Zufall und Notwendigkeit
RUND UM DIE ÎLE DE LA CITÉ
Seine oder Nichtsein
Wände, die den Himmel stürmen
Romantik im Dreieck
Wo die Liebe hinführt
Wildschwein und Schokoladencreme
Dalís Uhren gehen anders
Wo die wilden Künstler hausen
Die Insel des heiligen Ludwig
RIVE GAUCHE
Unternehmen Rückeroberung
Bahnhof mit Renoir
Im Flussbett
Kirchengeschichte
Wo der Luxus Wellen schlägt
Allein unter Austern
Dame mit Einhorn
Schokoladen-Diät
Kaffee und Calamari
Schlaraffenland für Schaufensterlecker
UM DEN JARDIN DES PLANTES
Garten der Wunder
Westöstlicher Diwan
Straße der Leckerbissen
Römer und Gallier
Gotteshaus der guten Laune
Letzter Tango in Paris
RIVE DROITE
Philosophie mit Curry
Im Palast der Republik
Schlemmen wie Gott in Frankreich
Auf einen Drink mit Hemingway
Suppe der Könige – und Bettler
Eine Mall für Flaneure
Laufsteg in den Lüften
Aus erster Hand
Wo man sich die Kugel gibt
Ein Königsplatz fürs Volk
Pablos Palais
AN DEN GROSSEN BOULEVARDS
Oper mit Phantom
Das Paris des Präfekten
Im Garten des Glücks
Der Nase nach
Unter dem Hammer
Die grüne Wand
Augenschmaus und Gaumenfreuden
IM WILDEN OSTEN
Cirque d’Hiver
»Wir vergessen sie nicht!«
Erinnerung an eine Heldin
Die Dame aus Canton
Die tönerne Brücke
DER WESTEN
Schlicht und gut
Besuch bei Balzac
Cherchez la femme
Haute Couture für alle
Erotik mit Stil
Mit allen Wassern gewaschen
Kunststück
Triumph und Tragik
Traum aus Glas
Manhattan an der Seine
MONTMARTRE UND DER NORDEN
Romantisches Leben
Eine Rose für die Kameliendame
Das Leben der Bohème
Die Baguette des Präsidenten
Eingang zur Unterwelt
Magie der Dinge
AUSFLÜGE
Wenn Architekten Käse machen
Die Gesichter von Saint-Denis
Im Garten des Monsieur Monet
BILDNACHWEIS
REGISTER
Zufall und Notwendigkeit
TIPPS
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HINWEIS
HAUSNUMMERN WERDEN IN DIESEM BUCH, ANDERS ALS IN FRANKREICH ÜBLICH,
NACH DEM STRASSENNAMEN AUFGEFÜHRT,
ALSO Z. B. RUE DE CASTIGLIONE 4
Paris zu preisen, ist nicht besonders originell. Unzählige haben dies getan, in Romanen, Gedichten, Chansons, auf Gemälden, Fotografien, in Filmen, Tweets und auf Postkarten. Die vielleicht schönste Hommage an die französische Hauptstadt stammt von einem Amerikaner, von Ernest Hemingway, der Paris »ein Fest fürs Leben« nannte. Sein Lieblingsort an der Seine war die Bar des Ritz, über die der Nobelpreisträger schrieb: »Wenn ich vom Leben nach dem Tod im Himmel träume, dann spielt die Handlung im Ritz.«
Natürlich darf die Bar des Hotels, die heute »Bar Hemingway« heißt, in diesem Buch nicht fehlen. Und da beginnen die Probleme. Denn 66 Lieblingsorte auszuwählen, grenzt bei dieser Stadt an Willkür. Paris ist so reich an Sehenswürdigem und Liebenswertem, dass es 666 Kapitel verdienen würde – mindestens. Was also gehört hinein in diese Essenz? Was muss weggelassen werden? Paris ohne Louvre, Champs-Élysées und Sacré Cœur? Darf das sein?
Es darf. Es muss. Denn Lieblingsorte sind nicht unbedingt die wichtigsten oder meistbesuchten Plätze. Sie formen sich, geheimen Gesetzen folgend, im Herzen des Betrachters, und manchmal genügt ein Geruch, Lichtstrahl oder Augenblick im Ozean der Sinneseindrücke, um einen Lieblingsort zu schaffen.
Sie gehen über den Pont Neuf und summen unwillkürlich ein Chanson. Sie durchstreifen die Boutiquen in der Rue du Faubourg Saint-Honoré und stehen plötzlich vor einem Museum der Düfte. Sie suchen nach dem Café de Flore und landen in einer Austern-Bar. Sie heben den Blick und sehen diese sonderbare Sonnenuhr, von der Sie wissen möchten, wer sie geschaffen hat.
So entstehen Lieblingsorte – und dennoch folgt dieser Band nicht nur dem Zufall, sondern auch der Notwendigkeit. Spaziergänge, Clubs, Plätze, Ausstellungen, Geschäfte, Theater, Bilder und Monumente sollen nicht wahllos wie verstreute Konfetti sein, sondern wie Puzzle-Teile ineinandergreifen, so dass sie ein Bild dieser grandiosen, romantischen, eleganten, lebens- und liebenswerten Weltstadt ergeben, ein Bild, dem Sie auf einer Parisreise oder in der Erinnerung zu Hause viele weitere Facetten hinzufügen werden.
Rund um die Île de la Cité
METRO 4 STATION SAINT-MICHEL; METRO 10 STATION MAUBERT–MUTUALITÉ
Seine oder Nichtsein
INFOS UNTER WWW.BATOBUS.COM
STATIONEN: NOTRE-DAME, JARDIN DES PLANTES, HÔTEL DE VILLE, LOUVRE, CHAMPS-ÉLYSÉES, BEAUGRENELLE,
TOUR EIFFEL, MUSÉE D’ORSAY,
SAINT-GERMAIN-DES-PRéS
TAGESPASS: 17 EURO,
KINDER BIS 15 JAHRE 8 EURO
ZWEI-TAGES-PASS: 19 EURO,
KINDER BIS 15 JAHRE 10 EURO
Seine und Sein sind für die Pariser miteinander verquickt. Ohne den Fluss würde es ihre Stadt so nicht geben. Er bot dem keltischen Stamm der Parisii, der einst auf der Île de la Cité die Siedlung Lutetia baute, Schutz, Trinkwasser und Nahrung. Außerdem diente er als Transportweg. Zudem war die Seine an dieser Stelle, wegen der Inseln, leicht überbrückbar. Bis heute erinnert das Stadtwappen an die Bedeutung des Flusses. Es zeigt ein Schiff mit geblähtem Segel auf bewegtem Wasser. Der Wahlspruch von Paris lautet auf Lateinisch: »Fluctuat nec mergitur« – »Es schwankt, aber es geht nicht unter.«
So schwankend wie das Schicksal der Stadt, die sich immer wieder aus den Fluten der Geschichte – und verheerender Hochwasser – erhoben hat, war auch die Wasserqualität der Seine. In früheren Jahrhunderten liebten es die Pariser, an heißen Sommertagen darin zu baden. Historische Postkarten zeugen noch davon. Doch dann verschmutzten die Abwässer von Fabriken und Haushalten den Fluss immer mehr. 1923 musste das Schwimmen verboten werden. Bis in die 1970er Jahre nahmen auch immer mehr Fischarten Reißaus.
Doch seitdem hat sich die Lage deutlich gebessert. Kläranlagen wurden gebaut, Auflagen für die Industrie verschärft. Während Stickstoff, Phosphate und Kolibakterien im Wasser abnahmen, stieg der Sauerstoffgehalt. Die Fische kehrten zurück. Heute leben wieder 32 Arten im Stadtgebiet von Paris, darunter sogar Forellen. Und die Stadtregierung hat noch ehrgeizigere Ziele. Sie prüft geeignete Stellen, um Flussbäder zu eröffnen. Bald sollen die Pariser wieder gefahrlos in ihrer Seine schwimmen können.
Auch wenn einige Unerschrockene das bereits heute tun: Noch sollte man sich damit begnügen, die Seine vom Boot aus zu erkunden. Zahlreiche Varianten stehen dafür zur Verfügung, vom Miet-Motorboot samt Chauffeur bis hin zum Ausflugsschiff, auf dem getafelt und getanzt wird. Besonders praktisch sind die Linienboote, Batobus genannt, die neun Stationen zwischen Eiffelturm und Jardin des Plantes anfahren. Mit Tages-, Zwei-Tages- oder gar Jahrespass lassen sich etliche Sehenswürdigkeiten bequem und vergnüglich ansteuern und Brücken wie der Pont Neuf oder der Pont Alexandre III aus der Wasserperspektive betrachten. Selbst wenn der Wind häufig kräftig über die Seine bläst, gilt auch für den Batobus: Er schwankt, aber er geht nicht unter.
METRO 4 STATION CITé
Wände, die den Himmel stürmen
SQUARE JEAN XXIII
WWW.NOTREDAMEDEPARIS.FR
TIPP
ÖFFNUNGSZEITEN DER KATHEDRALE:
TGL. 7.45–18.45 UHR,
SA U SO BIS 19.15 UHR
EINTRITT FREI
FÜHRUNGEN AUF DEUTSCH:
FR 14 UHR UND SA 14.30;
TREFFPUNKT UNTER DER GROSSEN ORGEL
»Vor den Erfolg haben die Götter den Schweiß gesetzt«, mahnte der altgriechische Dichter Hesiod. Er meinte damit: Ohne Fleiß kein Preis. Das gilt auch bei der Besichtigung mancher Hauptsehenswürdigkeit an der Seine. Um etwa ins Innere der Kathedrale von Notre-Dame vorzudringen, muss der Besucher oft in langer Schlange auf dem schattenlosen Vorplatz schwitzen. Viel angenehmer ist es da, sich dem weltberühmten Bauwerk erst einmal von einer anderen Seite zu nähern. Um die Südseite und die Apsis der Kathedrale herum ist der Square Jean XXIII angelegt, ein Park mit Laubbäumen, Beeten und Bänken. Von hier aus lässt sich der stupende Außenbau in Ruhe betrachten und seine Architektur studieren.
Aus dem dichten Grün heraus erheben sich Chor und Apsis so filigran und luftig, als wollten sie sich aus der Materie lösen und gen Himmel fliegen. Über drei Etagen streben die Spitzbogen-Fenster in die Höhe, so dass nur wenig Raum für die Wände bleibt. Um den Druck nach außen abzufangen, der auf den Wänden lastet, wurde der Bau mit einem Kranz von Strebepfeilern umgeben. Von diesen aus ziehen elegante, 15 Meter weite Strebebögen stützend zu den Wänden. Das vermittelt ein Bild verwegener Leichtigkeit, wie es für die Hochgotik typisch ist.
Dabei soll es die Strebebögen und Strebepfeiler ursprünglich gar nicht gegeben haben. Als Bischof Maurice de Sully 1163 mit dem Bau beginnen ließ, war die damals revolutionäre Stilrichtung der Gotik gerade erst entstanden. Die Technik der Strebebögen und -pfeiler für den Außenbau stand noch nicht zur Verfügung. Diese wurden erst später, als der Bau fortschritt, hinzugefügt. Seither trägt das feingliedrige Kirchenkorsett dazu bei, dass Notre-
Dame in der ganzen Welt als gotische Kathedrale par excellence gilt.
METRO 7 STATION PONT NEUF
Romantik im Dreieck
PLACE DAUPHINE
TIPP
WENIGE SCHRITTE VON DER PLACE DAUPHINE ENTFERNT LIEGT DER ZAUBERHAFTE SQUARE DU VERT-GALANT
AN DER SPITZE DER INSEL. ER IST EIN IDEALER ORT FÜR EIN PICKNICK.
Kein Zweifel, es ist Ernstes im Gange: Die Herren mittleren Alters mustern den Sandboden mit grimmigem Blick. Einer geht in die Hocke und legt den Kopf schräg, um noch die kleinste Unebenheit auszumachen. Dann steht er auf, streckt den Rücken durch, reckt den rechten Arm waagrecht nach vorne und wirft eine Metallkugel sieben, acht Meter weit. Eine bereits dort liegende Kugel wird mit einem dumpfen Knall getroffen und springt zur Seite. Sofort gehen zwei andere Männer zur Einschlagstelle, um die Lage zu diskutieren.
Und die Lage ist ernst. Denn es geht hier nicht um irgendein Ballspiel, sondern um einen Präzisionssport namens Pétanque. Die in ganz Frankreich populäre Variante des Boule-Spiels wurde in der Gegend von Marseille erfunden. An Wochenenden kann man die in zwei Mannschaften eingeteilten Spieler auf unzähligen Plätzen beobachten, wie sie das cochonnet (die Schweinchen genannte Zielkugel) »legen«, um dann ihre eigenen Kugeln möglichst nah heran zu werfen und gegnerische wegzuschießen.
Wer zuschauen möchte, sollte in Paris zum Beispiel die Place Dauphine auf der Île de la Cité aufsuchen. Hier, unter den im Frühjahr rot blühenden Kastanienbäumen, finden sich oft Spieler ein. So vertieft sind sie in ihren Sport, dass sie die Neugierigen auszublenden scheinen, die sich um sie scharen.
Das Pétanque-Spiel ist nur ein guter Grund, hierherzukommen. Der andere: Der lauschige, dreieckige Sandplatz zwischen Justizpalast und Pont Neuf, der von Sträßchen mit Kopfsteinpflaster umgeben ist, gehört zu den romantischsten Orten von Paris. Die dicken Mauern der umstehenden Häuser halten den Lärm der Stadt fern. Abends tauchen die Laternen die Place Dauphine in ein magisches Licht.
König Heinrich IV., dessen Reiterstandbild auf dem nahen Pont Neuf steht, schenkte das Gelände 1607 seinem Vertrauten Achille de Harlay. Dieser ließ den Dreiecksplatz anlegen und mit 32 gleichförmigen, eleganten Stadthäusern samt Arkaden im Erdgeschoss umbauen. Benannt wurde der Platz nach dem Thronfolger (dauphin), der später als Ludwig XIII. über Frankreich herrschen sollte.
Heute sind von den Originalhäusern nur noch die beiden erhalten, die auf den Pont Neuf hinaus schauen. Dennoch hat der Platz viel von seiner harmonischen Geschlossenheit bewahrt. Bei einem Aperitif und einer Käseplatte vor einem der Cafés und Restaurants lässt sich das gemächliche Treiben hier betrachten. Und mit etwas Glück und guten Worten verleiht der Wirt dem Gast ein Set Kugeln, damit er sich beim Pétanque versuchen kann.
METRO 4 STATION SAINT-GERMAIN-DES-PRÉS
Wo die Liebe hinführt
CAFÉ RESTAURANT LES DEUX MAGOTS
PLACE SAINT-GERMAIN-DES-PRÉS 6
WWW.LESDEUXMAGOTS.FR
TGL. 7.30–1 UHR
CAFÉ DE FLORE
BOULEVARD SAINT-GERMAIN 172
WWW.CAFEDEFLORE.FR
TGL. 7.30–1.30 UHR
LE MUR DES JE T’AIME
SQUARE JEHAN-RICTUS/PLACE DES ABBESSES
MO – FR AB 8 UHR, SA, SO AB 9 UHR
SCHLIESSUNG JE NACH JAHRESZEIT ZWISCHEN 17.30 UND 21.30 UHR
TIPP
DAS MUSÉE NATIONAL EUGÈNE DELACROIX AN DER PLACE DE FURSTENBERG ZEIGT WOHNUNG UND ATELIER DES BEDEUTENDEN MALERS DER ROMANTIK.
WWW.MUSEE-DELACROIX.FR/FR
TGL. (AUSSER DI) 9.30–17.30 UHR
EINTRITT: 7 EURO
»Und der Himmel über Paris, verrät sein Geheimnis nie«, singt Édith Piaf. Zu diesem Geheimnis gehört, warum Paris die »Stadt der Liebe« genannt wird. Liegt es an der grandiosen Kulisse, die sie verliebten Paaren bietet? An den romantischen Ecken, dem Lichterkleid bei Nacht oder am Charme der Pariserinnen und Pariser? Wer weiß. Womöglich ist das Paris der Liebe ohnehin keine reale Stadt, sondern ein von Künstlern, Romanciers und Chansonniers ersonnener Ort – fast zu schön, um wahr zu sein.
Dennoch lässt sich dem Mythos auf die Spur kommen: bei einem Spaziergang immer der Liebe nach. Er beginnt im Viertel Saint-Germain-des-Prés. Hier liegen zwei Cafés, die den Mythos nähren und nach Woody Allens Film Midnight in Paris duften: Les Deux Magots und das Café de Flore. Dort philosophierten, stritten, arbeiteten und liebten sie, die Kinder des Olymp, die Dichter, Denker und Maler, Apollinaire, Rimbaud, Picasso, Hemingway, Sartre, Simone de Beauvoir. »Wir fragten nicht nach Geld, die Liebe und der Ruhm, das war für uns die Welt«, sang später Charles Aznavour in seinem Chanson La Bohème.
Weiter geht es zur lauschigen Place de Furstenberg. Im Sommer blühen hier die Catalpa-Bäume so blau wie die Blumen der Romantik. Kurz darauf endet das romantische Paris, und es beginnt das grandiose mit seinen Boulevards, Quais und Brücken. Auf dem Pont Neuf spielt der Film Die Liebenden von Pont-Neuf, in dem Juliette Binoche eine obdachlose Malerin mimt, die sich in einen Clochard verguckt.
Legendär ist die Geschichte von Heloise und Abaelard. Heloise, um 1095 geboren, lebte bei ihrem Onkel auf der Île de la Cité, im Haus Nummer 9 des Quai aux Fleurs. Hier verliebte sich die 18-Jährige in ihren 39 Jahre alten Hauslehrer Abaelard. Als sie schwanger wurde und einen Sohn gebar, ließ ihr erzürnter Onkel Abaelard überfallen und entmannen. Abaelard wurde Mönch, Heloise Nonne. Sie sahen sich nie wieder, begannen aber einen Briefwechsel, der berühmt werden sollte. Heute liegen sie vereint auf dem Friedhof Père Lachaise.
Auf dem rechten Seine-Ufer drehen im Winter die Paare ihre Kreise auf der Eisbahn vor dem Rathaus. Auf diesem Platz entstand das Bild Der Kuss des Fotografen Robert Doisneau. Lange hielt man es für einen Schnappschuss. Doch es war gestellt. Schein und Sein an der Seine liegen dicht beieinander. Die Sex-Kinos und Eros-Center am Boulevard de Clichy sind nur noch der schäbige Rest des alten Revue- und Rotlichtviertels. Gewiss, im Moulin Rouge schwingen noch immer die Tänzerinnen ihre Beine vor den Gästen, ein Spektakel, das einst Henri de Toulouse-Lautrec verewigte. Wobei die Damen damals zwar bekleideter, aber anzüglicher waren.
Ein paar Gehminuten später ist Le mur des je t’aime erreicht. Hier hat der Künstler Frédéric Baron den Satz »Ich liebe Dich« in 311 Sprachen auf eine Wand aus Lava-Kacheln geschrieben. Doch vielleicht wartet die Liebe gar nicht hier, sondern irgendwo, wenn man nicht mit ihr rechnet. In einem Lokal beobachtete Hemingway einst ein Mädchen. Später schrieb er über sie: »Ich habe dich gesehen, du Schöne, und jetzt gehörst du mir, auf wen du auch wartest, und wenn ich dich nie wiedersehe … du gehörst mir, und ganz Paris gehört mir.«
METRO 10 STATION MAUBERT–MUTUALITÉ ODER CARDINAL LEMOINE
Wildschwein und Schokoladencreme
CHEZ RENÉ
BOULEVARD SAINT-GERMAIN 14
DI – SA 8–23 UHR
Was zeichnet ein typisches Pariser Bistro aus? Eine Terrasse zur Straße, beschattet von dunkelroten oder blaugrünen Markisen; ein charmant-verträumtes Interieur, dem Bilder, Plakate und Spiegel an den Wänden, Tafeln mit den Tagesmenüs, rote Lederbänke sowie ein Tresen mit Zinkabdeckung jene Bohemien-Atmosphäre schenken, die die Stadt so reizvoll macht. Dann wären da noch Kellner und Kellnerinnen, die in der Regel freundlicher sind, als es das Vorurteil erwarten lässt. Ach ja, und die kleinen Tische müssen definitiv so eng beieinanderstehen, dass man die Gespräche der Sitznachbarn mitbekommt, selbst wenn man kaum Französisch kann.
Das alles bietet das Restaurant Chez René am Boulevard Saint-Germain. Außerdem ist, nicht ganz unwichtig, das Essen hier vorzüglich. Geröstetes Knochenmark mit Thymiansalz, Coq au Vin, Bœuf Bourguignon, Kabeljau, Wildschwein mit Preiselbeeren oder Mousse au Chocolat – das klingt nach bodenständig-guter französischer Küche, und es schmeckt auch so.
Wer befürchtet, die berühmt-berüchtigte Nouvelle Cuisine werde ihn in Paris mit leerem Geldbeutel und ebensolchem Magen zurücklassen, kann hier aufatmen. Die Preise sind angemessen, die Portionen üppig, und der wetterwendische Zeitgeist muss seit Jahrzehnten draußen bleiben.
Kein Wunder, dass Chez René eine Institution im Quartier Latin ist. François Mitterrand, ein anspruchsvoller Gourmet, aß regelmäßig hier. Doch auch der Tourist, der nur einmal vorbeikommt, wird liebenswürdig empfangen und sorgfältig bedient.