Kafkas Puppe
Roman
Ebenfalls von Gerd Schneider im Arena Verlag erschienen:
Der letzte Code
Bauer, Dame, König – Matt! Ein Schachkurs für Einsteiger
Gerd Schneider
wurde 1942 geboren und arbeitete nach seinem Studium der
Germanistik und Theaterwissenschaft als Journalist. Seit 1980
schrieb er zahlreiche Romane, Sachbücher und Fernsehdrehbücher.
Seit seinem Studium beschäftigte er sich intensiv mit der Person
Franz Kafkas. Eine seiner vielen anderen großen Leidenschaften war
das Schachspiel, das er Kindern und Jugendlichen viele Jahre lang
im Schachunterricht an Schulen und in Vereinen vermittelte.
Gerd Schneider starb im Sommer 2016.
Informationen zu Unterrichtsmaterialien unter
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1. Auflage im Arena-Taschenbuch 2018
© Arena Verlag GmbH, Würzburg 2008
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagfoto: Pascal Crapet © gettyimages
Umschlaggestaltung: Jenny Köhler
Umschlagtypografie: KCS GmbH · Verlagsservice &
Medienproduktion, Stelle/Hamburg
ISSN 0518-4002
ISBN 978-3-401-80802-4
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1. Kapitel
Ein luftig blauer Himmel wölbt sich hoch über Berlin in diesem Herbst 1923. Warm ist es, sehr warm für Oktober, fünfundzwanzig Grad, und laue Luft aus Südwesten, als würde einem ein Seidentuch sanft übers Gesicht streichen. Ein dunkel gekleideter Mann geht im Park am Steglitzer Wasserturm spazieren. Lachen, Kindergeschrei. Jungen in kurzen Hosen rennen hinter einem Ball her, zwei Mädchen spielen auf einem Platz Himmel und Hölle. Sie haben die Umrisse der Kästchen in den harten Sandboden geritzt; während eines den flachen Stein wirft, hüpft und hickelt das andere. Nebenan werfen sich andere Kinder zwei kleine rote Jonglierbälle zu. Von der Schaukel her ertönen jauchzende Schreie, als kleinere von größeren Jungen fest angestoßen werden und gefährlich hoch hinauf in die Luft steigen, dort fast stillzustehen scheinen, um dann mit rasender Fahrt wieder im Bogen zur Erde herunterzusausen.
Ganz in der Nähe ist das leise Weinen eines Kindes zu hören. Auf einer Bank bei einem Rhododendronbusch mit wächsern glänzenden grünen Blättern hockt ein kleines Mädchen. Heftiges Schluchzen schüttelt seinen Körper. Das blonde Haar ist an den Seiten zu zwei dicken Zöpfen geflochten, die das Gesicht einrahmen. Das Mädchen trägt eine verwaschene blaue Kittelschürze mit weißen Streifen und einer großen aufgenähten Tasche. Ihre Beine stecken in groben Wollstrümpfen.
Der Mann tritt zögernd heran und bleibt vor der Bank stehen. Er zieht den schwarzen Mantel enger um sich, blickt prüfend zum blauen Himmel hinauf, als wolle er die Wärme der Mittagssonne in sich aufnehmen.
»Warum weinst du?«, fragt er.
Das Mädchen blickt überrascht auf, antwortet jedoch nicht.
Der Mann hüstelt kurz.
»Kannst du mir nicht sagen, warum du weinst?«
»Ach!«, stößt die Kleine hervor. Sie macht eine Bewegung mit dem Kopf und wirft die Zöpfe nach hinten. Tränen laufen über ihre Wangen, der Mund zuckt. Sie schaut den großen Mann misstrauisch an. Er ist sehr dünn und trägt einen schwarzen Mantel und einen schwarzen runden Hut. So gekleidet und mit seinen fast schwarzen Augen und den abstehenden Ohren sieht er ein bisschen aus wie eine traurige Fledermaus. Und er ist sehr blass, fast gelblich im Gesicht. Das Mädchen senkt den Kopf und blickt wieder zu Boden. Aber sie hat aufgehört zu weinen. Er macht eine Geste mit der Hand, als wolle er über ihre Schulter streichen, doch dann schiebt er die Hände in die Taschen seines Mantels.
Wind fährt durch die Bäume. Ein Sonnenstrahl trifft den Boden vor der Bank.
»Wartest du auf jemanden? Auf deine Eltern vielleicht?«
Das Mädchen schaut ihn fragend an aus dunkelblauen Augen. »Nein, ich warte auf niemanden.«
Vorsichtig, als hätte er Angst, das Kind zu verschrecken, beugt sich der Mann mit seinem schmalen Körper etwas vor. »Aber was ist denn dann mit dir? Willst du es mir nicht sagen?«, fragt er weiter.
»Meine Puppe!«, schluchzt das Mädchen und fährt sich mit der Hand über die Augen.
»Was ist mit deiner Puppe?«
»Sie ist weg.« Im Park ist es still geworden; die lärmenden Jungen mit dem Ball sind verschwunden. Auch die Schaukeln sind nun leer, als würde alles den Atem anhalten.
»Deine Puppe ist weg?«
Sie nickt.
»Hast du sie verloren?«
»Da habe ich sie hingesetzt.« Das Mädchen zeigt auf die Bank. Als wolle sie dem Holz die Schuld dafür geben, dass ihre Puppe verschwunden ist. Ihre Miene ist verzweifelt. »Aus meiner Kittelschürze ist sie mir immer rausgefallen beim Spielen. Drum habe ich sie dagelassen.« Sie macht eine heftige Geste. »Vielleicht hat sie jemand gestohlen.«
Der Mann setzt sich ganz ans andere Ende der Bank, auf die Kante.
»Ich glaube nicht, dass jemand deine Puppe gestohlen hat.«
»Aber sie ist doch weg!«
»Wie heißt deine Puppe denn?«, fragt er freundlich.
»Sie heißt … einfach Puppe … Ich habe Ball gespielt. Sie sollte doch auf mich warten. Und dann …«, schluchzt sie.
»Und als du vom Spielen zurückgekommen bist, war sie nicht mehr da?«
»Jemand hat sie mitgenommen! Meine Puppe!«
»Wollen wir sie suchen?«
»Ich hab schon überall gesucht!«
»Wie sieht sie denn aus, deine Puppe?«
»Sie hat ein rotes Kleid an. Und Stiefel.«
»Und die Haare?«
»Ganz lang. So …« Sie zeigt die Länge bis zum Bauch.
»Blond. Mit einer Schleife drin.«
»Wie groß ist deine Puppe?«
Das Mädchen hält die Hand ein Stück über die Bank.
»So groß?«
»Ja. Sie hat mich immer mit ihrem grünen Auge angeschaut, wenn ich vom Spielen zurückgekommen bin.«
»Sie hat nur ein Auge?«
»Sie hat noch ein blaues. Aber sie hat immer mit dem grünen geblinzelt.«
»Dann habe ich sie gesehen, deine Puppe!«
Das Mädchen hebt den Kopf und starrt in das hagere Gesicht des Mannes mit der scharfen Nase. Er lächelt, seine schwarzen Augen glänzen.
»Sie kam mir entgegen«, sagt er und zeigt hinüber zum Eingang des Parks.
»Lügst du auch nicht?«, fragt das Mädchen. Sie schnieft immer noch.
»Wenn ich es doch sage. Sie kam mir in ihrem roten Kleid entgegen.«
»Ach, das sagst du nur so.« Das Mädchen steht von der Bank auf. Sie wendet sich zum Gehen. Sie sieht traurig aus.
»So warte doch!«, sagt der Mann schnell. Der Himmel ist immer noch wunderbar blau und der würzige Geruch von Herbstfeuern liegt in der Luft.
Das Mädchen ist schon ein paar Schritte weg. Auf der Wiese bleibt sie noch einmal stehen, dreht sich um. »Eine Puppe kann gar nicht laufen!«, sagt sie triumphierend. Jetzt hat sie ihn, den Beweis, dass der Mann Unsinn redet!
»Deine kann es. Sie ist sicher etwas Besonderes.«
Das Mädchen steht still, kämpft mit sich. Soll sie sofort verschwinden oder noch ein Wort mit dem merkwürdigen Fremden reden?
»Ist das auch wirklich wahr?« Sie legt ihre Stirn in Falten, überlegt.
»Ja, natürlich«, erwidert er eifrig, »sie ist an mir vorbeigelaufen. Sie hat etwas gesagt.«
Das Mädchen schüttelt den Kopf. Sie wischt sich mit dem Ärmel ihres Kittels über das Gesicht. »Eine Puppe kann doch gar nicht sprechen!«, sagt sie enttäuscht.
»Ich glaube, sie wollte schreiben.«
Das Mädchen dreht sich um, diesmal entschlossen. Sie hat genug von dem Spiel. Sie will weg.
»Ich heiße Franz«, ruft der Mann ihr hinterher.
»Ich heiße Lena.« Jetzt läuft sie endgültig davon.
»Bist du morgen wieder hier im Park, Lena?«
Durch den herbstlichen Park ist das Schlagen einer Kirchturmuhr zu hören. Ein Mal, zwei Mal. Das Blau des Himmels scheint zarter geworden zu sein. Die Gestalt des Mädchens ist noch kurz zwischen den Bäumen zu sehen. Seine letzte Frage hat sie sicher nicht mehr gehört.
Franz atmet tief ein und zieht den Hut weiter in die Stirn. Er hustet, doch auf seinem Gesicht liegt ein leichtes Lächeln, als er sich zum Gehen wendet. Mit über der Brust gekreuzten Armen fasst er den Kragen seines Mantels, zieht ihn enger um sich, als würde ihn trotz der Wärme frösteln, und geht mit ausgreifenden Schritten davon. Sein Blick wandert hin und her, von Strauch zu Strauch, von Baumstamm zu Baumstamm. Schimmert etwas Rotes aus dem Gebüsch? Achtlos hingeworfen von einem, der dem Mädchen einen Streich spielen wollte?
»Guten Tag«, hört Franz eine knarrende Stimme sagen. Er blickt auf, um zu sehen, woher die Stimme kommt. Ein älterer Mann, schlank, sich straff aufrecht haltend, mit einem braun-weißen Collie an seiner Seite, ist schon fast an ihm vorbei. Er hat den Hut zum Gruß gelüftet. Franz bleibt stehen, wendet sich ihm zu und zieht ebenfalls den Hut. Er hat den knorrigen Alten mit seinem Hund schon zwei- oder dreimal auf seinen Spaziergängen im Park gesehen. Der Collie hechelt erwartungsvoll.
»Guten Tag«, erwidert Franz freundlich.
»Ich habe Sie schon gestern um diese Zeit hier bemerkt«, sagt der Alte, als wäre er gern zu einem Plausch bereit. Als wäre er es ein Leben lang gewohnt gewesen, einem Gespräch die Richtung und den Ton anzugeben.
»Das ist möglich. Ich gehe gern hier spazieren.«
»Sind Sie fremd in der Stadt, mein Herr?«
»Ja.«
»Sie wohnen in Steglitz?«
»Ja, seit ein paar Tagen«, sagt Franz und tritt nun etwas ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.
»Da haben Sie aber keine gute Jahreszeit erwischt, um nach Berlin zu kommen«, fährt der Alte fort. Sein Hund beschnuppert Franz, freundlich wedelnd.
»Karo mag Sie!«, sagt der Alte und wirft einen Blick auf seinen Hund. Franz beugt sich nieder und streichelt den Collie.
»Du bist ein ganz schöner Hund! Und so ein seidiges Fell! – Nein, mein Herr, Sie haben recht, es ist keine gute Zeit«, bestätigt Franz. »Der Winter kommt, und ein Zentner Briketts kostet heute dreißig Millionen Mark. Ein Brot wird morgen sicher genauso teuer sein. Die Inflation frisst unser ganzes Geld!«, sagt Franz dann, als würde er eine einfache Feststellung treffen. »Man hat Mühe, sich in dieser schwierigen Welt einzurichten.«
Der Alte nickt. »Sie sagen es. Zu Kaisers Zeiten hatte die Welt noch eine feste Ordnung; man wusste, wie die Dinge laufen.«
Er macht eine kurze Pause, als überlege er, was er als Nächstes sagen soll. Auch Franz schweigt, leise lächelnd.
»Darf ich fragen, was Sie in die Stadt geführt hat?«
»Ich werde nur kurze Zeit bleiben. Ich bin gewissermaßen auf der Durchreise.«
Der prüfende Blick des Alten wird von dem Hund unterbrochen, der den Fremden immer noch beschnuppert.
»Platz, Karo! Entschuldigen Sie bitte, mein Herr. Der Köter ist wirklich zu lästig!«
»Das macht nichts. Ich liebe Hunde.«
»Oh, ich glaube, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt: Behrens ist mein Name, Oberst a. D. Wilhelm Behrens.«
»Kafka, Dr. Franz Kafka«, sagt Franz und lüftet erneut den Hut.
»Sehr erfreut, Herr Dr. Kafka«, sagt der Oberst feierlich. »Sie befinden sich sicher auf einer Dienstreise?«
»Dienstreise?« Franz schmunzelt leise. »Nein, das nicht. Ich bin Frühpensionär.«
Karo läuft kreuz und quer über den Weg, schnüffelt an verschiedenen Stellen und verschwindet im Gebüsch.
»Frühpensionär?« Der Oberst zieht überrascht eine Braue hoch, als würde er sich fragen, was diesem noch jungen, fast knabenhaft wirkenden Mann fehlen könnte. Nun zieht dieser ein Taschentuch hervor, hält es sich vor den Mund und erstickt einen Hustenanfall. »Verzeihen Sie bitte. Ich muss mich nun verabschieden«, sagt Franz zwischen dem unterdrückten Husten.
»Aber natürlich!« Behrens blickt sich um. »Karo, wo bist du?«
Der Collie kommt wieder angesaust, springt an Kafka hoch.
»Verzeihen Sie vielmals, mein Herr«, ruft der Alte. »Der Racker macht, was er will!«
»Ach, lassen Sie nur«, sagt Franz.
»Ihr schöner Mantel!«, ruft der Alte aus und schaut auf die hellen Spuren, die Karos Pfoten auf dem schwarzen Stoff hinterlassen haben.
»Was ist schon der Mantel gegen die Freude, die ein Hund einem vermittelt. Unser Hund in Prag hieß Foxl. Er teilte die Menschen entsprechend dem Grad der Zuwendung ein, die ihm von ihnen zuteil wurden. Er wusste auf Anhieb, ob ihn jemand mochte oder nicht.«
Vor Franz taucht das Bild seiner drei Schwestern auf, die jeden Mittag nach der Schule von Foxl stürmisch begrüßt wurden, während er, der junge Student Franz, mit erwachsener Würde am Türpfosten lehnte und den Kleinen zusah.
»Karo, wir gehen! Schluss für heute mit dem Herumstreunen!« Der Alte will den Collie an die Leine nehmen. »Was hast du da? Ach, es ist furchtbar mit dieser Töle! Gib her!« Er zieht an einem Stofffetzen, der dem Hund jetzt aus dem Maul hängt.
»Gib es mir, Karo«, sagt Franz sanft und sogleich gehorcht der Hund und legt ihm das schmutzige Ding vor die Füße.
»Er mag Sie wirklich«, sagt Behrens in einem prüfenden Ton, als wäre ihm die Zuneigung des Hundes nicht recht, und will den Lumpen mit dem Fuß vom Weg schieben.
Franz bückt sich, hebt den Stoff auf. »Wenn Sie erlauben, ich behalte es.«
»Aber das ist doch nur ein Fetzen«, sagt der Oberst verwundert.
Franz sitzt am Tisch, über ein Manuskript gebeugt, den Federhalter in der Hand. Dora wäscht am Spülstein auf dem Flur Teller und Tassen ab. Zum Abendessen hat es Grießbrei mit Himbeersoße gegeben; das mag er eigentlich besonders gern. Dazu gab es den Rest Milch, der noch in der Kanne war. Doch das Schlucken fiel ihm schwer und bereitete ihm Schmerzen, sodass er nur zaghaft und ganz langsam essen konnte.
Kafka lebt seit Jahren vegetarisch. Für seinen Körper hat er alles getan, was möglich ist: keinen Alkohol, kein Nikotin, keine sonstigen Laster, mehrere Wasser- und Luftkuren, jeden Bissen bis zu hundert Mal kauen, Gymnastik bei offenem Fenster, Enthaltsamkeit. Die Krankheit kam trotzdem. Er sah sie als Antwort auf die Frage, die er sich in seinem Tagebuch stellte: Bin ich überhaupt würdig, zu leben? Diese Antwort sozusagen als ein auf den Leib geschriebenes Urteil, eine strenge Erinnerung an ein Gesetz, das er nie zu finden und nie zu befolgen vermocht hatte. Das Erscheinen der Schwindsucht als letzte Warnung.
Jetzt wird alles gut, hat er schon mehrmals zu Dora gesagt. Die Tuberkulose wird er besiegen, wenn sein Leben eine bessere Wendung nimmt. Wenn er endlich selbstständig wird. Endlich ist es ihm gelungen, Prag und seine Familie zu verlassen, die Gespenster zu bannen, wie er glaubt. Niemals zuvor in seinem vierzigjährigen Leben hat er allein gelebt, unabhängig von seiner Familie, unabhängig vom mächtigen Vater. Nun hat er einen schon lange gefassten heroischen Entschluss in die Tat umgesetzt. Er preist ihn in Briefen an seine Schwester Ottilie, an seinen Freund Max, denen er sein Leben in Berlin beschreibt. Dora ist ebenfalls geflohen, hat ihre jüdisch-orthodoxe Familie in Ostpolen verlassen, um ihr eigenes Leben zu führen. Sie verliebte sich in den Vierzigjährigen, den sie im Sommer im Ostseebad Müritz kennengelernt hatte, wo sie in einem jüdischen Kinderheim als Küchenhilfe arbeitete. Nun leben sie in dem armseligen, nur mit dem Notwendigsten ausgestatteten Zimmer in der Miquelstraße in Berlin-Steglitz. In der Mitte steht ein Tisch mit zwei Stühlen, bei der Türe befindet sich der schwarze Kohleofen, von dem ein langes Rohr nach oben in die Zimmerecke führt. Unter dem Fenster steht ein schmales abgewetztes Sofa, an der Wand gegenüber ein Bett. Ein schäbiger Küchenschrank und ein Regal vervollständigen das Mobiliar. Der Spülstein ist draußen im Flur und ganz am Ende des Flurs die Toilette.
Dora geht zum Fenster und will es schließen.
Franz hebt den Kopf. »Nein, mach das Fenster noch nicht zu!«, sagt er. »Der Abend ist so schön.«
»Wie du willst. Wolke wird sich freuen, wenn sie noch das Gezwitscher aus dem Garten hört.«
Dora tritt zum Käfig mit dem gelben Kanarienvogel, der auf einem Wandbrett neben dem Fenster steht. Sie hält ihm einen Krümel Zwieback hin, der auf dem Teller übrig geblieben ist. Dabei summt sie leise eine Melodie für ihren Vogel mit dem Namen Wolke, der sie, seit sie von ihrer Familie weggegangen ist, überallhin begleitet hat.
»Mein Wölkchen!«
Das Fenster zieht sie doch etwas zu, lässt es nur einen Spaltbreit offen. Sie weiß, dass Franz sich auf keinen Fall erkälten darf.
Er hält den Federhalter in der Hand wie einen Pfeil, der auf das Papier zielt. Seine dichterische Tätigkeit ist ihr fremd, aber sie liebt seine Ernsthaftigkeit beim Schreiben. Sie liebt es, wenn er ihr das Geschriebene vorliest, auch wenn sie wenig davon versteht.
»Was schreibst du?«, fragt sie.
»Eine Erzählung.«
»Was für eine Erzählung? Und wie heißt sie?«
Er überlegt, dann lacht er: »Eine Geschichte über mich. Sie heißt Der Bau.«
»Lies sie mir doch vor!« Sie setzt sich ganz gespannt auf die Tischkante neben ihn.
»Genauer gesagt«, erklärt er, »handelt die Geschichte von einem Tier, das sich in einem weit verzweigten Bau unter der Erde einrichtet. Das Tier hat einen geschärften Sinn für Gefahren. Sein Leben ist auf Verteidigung ausgerichtet, es sehnt sich nach nichts so sehr wie nach Ruhe und Sicherheit. Daher ist es ständig darauf bedacht, alle Schwachpunkte seiner Festung gegen einen unsichtbar nahenden Feind zu verteidigen, dessen Scharren und Graben es immer stärker vernimmt.«
»Eine Maus?«, fragt Dora verwundert.
»Möglich. Es kann auch ein Maulwurf sein.«
»Ein Maulwurf!« Dora lacht.
»Das Tier durchlebt«, erklärt er ernsthaft, »nacheinander die Stadien des Selbstvertrauens, der Verzweiflung und der Erkenntnis seiner Niederlage.«
Er liest ihr vor.
Ich habe den Bau eingerichtet und er scheint wohlgelungen. Von außen ist eigentlich nur ein großes Loch sichtbar, dieses führt aber in Wirklichkeit nirgends hin, schon nach ein paar Schritten stößt man auf natürliches festes Gestein. Ich will mich nicht dessen rühmen, diese List mit Absicht ausgeführt zu haben, es war vielmehr der Rest eines der vielen vergeblichen Bauversuche, aber schließlich schien es mir vorteilhaft, dieses eine Loch unverschüttet zu lassen. Freilich, manche List ist so fein, dass sie sich selbst umbringt, das weiß ich besser als irgendwer sonst, und es ist gewiss auch kühn, durch dieses Loch überhaupt auf die Möglichkeit aufmerksam zu machen, dass hier etwas Nachforschungswertes vorhanden ist. Doch verkennt mich, wer glaubt, dass ich feige bin und nur aus Feigheit meinen Bau anlege.
»Und wieso ist es eine Geschichte über dich?«, fragt sie und es klingt ratlos.
Doch Franz antwortet nicht. Er ist mit seinen Gedanken schon weitergegangen.
Heraus aus der Dunkelheit des Baus mit seinen Gängen und Verzweigungen, wo man sich so leicht verirren kann, denkt er. Hinaus ins Freie.
Die Puppe muss auf eine Reise gehen. Die Puppe ist erwacht aus einem Traum. Das Leben beginnt.
Franz fängt an zu schreiben, liest, zerreißt das Blatt, fängt wieder an. Er stellt sich vor, wie die Puppe lebendig wird, wie sie sich bewegt. Wie sie durch irgendein Ereignis angeregt auf eine Reise geht; wie sie auf Menschen trifft, auf Tiere, wie sie allerlei Abenteuer erlebt. Ja, so sollte es beginnen …
»Franz, was ist los? Wo bist du nur wieder?«
Franz schaut Dora an. »Ich habe heute im Park ein kleines Mädchen getroffen. Sie hat geweint, weil sie ihre Puppe verloren hat.«
Er steht auf, geht zur Garderobe und kommt mit dem roten Stoff zurück.
»Was ist das?«
»Wahrscheinlich der Überrest einer Stoffpuppe.«
»Sollen wir ihr eine neue machen?«
»Ich habe eine andere Idee.«
2. Kapitel
Franz blickt suchend umher. Es ist kurz vor eins. Gestern um diese Zeit hat er sie hier getroffen, hier auf der Bank vor dem Rhododendron. Das Blau des Himmels ist heute etwas blasser, milchiger, aber es ist immer noch sommerlich warm.
Ob das Mädchen wohl kommt? Wenn es von ihrer gestrigen Begegnung mit dem Mann ihren Eltern erzählt hat, werden die sehr misstrauisch sein und ihrer Tochter verbieten, wieder in den Park zu gehen. Ein fremder Mann macht ein Rendezvous mit einem kleinen Mädchen aus; das muss verdächtig wirken! Ich werde mich wieder davonmachen, denkt Franz, das wird das Beste sein. Man hat vielleicht nach der Polizei geschickt. Wie schnell kann man verleumdet werden. Er wendet sich rasch zum Gehen.
Als hätte sie die Gedanken des Mannes erraten, als hätte sie gewusst, was er in diesem Augenblick vorhatte, kommt sie hinter dem Rhododendron hervor. Sie trägt eine grob gestrickte rote Mütze, eine hinten mit einer großen Schleife gebundene Schürze aus festem blauen Leinen, Wollstrümpfe und halbhohe Schnürschuhe.
Franz hält einen Umschlag hoch.
»Was ist das?«, fragt Lena zögernd.
»Das ist für dich!«
Lena nimmt den Umschlag, beugt sich darüber, dreht ihn hin und her.
Er zeigt auf den Umschlag. FÜR LENA steht da, in Großbuchstaben. Sie fährt mit einem Finger die Linien nach, buchstabiert die Worte F-Ü-R L-E-N-A. Dann lacht sie den Mann an.
»Das hast du geschrieben!«
»Willst du nicht nachsehen?«
Lena blickt wieder gebannt auf den Umschlag. Dann zeigt sie auf die Briefmarke. »Eine schöne Briefmarke.«
»Ja, mit Tauben darauf.«
Lena betrachtet aufmerksam die Briefmarke, sieht Franz zweifelnd an, als sei sie sich auf einmal gar nicht mehr sicher, was hier abgelaufen ist. Eine Briefmarke bedeutet, dass der Brief von irgendwoher kommt.
»Woher kommt der Brief denn?«
»Von deiner Puppe. Sie ist auf eine Reise gegangen und schreibt dir.«
»Aber meine Puppe kann doch gar nicht schreiben!« Das Mädchen hält den Brief unschlüssig in der Hand.
»Schau einfach nach, Lena!«
Sie reißt den Umschlag auf, holt eine Karte heraus. Dreht sie hin und her. Auf beiden Seiten beschrieben. Am Rand sieht man einige zittrige sparsame Striche.
»Was soll das sein?«, fragt Lena und deutet darauf.
»Eine Zeichnung. Kannst du nicht erkennen, was da zu sehen ist?«
»Sieht aus wie ein springender Hund.«
Sie gibt Franz das Blatt.
»Lies vor!«, fordert sie ihn auf.
Kafka setzt sich auf die Bank. Er hustet, hält sich ein Taschentuch vor den Mund.
»Was hast du? Bist du krank?« Lena hat sich neben ihn gesetzt, sieht ihn neugierig an.
»Nichts. Es geht gleich wieder.«
Er ringt nach Luft, versucht zu lächeln. Es dauert eine Weile, bis er wieder sprechen kann. Dann liest er leise und deutlich, in einem bestimmten Rhythmus, wie einst die abendlichen Geschichten für seine Schwestern. Kinder haben es gern, wenn man leise und rhythmisch spricht, jedes einzelne Wort betonend, als wäre es Musik, die sie umschmeichelt. Das hat er damals bei den Kleinen gelernt, als er ihnen neben der Babicka auch Geschichten aus dem »Rheinischen Hausfreund« vorlas oder erzählte. Wie gerne folgten Ottla, Elli und Valli der Stimme des Bruders und dabei war es gar nicht so wichtig, worum es in diesen Erzählungen ging; es war immer eine magische Welt, die durch diese Melodie vor ihnen aufgebaut wurde und in die sie eintauchten.
3. Kapitel
Jenseits des Parks am Wasserturm in einer kleinen Seitenstraße steht etwas zurückgesetzt hinter Zäunen und Hecken eine Reihe schmaler zweistöckiger Häuser. Durchgänge zwischen den Häusern führen in den Hinterhof. Am Haus Nummer elf rankt sich Efeu an der bröckligen, dunkel gewordenen Ziegelwand hoch. Die Stufen zum Eingang sind ausgetreten. Der Vorgarten ist zur Straße hin mit einem Bretterzaun begrenzt. Das Anwesen gehört dem Ehepaar Krall, das hier ein privates Heim für Waisenkinder führt. Das größte Zimmer im Hause im Erdgeschoss dient als Aufenthaltsraum und Speisesaal. Dort sitzen jetzt sechs Kinder mit gefalteten Händen am Tisch. Die Älteste ist mit elf Jahren Kristina. Lena ist sieben oder acht. Genau weiß man es nicht, denn sie ist ein Findelkind. Als Baby wurde sie in einem Korb auf einer Bank in Neustrelitz gefunden. Die Suche nach ihren Eltern blieb erfolglos. Als Kleinkind lebte sie einige Jahre in einem staatlichen Kinderheim, bis sie hier in dieses Haus kam. Die anderen Kinder am Tisch sind noch jünger.
Lena ist heute an der Reihe mit Beten. Sie faltet die Hände und fängt an:
»Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast.«
»Nicht so leiern, Kind!«, mahnt Frau Krall. »Wo bist du bloß wieder mit deinen Gedanken?«
»Ihre Puppe ist verschwunden«, sagt Kristina.
»Nein, ist sie nicht!«, erwidert Lena und löst ihre Hände.
»Ja, was denn nun?«, fragt Frau Krall ungeduldig.
»Wahrscheinlich geklaut worden«, sagt Kristina. »Drüben im Park.«
»Die ist nicht geklaut worden, die ist verreist«, sagt Lena feierlich.
Kristina lacht, tippt sich mit dem Finger an die Stirn. Die Kleineren blicken unsicher zur Heimleiterin.
»Wollt ihr wohl still sein und aufhören mit diesem Blödsinn!«, schimpft Frau Krall. »Eine Puppe kann doch nicht verreisen! Lena, sprich das Gebet zu Ende oder ihr geht alle ohne Essen ins Bett!« Streng schaut sie Lena an, die sofort wieder die Hände faltet und den Kopf senkt.
»Ob wir trinken oder essen,
lass uns, Herr, dich nicht vergessen.«
Später am Abend ist es still geworden im Haus. Ab und zu hört man von der Straße her, die von wenigen Lampen trübe beleuchtet wird, Schritte und Stimmen von Menschen. Sie eilen, von der Endhaltestelle der Straßenbahn am Rathausplatz kommend, nach Hause.
Kristina und Lena stecken in ihrem Zimmer im oberen Stockwerk die Köpfe zusammen. Sie sitzen auf Lenas schmalem Bett. Der Raum ist winzig, mehr eine Besenkammer neben dem Schlafraum der kleineren Kinder. Aber Lena ist froh, dass sie nicht mehr bei den Jüngeren schlafen muss.
Kristina hält die Karte und versucht, bei dem schlechten Licht zu lesen. Sie ist im fünften Schuljahr, sie kann es; Lena tut sich noch schwer mit dem Lesen. Sie kam erst spät in die Schule, war immer wieder krank.
»Und der Mann hat dir wirklich die Karte gegeben?«, fragt Kristina misstrauisch.
Lena sieht der Älteren an, dass sie nicht recht weiß, was sie von dem Ganzen halten soll.
»Hat er«, sagt Lena trotzig. »Die Puppe hat mir geschrieben.
Und jetzt will ich es noch mal hören.«
Kristina seufzt.
»Das ist so krakelig geschrieben! Das kann keiner lesen! Geifer … was soll das denn sein?«
»Das ist die Spucke von dem Hund, der meine Puppe schnappen wollte, als ich sie auf der Bank zurückgelassen habe.« Lena erinnert sich noch an jedes Wort, das der Mann vorgelesen hat.
»Glaubst du das wirklich?«
»Ja.«
Lena kann sich nicht recht vorstellen, dass jemand nicht die Wahrheit sagt. Wenn etwas unlogisch ist, wenn etwas nicht sein kann, dann glaubt sie es erst recht. Kristina hat sie schon oft aufgezogen deswegen.
»Mhm«, macht Kristina.
»Bitte! Ich möchte es noch einmal hören.« Lena bettelt. Kristina gibt nach, und während sie den Brief vorliest, hört Lena neben ihrer Stimme die Stimme des fremden Mannes im Park.
Sie lauscht dem Fluss der Erzählung, der durch ihren Kopf geht, der die Bilder erschafft, die sie vor sich sieht: wie ihre Puppe sich zum allerersten Mal bewegt, als der zottelige Hundekopf an der Bank auftaucht.
Erst habe ich es mit einem Arm versucht, dann mit dem anderen. Dann das eine Bein und das andere. Es ging, ich konnte aufstehen, ich konnte weg, denn ich glaubte, der Hund wollte mich fressen…
»Weiter!«
Wild knurrte er, Geifer troff aus seinem Maul, liest Kristina.