.

Vielleicht entdeckte ich immer wieder diese Kleinigkeiten und Fehler an Frauen, die mir zu nah kamen, um keine Gefühle zuzulassen, um nicht verletzbar zu sein. Ich musste meine naive Phase hinter mir lassen, die inzwischen gar nicht mehr so naiv wirkte. Eher feige. Ich spürte, dass es Zeit war, mich wieder auf jemanden einzulassen. Mich wieder zu verlieben. Mir fiel ein Gespräch mit Frederick ein. Wir hatten festgestellt, dass wir aus irgendeinem Grund für dieses Jahr sehr optimistisch waren, der Frau zu begegnen, in die wir uns verlieben würden. Jetzt spürte ich, dass ich wirklich dazu bereit war.

Ich dachte an Eddie Murphy, der der Liebe seines Lebens in Der Prinz aus Zamunda dann doch noch begegnet. Er trifft sie in einem Fastfood-Restaurant. Fastfood-Restaurants gab es ja auch in Berlin, am Alexanderplatz sogar McDonald’s und Burger King.

Ach, Eddie, dachte ich.

Als ich die Straße hinunterging, um ein Taxi heranzuwinken, fiel mir wieder ein, dass man perfekten Frauen nur in Alltagssituationen begegnete. Ich ließ den Arm sinken und ging langsam die Straße zum Rosa-Luxemburg-Platz hinunter.

Ich würde die Straßenbahn nehmen. Die nächste Haltestelle war ja nicht weit.

Die Regeln des Spiels

Gelegentlich werde ich von unglücklich verliebten Frauen in meinem Freundeskreis gebeten, ihnen die Männer zu erklären. Als Mann muss ich ja schließlich wissen, warum sie sich beispielsweise ganz unerwartet nicht mehr melden, obwohl doch bisher alles so gut gelaufen ist. Oder warum sie sich dann ganz überraschend doch wieder melden, wenn meine Freundinnen eigentlich gerade glücklich waren, diese widersprüchliche Beziehung im Großen und Ganzen für sich abgeschlossen zu haben. Diese Fragen beschäftigen mich seit drei Monaten ganz besonders.

Dank Alexandra.

Es begann ganz harmlos mit einem unerwarteten Anruf. Ich freute mich wirklich, mal wieder Alexandras Stimme zu hören, wir hatten uns schließlich ein knappes Jahr nicht gesprochen. Allerdings stellte ich schnell fest, was der eigentliche Grund für unser Gespräch war.

Es ging um einen Mann. Sie trafen sich seit einiger Zeit, und eigentlich lief alles sehr gut, wie sie sagte. Aber dann begann es ruhig zu werden. Er meldete sich seltener. Und wie so viele Frischverliebte wurde sie panisch. Inzwischen meldete sich eigentlich nur noch Alexandra. Unglücklicherweise jeden Tag.

»Ich hab ihm heute Morgen um elf eine WhatsApp-Nachricht geschickt«, sagte sie. »Und er hat sie auch gelesen. Aber er hat immer noch nicht reagiert.«

Ich sah auf die Uhr. Das war jetzt vier Stunden her.

»Vielleicht hat er ja im Job gerade viel zu tun«, sagte ich.

Das beruhigte sie. Zumindest vorerst.

Am nächsten Tag rief Alexandra erneut an, und am darauffolgenden ebenfalls. Sagen wir es so, wir telefonierten jetzt öfter. Sie rief mich an, wenn er ihr eine SMS geschrieben hatte. Ich sollte ihr erklären, was sie bedeutete, und ihr dann auch gleich die Antwort diktieren. Irgendwie war das aus dem Ruder gelaufen.

Die folgenden Wochen waren sehr anstrengend. Alexandra verzweifelte an dem Mann. Wir verzweifelten an ihm. Ich war ja durch unsere täglichen Telefonate eingebunden.

Erschwerend kam hinzu, dass ich ihn nicht einmal persönlich kannte. Ich kannte nur das Bild, was Alexandra von ihm zeichnete. Und das war natürlich ein verzerrtes Bild.

Ich sagte ihr, dass Männer eigentlich ziemlich leicht zu begreifen sind. Weil die meisten sehr konfliktscheu sind, sollte eine Frau ihre Schlüsse weniger aus den Worten eines Mannes, als aus seinen Handlungen ziehen. Die seien aufschlussreicher als seine Ausreden. Aber auch gegen diese Wahrheit war Alexandra immun. Sie hielt meine Erklärungsversuche für vollkommen abwegig.

»So würde ein Mann doch nie denken«, sagte sie. Oder: »Das klingt alles viel zu konstruiert.«

Als wir aufgelegt hatten, wusste ich, dass sie sofort die Nummer einer Freundin wählen würde. Mein Rat hatte sich schon jetzt wirkungslos in Luft aufgelöst.

Ich weiß nicht, wie viel Zeit die beiden miteinander verbracht haben, aber es stand sicher in keinem Verhältnis dazu, wie viel Zeit ich mit Gesprächen über diesen Mann verschwendet habe. Es wäre auch interessant, zu erfahren, wie er reagieren würde, wenn er erfahren sollte, in welcher Breite sein Verhalten von Alexandra thematisiert wurde. Wahrscheinlich würde er flüchten. Vielleicht wäre das eine gute Therapie für unglücklich Verliebte, sich vorzustellen, wie das eigene Verhalten auf die oder den Angebetete(n) wirken würde.

Am Samstag habe ich mich mal wieder mit Alexandra getroffen. Und diesmal – ja, diesmal – nahm unser Treffen eine neue, völlig unerwartete Wendung.

Wir waren im Balzac am Bahnhof Schönhauser Allee verabredet. Ich verspätete mich einige Minuten, und als ich mit dem betroffensten Gesichtsausdruck, der mir zur Verfügung steht, das Café betrat, sah ich Alexandra ganz einsam im hinteren Teil des hohen Raums sitzen.

»Da bist du ja«, sagte sie vorwurfsvoll, als ich an den Tisch trat.

Ich hoffte, mein Hundeblick würde sie besänftigen, als wir plötzlich von einer Stimme unterbrochen wurden, die meinen Namen rief. Ich wandte mich um. An einem der Nebentische saß Diana, eine entfernte Bekannte.

»Diana«, sagte ich.

Sie erhob sich, und wir umarmten uns, obwohl wir uns eigentlich gar nicht so gut kennen.

Auch so ein Spiel, dachte ich.

»Wir haben uns ja eine Weile nicht gesehen«, sagte Diana.

»Stimmt«, erwiderte ich.

»Darf ich mich zu euch setzen?«, fragte sie.

»Klar«, sagte ich nach einem Seitenblick zu Alexandra.

Als Diana sich setzte, sagte ich: »Ich hol mir mal schnell einen Kaffee.«

Im Weggehen hörte ich Diana noch behutsam fragen, ob bei Alexandra alles in Ordnung sei. Vom Tresen aus sah ich Diana sehr eindringlich auf Alexandra einreden.

Als ich wieder an den Tisch trat, seufzte Alexandra: »Es ist so schwer, den passenden Mann zu finden.«

»Gerade in Berlin«, bestätigte Diana. »Die Stadt ist ja voller Psychopathen.«

»Du sagst es«, sagte Alexandra dankbar. »Ich lerne hier wirklich immer nur sehr labile Männer kennen.«

Die beiden sahen mich erwartungsvoll an. Mir war nicht ganz klar, was sie jetzt von mir hören wollten. Offenbar etwas Zustimmendes. Wahrscheinlich hatten sie vergessen, dass ich ein Mann bin. Ich machte eine Geste, die alles bedeuten konnte, und das schien zu reichen. Die Frauen wandten sich wieder einander zu. Als ich mich zurücklehnte und meine Hände an der heißen Tasse wärmte, war ich praktisch nicht mehr da, so vertieft waren sie in ihr Gespräch. Ich war ein unsichtbarer Beobachter. Das wünscht man sich als Mann. Einmal die andere Seite sehen. Etwas Besseres kann einem nicht passieren.

Nun ja, abwarten.

Diana wusste natürlich, wo Alexandras Problem lag. Alexandra war das Problem. Sie verhielt sich falsch.

Wenn man spürt, dass die eigenen Gefühle stärker sind als die des anderen, muss man seine Begeisterung zügeln, erklärte sie. Man muss cool bleiben. Das ist die Herausforderung. Denn das gelingt einem ja vor allem bei Menschen, die einem nicht so wichtig sind.

»Es darf nicht zu einfach sein«, sagte sie. »Männer wollen um Frauen kämpfen. Sogar diese verweichlichten Männer von heute.« Sie machte eine Geste, die den Raum umfasste. »Sogar die wollen erobern, die wollen ihren Gefühlen Gewicht geben. Eine Bedeutung. So funktionieren die.«

»Oder?«, Diana nickte mir zu. »Du bist doch ein Mann, du kannst das ermessen.«

»Vielleicht müsste ich erst noch mal ein wenig darüber nachdenken«, sagte ich vorsichtig. Es klang schließlich irgendwie, als würde sie über Feinde reden, und ich war mir nicht sicher, ob das der richtige Ansatz war, um mit jemandem zusammenzukommen. Aber Diana war schon weiter.

»Sobald du Interesse spürst, musst du dich rar machen«, sagte sie. »Sofort. Du musst nein sagen können. Wenn er dich am Mittwoch anruft, um sich für Samstag mit dir zu verabreden, musst du unbedingt absagen. Du bist schon verabredet. Das ist ganz wichtig. Das sagt ihm, dass du ein eigenes Leben hast. Und – auch sehr wichtig – wenn ihr telefoniert, musst du das Gespräch beenden.«

Alexandra hing an ihren Lippen.

»Du darfst nicht anhänglich sein. Das ist ein ganz großer Fehler. Und natürlich sollen Frauen auch keine Männer ansprechen. Der Impuls muss vom Mann kommen. Du musst eine Herausforderung sein. Was man schon hat, kann man nicht mehr erobern. Ganz einfache Gleichung.«

Es klang, als würde sie gerade erklären, wie man einen Hund dressiert.

»Und bei Dates lässt du ihn reden. Am besten, du erzählst kaum etwas von dir. Am besten gar nichts. Du musst ein Geheimnis bleiben. Nicht greifbar und unberechenbar. Du musst ihn hinhalten. Das reizt ihn. Der muss dich so sehr begehren, dass er fast wahnsinnig wird. Das ist das Ziel. Wenn man sich an diese Regeln hält, kann man mit einem Mann alles machen. Er wird dich auf Händen tragen. Er wird dir ausgeliefert sein. Er wird dir hörig sein.«

Und dann sagte Diana etwas Erstaunliches. Sie betonte: »Aber, ganz wichtig, du darfst nicht mit ihm spielen.«

Oh, dachte ich, weil das, was sie hier beschrieb, sich ja schon ein wenig nach einem sehr strategischen Spiel anhörte. Irgendwie erinnerte mich Diana an eine Naturwissenschaftlerin, die chemische Reaktionen erklärt, die evolutionsbiologisch bedingt sind. Sie sprach über Dates wie über Versuchsanordnungen.

Alexandra saugte vorbehaltlos jedes Wort auf, das Diana von sich gab. Ich sah die beiden irritiert an und spürte, wie mir etwas übel wurde.

Dann sagte Alexandra: »Vielleicht solltest du ein Buch schreiben.«

»Nein, nein«, sagte Diana, obwohl man ihr ansah, dass es ein Gedanke war, der ihr gefiel.

O Gott!, dachte ich, und sah die beiden an. Liebe ist Mathematik, riefen Dianas Sätze. Als sie aufbrach, verabschiedeten sich die beiden wie zwei alte Freundinnen.

An nächsten Tag hat mich Alexandra angerufen und sich nach Dianas Telefonnummer erkundigt. Nachdem ich sie ihr diktiert hatte, sagte Alexandra gutgelaunt: »Also eins muss ich schon sagen. Das Gespräch mit Diana hat mir mehr gebracht als alle unsere Gespräche zusammen.«

Oh, dachte ich und spürte einen leichten Stich. Aber das Gefühl verflüchtigte sich schnell. Ich hatte den Ball abgegeben. Und Diana würde alles auf Gebrauchsanweisungsniveau liefern.

Heute Morgen rief mich Alexandra dann ganz euphorisch an. »Du glaubst es nicht«, rief sie. Sie hatte Dianas Regeln angewandt – und es funktionierte. Inzwischen meldete sich ihr Angebeteter sogar jeden Tag bei ihr.

»Es ist so einfach«, erklärte sie.

»Ist doch schön«, sagte ich.

Ich glaube, ich kann mich nicht von Herzen für sie freuen, weil mich etwas an Dianas Ansatz stört. Irgendetwas fühlt sich da falsch an, irgendwie ist das alles zu verbissen. Alexandra schwieg ungläubig, als ich das sagte. Dann erklärte sie entschlossen: »Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt.«

Ich murmelte etwas Zustimmendes, obwohl da zwischen all der Strategie und Taktik nicht mehr viel Liebe übrig zu sein schien. Sie hatte den Mann dressiert. Mehr war da nicht. Er war in diesem Moment genau dort, wo er hingehörte. Evolutionsbiologisch gesehen.

Ich spürte wieder dieses unangenehme Gefühl im Magen. Ich bin wohl doch ein Romantiker.