© Verlag Friedrich Oetinger GmbH, Hamburg 2013
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Cover von Ina Hattenhauer
E-Book-Umsetzung: 2013
ISBN 978-3-86274-628-6
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Katzen, behauptet meine Großmutter, schnuppern drohendes Unheil. Schon viele Stunden vor einem Erdbeben rennen sie mit gesträubtem Fell und angelegten Ohren aufgeregt herum. Oder sie bringen sich, einen Tag bevor das Hochwasser den Ort überschwemmt, auf einem hohen Baum in Sicherheit.
Meine Oma kannte angeblich sogar eine Katze, die eines Abends entsetzlich kreischend kreuz und quer durchs Haus raste, dass alle dachten, sie sei verrückt geworden. Das arme Vieh kreischte so laut, dass kein Mensch im Haus einschlafen konnte. Und das war sehr gut so, denn um Mitternacht fing es in der Küche, weiß der Kuckuck, warum, zu brennen an, und giftiges Rauchgas machte sich im ganzen Haus breit. Hätten die Leute friedlich geschlafen, wären sie wohl nie mehr wach geworden.
Wir haben daheim leider keine Katze, weil mein Vater grausige Niesanfälle und Keuchhusten bekommt, wenn irgendwo ein Katzenhaar durch die Luft schwebt. Möglicherweise sind Katzen für die Sorte Unheil, das mir drohte, ohnehin gar nicht zuständig, weil es nicht um Sachen wie Feuer, Hochwasser und Erdbeben ging, sondern um – wie das meine Mutter nennt – zwischenmenschliche Sauerei. Zudem hätten mich nicht einmal zehn Katzen mit der Gabe, auch solche Sauereien vorauszuahnen, warnen können. Weil ich ein sehr naiver Trottel gewesen bin, der gedacht hat, dass sein Vater immer total ehrlich zu ihm ist und keine Geheimnisse vor ihm hat.
Jedenfalls war ich kein bisschen misstrauisch, als mein Vater am letzten Tag der Winterferien zu mir sagte: »Sohnemann, ihr bekommt morgen ein neues Mädchen in die Klasse. Die Tochter einer Kollegin von mir. Es wäre supernett von dir, wenn du dich ein bisschen um sie kümmern würdest.«
Ich war gerade beim Speckschneiden für die Spaghetti Carbonara, seufzte tief und murmelte: »Shit!« Weil nämlich der einzige freie Platz in meiner Klasse der neben mir am Pult war. Und ich sitze gern allein an einem Zweierpult. Ich finde es schön, mich gemütlich breitmachen zu können. Meinen ganzen Kram auf knappen fünfundsechzig Zentimetern unterzubringen fällt mir schwer. Obwohl ich wirklich kein Einzelgänger bin, mag ich es auch nicht, wenn jemand zu eng an mir dranklebt und ich mir sein Rülpsen, Schmatzen, Schlürfen, Schnäuzen und Furzen hautnah anhören muss. Und einen, von dem ich bei den Schularbeiten abschreiben könnte, brauche ich nicht. Ich gehöre zu den Guten in der Klasse.
Mein Vater missverstand das gemurmelte »Shit« und sagte: »Mitten im Schuljahr die Schule zu wechseln ist nicht leicht. Da tut es gut, wenn jemand von Anfang an nett zu dir ist.«
Ich tat die Speckwürfelchen in die Pfanne und die Pfanne auf den Herd. Während ich im Speck rührte, sagte ich: »In meiner Klasse sind fast alle nett, bei uns wird nicht gemobbt.«
So ganz stimmte das nicht. Es gibt schon ein paar Kinder in meiner Klasse, die von niemandem zu Geburtstagspartys eingeladen werden, die auch ausgelacht werden, wenn sie etwas Dummes sagen, und in den Pausen meistens allein herumstehen. Aber ob man das schon Mobbing nennen muss, ist mir nicht klar.
Beim Spaghetti-Essen dann fragte ich meinen Vater, warum denn die Tochter seiner Kollegin mitten im Schuljahr die Schule wechselte. Ob sie vielleicht etwas ausgefressen habe und aus ihrer Schule rausgeflogen sei? Wenn ich schon mein Pult mit jemandem teilen musste, hätte ich es lustig gefunden, jemand »Verruchten« neben mir zu haben. In meiner Klasse ist sowieso nie irgendetwas Besonderes los, wir sind ein Verein von braven Lämmern.
Aber mein Vater machte diese Hoffnung zunichte. Seine Kollegin, erklärte er mir, sei gerade mit ihrer Tochter von Salzburg hergezogen. Wegen dem besseren Job, den man ihr in der Wiener Zentrale der Firma angeboten habe.
Ich schlürfte Spaghetti in den Mund und sagte kauend: »Okay, ich kümmere mich um das Mädchen.«
Und das meinte ich total ehrlich. Es ist ja schließlich wirklich nicht sehr lustig, plötzlich in eine andere Stadt ziehen zu müssen, wo man keine Freunde hat.
»Stummel, sag mal, machst du jetzt schon den Frühjahrsgroßputz?«, fragte mich die Conny, als ich am nächsten Morgen, ein paar Minuten vor acht Uhr, das Pultfach neben meinem Platz ausräumte und harte Brotrinden, vergammelte Apfelreste, vertrocknete Mandarinenschalen, steinharte Kaugummikugeln, Bleistiftspitzkringel und zerknüllte Papiertaschentücher in einen Plastiksack warf.
In der Schule nennen mich alle Stummel. Sogar die meisten Lehrer. Den Spitznamen hat mir der Adi Bär in der ersten Klasse verpasst. Damals war ich der kleinste Junge in der Klasse. In den sechs Jahren, die seither vergangen sind, bin ich zwar ordentlich gewachsen und gehöre nun zu den Großen, doch der Spitzname ist mir geblieben. Und jetzt, wo ich nicht mehr der Kleinste bin, stört er mich auch nicht mehr. Dabei war er sowieso nie passend. Denn ein Stummel, ob nun ein Bleistiftstummel, ein Stummelschwanz oder ein Zigarettenstummel, ist der Rest von etwas, das einmal viel länger gewesen ist – was auf mich nicht zugetroffen hat. Aber so feine sprachliche Unterschiede kennt ein Dummbauchi wie der Adi Bär halt nicht.
Ich wischte das Pultfach mit einem Papiertaschentuch von Krümeln frei und sagte zur Conny: »Wir kriegen heute eine Neue, und neben mir ist leider der einzige freie Platz.«
»Echt? Mitten im Schuljahr?«, staunte die Conny und wollte natürlich wissen, woher ich das wusste, und ich erklärte es ihr, und als ich es ihr erklärt hatte, klingelte die Schulglocke, und kaum hatte die ausgeklingelt, kam unsere Geschichts-Tusnelda, die Dr. Wurm, die wirklich Tusnelda heißt und unser Klassenvorstand ist, zur Tür rein und neben ihr ein echt merkwürdiges Mädchen. Klein, etwas übergewichtig, weiße Haut, mit verschieden großen Sommersprossen übersät, rostrote Drahtwaschelhaare, Hängeschultern, dünnlippiger Sichelmund nach unten und riesengroße wasserblaue Augen. Schultasche hatte sie keine dabei. Bloß eine potthässliche, quietschgrüne, glänzende Umhängetasche, die ihr auf den Bauch runterbaumelte.
Die Dr. Wurm schob das merkwürdige Mädchen nach vorn, nahm ein Stück weiße Kreide, schrieb in großen Blockbuchstaben ANNA LACHS auf die Tafel und verkündete: »Das ist eure neue Klassenkameradin, die Anna Lachs. Sie kommt aus Salzburg zu uns. Seid nett zu ihr, und helft ihr, sich bei uns einzugewöhnen.« Hierauf deutete sie zur freien Pulthälfte neben mir und sagte: »Anna, dort wartet schon ein schönes Plätzchen auf dich!«
Die Anna Lachs kam im Schneckentempo auf mein Pult zu, ließ sich auf den Stuhl neben mir plumpsen und schob ihre quietschgrüne Umhängetasche ins Pultfach.
Ich wollte, wie ich es meinem Vater versprochen hatte, nett sein und sagte leise: »Ich bin der Cornelius Haberkorn, aber alle nennen mich nur Stummel!«
»Ist mir doch egal, du Idiot!«, zischte mir die Anna Lachs zu und schaute mich an, als wäre ich ein ekliges Insekt. So eklig, dass man es nicht zerquetscht, weil man es nicht berühren will.
Ich war baff. So viel grundlose Unhöflichkeit hatte ich überhaupt noch nie erlebt. Also rutschte ich mit meinem Stuhl so weit wie möglich von meiner neuen Nachbarin weg, lehnte mich zurück und versuchte, der Geschichts-Tusnelda zu lauschen, die über das Wiener Stadtrecht vom Jahre 1221 und dessen grausame Strafen für Mord und Totschlag aus einem dicken Buch vorlas.
»Ist der Totschlag aus Notwehr geschehen«, sagte sie gerade, »dann soll sich der Täter der Feuerprobe unterziehen. Besteht er diese, soll er frei sein, verbrennt ihn aber das Feuer, gilt er als schuldig.« Die Dr. Wurm ließ das dicke Buch sinken, schaute sich in der Klasse um und fragte: »Weiß vielleicht jemand von euch, was mit dieser Feuerprobe gemeint ist?«
Ich wusste es, aber ich meldete mich nicht. Ich melde mich nie freiwillig, das ist mir zu strebermäßig. Da sich auch kein anderer meldete, erklärte die Dr. Wurm, dass es bei der Feuerprobe um ein Gottesurteil geht und der Täter ein glühendes Eisen vom Taufbecken der Kirche bis zum Hochaltar auf der bloßen Hand tragen muss.
Der Adi Bär rief entrüstet: »Aber dann haben sich doch auch alle Unschuldigen die Pfoten verbrannt!«
»Leider, leider«, bedauerte die Dr. Wurm, doch das reichte dem Adi Bär nicht.
»Aber wenn doch nie einer bestanden hat«, rief er, »muss ja wohl auch der allergrößte Depp gemerkt haben, dass diese Feuerprobe ein Blödsinn ist! Waren die denn im Mittelalter alle komplett gaga?«
Die Dr. Wurm war nicht bereit, die Sache mit dem Adi Bär weiterzudiskutieren, und ging zur Feuerordnung der Stadt über.
Ich linste verstohlen zu meiner Nachbarin. Die saß, Arme über der Brust verschränkt und den Kopf gesenkt, auf ihrem Stuhl. So, als ob sie in einen Dornröschenschlaf gefallen wäre. In der Stellung verharrte sie den ganzen Vormittag. Sie ging nicht aufs Klo, sie holte in den Pausen kein Brot aus der quietschgrünen Umhängetasche und in den Stunden keinen Stift und keinen Notizblock. Sie reagierte auch nicht auf unsere diversen Lehrer, die sie zu Beginn ihrer Stunden freundlich willkommen hießen.
Als die Schulglocke nach der fünften Stunde läutete, stand die Anna Lachs auf, hängte sich die quietschgrüne Tasche über die Schulter und verließ grußlos die Klasse.
Die Dr. Kurz, bei der wir Mathe gehabt hatten, schaute ihr verdutzt nach und murmelte: »Eigentlich beende ja ich den Unterricht.«
Und der Marius drehte sich zu mir, schüttelte den Kopf und meinte bedauernd: »Also, Stummel, da hast du dir eine irre Type als Nachbarin eingehandelt. Bei diesem komischen Pummel ist ja wohl mehr als eine Schraube locker!«
Nach der Schule ging ich mit dem Robi heim. Der Robi hat drei kleine Brüder und eine Hausfrauen-Mama, die supertolle Mittagessen kocht und sich freut, wenn der Robi mich mitbringt. Weil ich ihr Essen immer lobe, was ihre eigenen vier Kinder nie tun. Sie hätte sicher nichts dagegen, wenn ich jeden Tag nach der Schule zum Essen käme, aber mein Vater meint, das wäre zu aufdringlich. Darum esse ich nur am Montag, am Mittwoch und am Freitag beim Robi, das sind die Tage, an denen wir in Mathe Hausaufgaben bekommen.
Irgendwie verdiene ich mir nämlich meine Mittagessen, indem ich dem Robi bei den Mathe-Hausaufgaben helfe und seine Fehler verbessere. Aber viel Talent zum Nachhilfelehrer scheine ich nicht zu haben, denn beim nächsten Mal macht der Robi wieder die gleichen Fehler. Wahrscheinlich liegt das daran, dass ich nicht kapiere, warum jemand etwas nicht kapiert, was doch sonnenklar ist. Die Gabe, mich in ein unbegabtes Hirn reinzudenken, habe ich nicht.
Ich blieb bis um fünf Uhr beim Robi. Ich wollte erst daheim auftauchen, wenn die Zierhut abgedampft war. Die Zierhut ist unsere Putzfrau. Sie kommt jeden Tag, hat immer schlechte Laune und schimpft laut vor sich hin, weil mein Vater und ich angeblich die wunderschöne Ordnung, die sie gemacht hat, über Nacht wieder in ein Tohuwabohu verwandelt haben. Wenn ich daheim bin, während sie noch herumwerkt, kommt sie alle paar Minuten, ohne anzuklopfen, zu mir rein und regt sich über irgendetwas auf. Bezichtigt mich, dass ich dauernd mit matschigen Schuhen über den weißen Teppich im Wohnzimmer latschen würde, dass ich das Geschirr immer zu dreckig in die Spülmaschine tun würde, dass ich schon wieder die Zahnpastatube nicht zugeschraubt hätte und dass ich alles daransetzen würde, ihr das Leben noch schwerer zu machen, als es ohnehin schon wäre. Und bevor sie geht, sagt sie garantiert: »In das Haus gehört endlich wieder eine Frau, damit diese Männerwirtschaft ein Ende hat!«
Das ist nämlich so: Meine Eltern haben sich vor fünf Jahren scheiden lassen. Da unser Haus schon vor der Hochzeit meinem Vater gehört hat, ist meine Mutter ausgezogen und hat sich eine Wohnung mitten in der Stadt gekauft. Ein Jahr lang bin ich dann hin- und hergewandert: eine Woche bei meinem Vater, eine Woche bei meiner Mutter. Irgendwie ist das ziemlich lästig für mich gewesen. Vor allem, weil meine Mutter keine regelmäßigen Arbeitszeiten hatte. Sie ist Fotografin und war damals bei einer Frauenzeitschrift angestellt. Da musste sie oft auch an den Abenden und an Wochenenden arbeiten und für mich einen Babysitter bestellen oder mich zu meiner Großmutter bringen. Und wenn der Babysitter keine Zeit oder meine Großmutter Migräne hatte, bin ich trotz Mama-Woche wieder bei meinem Vater gelandet.
Dann hat meine Mutter die Chance bekommen, für ein halbes Jahr in New York zu arbeiten, und da war ich natürlich dieses halbe Jahr nur bei meinem Vater. Als meine Mutter aus New York zurückgekommen ist, habe ich ihr gesagt, dass ich das ewige Hin und Her satthabe und ganz bei meinem Vater leben will. Es ist einfach viel bequemer für mich. Bis zur Schule brauche ich bloß sieben Minuten, alle meine Freunde wohnen in der Nähe, mein Vater muss nie überraschend irgendwohin fliegen, und unser großer Garten samt Swimmingpool und Hängematte ist im Sommer auch nicht zu verachten.
Außerdem breite ich mich eben gern aus. In der Wohnung meiner Mutter habe ich nur ein kleines Zimmerchen, in unserem Haus dagegen ein eigenes Bad und drei große Zimmer. Eines für meinen Billardtisch, meinen Flipper und meine Eisenbahnanlage, eines ist mein Schlaf-, Video-, und Fernsehzimmer, und das dritte ist mein Arbeitszimmer mit Schreibtisch, Bücherregalen und Rechner.
Meine Mutter ist schon ein bisschen traurig gewesen, dass ich mich entschlossen habe, bei meinem Vater zu leben. Aber mein Entschluss hat auch ihr das Leben gewaltig erleichtert. Sie konnte wochenlang im Ausland fotografieren und musste wegen mir keine Super-Aufträge mehr ablehnen. So kam sie als Fotografin so richtig ins große Geschäft. Ich vermute, sie verdient jetzt sogar mehr als mein Vater, obwohl der viel mehr verdient als die meisten Väter meiner Freunde. Jedenfalls gibt meine Mutter viel mehr Geld aus, jammert nie, dass ihr etwas zu teuer ist, und kauft mir Klamotten in Geschäften, von denen mein Vater sagt, dass da nur steinreiche Pinkel reingehen.
Jetzt sehe ich meine Mutter ein- bis zweimal im Monat, und wir haben immer viel Spaß miteinander. Manchmal, an Wochenenden, schlafe ich auch bei ihr. Und der Schlüssel zu ihrer Wohnung hängt noch immer an meinem Schlüsselbund. Aber so richtig daheim fühle ich mich nur in unserem Haus.
Mein Vater kam erst nach Hause, als ich schon im Bett lag und mir ein Stündchen Gute-Nacht-Fernsehen reinzog. Er stapfte zu mir rauf und erklärte mir gähnend, dass er leider, leider wieder einmal Überstunden habe machen müssen.
Höflich, wie ich nun mal bin, drückte ich dem Fernseher den Ton weg, obwohl es gerade spannend geworden war, und teilte meinem Vater mit, dass im Eisschrank ein Topf mit Kalbsgulasch stand. Den hatte die Zierhut reingestellt. Eigentlich gehört es ja nur zu ihren Pflichten, für mich das Mittagessen zu kochen, aber meistens sorgt sie auch noch für unser Abendessen vor.
Mein Vater sagte, dass er schon im Büro gegessen habe. Einen Döner vom Türken gegenüber der Firma, von dem er jetzt Magendrücken und Sodbrennen habe.
Dann fragte er: »Na, und wie gefällt dir die Tochter meiner Kollegin, Sohnemann?«
»So gut wie ein Furunkel am Hintern«, antwortete ich und erzählte ihm, wie sich diese merkwürdige Person benommen hatte.
Mein Vater murmelte seufzend: »So ein armes Kind!«
Das erstaunte mich nicht. Er ist Weltmeister im Mitgefühlhaben. Bettler kriegen einen Zehner von ihm; wenn er im Fernsehen einen Bericht über Straßenkinder sieht, schmeckt ihm das Abendessen nicht mehr; sogar die Zierhut tut ihm leid. »Wer so grantig und sauertöpfisch ist«, sagt er, »der ist zu bedauern.«
Also verwunderte es mich auch nicht, dass er, bevor er nach unten ging, noch sagte: »Sohnemann, mit manchen Menschen muss man viel Geduld haben. Bei denen dauert es, bis sie sich so nett benehmen, wie sie in Wirklichkeit sind.«
»Amen«, murmelte ich, als die Tür zugefallen war, und drückte dem Fernseher wieder den Ton an. Zu spät! Die spannende Szene war längst vorüber.
Am Dienstag war der Platz neben mir beim Acht-Uhr-Läuten leer. Der Eder, unser Englischlehrer, wartete bis halb neun, dann trug er die Anna Lachs als fehlend ins Klassenbuch ein.
»Der haben wir nicht gefallen«, mutmaßte der Adi Bär in der Zehn-Uhr-Pause. »Die sucht sich eine andere Schule.«
Doch die Lotti erzählte uns, dass sie die Anna Lachs auf dem Weg zur Schule gesehen hatte. Im kleinen Park, gleich nebenan, habe sie auf einer Bank gesessen und vor sich hin gestarrt. Ein roter Rucksack habe neben ihr auf der Bank gestanden.
»Heute in der Früh hat es doch in Strömen geregnet!« Der Robi schüttelte ungläubig den Kopf. »Und kackekalt war es auch. Wer setzt sich denn da in den Park?«
»Vielleicht jemand, der unbedingt krank werden will«, vermutete die Conny. »Damit er nicht in die Schule gehen muss. Meine Cousine hat einmal Seifenwasser getrunken, damit sie kotzen muss und die Mathearbeit versäumt.«
»Hat sie Seifenblasen gekotzt?«, fragte der Adi Bär, aber das wusste die Conny nicht.
Dann überlegten wir, was passiert, wenn ein Schüler unentschuldigt dem Unterricht fernbleibt. Einen Schulschwänzer hatten wir in unserer Klasse bisher noch nicht gehabt.
Die Laura behauptete, der Sohn von unserem Briefträger habe einmal eine ganze Woche die Schule geschwänzt und kein Lehrer habe den Briefträger angerufen, der sei aus allen Wolken gefallen, als er es endlich erfuhr.
Der Marius hingegen schwor Stein und Bein, dass an unserer Schule die Lehrer gleich am ersten Tag daheim anrufen würden. Als sein großer Bruder die Schule geschwänzt habe, habe sein Vater schon um neun Uhr Bescheid gewusst.
Der Marius hat recht gehabt. In unserer Schule wird keine Woche gewartet. Mein Vater erzählte mir am Abend, dass die Dr. Wurm seine Kollegin um zehn Uhr im Büro angerufen hatte.
»Und?«, fragte ich.
»Sie hat alle paar Minuten versucht, die Anna zu erreichen«, sagte mein Vater, »aber die Anna hat ihr Handy auf Mailbox geschaltet gehabt.«
»Und?«, fragte ich wieder.
»Am Mittag hat die Anna ihr Handy wieder eingeschaltet«, sagte mein Vater, »und eisern gelogen, dass sie sehr wohl in der Schule gewesen wäre und die Lehrer spinnen würden.«
»Und?«, fragte ich zum dritten Mal.
Mein Vater zuckte mit den Schultern. »Ihre Mutter ist halt jetzt sehr ratlos. Sehr, sehr ratlos.«
Dann zupfte er an seiner Nase herum. Das tut er immer, wenn er unsicher ist und überlegt, ob er wirklich sagen soll, was er sagen will. Als seine Nase von der nervösen Zupferei schon ganz rot angelaufen war, sagte er endlich: »Also, vielleicht … Ich meine … Also, ihre Mama wird sie morgen in die Schule bringen, damit sie nicht wieder schwänzen kann … und vielleicht könntest du ein bisschen auf sie aufpassen.«
»Aufpassen?«, fragte ich verdutzt.
»Na ja«, sagte er, »damit sie nicht wieder abhaut.«
Anscheinend schaute ich ziemlich ablehnend, denn mein Vater murmelte kleinlaut: »War ja bloß so eine Idee.«
Und dann ging er in sein Arbeitszimmer und machte die Tür zu. Gleich darauf hörte ich, dass er telefonierte. Mit wem und was er sagte, konnte ich nicht verstehen.
Ist der jetzt beleidigt?, fragte ich mich. Denn normalerweise schließt mein Vater keine Türen im Haus. Nicht einmal die von seinem Badezimmer. Darum wissen alle meine Freunde sogar, dass er im Stehen und nicht im Sitzen pinkelt.
Da ich ein richtiger Morgenmuffel bin, hätte ich nichts dagegen, den morgendlichen Schulweg solo hinter mich zu bringen. Aber darauf nimmt die Laura keine Rücksicht. Sie wohnt bloß ein paar Häuser weiter, und wartet an jedem Schultag vor unserem Gartentor auf mich. Die sieben Minuten, die wir zur Schule brauchen, quatscht sie ohne Pause drauflos. Es stört sie überhaupt nicht, dass ich müde neben ihr hertrotte und kein Wort sage. Meistens bin ich noch so verschlafen, dass ich gar nicht mitbekomme, was sie mir erzählt.
So war es auch am Mittwoch in der Früh. Erst als die Laura und ich an der Kreuzung zwischen dem Park und der Schule ungeduldig darauf warteten, dass die Ampel endlich auf Grün schaltete, war ich halbwegs munter geworden.
Die Laura sagte gerade: »Angeblich hat sie ganz etwas anderes gelernt.«
»Wer hat etwas ganz anderes gelernt?«, fragte ich gähnend.
»He, Stummel, rede ich chinesisch mit dir?«, rügte mich die Laura.
Doch dann berichtete sie mir im Düsenjet-Tempo die Kurzfassung von dem, was sie mir in den letzten fünf Minuten ausführlich erzählt hatte, und das war Folgendes: Ihre Mama und die Mutter der Anna Lachs waren vor vielen Jahren Bürokolleginnen gewesen und hatten sich später dann aus den Augen verloren. Aber vergangenen Sonntag hatte die Frau Lachs Lauras Mutter angerufen und ihr gesagt, dass sie nun wieder hier wohnte. Und Lauras Mama hatte die Frau Lachs und deren Tochter für gestern zum Abendessen eingeladen.
Da Lauras Mama der Laura bloß gesagt hatte, ihre frühere Arbeitskollegin Sabine samt Tochter würde zum Essen kommen, ist die Laura natürlich total baff gewesen, als unsere »Neue« einmarschiert ist. Und als die Frau Lachs gehört hat, dass die Laura mit ihrer Anna in eine Klasse geht, hat sie gesäuselt: »Na super, Annilein, da hast du ja jetzt schon eine neue Freundin!«
Die Laura war deswegen noch am Morgen stocksauer auf die Frau Lachs.