DER LETZTE LILIENREITER

– Deutsche Erstauflage –

Veröffentlicht durch den
MANTIKORE-VERLAG NICOLAI BONCZYK
Frankfurt am Main 2019

www.mantikore-verlag.de

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe
MANTIKORE-VERLAG NICOLAI BONCZYK
Text © Peter Hohmann

Lektorat: Anja Koda
Satz: Karl-Heinz Zapf
Covergestaltung: Jelena Begoviç, Matthias Lück

VP: 248-153-01-BD-0619

eISBN: 978-3-96188-093-5

Peter Hohmann

DER LETZTE
LILIENREITER

Roman

Inhalt

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

EPILOG

Aus ihrem Versteck beobachtete Alvena das Reh, wie es sich umblickte, schnupperte, den Hals beugte und an ein paar Kräutern zupfte, die neben dem Stamm einer Eiche sprossen.

Ein günstiger Augenblick für einen Schuss.

Jedoch, sie rührte sich nicht, erfreute sich stattdessen am Spiel der Muskeln, das sich unter dem glänzend braunen Fell abzeichnete. Einen Hasen hatte sie bereits geschossen, und so genoss sie es, einfach dazusitzen, die Natur zu sehen, zu hören, zu riechen, Zeuge des ewigen Kreislaufs des Lebens zu sein. Irgendwo klopfte ein Specht und der herbe Duft von Kräutern und Gräsern hing in der Luft. Die friedvolle Aura Sevestras, Göttin des Lebens, umschmeichelte Alvenas Gedanken – doch die Erinnerungen blieben, waren zu tief in ihren Geist gehämmert: ihre Eltern, die Kinder – der Berg. Wie von einer grausamen Hand gepackt, drehte sich ihr Kopf, bis sich ihr Blick zwischen den beiden Bergspitzen verfing, die wie Zwillinge in den Himmel ragten.

Olothirs Hörner.

Alvena verfluchte Olothir, auch wenn er bereits Hunderte von Jahren tot war; verfluchte die dunklen Gänge, die er in den Berg getrieben hatte.

Die dunklen Gänge, in denen man sich so leicht verlieren konnte …

Unvermittelt schoss der Kopf des Rehs in die Höhe. Mit ein paar Sätzen verschwand es im Unterholz.

Habe ich es aufgeschreckt? Hat es mich gerochen? Nein, der Wind kommt …

Ein vom Waldboden gedämpftes Geräusch erreichte sie.

Hufschlag. Langsamer Hufschlag. Immerhin nicht im Galopp, sonst wäre sie schutzlos dagestanden. Mit pochendem Herzen fischte sie einen Pfeil aus dem Köcher an ihrer Hüfte und legte ihn auf die Sehne ihres Jagdbogens.

Ein Reiter tauchte zwischen den Bäumen auf. Er war von hohem Wuchs und gehüllt in die Farben des Königs, ein grauer, zerfetzter Wappenrock mit der schwarzen Lilie in Brusthöhe. Ein eingedellter Vollhelm mit Sehschlitz verbarg sein Gesicht. Was hatte der Kerl in dieser abgeschiedenen Region zu schaffen?

Immerhin ein Mann des Königs und keiner von Lord Hengars Verrätern.

Trotzdem hallten die grausamen Geschichten vom Krieg in ihrem Kopf wider, und so verharrte sie hinter dem Busch, darauf hoffend, dass der Soldat sie nicht bemerkte. Nein, das würde nicht funktionieren, denn sein Weg führte direkt auf sie zu.

Langsam wich sie zurück.

Etwas knackte, wahrscheinlich ein spröder Ast. Für sie klang es wie ein Donnerschlag. Sie erstarrte vor Angst. Durch die abrupte Bewegung rutschte die Kerbe des Pfeilschafts von der Sehne.

Verflucht!

Weder zügelte der Reiter sein Pferd, noch drehte er den Kopf. Fast schien es, eine Stoffpuppe hockte im Sattel, kein Mensch.

Dann sah Alvena das Blut, das die linke Seite des Wappenrocks dunkel färbte, rötlich auf den metallenen Beinschienen schimmerte, das braune Fell des Schlachtrosses befleckte. Sie sah das vom Sattelknauf ausgehende Seil, das um den Körper des Reiters lief und verhinderte, dass er hinunterstürzte.

War er tot – oder nur ohnmächtig? Was sollte sie tun? Ihn einfach weiterreiten lassen?

Sie überlegte einen Moment, dann stand sie vorsichtig auf und ergriff mit der freien Hand das Zaumzeug. Das Ross schnaubte und beugte den Kopf, schien froh, endlich die Bürde der Verantwortung abzugeben.

»Herr?«, fragte Alvena.

Der Ritter antwortete nicht. Als das Pferd wieder antrabte, kippte sein Kopf zur Seite, als besäße der Hals keine Wirbel. Sie schob den Kettenhandschuh seiner linken Hand etwas nach unten und fühlte seinen Puls.

Er lebte.

Hoffentlich würde er durchhalten, bis sie Beerwinden erreichten. Sie verstärkte den Griff um das Zaumzeug und begann zu laufen.

Mit brennenden Beinen erklomm sie die Anhöhe zum Dorf, eilte weiter, bis sie den Hauptplatz erreichte. Dort hielt sie an, mit ihren Kräften am Ende. Sie ließ den Bogen fallen, stützte die Hände auf die Oberschenkel und sog die Luft mit tiefen Zügen in ihre Lungen. Wie ein Wasserfall brauste ihr das Blut in den Ohren.

Jemand zog sie unsanft in die Höhe.

Gurai.

Sein bärtiges Gesicht war so nah, dass sie seinen schlechten Atem roch. Eine schwulstige Narbe zog sich von der Stirn unter der linken Augenklappe hindurch bis zur Wange darunter. Das verbliebene Auge lag wie eine schwarze Murmel in seiner Höhle. »Bist du wahnsinnig?«, zischte er. »Sollten die Schergen Lord Hengars herausfinden, dass wir einem Mann des Königs Zuflucht gewähren, werden sie das Dorf niederbrennen!«

»Hengar ist ein Verräter. Unsere Treue gilt dem König.« Nach ein paar tiefen Atemzügen straffte sich ihre Haltung. »Haben uns seine Steuereintreiber jemals über Gebühr belästigt, hat er uns jemals übel gewollt?«

»Törichtes Weib! Verräter oder nicht, die Tage von König Bekias sind gezählt, und vielleicht ist dieser Kerl hier«, sein Zeigefinger wies anklagend auf den Ritter, »einer der letzten Königstreuen weit und breit.« Er wandte sich an die Dörfler. »Ihr alle habt gehört, was der fahrende Händler vor ein paar Tagen erzählt hat. Die beiden Heere haben sich auf den Sturmwiesen versammelt zur entscheidenden Schlacht. Und wir hörten auch, dass auf jeden Königstreuen mindestens vier von Hengars Männern kamen. Man muss kein Hellseher sein, um den Ausgang zu erraten.«

Stille senkte sich über den Dorfplatz, nur eine Krähe erhob sich krächzend vom Strohdach des Haupthauses.

»Es ist wahr, der König ist tot.«

Alle Blicke hefteten sich auf den Ritter. Der Helm verlieh seinen Worten, obwohl im Flüsterton gesprochen, einen harten Klang. Er schwankte im Sattel.

Alvena trat an seine Seite, doch er hielt sich aufrecht. »Findet man mich hier, könnte euch in der Tat Gefahr drohen. Ich reite weiter.«

»Das ist Selbstmord!«, begehrte Alvena auf. »Ihr werdet verbluten, kaum dass Ihr …«

Gurais Hand fuhr ihr hart ins Gesicht.

Sie landete im Staub, schmeckte Blut auf den Lippen.

»Genug!«

Alvena spuckte aus und blickte auf. Meklas, der alte Einsiedler, löste sich aus dem Menschenring. Schwer auf seinen Stab gestützt, humpelte er zu dem Ritter. »Was bist du nur für ein Hund, Gurai! Und alle anderen auch, die einem Verletzten ihre Hilfe verwehren!«

»Halt dein Maul, alter Mann!«, rief Gurai und machte ein paar Schritte auf Meklas zu.

Anstatt zurückzuweichen, richtete Meklas seinen Stab nach vorne. »Komm nur her, dann zieh ich dir den Scheitel nach!«

Kurz sah Gurai über die Schulter – und tatsächlich gesellten sich ein paar Männer zu ihm, darunter auch Hengist, ein übler Schläger und Gurais rechte Hand. Langsam gingen sie auf Meklas zu.

»Ich mag keine Quertreiber in meinem Dorf«, sagte Gurai, »und jetzt werde ich deinen Starrkopf ein wenig weich klopfen!«

»Genau«, pflichtete Hengist bei. Ein finsteres Lächeln spielte um seine dünnen Lippen. Der Hüne hielt einen Holzknüppel in der Hand, und Alvena fürchtete, sie würden den alten Kauz nicht nur verprügeln, sondern ohne viel Federlesens totschlagen.

»Hört auf damit!«, rief sie.

Hengist stieß sie zur Seite.

Ein metallisches Schleifen ließ die Männer innehalten. Der Ritter hatte sein Schwert gezogen, doch statt zu blitzen, schien der seltsam dunkle Stahl das Licht zu schlucken. Sein Arm zitterte, die Klinge jedoch zeigte unbeirrt auf Gurai, der sein gutes Auge zusammenkniff, da er genau in die Sonne schaute.

»Falls ihr dem Mann auch nur ein Haar krümmt, werde ich euch töten.«

Gurai lachte, aber es klang, als würgte er den Laut heraus wie einen feststeckenden Hühnerknochen in der Kehle. Unter den unschlüssigen Blicken seiner Männer leckte er sich über die Lippen. »Ich … werde keine alten Männer und Krüppel schlagen. Macht, was ihr wollt. Nur macht es nicht in meinem Dorf! Und sollte jemand kommen, der euch sucht, werde ich demjenigen nur allzu gerne Auskunft geben!«

Zustimmendes Gemurmel.

Der Reiter verlor sein Schwert, es fiel auf den Boden. Meklas hob es auf und betrachtete die glanzlose Klinge. Alvena schloss die Finger um das Zaumzeug und führte das Pferd aus dem Dorf.

Meklas folgte ihr.

»Das war tapfer«, sagte er, als das Dorf hinter ihnen lag.

»Mein Vater hätte dasselbe getan.« Sie seufzte. »Seitdem Gurai das Sagen hat …«

»Ich weiß. Er kann Leorn in keiner Weise ersetzen. Los, gehen wir zu meiner Hütte«, sagte er und legte ein Tempo vor, das mitzuhalten Alvena alle Mühe kostete. Und mit jedem Schritt, den sie tat, machte sich widerwillige Bewunderung in ihr breit. Wo war der schrullige Kerl, der nur ins Dorf kam, um sich unter den Tisch zu trinken, der dann von Königen, Schlachten, fernen Ländern und den Tücken des Schicksals faselte, bis man ihn hinauswarf? Es ging sogar die Kunde, er hätte den zweiten Blick.

Sein Gang war nicht mehr torkelnd, ja, er humpelte nicht einmal mehr, sondern bahnte sich trittsicher einen Weg zu seiner Hütte, die auf einer Lichtung im Wald stand.

Ab und an drehte er seinen Kopf und blickte den Ritter an, der wieder vornübergesunken im Sattel hockte. Dabei legte sich für einen Lidschlag ein Ausdruck auf Meklas‘ Züge, den Alvena nur schwerlich deuten konnte, vor allem des dichten, weiß-grauen Vollbartes wegen. Sie siedelte ihn irgendwo zwischen schmerzhafter Erinnerung und tiefer Sorge an.

Im Wald drangen die Laute einer erwachenden Natur zu ihnen, das Rascheln von kleinem Getier im Unterholz, die trillernden Gesänge der Vögel, die im Astwerk der Bäume ihre Nester bauten. Endlich roch es nach feuchter Erde und Kräutern und nicht mehr nach dem Laub, das während des Winters unter dem Schnee vor sich hin gefault war. Allmählich wich die Anspannung von ihr; einzig die aufgeplatzte Lippe erinnerte sie an den Vorfall im Dorf.

Trotzdem erfüllte sie die Blessur mit Stolz. Sie war nicht gewichen, hatte einer gerechten Sache ihre Stimme gegeben – ganz wie es ihr Vater sie gelehrt hatte.

Es gibt viele Dinge im Leben, die schmerzhaft sind. Nichts aber ist so beißend, so untilgbar wie der Schmerz, der dich begleitet, wenn du Unrecht hast geschehen lassen.

Alvena lächelte. Vater und seine Prinzipien. Ehern und unerschütterlich, als hätte sie jemand mit feurigem Griffel in seine Seele geritzt.

Im selben Moment kamen die Schuldgefühle.

Du hast ihn auf dem Gewissen – und Mutter auch!

Wie flüssiges Feuer schwappten die Erinnerungen durch ihren Kopf, brannten sich ein, jedes Mal aufs Neue. Irgendwann, wenn die Schuld ihren Verstand aufgefressen hätte, käme der Wahnsinn. Und sie würde ihn begrüßen.

Weshalb hatte sie auch in die Minen laufen müssen? Und die anderen Kinder angestachelt, ihr zu folgen? Eine Mutprobe. Wer sich nicht traute, war ein Feigling. Niemand war gerne ein Feigling. Zehn Kinder verschwanden in den Minen – zusammen mit allen Männern und Frauen, die sich auf die Suche nach ihnen machten. Insgesamt dreißig Leute. Darunter auch ihre Eltern.

Nur sie selbst war zurückgekehrt, gesund und ohne Erinnerung an das, was geschehen war. Sie wusste lediglich, dass sie in die Minen gelaufen war, nachdem es wieder passiert war. Es, der Makel, das Böse …

Verärgert spuckte sie aus. Sie war stark, das wusste sie, doch in dunklen Nächten, wenn der eisige Wind aus den Bergen an den Fensterläden rüttelte, senkte sich die Einsamkeit oft wie eine erstickende Decke auf sie herab. Da vermisste sie ihre Eltern, vor allem Vaters brummige Stimme, seine breiten Schultern und starken Hände, mit denen er sie als kleines Kind in den Schlaf gewiegt hatte, vermisste das Kitzeln seines Bartes auf ihrer Wange, wenn er sie fest ans Herz gedrückt hatte.

»Hilf mir, den Mann loszubinden«, sagte Meklas.

Stumm trat Alvena an das Pferd und stellte sich auf die Zehenspitzen, um den Strick am Sattelknauf zu lösen.

Zusammen trugen sie den Verwundeten in die Hütte. Alvena fürchtete, ihre Schultern würden herausbrechen, obwohl es nur wenige Meter bis zu dem mit Stroh gedeckten Bett waren.

Nachdem sie ihn abgelegt hatten, fasste sich Meklas mit beiden Händen an den Rücken und streckte sich. »Ich werde zu alt für so etwas.«

»Warst du früher ein Krieger?«, fragte Alvena, die Augen auf das Kettenhemd, den Schild, das Schwert und den Morgenstern gerichtet, die mit Nägeln an der Wand befestigt waren. Nirgends Rost, im Gegenteil: Die Ringe des geölten Kettenhemdes glimmerten im Sonnenlicht, das in einem dicken Streifen durch das gegenüberliegende Fenster fiel.

»Wir müssen uns um den Ritter kümmern«, erwiderte Meklas, nachdem er ihr ein paar Herzschläge lang in die Augen geblickt hatte.

Alvena nickte, erhitzte auf Meklas‘ Geheiß über der Feuerstelle einen Topf mit Wasser, während dieser den Schwertgürtel abschnallte, die Klinge, die er die ganze Zeit über getragen hatte, in die Scheide steckte, den Wappenrock mit einem gebogenem Dolch aufschnitt und zuletzt den Helm entfernte. Er sog die Luft ein, als das Gesicht darunter zum Vorschein kam.

Auch ihr Atem fing sich in der Kehle. Gut, er war ansehnlich, aber das allein war es nicht. Weil er so jung aussah? Sie schätzte ihn auf ein viertel Jahrhundert, also gerade mal fünf Jahre älter als sie. Vielleicht lag es an seinem Haar? Es war weiß wie frischer Schnee und zu vielen Zöpfen geflochten. Irgendetwas kitzelte ihr Gedächtnis. Sie konnte den Finger nicht darauf legen, doch hatte sie das untrügliche Gefühl, den Mann kennen zu müssen. Kurz öffneten sich seine Augen, dann fielen sie wieder zu.

Sie waren grau, grau wie ein Winterhimmel.

Weißes Haar, graue Augen …

»Hol das Wasser«, sagte Meklas, während er die Schnallen und Arretierungen des Brustpanzers öffnete. »Beim Kettenhemd brauche ich deine Hilfe.«

Alvena ging zu der Feuerstelle, drehte sich aber noch einmal um. »Wer ist er?«

»Später«, murmelte Meklas, der weiterhin an der Rüstung herumfuhrwerkte.

Der Panzer ließ sich gut entfernen, das Kettenhemd war eine andere Sache: Alvena musste den Oberkörper des Verwundeten aufrecht halten, während Meklas ihm das Ringgeflecht vorsichtig über den Kopf streifte. Schmerzerfüllt stöhnte der Mann auf: Ein abgebrochener Pfeil steckte unterhalb der rechten Schulter in seinem Rücken, und das Kettenhemd zerrte daran. Aber das war nicht die einzige Verletzung: Über der linken Hüfte prangte ein rundes, tiefes Loch, aus dem Blut quoll.

Alvena wischte es mit einem Lappen fort, den sie in das heiße Wasser getaucht hatte, dann trat Meklas mit Messer, Nadel und Faden heran.

»Was tust du?«, fragte sie erschrocken, weil Meklas das Messer an der runden Wunde ansetzte.

»So wird das Fleisch nicht richtig verheilen. Ein Speer oder eine Lanze hat diese Wunde verursacht. Ich muss sie erweitern, bevor ich sie vernähen kann.«

Alvena wandte den Kopf ab, als die Messerspitze im Fleisch versank und neues Blut hervorpresste. Sie konnte nicht mehr tun, als dem Ritter den Schweiß von der Stirn zu tupfen. Er drehte den Kopf von einer Seite zur anderen, murmelte dabei. Sie hörte lediglich das Wort »König« heraus.

Nachdem Meklas auch den Pfeil herausgeschnitten und die Wunden verbunden hatte, setzten sich beide erschöpft an den Tisch neben der Feuerstelle.

»Wird er durchkommen?« fragte sie leise, ihr Blick auf das Laken gerichtet, das sich kaum merkbar im Takt seiner Atemzüge hob und senkte.

Meklas schien durch sie hindurchzustarren. Wortlos stand er auf, holte einen Krug, stellte zwei Tonbecher auf den Tisch und goss ein.

Vorher noch von Kraft und Entschlossenheit beseelt, war er jetzt wieder ganz der verlorene, knittrige Einsiedler, den niemand recht verstand. Er stürzte den Inhalt des Bechers hinunter und füllte nach.

Seufzend griff Alvena nach dem irdenen Gefäß und trank. Im nächsten Moment meinte sie, eine Feuersbrunst wüte durch ihren Mund. Trotzdem schluckte sie die Flüssigkeit; das Brennen schoss ihr in den Bauch. Nach einem zweiten und einem dritten Schluck war ihr so heiß, dass sie glaubte, vor der Esse einer Schmiede zu sitzen.

Meklas wollte nachschenken. Sie hielt beide Hände über den Becher und schüttelte den Kopf. Er zuckte die Schultern, zwinkerte ihr dann zu und stürzte das widerliche Zeug abermals in seinen Rachen.

Nach einiger Zeit des Schweigens sank Alvena gegen die Lehne ihres Stuhls und ließ ihre Gedanken fliegen. Ein Fehler: Wie Aasgeier kreisten sie unaufhörlich um ihre Eltern, den Berg, die Kinder …

Plötzlich spürte sie das Kribbeln auf der Haut, als überzöge eine Eisschicht ihren Körper. Sie keuchte und schoss in die Höhe, knallte dabei mit dem Knie gegen Tisch, dass dieser hüpfte. Meklas‘ Becher fiel um, der Schnaps breitete sich auf dem dunklen Holz aus, rann in die Furchen und Rillen. Auch der Krug wankte. Meklas bekam ihn zu fassen, bevor er umkippte. »Glück gehabt«, schnarrte er, seine Stimme leicht verwischt.

»Entschuldige«, murmelte sie, »aber ich … ich muss nach draußen, mir die Beine vertreten.«

Abermals zuckte Meklas mit den Schultern und brabbelte irgendetwas.

Laue Frühlingsluft empfing Alvena. Sie hob die Hand vor Augen, da das Licht der untergehenden Sonne zwischen den Bäumen hindurchstach. Einige tiefe Atemzüge, doch ihr Unwohlsein blieb, steigerte sich sogar, bis die Kälte zu einem Brennen wurde, allumfassend und vernichtend. Sie stolperte ein paar Schritte, dann brach sie in die Knie und wimmerte. »Nein, ich will … will es nicht!«

Ihr Körper zuckte. Sie stöhnte. Der Schmerz wanderte nach innen, in ihren Bauch, in ihr Herz, und riss dort mit glühenden Klauen, schlimmer als all die Male zuvor. Viel schlimmer. Es wollte wieder hinaus, wie damals, kurz bevor sie in den Berg gegangen war.

Ein gutturaler Schrei entriss sich ihrer Kehle, ehe es aus ihr herausbrauch, urgewaltig und verheerend. Ein Strahl, in dem sich das Feuer wand wie Schlangenleiber, weißorange und glutrot, zischte über die Lichtung. Traf einen Baum, der sich knisternd und knackend entzündete, die Rinde schälte sich ab, verkohlte.

Am Boden liegend, betrachtete sie die Flammen, die sich in wildem Tanz am Stamm emporschlängelten. Funken stoben umher, als ein Windstoß sie erfasste und zu anderen Bäumen trug. Einen Moment meinte sie, eine Gestalt in den Flammen zu sehen, doch alles verschwamm, weil ihr die Hitze und der Rauch Tränen in die Augen trieben.

Auf zitternden Beinen wankte sie zu einem Regenfass, nahm einen Eimer, schöpfte Wasser. Taumelte auf das Inferno zu. Nach einigen Schritten entglitt der Eimer ihrem Griff und klatschte auf den Boden.

Dann, urplötzlich, erstarben die Flammen. Einzig der verkohlte Baum, der in der Luft hängende Rauch und der brandige Geruch erinnerten an das Geschehen.

»Sevestra sei gedankt!«, seufzte Alvena, auch wenn sie nicht glaubte, dass die Göttin der Wälder für diese glückliche Fügung verantwortlich war.

Erschöpft sank sie zu Boden, entledigte sich aller Gedanken, bettete den Kopf auf das Gras, bis das Himmelszelt ihr Blickfeld füllte. Die ersten Sterne funkelten wie zwinkernde Augen.

Dann … geschah etwas. Was genau, das konnte sie im ersten Moment nicht sagen. Aber als sie aufstand und sich umsah, unterdrückte sie einen Schrei der Furcht.

Der Wald war weg!

Und der Himmel!

Alles um sie herum waberte in verwaschenem Grau, durchsetzt mit weißen Punkten, fast so, als befände sie sich in einer Wolke.

»Fürchte dich nicht«, wehte es an ihr Ohr.

Alvena wirbelte herum.

Eine Frau trat aus dem Nebel. Groß, die Haltung edel, das lange Haar grau durchschossen. Krähenfüße lagen unter warmen, grünen Augen. Ihr Lächeln wirkte offen.

»Wo bin ich?«

»Das weiß nicht einmal ich.« Die Frau machte eine umfassende Bewegung, die ihren hellblauen, mit silbernen Verzierungen durchwirkten Umhang rascheln ließ. »Ich kenne diesen Ort nur aus Sagen: Nifilos, die Welt der Gedanken und Gefühle, die das Fleisch nicht erreichen kann.«

»Ich verstehe nicht.«

»Dein Körper ist weiterhin in deiner Welt«, sagte die Frau und hob die Hand, als wollte sie Alvena anfassen. Ihre Lippen zitterten, während sie die Hand wieder sinken ließ. »Ich weiß nicht, was passieren würde, sollte ich dich berühren.« Tränen zogen glitzernde Spuren über ihre Wangen. »Ich habe dich gespürt, als sich deine Magie Bahn gebrochen hat, wild und ungestüm. Das Wissen, dass du lebst, hat mir Hoffnung gegeben in den dunkelsten Stunden.«

Alvenas Verwirrung wuchs mit jedem Atemzug. »Wer seid Ihr? Ihr scheint mich zu kennen, doch ich kenne Euch nicht.«

»Wirklich nicht? Erinnere dich an die Momente, wenn deine Magie herausgebrochen ist wie Wasser durch einen geborstenen Damm. Hast du da nicht gespürt, dass jemand nach dir sucht?«

»Ich … ich weiß nicht. Ich will keine Magie. Meine Eltern besitzen … besaßen diese Gabe nicht. Ich habe Angst davor.«

»Deine Eltern«, echote die Frau. »Hat deine … Mutter auch dein nachtschwarzes Haar, deine smaragdgrünen Augen? Den wohlgeformten Körper?« Sie verstummte, schloss einen Moment die Augen. »Wenn du versuchst, Miraibas Gabe zu unterdrücken, wird sie immer wieder hervorbrechen und sich deiner Kontrolle entziehen. Du musst dich ihr öffnen. Wie eine Blüte, die sich dem Sonnenlicht entgegenstreckt. Versteckst du dich weiterhin vor ihr, wird sie dich eines Tages verbrennen.«

»Das ist nicht wahr!«

Die Frau sah sie nachsichtig an, als wäre sie ein Kind, das eine lässliche Dummheit begangen hatte. »Es liegt in deiner Natur. Du kannst der Magie nicht entrinnen. Sie ist in dir, so wie das Blut in jedem Lebewesen fließt.«

Auf einmal begann die Frau zu verblassen, wie ein Nebelstreifen, der sich in der Sonne auflöste. Immer noch lächelte sie. »Beim nächsten Mal akzeptiere die Magie als Teil von dir – und sie wird dich akzeptieren. Ich werde deinen Ruf hören. Deine Kraft wächst mit jedem Tag. Ich bin stolz auf dich, meine Tochter.«

Warum dauert das denn so lange?«, beschwerte sich Hengar. Larkus löste die Finger vom Kopf der Zeichnerin, die auf einem Schemel vor einer Leinwand saß. Eine geharnischte Antwort brannte ihm auf der Zunge, doch er atmete nur tief durch und öffnete die Augen. Die magische Verbindung, der Hauch, den er gespürt hatte, war dahin.

»Was ist?« Hengar beugte sich vor und betrachtete die Leinwand, ein Mischmasch aus verschmierter Farbe und zittrigen Linien. Die breite Stirn legte sich in Falten, mit der Linken strich er sich durch den dichten Bart. »Das ist ja nur Gekleckse. Jedes Kind kann das!«

Wieder schöpfte Larkus tief Atem. »Herr, das Wirken arkaner Kunst erfordert viel Feingefühl und Konzentration – und lässt sich nur ohne störende Einflüsse praktizieren.«

Hengars Gesicht bekam einen verkniffenen Zug, als er sich Larkus zuwandte. »Du bist der beste Magier weit und breit – deine eigenen Worte –, aber bis jetzt ist es dir nicht gelungen, das Zepter ausfindig zu machen.« Er trat so dicht heran, dass Larkus dagegen ankämpfen musste, einen Schritt zurückzuweichen. Wieder rief er sich ins Gedächtnis, dass Hengar nicht zu unterschätzen war. Bekias‘ über dem Südtor aufgespießter Kopf legte davon Zeugnis ab. Hengar mochte ein Grobklotz sein, ein Sturkopf, jemand, der seinen Emotionen und Gelüsten nachgab, doch dumm, das war er nicht.

»Es ist nicht einfach«, sagte Larkus und leckte sich über die Lippen. »Tausende Gefühle, Tausende Eindrücke schweben weiterhin über der Wallstadt und erzeugen einen gewaltigen Nachhall, der die Spur des Zepters überdeckt.«

»Dann streng dich eben an!«

Wut kochte in Larkus hoch, er wollte sie entfesseln, Hengar einfach zerschmettern, sich am Brechen seiner Knochen ergötzen. Mit Mühe hielt er sie zurück: Noch war der Zeitpunkt nicht gekommen.

Irgendwann jedoch werde ich ihn abfackeln wie eine vertrocknete Ähre!

»Ich werde mein Bestes tun«, hörte Larkus sich sagen. »Gestattet mir nur, mich für ein paar Stunden in meine Gemächer zurückzuziehen. Erfrischt und ausgeruht wird es mir sicher ein Leichtes sein, das Zep…«

»Sofort«, sagte Hengar.

Larkus wusste, es würde Tage dauern, bis er wieder zaubern könnte, sollte er jetzt versuchen, den letzten Rest Magie aus sich herauszukratzen.

Mit einem Ruck wandte er sich wieder der Zeichnerin zu. »Noch mal.«

Die Frau nickte und legte eine frische Leinwand auf.

Larkus schloss die Augen, bettete seine Hände auf ihren Kopf, verbannte alle Eindrücke aus seinem Geist, die Geräusche von Hengars Schritten, der unruhig auf und ab ging, den muffigen Geruch der Kammer, die Wärme auf dem Rücken, welche die Sonne durch das Fenster schickte. Dann suchte er den Strom der Magie und tauchte darin ein.

Das Bild des Schlachtfeldes erschien vor seinem geistigen Auge. Unzählige blutbeschmierte Waffen, Pfeile, die im Boden oder in Leibern steckten, zerrissene Fahnen, Menschen mit Tüchern vor dem Mund, die die Toten zu den aufgeworfenen Gräbern schafften.

Larkus begann zu zittern, als er mehr und mehr Magie bündelte und aussandte. Wie ein fernes Echo aus den Bergen erreichte ihn der Sinneshauch, der ihn vor Hengars Unterbrechung gestreift hatte. Er drang tiefer in die Magie ein. Farben umwirbelten ihn, von tiefrot bis gleißend weiß wie der Kern einer Flamme. Er erhaschte das Gold, heftete sich daran; ein Gefühl, als berührte er den Körper einer mächtigen Kreatur.

Das Zepter!

Larkus folgte dem Gold, das sich wie ein heller Strom durch die Landschaft zog, entfernte sich von dem Schlachtfeld, glitt über einen Hügel, immer weiter Richtung Westen. Schweiß rann seinen Rücken hinab, ein kitzelndes Rinnsal; sein Kopf pochte, als klopfe jemand von innen gegen die Schädeldecke. Er biss die Zähne zusammen. So dicht war er dran, er durfte nicht aufgeben! Irgendwann erreichte er einen Wald, dann ein Dorf, dann …

Stöhnend taumelte er zurück und bemerkte Flammen, die sich in seinen Umhang fraßen. Er riss die goldverbrämte Kordel in Halshöhe auf und schüttelte sich aus dem brennenden Stoff.

Hengar sprang herbei und trat die Flammen aus.

»Was ist passiert?«

»Magie!«, keuchte Larkus, die Augen auf die schwelende Robe gerichtet.

»Hast du das Zepter gefunden?«

Larkus stieß die Zeichnerin von dem Schemel und setzte sich, da er fürchtete, jeden Moment vor Schwäche zu stürzen. »Ja.«

Ein breites, gelbzahniges Grinsen meißelte sich in Hengars dichten Bart. »Sehr gut. Und das Feuer?«

»Ich weiß nicht. Die Magie verschmolz, Zepter und Feuer wurden eins. Derjenige, der dieses Feuer entfachte, könnte das Zepter haben.«

»Ist es dort?« Hengars Finger deutete auf die Zeichnung.

Larkus betrachtete das Bild eine Weile. Ein Dorf. Nichts Besonderes.

Nein, halt …

Schemen im Hintergrund, die aussahen wie … zwei Bergspitzen. Ein Schauder rieselte seinen Rücken hinab: Olothirs Hörner. »Ich … kenne den Ort.«

Hengars Grinsen wurde das eines Raubtieres. »Ruh dich aus. Morgen werden wir beratschlagen, was zu tun ist. Sollte tatsächlich ein Magiekundiger das Zepter in seine schmutzigen Hände bekommen haben, müssen wir vorsichtig sein.«

Ehe er aufstand, ruhte Larkus‘ Blick einen Lidschlag auf Hengars Fingernägeln, unter denen sich dunkle Dreckränder abzeichneten.

Auf zitternden Beinen betrat Larkus sein Gemach. Die Macht des unbekannten Magiers hatte ihn erschüttert, obwohl sie unfokussiert gewirkt hatte, einfach ein Verbrennen aufgestauter Kraft. Mit Müh und Not hatte er das Feuer ersterben lassen, sonst hätte es ihn vernichtet. Jetzt galt es, diese unvorhergesehene Wendung schnellstmöglich zu durchleuchten, den Magier zu finden – und sich seiner zu entledigen. Sehnsüchtig betrachtete er sein Bett mit dem beigen, ausladenden Stoffhimmel, wollte sich in die weichen Kissen sinken lassen, wollte …

Er straffte sich, holte einen neuen violetten Umhang aus der Kleidertruhe und setzte sich an seinen Arbeitstisch. Nie hatte er die Kontrolle über die Ereignisse um sich herum verloren, und das würde ihm auch jetzt nicht passieren. Egal, was Hengar vorhatte, egal, wer der fremde Magier war, er, Larkus, würde auf alles vorbereitet sein.

Nach einem Blick in den kleinen, mit Edelsteinen besetzten Spiegel, der auf dem Tisch stand, überprüfte er die magischen Fallen an den Schubladen. Alles an Ort und Stelle. Er entschärfte sie und holte ein mit einem Lederband umwickeltes Pergamentbündel heraus. Nachdem er sich Seidenhandschuhe übergestreift hatte, blätterte er die Schriftstücke durch, die dabei knisterten und raschelten wie sprödes Laub.

Auf diesen Seiten befand sich altes Wissen – und Wissen war Macht. Zwar vermischte sich Geschichtliches mit Legenden und Prophezeiungen, doch es waren Aufzeichnungen, die bis zu den Zeiten der Herodim zurückreichten. Viel Geld und Arbeit hatte er darauf verwandt, die einzelnen Seiten zusammenzutragen. Er war sicher, niemand sonst in ganz Enodar verfügte über einen derartigen Wissensschatz. Einiges war in einer ihm unbekannten Sprache festgehalten, vieles allerdings verstand er. Ohne die Wurzeln der Vergangenheit schwebe man haltlos in der Gegenwart – und dumm, hatte sein Lehrmeister zu sagen gepflegt. Wie wahr. Sollte sich Hengar doch heute Nacht mit den anderen Adeligen wieder das Hirn mit Met aufweichen, sollten sie doch alle ihre kümmerlichen Träume von Frauen, Reichtum und Ruhm auf dem Schlachtfeld träumen. Was war das schon verglichen mit der Macht der Magie?

Er würde weiter nach alten Schriftstücken suchen, und irgendwann würde er auf einen Hinweis stoßen, der ihn zu einem Buch der Macht führte, jenem Werk, das die gesammelten Kenntnisse der Herodim vereinte – und das ihn schlussendlich zu Ajis führen würde, dem Tempel, aus dem die Magie strömte und alle Welten damit speiste. Die Ungebildeten, die Dummen und Einfältigen glaubten felsenfest, es gebe nur diese eine Welt. Lächerlich! In Wahrheit …

Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus seiner Beschaulichkeit.

»Ja?«, rief er unwirsch.

Die Tür schwang auf.

Gaibar verbeugte sich. Sein zu großer, missgestalteter Kopf fiel dabei nach vorne, sodass es Larkus nicht gewundert hätte, wäre der spindeldürre, faltige Hals einfach abgebrochen.

»Was gibt es?«

»Das Experiment verläuft sehr zufriedenstellend. Zwei haben sich bereits bewegt.« Gaibars schiefe Zähne machten aus beinahe jedem Wort ein Zischen, das Larkus einen Schauder über den Rücken jagte, erinnerten ihn die Laute doch an diese widerlichen Sekkrechim und ihre Erste Priesterin Shezzakira. »Gut, Gaibar, sehr gut. Ich werde morgen nach dem Rechten sehen. Dann erhältst du auch deine Belohnung.«

Ein leises Heulen, fast ein Winseln, drang aus Gaibars Kehle, während er sich zurückzog, den verformten Körper immer noch gebeugt haltend. Sein mit Leder umwickelter Klumpfuß erzeugte ein Schleifgeräusch, das Larkus die Nackenhärchen aufstellte.

Was für eine abscheuliche Kreatur, dachte er, nachdem Gaibar verschwunden war. Niemand sonst allerdings konnte er, wollte er mit der heiklen Aufgabe betrauen, seine Experimente zu hüten – zumal er wusste, dass Gaibar ihn niemals verraten würde. Dafür entlohnte er ihn zu fürstlich.

Larkus stand auf, ging zu der goldenen Schüssel mit Früchten, die auf einem fein geschnitzten Tischchen neben dem Bett stand, und nahm ein paar Pflaumen heraus. Der süßliche Geschmack vertrieb den bitteren Belag, der sich auf seine Zunge legte, wann immer er Gaibar erblickte. Manchmal hegte er die irrationale Furcht, er könnte eines Tages genauso aussehen wie der Krüppel. Mit einer Hand strich er sich durch den nach unten spitz zugeschnittenen Kinnbart. Er wusste, er war ansehnlich – lange, schwarze Haare, feine Hände, markante Gesichtszüge und stechend blaue Augen –, der Gedanke jedoch, dass er seine Jugend und sein Aussehen eines Tages einbüßen könnte, erfüllte ihn mit Schrecken.

Da es allmählich dunkel wurde, entzündete er die dicke Kerze auf seinem Arbeitstisch und vertiefte sich wieder in die Stelle, auf die er gestoßen war, bevor Hengar ihn zu sich gerufen hatte. Ob Prophezeiung oder Fiebertraum eines Wahnsinnigen, das ließ sich oftmals nicht unterscheiden. Doch hatte er nicht anhand einer Legende den Grundstein dafür gelegt, der mächtigste Magier aller Zeiten zu werden?

Seine Gedanken wanderten zurück in die Vergangenheit. Er sah den hüpfenden Lichtschein der Fackeln, spürte die Enge der immer tiefer führenden Stollen, und dann, dann hörte er wieder dieses markerschütternde Geheul, das er nie vergessen würde.

Larkus raffte den Umhang enger um die Schultern und starrte auf die Zeilen.

Im Blute erblühn wird Enodar.

Alles kehrt zurück, Blut, Neues und auch, was längst vergessen war.

Blut der Alten, Blut der Neuen, Blut des Einen, den es nur im Berge gab. Vom Blut getrunken, zwölf wie Stahl, der Erste dem Tod nicht erlag.

Der Erste in sich und auch in der Hand,

die Macht des Einen unverwandt,

mit sich trägt und sie ergründet,

wenn im Schmerz sich Fleisch mit Stahl verbündet.

Wenn der Tod kommt und das Leben,

die Schlange stirbt und sich Brücken regen,

wenn Wasser mit Feuer sich verbindet,

der Suchende Erlösung findet …

Blut des Einen, den es nur im Berge gab …

Larkus lehnte sich zurück. Sollte sich der Kreis tatsächlich dort schließen, wo alles seinen Lauf genommen hatte?

Olothirs Hörner.

Der Erste dem Tod nicht erlag … Die Macht des Einen in sich trägt.

Padeus. Es konnte nur Padeus sein, der Erste der Adana.

»Verdammt!« Die restlichen elf Adana waren in der Schlacht gefallen, hatten ihren König bis zum letzten Atemzug verteidigt. Warum musste ausgerechnet Padeus noch leben, König Bekias‘ Waffenmeister? Das war ein Gegner, den man nicht unterschätzen durfte. Und dazu dieser Magiekundige! Hatten die beiden vereinbart, sich im Falle einer Niederlage in Beerwinden zu treffen? Was wollten sie dort?

»Das Zepter zerstören«, zischte Larkus im Moment der Erkenntnis. Natürlich! An dem Ort, wo das Zepter seine Macht erlangt hatte, wollten sie es vernichten, damit niemand sonst es tragen konnte, denn ohne Zepter kein legitimer König! Hengar würde sich nicht halten. Auf Dauer würde Enodar zerbröckeln wie Ton, der zu lange in der Sonne gelegen hatte. War das wirklich Padeus‘ Plan? Jenes Reich dem Untergang weihen, das zu verteidigen er geschworen hatte? Oder wollten sie das Zepter lediglich verstecken? Oder gar durch das Tor schicken?

Er sprang auf und trat an das Fenster. Der laue Abendwind zupfte wie ein verspieltes Kind an seinem Haar und trug die Geräusche Bethanis‘ an sein Ohr: Stimmgewirr, Lachen, das Knurren kämpfender Hunde und die schweren Schläge der Tempelglocke.

Nein, unmöglich. Das Tor war nicht mehr zu gebrauchen, er hatte es sich ganz genau angesehen. Niemand könnte es je wieder öffnen. Aber es gab weitere Tore.

Man musste sie eben nur finden, diese Korridore ins Alles und ins Nichts.

Gedankenverloren betrachtete Meklas den Schnaps, der im Becher hin- und herschwappte wie der Wellenschlag eines kleinen Sees. Ein Tropfen spritzte hoch, schien einen Moment in der Luft zu schweben, bevor er auf den Tisch fiel und sich mit der Lache vereinigte, die er noch nicht weggewischt hatte.

Er fluchte leise. Der schöne Schnaps! Dann fluchte er lauter, denn seine Sinne schienen dagegen anzukämpfen, sich vom Alkohol umnebeln zu lassen. Trotzig nahm er einen weiteren Schluck. Er würgte, schluckte dennoch, ehe er den Becher gegen die Wand warf, wo er krachend zersplitterte.

Ein Stöhnen drang von der Bettstatt.

Meklas wandte den Kopf, rieb sich die Augen, als gälte es, ein Trugbild zu verscheuchen. Doch der Ritter blieb … Padeus blieb.

Meklas ging zum Bett und überprüfte die Verbände. Die Pfeilwunde dürfte keine Probleme mehr machen, die Spitze war herausgeschnitten. Die Speerwunde jedoch war tief. Schon wieder ein dunkelroter Fleck auf dem frischen Verband. Wie hatte Padeus es geschafft, mit einer solchen Verletzung vom Schlachtfeld bis hierher nach Beerwinden zu kommen? Bei den Göttern! Er müsste längst tot sein.

»Und älter«, murmelte Meklas, als er Padeus‘ bleiches Gesicht musterte. Er hatte sich nicht verändert, seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte – vor gut zehn Jahren. Das Leben auf dem Schlachtfeld hinterließ bei jedem Mann Spuren. Padeus hingegen wirkte, als wäre er jüngst aus der Kriegerakademie stolziert.

Meklas bewegte seine Hand, bis sie über Padeus‘ Brust verharrte. Nie zuvor hatte er den Drang verspürt, seine Gabe zu benutzen, im Gegenteil. Doch als er Padeus beim Versorgen der Wunden berührt hatte …

Meklas konnte nicht anders, fühlte sich wie ein Kind, das den Finger einfach in das Feuer halten musste, ungeachtet der Gefahr.

Die Tür quietschte. Blitzschnell riss er die Hand zurück.

Alvena. Blass, die Augen verweint und geweitet, als wäre sie draußen einem Spuk begegnet. Nach einem Moment des Zögerns legte sie eine Deckenrolle auf den Tisch. Etwas Blitzendes lugte daraus hervor.

»Was ist das?«, fragte Meklas und setzte sich zu ihr.

Sie schwieg.

Langsam rollte er die Decke aus – und erstarrte.

War des Atmens nicht mehr fähig.

Ein eisiger Klumpen sackte in seinen Magen, und es kostete ihn Überwindung, überhaupt seine Finger auszustrecken, bis sie das kühle, golden schimmernde Metall berührten, über den Griff hinauf bis zur Spitze glitten, die aus einem bauchigen, mit dunkelroten Gemmen besetzten Mittelstück hervorstach.

»Das Zepter des Königs«, presste er hervor. »Das verheißt nichts Gutes.«

Bange blickte Alvena zur Tür.

Er konnte die Angst in ihren Augen nachvollziehen: Das Zepter könnte ihrer beider Todesurteil sein.

»Hengar wird es suchen«, sprach Alvena das aus, was er selbst dachte.

Alte, unerwünschte Gedanken durchbrachen die Patina des Vergessens, die aufzubauen Meklas so viel Zeit gekostet hatte. Mit einer Stimme, die ihm selbst so schlaff vorkam wie alte Spinnweben, sagte er: »Ich kenne Hengar. Er wird nicht ruhen, bis er das Zepter in den Händen hält. Und wenn er dafür die lodernden Feuer Nekarions durchwandern muss.«

Alvena kreuzte die Arme vor der Brust und blickte sich besorgt um. »Erwähne den Namen des Herrn der Unterwelt nicht so leichtfertig. Das erregt seine Aufmerksamkeit!«

Meklas lächelte, halb belustigt, halb resigniert. »Glaube mir, im Moment wüsste ich nicht, wen zu treffen mir weniger behagen würde. Hengar ist ruchlos und hasste Bekias dafür, weil er in dessen Schatten stand. Von Anfang an wusste ich, er würde zuschlagen, sollte Bekias seine Macht einbüßen.«

»Was machen wir jetzt?«

»Wir sollten das Zepter hier liegen lassen und in die Minen gehen, auf dass Hengar uns nie findet.« Noch bevor die Worte seine Lippen passiert hatten, bereute er sie.

Alvenas Hände verkrampften sich.

»Verzeih mir, ich habe unüberlegt gesprochen. Ich weiß, was damals …« Jäh bedauerte er, den Becher gegen die Wand geschleudert zu haben. »Ich … es tut mir leid. Glaub mir, ich kann nachempfinden, wie es ist, von allem und jedem gemieden zu werden.« Die Wahrheit seiner Worte erfasste ihn, stärker als je zuvor, er wollte Alvenas Hand ergreifen, sie trösten, in ihr Trost finden, doch er hielt sich zurück. Ihre Erinnerungen und Gefühle wollte er nicht teilen.

Er hatte genug mit den seinen zu kämpfen.

Schweigen breitete sich aus, begann, sich zu einer Wand aus Eis zwischen ihnen zu formen. Obwohl so viele Menschen in seiner Hütte weilten wie nie zuvor, fühlte Meklas sich einsam wie ein alter Wolf, der, von seinem Rudel verstoßen, auf den Tod wartete.

Das Gesicht eine ausdruckslose Maske, stand Alvena auf und wandte sich um, als wollte sie gehen. Dann sackten ihre gerade noch gestrafften Schultern nach unten. Sie setzte sich wieder hin, als fehlte ihr die Kraft, überhaupt bis zur Tür zu kommen.

»Es ist nicht die Einsamkeit«, sagte sie plötzlich. »Es sind die Blicke, die ich im Nacken spüre, wenn ich mich umdrehe. Die getuschelten Worte, die umso schlimmer sind, da ich sie nicht hören kann. Ein Abgrund liegt zwischen mir und den anderen – und es wird niemals eine Brücke geben.«

Meklas räusperte sich. »Warum … bist du nicht einfach gegangen, um alles hinter dir zu lassen?«

»Darüber habe ich oft nachgedacht – und es noch öfter versucht. Aber ich kann nicht. Selbst nach all den Jahren hege ich die Hoffnung, dass sie eines Tages wiederkommen, unversehrt und glücklich.« Sie stockte kurz. »Und dass sie mir vergeben.«

Meklas empfand Mitleid mit ihr. Es war das erste Mal seit Jahren, dass er sich für das Schicksal eines anderen Menschen interessierte. Kurz sträubte er sich dagegen, hatte er sich doch geschworen, hier seinen Lebensabend zu beschließen, mit seinem Gewissen ins Reine zu kommen, allein, vergessen, ein versprengter Stein, der langsam verwitterte. Nicht mehr Anteil zu nehmen an den Geschicken anderer. Nein, er brachte es nicht fertig. Erst Padeus, dann Alvena. Er hörte die knirschenden, mahlenden Räder des Schicksals. Wollten sie ihn, den versprengten Stein, wirklich noch einmal mit anderen vermengen?

»Ich weiß, wie es ist, mit Schuld zu leben«, sagte er nach einer Weile.

»Kann man sie jemals vergessen?« Ein Hoffnungsschimmer trat in Alvenas Augen.

»Vergessen? Man kann sie verdrängen.« Er stand auf, holte einen Wetzstein, nahm den Morgenstern von der Wand und setzte sich wieder. »Oder sie bereinigen.« Das schleifende Geräusch, während er den Wetzstein über die Kanten des Morgensterns ratschte, war wie die Stimme eines alten Freundes.

»Sie werden kommen, nicht wahr?«, fragte Alvena, und Meklas zollte ihr Respekt, dass keine Angst mehr in ihrer Stimme lag.

»Wahrscheinlich.«

»Sollen wir fliehen?«

»Das sollten wir.« Prüfend hob er die Waffe vor seine Augen. »Aber mir ist nun klar – und lange, vielleicht zu lange habe ich für diese Erkenntnis gebraucht –, dass man der Vergangenheit nicht entrinnen kann.«

Alvena drehte den Kopf und betrachtete Padeus, ein schwarzer Schemen auf dem Bett, nur spärlich beleuchtet vom Spiel der Flammen, deren Schatten an den Wänden tanzten. »Gehört er zu deiner Vergangenheit?«

»Ja.« Meklas legte Wetzstein und Morgenstern auf den Tisch.

»Padeus, Erster der Adana, König Bekias‘ Waffenmeister.«

»In deiner Kate liegt eine Legende«, flüsterte Alvena. Ein wahrer Schuppenregen fiel ihr von den Augen. »Es gibt so viele Geschichten über die Adana, und ich bin einfach nicht drauf gekommen, als ich ihn hier liegen sah.«

Ein kurzes Zögern, dann: »Nicht alle jedoch erzählen von Edelmut und Ritterlichkeit.«

Meklas nickte. »Einst verkörperten sie diese Tugenden. Doch plötzlich behaupteten sie, Janthyra, die Göttin der Rechtschaffenheit, hätte sie berührt und ihre Kraft auf sie überfließen lassen. Wie weggeblasen waren Bescheidenheit und Umsicht. Grausamkeit und Selbstgefälligkeit schlichen sich in ihre Taten. Schnell mischte sich Angst in die Bewunderung und die Ehrfurcht, die man ihnen entgegenbrachte.«

»Und was sagte König Bekias dazu?«

»König Bekias? Mir scheint, er war mit ihnen zufriedener denn je.«

»Er war doch ein guter König!«

»Das sagen viele«, brummte Meklas. »Leider sind mir Dinge zu Ohren gekommen, die …« Er ließ den Satz in der Luft hängen, dann gab er sich einen Ruck. »In Churadai soll er die Hinrichtung Tausender Sekkrechim befohlen haben.«

Nachdenklich kaute Alvena auf ihrer Unterlippe. »Churadai, Sekkrechim … Wieder kenne ich die Namen nur aus Geschichten. Ich weiß bloß, dass die Sekkrechim ein Echsenvolk sind, und dass König Bekias versucht hatte, sie zu bekehren. So, wie er alle anderen bekehren wollte.«

»Bekehren? Anfangs vielleicht, doch als ihm klar wurde, dass er es niemals schaffen würde, Einmütigkeit in die Welt zu bringen, dass sein großer Traum von Frieden nicht zu verwirklichen war, da verkehrte er diesen Traum ins Gegenteil. Diejenigen, die sich ihm und seinem Glauben nicht unterwarfen, wurden vernichtet.« Meklas merkte, dass seine Worte Alvena trafen, doch hatte er nichts übrig für Schönfärberei. Die Zeiten waren hart, und wer nicht ebenso hart war, der würde irgendwann zerquetscht werden.

»Ich verstehe nicht, warum nichts in der Welt makellos sein kann«, sagte Alvena bedrückt.

»Je mehr ein Mann im Licht steht, desto dunkler ist auch sein Schatten.« Meklas stand auf und begann, eine Schlafstatt für sich herzurichten. »Du kannst hier übernachten. Nimm die Decke, die auf dem Tisch liegt.«

»Warum bist du plötzlich so aufgebracht?«, fragte sie, ruhig und ohne eine Spur von Verbitterung, was lediglich seinen Zorn auf sich selbst verstärkte; Zorn, weil er die alten Erinnerungen so nah an sich herangelassen hatte.

»Mein Zorn ist meine eigene Sache!«

Da ertönte von der Bettstatt eine schwache, brüchige Stimme:

»Meklas? Träume ich nur – oder ist das wirklich mein alter Lehrmeister?«

Sein Gefängnis behagte ihm. Hier war er sicher, hier konnte er warten, bis sich eine Gelegenheit ergab, zurückzukehren. Seine Macht allerdings war nicht mehr so groß wie damals. Das machte ihn manchmal wütend. Aber er würde sie wiedererlangen.

Irgendwann.

In das Blaugrau des Morgens mischte sich ein rötlicher Schimmer. Larkus genoss diesen Übergang von Nacht zu Tag. So ähnlich stellte er es sich vor, wenn er eines Tages die Welt mit seiner Macht erhellen würde. Ein zartes Anbahnen, das die Menschen auf die Straßen lockte – dann die Enthüllung, die Offenbarung, ein gleißendes Feuer, vor dem sie auf die Knie sanken. Sie, die Menschen, und auch alle anderen Rassen, die sich um Ländereien, Burgen und Minen zankten wie Hunde um die zu Boden gefallenen Essensreste nach einem Gelage. Sie begriffen nicht, dass es Mysterien gab, gegen die alles Gold verblasste.

Wenn der Tod kommt und das Leben,

die Schlange stirbt und sich Brücken regen,

wenn Wasser mit Feuer sich verbindet,

der Suchende Erlösung findet …

Zugegeben, im Moment fühlte er sich eher wie ein Blinder denn wie ein Suchender. Zu obskur waren die Worte. Nur das Wort Brücken ließ etwas in ihm klingen. Brücken zwischen verschiedenen Welten? Die Tore? Es wäre zu schön. Bis jetzt hatte die Prophezeiung recht behalten. Enodar war im Blut des Bürgerkriegs erblüht beziehungsweise ertrunken; Padeus lebte. Die Dinge hatten ihren Lauf genommen. Mit einem schwelgerischen Seufzen schloss er die Tür zu seinen Gedanken und Hoffnungen und verließ sein Gemach.

Bedienstete kreuzten seinen Weg, ab und an ein Adeliger mit rotgeäderten Augen. Alle nickten ihm respektvoll zu. Larkus ignorierte die Knechte und Mägde und bedachte auch jene, die ein honoriges Amt bekleideten, nur mit einem kurzen Blick.

Sonnenlicht flutete durch die großen Palastfenster, ließ die in die Säulen eingearbeiteten Intarsien glimmen und brach sich auf den Rüstungen der Garde, die den Audienzsaal bewachte.

Nur wenige von Hengars Getreuen waren zugegen, die meisten lagen wohl trunken in den Betten. Der Usurpator selbst saß am Kopfende der langen Tafel in der Mitte der Halle, den Kopf auf der Schulter einer seiner Mätressen gebettet, die ihm Trauben in den Mund schob. Auf seinen eigenen Schultern ruhte die Robe, die Bekias immer getragen hatte – jetzt allerdings verschmiert mit Sülze und Bratenfett und besudelt mit Wein. Larkus ließ sich seinen Ekel nicht anmerken, als er eine Verbeugung andeutete.

Bekias hatte sich wenigstens bemüht, wie ein Regent zu wirken.

»Setz dich, Larkus.« Hengars Stimme ächzte wie ein schlecht eingepasstes Dielenbrett.

Larkus zog einen Stuhl herbei, griff nach einem Lappen und wischte die halb getrockneten Weinflecken von der Sitzfläche, bevor er sich niederließ.

»Geh in mein Zimmer und warte dort auf mich«, wies Hengar seine Gespielin an. Nachdem sie gegangen war, blickte er Larkus aus trüben an Augen an. »Ich habe nachgedacht, wie ich an das Zepter komme. Ursprünglich wollte ich selbst nach Beerwinden reiten«, er rieb sich über das Gesicht, »aber bis zur Krönung bleibe ich besser in Bethanis. Deswegen wird es deine Aufgabe sein, das Zepter zu beschaffen. Oggatay wird dich begleiten, zusammen mit dreißig meiner besten Männer.«

Unter dem Tisch ballten sich Larkus‘ Hände zu Fäusten. Na toll! Seine Forschungen unterbrechen, um mit missliebiger Gesellschaft über Stock und Stein zu reisen. Kein Nachtmahr könnte schlimmer sein!

»Morgen bei Tagesanbruch wirst du dich aufmachen. Es ist bereits alles in die Wege geleitet.«

»Euer Vertrauen ehrt mich«, sagte er, obwohl er Hengar am liebsten an die Gurgel gesprungen wäre. Eine Woche bis Beerwinden: Hätte sich bis dahin seine Magie soweit erholt, um sich problemlos mit dem anderen Magiekundigen zu messen? Mitnichten hatte er vergessen, wie er beinahe bei lebendigem Leib verbrannt wäre. Oggatay würde ihn auf Schritt und Tritt begleiten, einerseits zu seinem Schutz, andererseits, um ihm auf die Finger zu schauen.

Für wie blöd hält Hengar mich eigentlich? Ich weiß genau, was hier gespielt wird!

Trotzdem unterdrückte er seine Wut: Bloß nicht zu etwas hinreißen lassen, das seine Pläne gefährdete! So sagte er: »Ich werde alles daran setzen, das Zepter zu finden und zu seinem neuen, rechtmäßigen Besitzer zurückzubringen.«