Tess Sharpe

River of Violence

Thriller

Aus dem amerikanischen Englisch
von Beate Schäfer

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Tess Sharpe

Tess Sharpe, Tochter einer Punkrock- Mutter, geboren in einer Berghütte, wuchs im ländlichen Norden Kaliforniens auf, der Gegend, in der auch ihr Roman spielt. Jetzt lebt sie irgendwo in der tiefsten Provinz mit einem Rudel Hunde und einer stetig wachsenden Kolonie an verwilderten Katzen. »River of Violence« ist ihr erstes belletristisches Buch.

 

Beate Schäfer studierte Germanistik, Geschichte und Amerikanistik. Sie arbeitete lange Zeit als Verlagslektorin. Inzwischen lebt sie als Übersetzerin, freie Lektorin und Schreibpädagogin in München.

Über das Buch

Harley ist acht, als sie ihrem Vater das erste Mal dabei zusieht, wie er einen Widersacher abknallt. Duke McKenna hat mehr Waffen geschmuggelt, mehr Meth gekocht, mehr Männer getötet als irgendwer anders in der Gegend. Nun – da sie erwachsen ist – arbeitet Harley für ihn, treibt Schulden ein und wird als seine Nachfolgerin gehandelt. Obwohl sie sein System, diesen ewigen Kreislauf aus Mord, Leid und Rache, hasst, ist sie nicht so viel anders als er.

Und als die Springfield-Familie, Dukes größte Konkurrenz im Drogengeschäft, immer mächtiger wird, muss Harley sich inmitten dieses blutigen Revierkampfes entscheiden: Für die Familie, ihren Vater, das System – oder für ihr Leben und ihre Freiheit.

Impressum

Deutsche Erstausgabe

2019 bold, ein Imprint der

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Copyright © 2018 by Tess Sharpe

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

›Barbed Wire Heart‹, 2018 erschienen bei Grand Central Publishing,

an imprint of Hachette Book Group Inc, New York

This translation published by arrangement with Grand Central Publishing,

New York, New York, USA. All rights reserved.

© der deutschsprachigen Ausgabe: 2019 bold, ein Imprint der

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur

Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Umschlaggestaltung: Focus + Echo/Ruth Reining

 

 

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eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-43575-8 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-79045-1

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.readbold.de

ISBN (epub) 9783423435758

 

 

 

FÜR MEINE MUTTER,
die mich in der roten Erde
Wurzeln schlagen ließ.

 

 

 

UND FÜR MEINEN MANN,
der entschieden hat,
hier weiter mit mir zu wachsen.

DER TRAILER IM WALD

Ich bin acht, als ich zum ersten Mal erlebe, wie mein Daddy einen Mann umbringt.

Ich soll es natürlich nicht sehen. Aber in den ersten Wochen nach Mommas Tod streune ich wild durch die Gegend, sobald mich Onkel Jake aus den Augen lässt.

Die meiste Zeit verbringe ich im Wald, spiele oben in den Hochsitzen oder probiere aus, wie weit ich auf Bäume hinaufklettern kann, wenn keiner mir hilft. Manchmal weine ich, weil Momma mir so fehlt, ich kann einfach nicht anders.

Aber wenn Daddy dabei ist, lasse ich es lieber.

Ich mag den Wald. Dort ist es still und laut zugleich. Die Waldgeräusche gehören zu meinem Leben – seit ich denken kann, haben sie mich in den Schlaf gewiegt. Wenn ich auf die großen Eichen klettere, mich mit aller Kraft hochziehe, nach starken Ästen greife und wie ein Eichhörnchen in den Baumkronen herumturne, muss ich verdammt gut aufpassen, damit ich nicht abrutsche. Dann vergesse ich, dass Momma tot ist. Und dass Daddy nur noch in einer Whiskey-Wolke durch die Gegend stürmt, seine Waffen putzt und über die Springfields flucht. Und dauernd sagt er, dass Blut fließen muss.

Momma ist vor dreieinhalb Wochen gestorben. Seitdem ist die Haut an meinen Handflächen ganz rau geworden vom vielen Klettern. Meine Knie sind voller Schorf, nachdem ich unten beim kleinen Fluss aus dem Redwoodbaum gefallen bin. Brombeeren haben meine Finger blau verfärbt und Dornen meine

Ich verstaue diese Waldgeschenke in einem Hochsitz. Onkel Jake will mich zu Mommas Grab mitnehmen, das hat er mir versprochen, obwohl Daddy gleich wieder böse geguckt hat. Ich will ihr unbedingt meine Schätze bringen, Onkel Jake hat nämlich gesagt, sie ist jetzt im Himmel und schaut uns von oben zu.

Manchmal betrachte ich den Himmel und versuche mir das vorzustellen. Und sie zu sehen.

Aber da oben sind bloß Äste und Sterne.

Daddy merkt gar nicht, wie viel ich weg bin. Er hat anderes im Sinn.

An dem Abend, um den es geht, habe ich lange in die untergehende Sonne geschaut und im Nachthimmel nach Spuren von Momma gesucht. Ich hocke immer noch oben in der Eiche am Rand unseres Gartens – die mit dem langen, starken Ast, auf dem man so gut sitzen kann. Es ist schon spät und ich sollte reingehen, aber da höre ich, wie sich die Reifen eines Pick-ups in den Schotter der unbefestigten Straße graben, die durch den Wald zu unserem Haus führt. Schnell ziehe ich die Füße hoch ins Dunkle, bevor Daddys Chevy um die Kurve kommt und die Scheinwerfer den Garten in helles Licht tauchen.

Ich presse die Fußsohlen gegen den Baumstamm, rutsche auf dem Bauch den Ast entlang nach vorne und recke den Kopf, damit ich besser sehen kann.

Kann gut sein, dass er wieder mal betrunken ist. Dann soll er mich besser nicht zu Gesicht kriegen. Ich sehe ihr nämlich so ähnlich und das macht ihn traurig. Manchmal auch wütend, aber dann versucht er, mich das nicht merken zu lassen.

Aus der Entfernung beobachte ich, wie die Scheinwerfer ausgehen und er aus dem Wagen steigt. Immerhin hat er nicht so viel getrunken, dass er taumelt, aber vielleicht hat er seine Sachen trotzdem vollgekotzt, so wie letzte Woche, das kann ich von hier aus nicht erkennen. Ich will schon vom Baum klettern, da sehe ich, dass er nicht zum Haus geht, sondern rüber zur Beifahrertür, die er mit einem Ruck aufzieht.

Ich blinzele durch die Dunkelheit. Jetzt ist er im Schatten und kaum mehr zu sehen, aber er hievt irgendwas Großes aus dem Wagen. Als er das Scheunentor öffnet, tritt er für einen Moment lang ins Licht. Ein Schein fällt auf die Schwelle und kurz kann ich Männerfüße sehen, die über den Scheunenboden gezerrt werden. Dann knallt das Tor zu.

Mein Atem geht schnell und hart, drückt meinen Bauch gegen die raue Rinde. Meine Finger krallen sich um den Ast, mein Herz hämmert, alles dreht sich. Ich wünsche mir eine Höhlung im Stamm der Eiche, will mich verstecken wie ein Specht oder ein Eichhörnchen.

Ich versuche mir einzureden, ich hätte mich getäuscht.

Aber tief drinnen weiß ich es besser.

Ein paar Minuten später – es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, mein Atem und das Grillengezirpe hallen mir in den Ohren – geht das Licht vor dem Scheunentor aus. Finsternis kriecht durch die Bäume, breitet sich überall aus.

Ich könnte jetzt runterklettern, in mein Zimmer rennen, die Tür zumachen, mir die Bettdecke über den Kopf ziehen und so tun, als hätte ich nie gesehen, wie diese Füße über den Boden geschleift sind.

Aber das tue ich nicht.

Es wäre leicht, im Nachhinein zu behaupten, dass diese Entscheidung ein Fehler war, aber das ist Unsinn.

Auf irgendeine Art musste ich es ja erfahren. Was er war. Und was ich werden würde.

Das hier ist eben meine Art gewesen.

Ich schleiche also zur Rückseite der Scheune, wo lauter Astlöcher in den Zedernholzbrettern sind. Man sieht kaum etwas durch diese Dinger, aber besser geht es nicht. Ich knie mich hin, sodass ich durch das größte Loch spähen kann, das ich finde. Mein Atem geht immer noch keuchend, das Herz pocht kaninchenschnell in meiner Brust und mein Mund ist trocken.

Zuerst sehe ich Daddy gar nicht. Da ist nur der alte Traktor, der seit Ewigkeiten hier rumsteht, und der Quad, den Daddy letztes Jahr geschrottet hat. An einem Balken hängt eine kahle Glühbirne. Ich beobachte, wie sie an ihrem orangen Kabel ein wenig hin und her schwingt, und auf einmal höre ich sie – seine Stimme.

»Du sagst mir jetzt, was ich wissen will«, fordert Daddy. Ich höre ihn rumkramen, anscheinend holt er etwas aus der Werkzeugkiste.

Nach ein paar Sekunden taucht er in meinem Blickfeld auf, einen Schraubenzieher in der Hand. Lange Schatten fallen über ihn, während er sich von meinem Versteck entfernt und den Schraubenzieher dabei immer wieder in der Hand dreht. Dann verschwindet er hinter dem Traktor, ich kann ihn nicht mehr sehen. Ein Stöhnen erfüllt die Luft.

Es kommt nicht von Daddy.

Sondern von dem Mann, den er hierhergebracht hat. Wer immer das ist, er stöhnt vor Schmerz.

Daddy tut ihm weh.

»Du sagst mir, was ich wissen will«, wiederholt Daddy. »Freiwillig oder auf die harte Tour. Deine Entscheidung, Ben.«

»Fick dich«, keucht die zweite Stimme – die von Ben.

»Spuck’s aus.«

»Scheiße, ich sag dir gar nichts.« Ein feuchtes Geräusch, irgendwas zwischen Husten und Würgen. Kommt da Spucke hoch oder eher Blut?

»Wie du willst«, sagt Daddy. Verschwommene Schatten strecken sich über den Traktor, ich sehe einen Arm vorschießen, schnell und entschieden. Und dann dieses Geräusch, ein heftiges Aufstöhnen mit zusammengebissenen Zähnen, so grässlich, dass sich mir die Nackenhaare aufstellen.

»Der bleibt drin, bis du ausspuckst, was ich wissen will«, sagt Daddy und ich begreife, dass er den Schraubenzieher meint.

Schwarze Punkte tanzen vor meinen Augen. Ich muss mich mit beiden Händen auf dem Boden abstützen. Wenn ich mich nicht zusammenreiße und ganz langsam atme, kippe ich garantiert um. Meine Augäpfel fühlen sich an, als würden sie gleich rausspringen, mein Gesicht ist fest an das raue Brett gepresst. Ich will wegrennen. Aber ich muss hierbleiben und mitkriegen, was passiert.

»Sag’s mir«, wiederholt Daddy.

»Nein.«

Daddy richtet sich auf, ich kann ihn jetzt direkt sehen. Er greift in seine Hosentasche und zieht das Messer mit dem Geweihgriff heraus, das er jeden Sonntag schärft. Lässt die Klinge herausspringen – zwanzig Zentimeter tödlicher Stahl, der im Scheunenlicht aufblitzt – und prüft sie am Daumennagel. »Dann versuchen wir’s eben anders.«

Der Laut, der aus Ben kommt, ist diesmal noch schlimmer, keine zusammengebissenen Zähne, kein Versuch, den Schrei zu unterdrücken.

Ich mache die Augen nicht zu, verstecke nicht mein Gesicht, tue nichts von dem, was ich tun sollte.

Im Gegenteil, ich reiße die Augen weit auf.

Ich habe das Gefühl, zum ersten Mal überhaupt so genau hinzusehen.

»Sag’s mir«, verlangt Daddy, als Bens Schrei zu einem Wimmern abebbt.

»Geht nicht«, keucht Ben. »Der macht mich kalt.«

»Ihr Springfields, ihr habt echt nicht viel Grips erwischt, was?«, spottet Daddy. »Was meinst du wohl, was ich mache, wenn du mir nicht sagst, wo er ist?«

»Bitte. Ich tue alles – Geld, Huren, Drogen, was immer du willst, Duke, ich …« Ein Aufbrüllen, aber ich kann nicht sehen, was Daddy ihm antut.

Ich presse die Lippen zusammen, um die aufsteigende Übelkeit wegzudrücken, und höre wieder Daddys Stimme: »Sag’s mir.« Er scheint nur noch diese beiden Wörter zu kennen.

»Angggghh«, lallt Ben und ringt um Luft. »Bitte. Bitte.«

»Sag’s mir.«

»Geht nicht. Carl ist mein Bruder.«

Bens linker Fuß zuckt, wie wenn er sich losreißen wollte. Ich sehe überhaupt nur seine Füße, der Rest ist hinter dem Traktor versteckt, und starre unentwegt seine Stiefel an. Daddy hat die gleichen. Momma hat sie ihm letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt. Ich hab ihr beim Einpacken geholfen.

»Sag mir, wo Springfield ist«, beharrt Daddy. »Oder ich schnapp mir Caroline. Was hältst du davon? Ist dir dein Bruder

Ich bin zu jung, um zu begreifen, was er damit meint. Später, als ich es dann begreife, bin ich entsetzt. Und rede mir ein, er hätte nur geblufft. Ich will nicht glauben, dass er zu dieser Sorte Mann gehört. Aber vielleicht tut er das doch, die Möglichkeit steht greifbar vor mir.

»Nein«, sagt Ben schwach. »Nicht Caroline. Bitte.«

»Dann sag’s mir«, fordert Daddy. »Wenn du’s tust, lass ich sie in Ruhe und deine Jungs auch. Sie sind in Sicherheit vor mir und meinen Leuten. Ich will bloß Springfield.«

»Scheiße, Scheiße … Carl ist in Manton. Exit 34 am alten Highway. Das Haus hinten am Hell’s Pass. Aber lass verdammt noch mal die Finger von meiner Familie, du Scheißkerl!«

Daddy hebt sich von den Knien und rückt jetzt wieder in mein Blickfeld. »Danke.«

Er bewegt sich blitzschnell, so vertraut ist ihm der Griff. Seine Hände – und die Waffe – scheinen zu verschwimmen.

So laut, so furchtbar laut – der Schuss rammt sich regelrecht in meine Ohren, und dann ist da ein irgendwie matschiges Geräusch, bei dem es mir den Magen umdreht.

Ich will mir den Mund zuhalten, aber dafür ist es zu spät. Ich übergebe mich, Kotze läuft über mein Shirt, spritzt auf meine Haut. Die Gallegeruch lässt mich noch mehr würgen, und als ich versuche aufzustehen, versagen mir die Beine.

Ich muss ins Haus, bevor er mitkriegt, was ich gesehen habe. Aber meine Beine sind wie aus Gummi, und als ich mir die verklebten Haare aus dem Gesicht schiebe, spüre ich getrocknetes Salz auf meinen Wangen.

Ich will meine Momma so sehr hier haben, dass es wehtut und immer weiter wehtun wird, und allein schon der Gedanke an sie macht mich tapsig und dumm. Als ich mich aufrichte,

Ich erstarre.

»Wer ist da?« Daddys Stimme dröhnt durch die Holzbretter. Seine Schritte bewegen sich rasch über den Boden, dann höre ich das Quietschen des Tors, als er es öffnet und nach draußen schaut.

Oh nein. Mein Magen verkrampft sich wieder. Am liebsten würde ich gleich weiterkotzen.

»Harley, wenn du das bist, hast du genau drei Sekunden, um Bescheid zu sagen. Sonst schieße ich. Eins …«, sagt Daddy.

Meine Gedanken rasen, fieberhaft versuche ich, alles zu begreifen.

Daddy hat ihn umgebracht. Und zwar so, als wäre das ganz leicht und hätte nichts weiter zu bedeuten.

Als täte er das nicht zum ersten Mal.

»Zwei.«

Was macht er mit der Leiche? Vergräbt er sie? Wo? Im Wald?

»Dr…«

»Ich bin’s!«, schreie ich. Mein Jeans sind verdreckt, mein Shirt ist feucht und voll Kotze. Meine Beine zittern, aber ich stürme trotzdem los, renne bis vor die Scheune.

Er steht am Eingang, Licht strömt heraus, mit einem Arm hält er das Tor immer noch offen.

Hinter ihm in der Scheune ist eine dunkle Blutlache, die schnell größer wird, und daneben das, was übrig ist von Bens Kopf. Sein Gesicht ist zur Seite gedreht, die Augen stehen weit offen, schauen mich an. Er wirkt durcheinander. Als hätte er gedacht, Daddy lässt ihn laufen.

Ich schlucke schwer.

Von Nahem ist es noch viel schlimmer.

Daddy betrachtet mich, die Neunmillimeter immer noch gezückt. Dann schaut er über seine Schulter auf Ben und die

Ich starre weiter auf das Blut. Auch wenn ich Daddy schon beim Ausweiden von Jagdwild geholfen habe, so viel Blut habe ich noch nie gesehen. Es ist dunkel und dickflüssig wie Farbe. Aber es riecht ganz anders, scharf wie Kupfer, wie Leben, das im Boden versickert.

»Harley-Girl«, sagt Daddy mit der gleichen sanften Stimme, mit der er mir vor dem Einschlafen Geschichten vorliest.

Gleich muss ich wieder brechen. Doch ich beiße die Zähne zusammen und schaffe es diesmal, die aufsteigende Gallensäure runterzuschlucken. Ein wilder Kampf in meiner Kehle, der mir den Schweiß ins Gesicht treibt. Ich schwanke, und dann sind da auf einmal Daddys Hände, sie packen mich um die Taille. Mein Körper wird schlaff, ich wehre mich nicht.

Ich habe zu viel Angst vor dem, was dieser neue – nein, dieser alte, aber bisher verborgene Daddy tun würde, wenn ich es versuche.

Er trägt mich zum Haus und die Treppe hoch, ohne ein Wort zu sagen. Er setzt mich auf mein Bett und zieht mir die Stiefel aus; ich zittere vor mich hin und lasse ihn machen. Er tauscht mein vollgekotztes Shirt gegen eins von den Schlafhemden, dann drückt er vorsichtig meine Schulter und ich sinke auf das Bett. Ich sehe Bens leere Augen vor mir und schrecke vor Daddys Berührung zurück, zum ersten Mal in meinem Leben, aber er merkt es nicht. Ich erwarte eigentlich, dass er gleich geht, nachdem er mich zugedeckt hat, aber stattdessen bleibt er lange neben meinem Bett sitzen.

Erst als er aufsteht – Stunden später, kommt mir vor –, habe ich den Mut, es auszusprechen. Daddys Umriss zeichnet sich gegen das Licht im Flur ab, er will die Tür gerade zumachen, da

Ich höre ihn seufzen, kann aber sein Gesicht nicht sehen, weil es im Schatten liegt. Er lehnt sich an den Türrahmen, drückt die Schulter dagegen. »Leben gegen Leben«, sagt er. »Anders geht’s nicht, Harley-Girl.«

Leben gegen Leben. Bens Leben gegen das von Momma.

»Du lässt Springfield also laufen?«, frage ich.

Daddy streicht sich durchs Haar. »Das kann ich nicht machen«, sagt er.

»Aber …«

»Er hat uns deine Momma genommen«, erinnert mich Daddy sanft.

Als ob ich das vergessen könnte.

»Aber du hast gesagt, du lässt seine Familie in Ruhe.«

Daddy richtet sich auf. Er wirkt riesig, wie ein Schatten. Sein Gesicht kann ich immer noch nicht sehen, aber was er sagt, höre ich nur zu gut. Drei Wörter, hart wie Schotter: »Das war gelogen.«

6. Juni, 7.00 Uhr

 

Jeden Morgen mache ich meine Runde. Ich nehme ein Gewehr mit, schließlich kann es jederzeit Probleme geben, mit Tieren oder mit Menschen. Alle paar Tage ändere ich die Route. Die kompletten zweihundertfünfzig Hektar kann ich sowieso nicht abdecken. Manchmal tue ich nichts weiter, als am nördlichen Zaun entlang zu patrouillieren, das Segeltuch klatscht mir dabei wie ein unablässiger Herzschlag gegen die Beine. Dukes Jacke ist viel zu groß für mich, aber ich trage sie trotzdem, die Ärmel dreimal umgeschlagen, um die Hände frei zu haben.

An diesem Morgen wandere ich tief in den Wald hinein, mit Busy an meiner Seite. Sie springt schwanzwedelnd vor mir her, ihre gedrungene Nase dicht am Waldboden, wo sie nach Spuren von Rotwild und Pumas sucht.

Ich gehe hinter ihr her, das Knacken von Zweigen und das Knistern der Kiefernnadeln unter meinen Stiefeln mischt sich mit dem heiseren Krächzen erwachender Elstern. Die Luft ist klar und frisch, das Gelände steigt steil an, mein Tritt ist fest und sicher. Jeder einzelne Schritt bringt mich näher, immer bergauf, und meine Sohlen graben sich in die rote Erde.

Was das Land angeht, die dichten Wälder und die Berge aus Vulkangestein, bin ich durch und durch Dukes Tochter. Ich kenne die Gegend so gut wie kein anderer außer Duke, weiß um ihre Gefahren und Geheimnisse. Manches von diesem Wissen

»He!«, rufe ich und schnippe mit den Fingern, wenn Busy zu weit wegläuft, woraufhin sie jedes Mal so abrupt haltmacht, dass sie kurz ins Rutschen gerät. Dann läuft sie den Abhang runter und kommt zurück zu mir. Ihre Augen leuchten im Licht des frühen Morgens, und wenn ich sie hinter den Ohren kraule, legt sie ihren kantigen Kopf genüsslich in den Nacken.

»Braves Mädchen«, sage ich. »Weiter.«

Oben angekommen sind meine Stiefel voller Staub und Busy hängt die Zunge aus dem Maul. Als die Steigung abflacht, rast sie begeistert einem Eichhörnchen hinterher und ich lasse ihr den Spaß.

Der Stamm der alten Eiche ist mächtig und hat starke Äste auf den unterschiedlichsten Höhen, was sie zu einem perfekten Kletterbaum macht. Aber ich bin nicht zum Klettern hier.

Ich nähere mich ihr langsam und bedächtig, so wie ich mich an einen Bock anpirschen würde, den ich erlegen will. Das mag albern sein, aber ich kann nicht anders.

Manche Dinge sind heilig.

Weit oben auf dem Stamm, schon vor über hundert Jahren eingeritzt, stehen Namen – verwachsen zwar, aber noch lesbar: Franklin + Mary Ellen. Joshua + Abigail. David + Sarah.

Ich fahre mit dem Finger an den Namen entlang nach unten. Es sind über dreißig: die großen Liebespaare des McKenna-Clans, von der Goldrausch-Ära bis heute.

Es gab eine Zeit, da habe auch ich davon geträumt, meinen Namen hier einzuritzen. Aber inzwischen bemühe ich mich, nicht mehr an Will zu denken. Wenn ich es doch tue, führt es mich nur auf Abwege und ich lande jedes Mal bei einem Wir, das es gar nicht gibt. Nicht mehr.

Ich muss mich auf andere Dinge konzentrieren.

Heute ist der Tag. Die Zeit läuft ab.

Ich presse die Handfläche auf Mommas Namen, schließe die Augen und drücke die Stirn gegen die raue Rinde. Ich atme den Harzgeruch ein, der von den nahen Kiefern herüberweht. Busy raschelt auf der Suche nach dem Eichhörnchen im Gebüsch.

Ich denke an Momma, an das, woran ich mich noch erinnern kann. Bunte Kleider und Cowboystiefel, klobiger Silberschmuck, mit Türkisen besetzt, und der schwache Duft von Lilien, der sie immer umgeben hat. Wie sehr sie den Wald geliebt hat und die kleinen Erinnerungsstücke, die sie so gerne aufgesammelt hat: ein krummer Zweig, wie ein Fragezeichen geformt, ein Büschel Moos auf einem herzförmigen Stein. Ihr Lächeln und wie sie ihre Arme um mich geschlungen und mich hochgehoben hat.

Früher habe ich mir manchmal ausgemalt, wie es wohl gewesen wäre, wenn sie weitergelebt hätte. Aber je älter ich werde, desto schwerer fällt mir das. Mein Leben ist mein Leben. Mein Schicksal steht fest seit dem Tag ihres Todes. Aber jetzt ist die Zeit gekommen, um zu handeln.

»Es tut mir leid«, sage ich zu den beiden Namen. Meine Entschuldigung gilt dem Versprechen, das sie einander gegeben haben. Und es gilt ihr, die für dieses Versprechen mit dem Leben bezahlt hat. Und ein bisschen gilt es auch Duke, weil der sie zu sehr geliebt hat, um sie loszulassen, und diese Unfähigkeit verstehe ich besser als vieles andere.

Die McKennas lieben stark und schnell. Und nur ein einziges Mal.

Ich räuspere mich und stehe auf, denn es bringt nichts, darüber Tränen zu vergießen.

Heute ist der Tag.

Anders geht’s nicht, Harley-Girl.

Ich bin acht, als meine Mutter vor meinen Augen stirbt.

Schon seit dem Frühstück ist sie angespannt. Wir haben unsere Pancakes noch nicht aufgegessen, da geht sie mit dem Telefon rüber ins Wohnzimmer. Allein gelassen mit dem Sirup, bringe ich es fertig, meinen Zopf reinzutunken.

Während ich versuche, das klebrige Zeug irgendwie loszuwerden, wird nebenan Mommas Stimme lauter: »Nein, Will, hör zu – ich komm gleich rüber. Keine Sorge. Vierzig Minuten. Okay? Ich bin bald da. Hab keine Angst, Liebling. Lass Carl nicht rein. Und pass auf, dass deine Mom die Tür nicht wieder aufschließt. Ich bin gleich da, versprochen.«

Meine Haare haben einen klebrigen Fleck auf meinem Pyjama hinterlassen, an dem ich herumreibe, als Momma zurückkommt.

»Harley«, seufzt sie und wischt meine Haarspitzen mit einem feuchten Küchentuch ab. »Zieh dich schnell an. Wir fahren in die Stadt.«

»Aber heute ist nicht Mittwoch.« Mittwochs fährt Onkel Jake mit uns zum Einkaufen in den Supermarkt und ich darf zwischen den beiden vorne auf der Sitzbank sitzen. Momma singt mit bei den Liedern, die im Radio laufen – Songs von Sängerinnen, in denen es um das harte Leben in den Kohlerevieren und um gebrochene Herzen geht, und Sängern, deren tiefe Stimmen mich an Daddy erinnern.

»Weiß ich doch, Schatz. Tu einfach, was ich sage.«

Sie stellt das Radio nicht an und macht alle Fenster zu, obwohl schon bald Sommer ist.

»Wohin fahren wir?«, frage ich, als sie beim Supermarkt nicht anhält.

»Eine Freundin besuchen.«

Sie biegt in eine Straße ein, die ich nicht kenne. Alles hier wirkt verdreckt, das Gras vor den Häusern ist fleckig und in den Einfahrten stehen verrostete Autos, aufgebockt und ohne Räder. Nach einer Weile gibt es nur noch ab und zu Häuser, mit viel Platz von einem zum nächsten, und die Straße ist bloß noch eine unbefestigte Piste. Trotzdem fährt Momma weiter, bis ganz zum Ende.

Sie hält nicht direkt vor dem runtergekommenen Farmhaus. Stattdessen wendet sie den Pick-up und parkt ihn auf der anderen Straßenseite. Dann beugt sie sich zu mir und öffnet das Handschuhfach. Ihre langen Haare fallen ihr über die Schulter und streifen meinen Arm. Sie sind seidig und riechen nach Blumen.

Ich reiße die Augen auf, als ich die halbautomatische Pistole in ihrer Hand sehe und beobachte, wie sie das Magazin einrasten lässt.

»Momma …«

Sie lächelt mich beruhigend an und streicht mir mit der freien Hand übers Haar. »Alles in Ordnung, Baby«, sagt sie. »Du musst was für mich tun, ja? Egal was passiert, du bleibst hier im Wagen. Gleich kommt ein netter Junge aus dem Haus, er heißt

Ich nicke unsicher. Obwohl sie lächelt, sieht sie irgendwie seltsam aus und ihre Augen glänzen feucht.

»Wiederhol das noch mal«, fordert sie behutsam.

Ich tue, was sie will, und muss mich anstrengen, damit meine Stimme nicht zittert.

Momma küsst mich auf die Stirn und sieht mich eine ganze Weile lang an. »Braves Mädchen«, sagt sie. »Ich hab dich lieb. Bin gleich wieder da.«

Ich sehe zu, wie sie mit energischen Schritten die Straße überquert, auf das Haus zugeht und darin verschwindet. Meine Finger krallen sich ins Armaturenbrett, das Kinn stütze ich zwischen die Hände. Ich rutsche so weit vor, bis meine Knie unter dem Handschuhfach klemmen, und meine Nase klebt fast an der Windschutzscheibe. Es ist stickig hier drin. Ich tippe gegen das Duftbäumchen, das am Rückspiegel hängt, und sehe zu, wie es sich dreht. Ich würde gern ein Fenster aufmachen, halte mich aber an das, was Momma mir aufgetragen hat.

Erst als sich vor dem Haus auf einmal etwas bewegt, schaue ich wieder hin. Ein Junge mit schwarzen Haaren stürmt heraus, seine knochigen Beine enden in dünnen Knöcheln und nackten Füßen. Er rast über den Hof auf mich zu. Staub steigt hinter ihm auf und ich ziehe am Griff und stoße die Tür auf, während er auf den Wagen zu rennt.

»Will?«

Keuchend nickt er. Ich strecke die Hand aus, und obwohl er sie nicht braucht, packt er sie und klettert hoch in die Fahrerkabine.

»Was ist hier los?«, frage ich ihn, als er die Tür zuzieht und mit der Handfläche auf die Verriegelung schlägt.

»Ist die andere auch richtig zu?«

»Hast du die Schlüssel?«

Ich halte ihm den Schlüsselbund hin, den mir Momma in die Hand gedrückt hat, bevor sie ausgestiegen ist.

»Gut«, sagt Will.

»Was ist hier los? Wo ist meine Momma?«

»Bei meiner Mutter«, antwortet Will. »Wir sollen warten, bis Carl weg ist.«

»Wer ist das?«

»Der Freund von meiner Mutter«, sagt Will, aber so, als hätte er etwas Widerliches im Mund. Sein rechtes Auge ist angeschwollen und über seinen linken Arm zieht sich eine Reihe von verschorften, kreisförmigen Wunden. »Mach dir keine Sorgen. Deine Mama schafft’s, dass er geht. Hat sie schon öfter gemacht. Wird alles gut.«

Nur einen Augenblick später passiert es.

Eine Art Tosen, entsetzlich laut und anders als alles, was ich jemals gehört habe, ein Splittern, ein Krachen, ein Brausen, alles auf einmal. Ich schreie auf und presse die Hände gegen meine Ohren. Und auf einmal ist das Haus weg. Da ist nur noch Feuer und schwarzer Rauch; Bruchstücke von Holz stieben in die Luft und prasseln wie ein Hagelsturm auf das Wagendach.

Wills Lippen bewegen sich, aber ich kann nicht hören, was er sagt. Er beugt sich zu mir, entreißt mir den Schlüssel und rammt ihn in die Zündung.

Auf einmal begreife ich. Einen Moment lang war alles wie eingefroren, jetzt rast es wieder. Feuer. Rauch. Holz, das auf die Motorhaube und das Dach des Chevys knallt – Teile vom Haus.

Momma!

Ich rufe nach ihr und schnappe den Türgriff, zerre daran, will die Tür aufreißen, aber sie ist abgeschlossen. Will packt meinen Arm, kämpft mit einer Hand gegen mich an. Er zerrt mich zu sich und startet gleichzeitig den Motor, streckt die Beine und

Wir schlingern von der Explosion weg, Trümmer rutschen von der Motorhaube, wir fahren zu schnell. Dann gibt es einen dumpfen Schlag und die Ladefläche des Pick-ups rutscht in einen Graben, auch die Fahrerkabine kippt ein Stück zur Seite und wir stehen still. Aber weit genug weg von dem Haus, um in Sicherheit zu sein. Will umklammert mich immer noch und jetzt halte auch ich ihn, genauso fest wie er mich. Gemeinsam starren wir durch die Heckscheibe.

Und sehen zu, wie alles verbrennt, was von unseren Müttern noch übrig ist.

6. Juni, 8.30 Uhr

 

Gleich nachdem Busy und ich von unserer Runde zurück sind, packe ich alles, was ich brauche, in meinen Pick-up und wir machen uns auf den Weg. Sie springt in die Fahrerkabine und wir holpern auf dem gewundenen Fahrweg zu den Eisentoren am Eingang des McKenna-Anwesens. Hinter uns stieben Staubwolken auf – der Boden ist um diese Jahreszeit so trocken, dass uns ein einziger Funken ruinieren kann. Busy streckt den Kopf aus dem Fenster und Hundesabber fliegt durch die Luft.

Nachdem ich unten am Eingang den Code ins Keypad getippt habe, gleiten die Eisentore auf. Ich suche im Radio nach einem Sender, bei dem die Musik deutlicher ist als das Rauschen, während Busy in den Wind bellt. Schließlich lande ich bei einem Song von Merle Haggard, dem Lokalmatador hier im Dirty Five Thirty. Der Song handelt von seiner Momma und wie die sich ins Zeug gelegt hat. Das nehme ich als ein gutes Omen.

Wir wohnen vierzig Meilen entfernt von der nächsten und zugleich größten Stadt in der Gegend. Vom Trinity County her treiben Rauchwolken herüber – die Waldbrände kommen näher. Aber wir hier im North County müssen sowieso immer durchs Feuer.

Unser Fleckchen Erde hätte sich eigentlich in Wildnis zurückverwandeln müssen, wie viele andere Orte aus der Zeit des

Busy und ich fahren den Berg runter und durch einen Wald, der so dicht und groß ist, dass er kein Ende zu nehmen scheint, vorbei an roten Sandsteinklippen und schroffen Schieferfelsen, die von Touristen mit Begeisterung als Kletterfelsen benutzt werden. Die Straße windet sich durch den Wald, mal steigt sie und mal fällt sie wieder ab, und ich lasse den Pick-up geschmeidig um die Kurven gleiten.

Als wir nach Salt Creek kommen, nehme ich die Abfahrt Richtung Vollmer’s Pass. Oben auf dem Hügel stehen das Gerichtsgebäude und ein kleines Krankenhaus, dazu die besseren Wohnhäuser des Ortes – die, die in Schuss gehalten werden. Aber ein kurzes Stück weiter die Straße entlang verschwinden die ordentlich gestutzten Hecken und die geschmackvollen Rosengärten, stattdessen gibt es nur noch Trailerparks und schäbige Motels, in denen schmutzige Kinder herumstromern und wo die Schwimmbecken alle zugeschüttet sind.

Ich muss heute Geld eintreiben. Wenn ich es ausfallen lasse, wirkt das verdächtig.

Für die meisten Leute hier, die ordentlichen jedenfalls, ist Duke schlicht ein Geschäftsmann, der viele Jahre lang zusammen mit seinem Schwager eine Spedition betrieben hat. Er besitzt eine Reihe von Motels, ein paar Bars und Diners, ein bisschen Land hier und da – man könnte ihn inzwischen fast für sauber halten.

Aber wer ein bisschen tiefer schaut bis in die Wälder hier in

Duke hat lange versucht, mich zumindest aus den Drogengeschäften rauszuhalten. Das geht auf Onkel Jake zurück – es war so ziemlich das Einzige, worauf die beiden sich jemals geeinigt haben. Als ich sechzehn wurde und meinen Schulabschluss in der Tasche hatte, hat mir Duke also nicht beigebracht, wie man Crystal Meth kocht oder dealt, sondern mir eine Liste von Namen in die Hand gedrückt – alles Leute, die ihm Geld schulden, und einmal im Monat müssen die Raten eingetrieben werden.

Die Liste ist ziemlich lang. Hauptsächlich sind Frauen mit kleinen Geschäften drauf, die bei der Bank keinen Kredit kriegen und deshalb zu Duke kommen. Eine Sechzehnjährige loszuschicken, die vielleicht nicht ernst genommen wird, war ein Risiko, aber der Name McKenna steht hier in der Gegend für unbeschränkte Macht und bis jetzt hatte ich nie Probleme.

Ich fange beim Eintreiben immer in der Talbot Bakery an. Sie liegt ganz hinten in einer von diesen schmuddeligen Ladenzeilen, die man in den Siebzigern angelegt hat, um das Wirtschaftsleben der Stadt anzukurbeln.

Busy lasse ich im Wagen, Mrs Talbot kann sie nicht leiden. Als ich die Glastür öffne, klingeln Glöckchen und der Geruch von frischem Brot und Schokolade umfängt mich. Das lässt mich an Kindertage denken, an die Zeit, als ich unserer Haushälterin Miss Lissa immer in der Küche geholfen habe.

Mrs Talbot ist dabei, Brownies in eine Vitrine zu räumen. Jetzt schaut sie auf.

»Hey, Harley«, sagt sie. Ihre Haare sind unter einem grünen Kopftuch verborgen, nur ein paar einzelne Locken sind entwischt und ringeln sich um ihr Gesicht. Unter den Augen hat sie dunkle Ringe. Das kommt wohl von den Sorgen, die man eben hat, wenn eins der Kinder bei der Armee ist und das

Duke hat es schlau angestellt, als er vor vielen Jahren diese Liste fürs Geldeintreiben zusammengestellt hat. Er hat Frauen ausgesucht, die Mütter sind. Frauen, die mich nicht hassen und keinen Ärger machen würden, sondern Mitgefühl hätten, weil sie ihre eigenen Kinder in mir sähen.

Dabei bin ich ganz anders. Meine Kindheit drehte sich nicht um Fahrräder und Schwimmpartys, sondern um Waffen, Vollmantelgeschosse und das verkrustete Blut anderer Männer unter Dukes Fingernägeln.

»Hi«, sage ich. »Wie geht’s Jason?«

»Gut. Vielleicht kriegt er Weihnachten frei.« Mrs Talbot legt den letzten Brownie in die Vitrine und schiebt die Glastür zu.

»Und Brooke?«, frage ich harmlos. Es hat Mrs Talbot noch nie gepasst, dass ich mit ihrer Tochter befreundet bin. Aber jetzt, wo wir erwachsen sind, kann sie nicht viel dagegen tun.

Wobei sie früher, als wir Teenager waren, auch nicht groß was dagegen ausrichten konnte.

»Sie hat jetzt einen Job in Burney.« Mrs Talbot geht zur Registrierkasse, tippt auf ein paar Tasten und öffnet sie. »Die zahlen ihr sogar das Benzin. Hier im Laden fehlt sie mir zwar, aber es ist eine gute Chance.« Sie holt einen Umschlag aus der Kasse und gibt ihn mir.

Ich nehme ihn, zähle das Geld aber nicht nach. Nach all den Jahren werde ich sie nicht beleidigen. Nachdenklich betrachte ich den Umschlag, spüre sein Gewicht in der Hand.

Wahrscheinlich hat sie die ganze Kasse leergeräumt, um ihn zu füllen.

Ich schiebe die Schuldgefühle beiseite. Das hier ist eben mein Job.

»Danke«, sage ich stattdessen. »Soll ich die Brotlieferung fürs Blackberry’s mitnehmen? Ich fahr da sowieso hin.«

»Alles okay, Harley?«, fragt sie. »Du kommst mir so blass vor.«

»Mir geht’s gut«, lüge ich, während ich den Umschlag in die Hosentasche schiebe. Am liebsten würde ich ihr das Geld wieder zurückgeben.

Ich wäre gern die Art von Mensch, die so etwas tut. Aber ich bin es nicht.

Ich schnappe mir die Tüten und wende mich zur Tür. »Wenn Sie keinen Ersatz für Brooke finden, könnte vielleicht eine Ruby einspringen«, sage ich über die Schulter. »Eine ist neu dort, sie heißt Sam, hat drei Kinder und ist wirklich sehr nett. In ein paar Wochen ist sie ihren Gips los. Melden Sie sich also, wenn Sie hier im Laden Hilfe brauchen.«

»Danke, Harley.« Mrs Talbots Lächeln ist derart unbestimmt, dass mir gleich klar ist, was sie von meinem Vorschlag hält – nicht sonderlich viel. Die Leute hüten sich, mir das ins Gesicht zu sagen, aber die meisten hier können sich mit den Frauen aus dem Ruby absolut nicht anfreunden. Das ist Schwachsinn und hat vielleicht sogar weniger mit den Rubys selbst zu tun, sondern mehr mit Mo, der Frau, die den Laden mit mir zusammen führt. Nichts pisst die weißen Frauen hier in der Gegend mehr an als eine Indianerin, die etwas zu sagen hat.

Mo nimmt ganz unterschiedliche Frauen im Ruby auf, was die anderen erst recht aufregt. In deren Augen gibt es nämlich bloß eine Sorte von Gewaltopfern, die Schutz verdienen – nämlich Frauen, die es in ihren Augen wert sind. Das Opfer soll also möglichst eine Weiße sein und darf im Leben nie einen Fehler gemacht haben, und der Kerl, der sie drangsaliert, muss das sein, was man sich unter einem wilden Tier vorstellt. Und um

Und genau da kommen Mo und das Ruby ins Spiel.

Mo ist da, egal was passiert. Sie kämpft für diese Frauen, bedingungslos.

Als ich das Brot in die Doppelkabine des Pick-ups lade, schnüffelt Busy neugierig, aber ich schnippe nur mit den Fingern, da legt sie sich wieder hin und schmollt.

»Ungezogenes Biest«, sage ich zu ihr, fahre vom Parkplatz der Bäckerei und biege nach links ab.

Das Blackberry Diner liegt in der South Street, auf der anderen Seite der Bahngleise. Hinter der Tür wachen Bären aus grobem Holz, auf jedem Tisch steht ein Glas Brombeermarmelade und dann ist da noch die lange Theke, an der die Stammgäste Hof halten – lauter Opas mit Veteranenkappen und Bifokalbrillen. Sie trinken literweise schwarzen Kaffee und tun gerne mal so, als ob sie den Namen der Bedienung vergessen hätten. Die Blackberry-Kette – insgesamt fünf Läden verteilt auf drei Counties – hat mein Großvater in den Fünfzigerjahren gegründet. Wahrscheinlich ging es dabei um Geldwäsche, schließlich hat Granddaddy McKenna praktisch nur krumme Geschäfte gemacht. Aber heutzutage bringen sie selbst ordentlich Geld ein, besonders der Hauptladen hier.

»Hallo, Schätzchen!«, zirpt eine helle Stimme, als ich mich durch die Doppeltüren schiebe. »Komm, ich nehm dir das ab.« Zwei von den Brottüten wandern zu Amanda, die das Diner führt. Sie ist groß und hübsch, ihre Haut ist gebräunt und die langen schwarzen Haare trägt sie in einem Knoten. Amanda lächelt immer – ein echtes Plus in der Gastronomie. Duke hat sie vor knapp zehn Jahren als Bedienung eingestellt und sie hat sich hochgearbeitet. Für das Salt Creek Diner hat er ihr alle

»Ich dachte, ich nehm Mrs Talbot das Brotausfahren ab«, erkläre ich und folge Amanda hinter die Theke und durch die Küchentür. Hitze und Lärm schlagen mir entgegen, Geschepper dröhnt mir in den Ohren, Köche brüllen Anweisungen und jonglieren mit Zutaten. Der Spüler rennt uns entgegen, nimmt uns die Tüten ab und verschwindet nach hinten, um alles im Brotwärmer zu verstauen.

»Wie geht’s dir?«, fragt Amanda, nachdem wir die Küche verlassen haben, wo wir nur im Weg stehen würden. »Willst du einen Kaffee?«

»Gerne«, sage ich und weiche einem Abräumer mit einem vollen Transportwagen aus. »War viel los bis jetzt?«

»Eine ganze Ladung Touristen vom Freeway.« Amanda greift nach einer Kanne frischem Kaffee und einem To-go-Becher. »Macht einen ganz schön fertig, so ein Rummel gleich in der Früh.«

Ich verziehe mitfühlend das Gesicht und sie hält mir den Kaffeebecher hin.

»Mit extra viel Zucker, so wie du’s magst.«

»Danke. Wie geht’s Jeremy?« Ich nehme einen Schluck. »Ist er noch beim Wildwasser-Rafting?«

»Am Montag kommt er zurück«, sagt Amanda. »Kaum zu glauben, dass er jetzt fast dreizehn ist. Ist schon so lange her, dass …« Sie verstummt und ihr Blick verdunkelt sich, als die Erinnerung in ihr aufsteigt.

»Er war so süß als kleines Kind«, sage ich, um das Gespräch wieder ins Leichte zu wenden. »Weißt du noch, wie er im Ruby

Sie lacht. »Irgendwo muss ich noch das Video haben.«

»Heb’s auf, dann kannst du ihn erpressen, wenn er mit Mädchen ausgeht.«

Ihr Blick wird zärtlich. »Gute Idee.«

Ich werfe einen Blick auf die brombeerförmige Uhr an der Wand. »Ich muss los«, sage ich. »Ich hab Busy im Wagen. Danke für den Kaffee.«

»Grüß Mo und die anderen im Ruby von mir«, sagt Amanda.

»Mach ich.«

»Und pass auf dich auf, Liebling«, höre ich sie noch rufen, bevor sich die Tür hinter mir schließt.

Das werde ich tun.

Das muss ich unbedingt.

Ich bin zwölf, als ich zum ersten Mal auf einen Menschen ziele.

Onkel Jake und ich waren in der Stadt. Gerade als wir zurück nach Hause wollen, klingelt sein Handy.

Bevor er drangeht, runzelt er die Stirn, starrt erst das Display an und dann mich, aber am Ende nimmt er den Anruf doch entgegen.

»Hey, Mo. Passt gerade nicht so …« Er unterbricht sich, lauscht, seine dunklen Augenbrauen ziehen sich zusammen. »Okay«, sagt er. »Duke geht also nicht dran? Schick mir die Adresse, ich kümmer mich drum.«

Er beendet den Anruf und seine blauen Augen mustern mich besorgt.

»Wir müssen jemand abholen«, erklärt er in einem Tonfall, bei dem sich die feinen Härchen in meinem Nacken aufstellen. »Versprichst du mir, dass du alles machst, was ich dir sage? Egal was passiert?«

Ich nicke. »Retten wir eine Ruby?«

Onkel Jake lächelt sanft, wie um mir zu versichern, dass alles in Ordnung ist, doch ich weiß genau, was kommt. »Ja«, antwortet er leise.

Das Haus, vor dem er anhält, ist eines der besseren in Salt Creek. Grüner, gepflegter Rasen, in der Auffahrt ein blitzneues Auto.

Drinnen weint ein Kind, es scheint vollkommen außer sich

»Bleib dicht bei mir«, sagt er und packt mich am Arm. Gemeinsam nähern wir uns der Veranda vor dem Haus. Erst klopft er, doch als keiner reagiert, öffnet er einfach die Tür. »Amanda«, ruft er den Gang runter. »Hier ist Jake Hawes. Mo aus dem Ruby sagt, du brauchst Hilfe.«

Schlagartig verstummt das Weinen. Nur noch ein Schluckauf ist zu hören, als hätte das Kind gelernt, still zu sein, wenn ein Mann spricht.

Wir werfen einen Blick in die Küche, wo die Spülmaschine sperrangelweit offen steht. Dann steuert Jake weiter den Gang entlang und mein Herz beginnt wie wild zu hämmern.

Und da ist sie, im Schlafzimmer, und wirft Sachen in einen Koffer. Ihr Kind – ein kleiner Junge mit dunklen Haaren, etwa drei Jahre alt – sitzt auf der Bettkante. Auf seiner Stirn prangt ein großer, tiefroter Fleck.

Als sie aufsieht, entdecke ich eine ganz ähnliche Verletzung in ihrem Gesicht, nur hat sich der Bluterguss bei ihr schon blau verfärbt. »Jake«, sagt sie und ihr ganzer Körper entspannt sich. »Du bist da.«

»Klar«, sagt er und betritt das Zimmer. »Wann ist er weg?«

»Vor einer halben Stunde. Er war furchtbar wütend, ich hatte sein Essen vergessen und dann hat Jeremy auch noch so geweint, da hat er …« Sie atmet tief ein, die Finger krampfen sich um das Shirt, das sie hält. »Ich hab Mo angerufen«, sagt sie.

»Das hast du gut gemacht«, sagt Jake. »Lass uns deine Sachen zusammensuchen, dann fahr ich dich rüber.«

Amanda betrachtet den Raum, mit Tränen in den Augen, aber ohne wirklich zu weinen. »Jeremys Sachen habe ich. Ich hab auch Geld, extra dafür gespart.«

»Nimm gleich alles mit, was du brauchst. Du musst nicht zurück«, sagt Jake behutsam.

Da knallt draußen eine Autotür. Ich fahre automatisch herum, reiße den Kopf in die Richtung des Geräuschs. Daddy hat mich nicht umsonst darauf trainiert, blitzschnell zu reagieren, wenn etwas Überraschendes passiert.

»Onkel Jake«, warne ich.

Bevor ich auch nur ein Wort mehr herausbringe, öffnet sich die Eingangstür mit einem so lauten Scheppern, dass die Wände zittern. Amandas Augen weiten sich vor Panik, instinktiv stellt sie sich vor ihr Kind.

»Er ist zurück«, flüstert sie.

»Harley, nimm Jeremy«, befiehlt Jake, schnappt sich den Kleinen und schubst ihn rüber zu mir. Der Junge klammert sich gleich an mich und drückt sein nasses Gesicht an meinen Hals. Auch ich halte mich an ihm fest, denn mir ist sonnenklar, was da auf uns zukommt.

Ich weiß, was Männer Frauen antun können. Der Beweis steht mir direkt vor Augen: der Bluterguss in Amandas Gesicht.