© Dressler Verlag GmbH, Hamburg 2013
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Cover und Illustrationen: Iris Blanck
E-Book-Umsetzung 2013
ISBN 978-3-86272-773-5
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Sweetie und Rosinchen,
meinen beiden Lieblingstöchtern
Hier lernst du Greta kennen, wobei du leider so gut wie nichts über ihre geheimnisvolle Geheimkammer auf dem Dachboden erfährst. Noch nicht …
Als Greta gerade mal eine Minute auf der Welt war, wusste ihre Mama sofort, dass ihr Kind einen Namen braucht, der noch nicht mal böse klingt, wenn man ihn mal brüllen sollte. Deshalb hat sie sich für Gretchen entschieden. Aber weil die Hebamme diesen Namen nicht kannte und ihn deshalb um nichts auf der Welt auf das rosafarbene Babyarmbändchen schreiben wollte, hat Mama einfach Greta gesagt. Und dabei ist es geblieben. Für die einen heißt Greta »Greta« und für die anderen heißt sie »Gretchen«. Ganz wie man möchte.
Nicht, dass Mama in den nächsten Jahren allzu oft Grund hatte zu brüllen, nur eben manchmal, und da war es doch für alle Beteiligten wunderbar, wenn es nicht gar so unfreundlich klang.
Hören wir es uns doch einfach mal an, denn gerade eben ist es wieder so weit.
»Gretchen«, brüllt Mama durchs Treppenhaus in Richtung Dachboden, »warum habe ich dir denn das Walkie-Talkie gekauft, wenn du es da oben nie anmachst, vertrolltnochmalmenschenskind!?«
Oh! Richtig. Da liegt das Gerät auf dem wackligen Beistelltischchen aus Obstkisten in Gretas geheimer Kammer und gibt keinen Pieps von sich. Rasch drückt Greta auf den Empfangsknopf. Hoffentlich haben ihre kleinen Brüder den Kanal nicht verstellt, sonst muss Mama gleich noch mal brüllen.
»Kanal drei«, kommt es sogleich von unten.
Greta schaltet auf Kanal drei. Sofort knistert ihr Mamas Stimme hektisch entgegen.
»Krekken, ik bin kekt wek, aber ker Papa kommt kleik, bikke hilk ihm ein bikken mit krrrcks, rschsch …«
»Mit was?«, fragt Greta und lässt den Sprechknopf wieder los.
»Miktgeräkt, miktiges«, meldet sich Mama wieder, »alko akkes klar?«
»Alles klar«, seufzt Greta und weiß immer noch nicht, bei was sie Papa ein bikken helken soll. Sie wirft einen letzten Blick in Mamas alten Schminkspiegel. Greta kann Unterbrechungen nicht leiden. Gerade beim Anpassen einer neuen Perücke ist es ganz schlecht, wenn man …
»Krekken, nok mal weken Papa. Komm bikke runker und sak ihm unbedinkt, dak er auk keinen Kall krrcks, rschsch …«
Erschrocken schüttelt Greta sich die kleine Nagelschere von den Fingern, die sie zum Stutzen der Ponysträhnen benutzt hat.
»Was hast du gesagt, Mama? Owa ändaut«, sagt sie in das Gerät, wie es die Funker im Fernsehen immer tun.
»Wie kommkt ku kenn kekt karauf, Krekken? Klar ikt der Ofen aus. Alko küsch, Katz«, knistert Mama.
»Küsch, Mama«, antwortet Greta und legt das Gerät zur Seite. »Nur noch zwei Minuten, Mama, ich hab’s gleich«, murmelt Greta vor sich hin.
Vorsichtig nimmt sie sich die Perücke ab und setzt sie auf den alten Styropor-Kopf auf ihrem Arbeitstisch. Anschließend zieht sie die hautfarbene Feinstrumpfhose vom Kopf, die ihre Haare schön platt gepresst hat. Die Strumpfhose hat Greta aus dem Badezimmermülleimer gefischt, wo sie gelandet war, weil sie eine Laufmasche hatte. Die Laufmasche stört Greta kein bisschen. Was sie viel mehr stört, ist ihre juckende Kopfhaut. Ein echter Nachteil dieser Perückensache.
Greta pustet die abgeschnittenen Haare vom Tisch und verstaut die Nagelschere.
Nachdem sie die Schreibtischlampe ausgeknipst hat, ist es plötzlich ziemlich düster in ihrem geheimen Verschlag.
Nur wenige Lichtstrahlen dringen durch die Ritzen zwischen den Dachziegeln. Es knistert, raschelt und knackt im Gebälk. Greta schmeckt die staubige Luft auf der Zunge.
Für einen Moment sitzt sie ganz still auf ihrem Hocker und betrachtet das Sammelsurium um sich herum. Ein Gefühl von Stolz erfüllt sie. Das hier hat sie sich alles selbst zusammengesucht, -gekauft, -geliehen und -gemopst! Jedes einzelne Kleidungsstück, jeden Hut, jede Tasche und jedes Töpfchen Schminke. Die Wände von Gretas Zimmerchen sind mit den Seiten aus alten Micky-Maus-Heften tapeziert, die ihr Mama einmal vom Flohmarkt mitgebracht hat.
In dem Raum neben Gretas lagern bloß uralte Bücher, Bilderrahmen und leere Marmeladengläser. Über allem liegt eine dicke graue Staubschicht. Seit Greta auf dem Dachboden ihre Geheimkammer bezogen hat, ist noch kein Hausbewohner in dem anderen Kämmerchen gewesen. Auch nicht auf dem Dachboden übrigens, was aber ziemlich konkrete Gründe hat, wie du noch erfahren wirst.
»Kröööhhhzzzz«, plärrt das Walkie-Talkie in die Stille hinein.
Erschrocken fährt Greta zusammen. Der wohlige Grusel, der sie stets erfasst, wenn sie ein paar Augenblicke regungslos in der Dunkelheit ihrer Kammer sitzt, ist verschwunden. Stattdessen klopft ihr Herz zum Zerspringen. Vom Geräusch eines Walkie-Talkies! Greta wundert sich über sich selbst.
»Krekken, kanku mal runkerkommen kikke? Ik hake keine Ahkunk, ko Mama kie kraaacks, zzzzz, schsch, hinkekan hak«, knistert Papas Stimme.
»Die was?«, fragt Greta.
»Kie kraaacks, zzzz, kröööh. Unk kie krzkrz finke ik auk nik!«, sagt Papa.
Der Empfang des Walkie-Talkies ist wirklich glasklar und kristallrein. Echt beeindruckend. Immerhin versteht man jedes dritte Wort, denkt Greta und drückt den Sendeknopf.
»Ist gut, Papa, ich komme runter«, funkt Greta zurück und lässt den Apparat in ihre Jackentasche gleiten.
Seit Mama wieder arbeitet, weil Papa sich für unbestimmte Zeit freigenommen hat, um ein wissenschaftliches Buch über Hygro…, Hydro…, Thermo…, Geohydrothermodings, jedenfalls etwas Kompliziertes zu schreiben, herrscht bei Familie Jakob der totale Ausnahmezustand. Es kommt Greta fast so vor, als hätte Papa die letzten Jahre auf einem anderen Planeten verbracht. In einer Art Paralleluniversum vielleicht.
Er weiß nicht mal, wo man die Spülmaschine anmacht!
»Einsatzbesprechung, Kommissar!«, sagt Greta und ein winziger braun-weiß gefleckter Terrier erhebt sich seufzend von seinem Lager aus einer alten Polizeiuniform.
»Ausgerechnet jetzt«, brummt er und gähnt. Auch der Kommissar kann es nicht leiden, unterbrochen zu werden, besonders dann nicht, wenn er gerade davon geträumt hat, eine Metzgerei zu überfallen. Die Würstchen hingen in Reichweite! In unmittelbarer, nächster Reichweite!!! Der Kommissar leckt sich die Lippen.
Ist es nicht ziemlich seltsam, dass Greta und der Kommissar sich verstehen? Für Greta ist das gar nichts Besonderes, denn sie ist es gewohnt, dass ihr manchmal auch Dinge antworten, von denen sie es selbst nie gedacht hätte. Die kleine Jungfrau aus Stein zum Beispiel, die auf dem Marktplatzbrunnen sitzt. Und außerdem sind manche Dinge in Gretas Welt sowieso ein ganz klein wenig verrückter.
»Hast du keinen Hunger? Papa hat bestimmt gekocht«, sagt Greta und streichelt das kleine Hundeköpfchen.
»Gekocht? Dein Vater?«, erwidert der Kommissar. »Pah!«
Greta kichert. »Stimmt, Papa lässt sogar Wasser anbrennen!«
»Ach«, schwärmt der Kommissar, »im Polizeirevier hatten wir eine super Kantine … Pünktlich um zwölf Uhr mittags zogen die köstlichsten Gerüche durchs Haus. Und Frau Schlummberger von der Essensausgabe hat mir immer eine Extraportion auf den Teller getan.«
»Tja«, sagt Greta, »bis zu dem Tag, als du auf die großartige Wahnsinnsidee kamst, heimlich die Zigarren des Polizeidirektors zu rauchen.«
»Öhm«, macht der Kommissar und pfeift eine unschuldige Melodie. »Trüt, trüt, trüt.«
Der Kommissar und Gretas Onkel Wolfgang waren früher nämlich Kollegen bei der Polizei. Der Kommissar hat dort als Polizeihund und Drogenschnüffelhund gearbeitet. Weil er kaum größer als eine Ratte ist, kam er in jede noch so kleine Ritze von jedem noch so gut versteckten Versteck. Irgendwann sind er und Onkel Wolfgang während einer langweiligen Nachtschicht auf die großartige Wahnsinnsidee gekommen, sich über die Zigarren des Polizeidirektors herzumachen! Onkel Wolfgang hat sie gut vertragen, aber dem Kommissar ist es hundeelend geworden. Danach war der Kommissar eine Zeit lang krankgeschrieben (man kann auch sagen, er hatte eine Zigarrenrauchvergiftung, aber das hört er nicht so gerne) und wurde dann für arbeitsunfähig erklärt, weil ihm irgendwie der Geruchssinn flöten gegangen war. Ein Schnüffelhund ohne Schnüffelfunktion? Keine Chance. Und da Onkel Wolfgang sein Hundeführer war und er es sich nicht vorstellen konnte, jemals mit einem anderen Hund zu arbeiten, gingen kurzerhand beide in Pension. Onkel Wolfgang macht zurzeit eine Weltreise und deshalb verbringt der Kommissar seinen Ruhestand bei den Jakobs. Einmal hat Onkel Wolfgang aus Thailand angerufen, um zu erzählen, dass es dort nur sehr seltsame Sachen zu essen gäbe, die auch noch alle feuerchilischarf seien, und dass es ganz sicher die richtige Entscheidung gewesen sei, den Kommissar nicht mitzunehmen!
»Rückzug absichern«, sagt Greta jetzt und öffnet für den Kommissar die Tür ihrer Geheimkammer.
»Geht klar«, sagt der Kommissar und dreht eine Inspektionsrunde durch den Speicher.
Der Rest des Dachbodens ist sehr geräumig. Deswegen steht hier auch alles Mögliche herum. Durch kleine vergitterte Luken fällt gerade genug Licht, um schemenhaft die Konturen der ausrangierten Sachen zu erkennen. Greta weiß genau, welcher Gegenstand wo steht, aber manchmal kommt es ihr so vor, als ob sich die Sachen bewegten. Besonders der riesige Kleiderständer mit dem halb heruntergerutschten Schutzlaken jagt Greta immer wieder einen Schrecken ein, weil er aussieht wie ein waschechtes Gespenst. Ganz hinten in der Ecke steht eine alte Kinderwiege, deren Betthimmel grau und von Motten durchlöchert von der Stange hängt. Darin lebt eine muntere Mäusefamilie, und Greta ist bestimmt das einzige Kind in der Ziegeleistraße, dem schon mal Mäusebabys auf die Hand gepieselt haben.
»Keine besonderen Vorkommnisse«, berichtet der Kommissar, als er wieder bei Greta ist. An seinen Barthaaren hängen Spinnweben. »Bloß Nachwuchs bei der Mäusefamilie hinter den Kartons, zwei Grad Nordnordost.«
Wer so lange als Polizist gearbeitet hat, kann es sich natürlich nicht so schnell abgewöhnen, auch wie einer zu reden. Und natürlich hört der Kommissar auch nicht auf hundsnormale Straßenköter-Befehle wie Sitz, Platz oder Komm! Nein.
Onkel Wolfgang hat der Familie Jakob extra ein Wörterbuch dagelassen: Polizeihunddeutsch – Bürgerdeutsch/Bürgerdeutsch – Polizeihunddeutsch. Da Greta die Einzige war, die sich die Mühe gemacht hat, es durchzulesen, hat der Kommissar beschlossen, nur auf Greta zu hören, und ist deshalb praktisch Gretas Hund geworden. Und das ist auch gut so, denn Greta gerät alle naselang in seltsame Situationen, in denen es ziemlich nützlich sein kann, Polizeischutz dabeizuhaben.
»Aha«, erwidert Greta. »Kannste also wieder besser riechen?«
»Klaro«, meint der Kommissar, »geht wieder hundertprozentig, porentiefe Schnüffelung, glasklarer Empfang, alles tutti gesund!«
»Dann ist ja gut«, sagt Greta. »Was gibt’s denn zum Essen?«
»Willst du mich testen?«, fragt der Kommissar.
»Nee, ich hab Hunger«, sagt Greta.
Der Kommissar reckt seine Schnauze in die staubige Luft des Speichers.
»Die Luft ist rein«, sagt er nach einer Weile.
»Siehste, von wegen volle Schnüffelung!«, meint Greta.
»Nein«, sagt der Kommissar, »es ist wirklich nichts zu riechen, tut mir leid.«
»Mist«, meint Greta enttäuscht, »also gibt’s nur Brote.«