Für meine Eltern Maria und José de Oliveira

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2015 Domingos de Oliveira

Lektorat: Susanne Kossack

Satz, Herstellung und Verlag: BoD –

Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7392-5399-2

Inhalt

Einleitung

Kinder bleiben mit offenem Mund stehen, Erwachsene schauen fasziniert, Experten staunen und Laien wundern sich. Was mag passiert sein? Ist Supermann vorbeigeflogen, wurde das neueste iPhone vorgestellt oder hat Angela Merkel ihren Rücktritt erklärt? Nein, sie haben ihren ersten Blinden gesehen, wie er mit seinem Stock vorbeigeht. Er schaut nicht nach links und nicht nach rechts, sondern sucht sich konzentriert seinen Weg.

Von allen Behinderten sind Blinde wahrscheinlich das größte Faszinosum. Wie schaffen sie es eigentlich, sich zu orientieren, ohne sehen zu können? Dürfen die überhaupt allein rumlaufen oder sind sie ihrem Aufpasser entwischt? Und müssten sie nicht vor Schmutz starren, wie können die sich waschen, wenn sie nichts sehen? Diese und viele andere Fragen mögen dem neugierigen Beobachter durch den Kopf gehen. Aber die Wenigsten werden sich trauen, einen Blinden darauf anzusprechen.

Auch Geschichtenerzähler haben sich immer wieder von Blinden faszinieren lassen. Der blinde Mönch Jorge von Bogos spielt eine nicht ganz rühmliche Rolle in Umberto Ecos «Der Name der Rose». Sebastian Fitzek baute in seinen Thriller «Der Augensammler» eine blinde Protagonistin ein. In einigen amerikanischen Serien wie Matlock haben Blinde Straftaten begangen. Homer, der Autor der Odyssee soll blind gewesen sein. In der Serie «Star Trek – das nächste Jahrhundert» war sogar der Chef-Ingenieur Geordi LaForge blind.

In diesem Buch werde ich einen umfassenden Überblick über die Lebenswelt von Blinden geben. Eine Gruppe, die ich allerdings ausklammern möchte, sind spät-erblindete Senioren. Ein Großteil der Erblindungen tritt erst im hohen Alter auf. Diese Gruppe wird sich – nach heutigem Stand – nicht mehr so sehr mit Braille, Mobilitätstraining und ähnlichen Dingen beschäftigen. Im hohen Alter ist es schwierig, sich an die Erblindung anzupassen.

In den ersten fünf Kapiteln werden wir uns mit dem Alltag der Blinden befassen. Es geht um die Basics, zum Beispiel, ob Blinde überhaupt in der Lage sind, Waschmittel von Klopapier zu unterscheiden, wie sie sich orientieren können oder wie sie Computer benutzen.

Im sechsten Kapitel werden wir uns das Verhältnis von Blinden zu Sehenden ansehen. Es geht unter anderem darum, warum viele Blinde unter sich bleiben oder weshalb es relativ wenige Beziehungen zwischen Blinden und Sehenden gibt.

Im letzten Kapitel werden wir uns anschauen, wie sich die Blindheit auf das Gehirn und die Sinne auswirkt. Leider werde ich auch mit einigen Mythen wie dem besonders guten Geruchssinn oder Gehör der Blinden aufräumen. Für eilige Leser habe ich eine Liste häufiger Fragen und Antworten in einer FAQ zusammengefasst.

Das Buch ist so gestaltet, dass es zum Querlesen einlädt. Dennoch empfehle ich euch, das erste Kapitel «Was bedeutet eigentlich blind?» zu überfliegen, um ein Grundverständnis von Blindheit zu bekommen.

Viele der Beispiele für die außergewöhnlichen Leistungen Blinder habe ich vom amerikanischen Psychologen Oliver Sacks übernommen. Die blinde Moderatorin Jennifer Sonntag hat mit «Einladung zu einem Blind Date» ein ähnliches Buch geschrieben, was ich allerdings erst bemerkt habe, als ich mein Manuskript fast fertig hatte. Allerdings nehmen wir unterschiedliche Perspektiven ein, sodass ihr ruhig beide Bücher lesen könnt. Auf meiner Website www.oliveira-online. net findet ihr zu jedem Abschnitt weiterführende Links. Ich wünsche euch viel Spaß bei der Lektüre.

Kapitel 1

Was bedeutet eigentlich blind?

Blinde sind nicht unbedingt blind. Diese Aussage mag ein wenig widersprüchlich klingen, ist aber einfach, zu erklären: Im Volksmund wird Blindheit mit Nichts-Sehen gleichgesetzt. Der Gesetzgeber definiert Blindheit als weniger als zwei Prozent Sehfähigkeit auf dem besseren Auge oder einem Gesichtsfeld von höchstens 5 Grad. Das Gesichtsfeld entspricht dem, was wir sehen, wenn wir geradeaus schauen, es beträgt normalerweise 180 Grad.

Zwei Prozent klingt nicht nach besonders viel, doch ist das der entscheidende Unterschied. Der Eine kann noch Bücher lesen, der Nächste nimmt seine Umgebung verschwommen wahr, ein Anderer kann nicht mehr zwischen hell und dunkel unterscheiden. Sie alle können laut Gesetz blind sein. Ich selbst kann zum Beispiel noch gedruckte Texte lesen, auch wenn ich das Tempo eines Abc-Schützen an den Tag lege. Ich kann aber keine Busfahrpläne lesen oder Gesichter erkennen.

Es gibt auch Blinde, die buchstäblich nichts sehen; diese Menschen nennen wir vollblind. Zu dieser Gruppe würde ich auch Menschen zählen, die noch hell und dunkel unterscheiden können, aber keine Farben und Formen mehr sehen.

Von den Blinden zu unterscheiden sind die hochgradig Sehbehinderten, sie sehen zwar sehr schlecht, aber sie zählen klar zu den Sehenden und auf sie wird in diesem Buch deshalb nicht näher eingegangen.

Blinde werden in Deutschland nicht systematisch statistisch erfasst, deshalb müssen wir indirekte Zahlen verwenden. In Bayern erhalten 14.655 Menschen Blindengeld. Fast zwei Drittel dieser Blindengeld-Empfänger sind 65 und älter, 42,1 Prozent sind 80 und älter. Diese Zahlen dürften für den Rest Deutschlands ähnlich sein. Der Blindenverband DBSV geht davon aus, dass es in ganz Deutschland ca. 100.000 blinde Menschen gibt.

Geburts- und Spät-Erblindete

Die meisten Menschen kommen in Deutschland nicht blind zur Welt, sondern werden manchmal im jungen, oft im reiferen Alter blind. Menschen, die blind zur Welt kommen oder in den ersten Lebensjahren erblinden werden als Geburts-Blinde bezeichnet. Menschen, die im Laufe ihres Lebens erblinden werden als Spät-Erblindet bezeichnet. Die Unterscheidung ist nicht ganz trennscharf, Spät-Erblindete sind im allgemeinen Menschen, die bewusst gesehen haben und sich oftmals noch an Seheindrücke erinnern; es spielt für die Definition keine Rolle, ob sie als Kind oder als Senior erblinden.

Die Unterscheidung dieser beiden Gruppen ist jedoch wichtig, weil der Zeitpunkt der Erblindung oft dafür entscheidend ist, wie die Betroffenen mit ihrer Blindheit umgehen. Spät-Erblindete haben meistens mehr Probleme als Geburts-Blinde, weil sie sich an eine für sie neue Welt anpassen müssen. Geburts-Blinde mussten nie lernen, visuell zurechtzukommen, sondern sind ihr Leben lang an eine nicht-visuelle Welt angepasst.

Das kindliche Gehirn ist sehr anpassungsfähig. In den ersten Lebensjahren werden die wesentlichen Verschaltungen der Nerven festgelegt. Deshalb wird ein Kind, das blind zur Welt kommt bei entsprechender Förderung sehr schnell lernen, mit seiner Blindheit zurechtzukommen. Das Gehirn kann sich auch im reiferen Alter noch gut anpassen. Aber wir kennen das von uns selbst, je älter wir werden, desto schwieriger kommen wir mit neuen Situationen zurecht.

Die Zahl Geburts-Blinder geht in Deutschland durch eine bessere medizinische Versorgung stetig zurück. Andererseits gibt es viele Augenerkrankungen wie den Grünen Star oder Retinopathia Pigmentosa, die sich nur schwer behandeln lassen und das Sehvermögen oft fortschreitend verschlechtern. Durch die steigende Lebenserwartung steigt auch die Zahl der Erblindungen im Alter, häufig bedingt durch andere Krankheiten wie Diabetes oder durch eine Trübung der Linse (Makula Degeneration). Tatsächlich wird dies in Zukunft eine Herausforderung, des demografischen Wandels an die Gesellschaft darstellen. Die heutigen Hilfssysteme richten sich an jung oder im mittleren Alter Erblindete. Für Senioren, die vielleicht noch schwerhörig oder gehbehindert sind, gibt es aktuell wenig Unterstützung.

Ist es besser, blind auf die Welt zu kommen und sich nicht an die Blindheit anpassen zu müssen oder ist es uns wichtig, einmal gesehen zu haben, um uns auf Augenhöhe mit Sehenden austauschen zu können? Es gibt keine eindeutige Antwort auf diese Frage. Fast alle Menschen, die auf der Grenze zwischen Sehen und Blindsein stehen, haben zumindest die Möglichkeit, sich auf das Blindwerden vorzubereiten. Wer spät erblindet ist, teilt mit den Sehenden eine gemeinsame visuelle Erfahrungswelt. Wenn jemand von grünen Wäldern, blauen Seen und grauen Bergen spricht, löst das beim Spät-Erblindeten andere Assoziationen und Erinnerungen aus als bei blind Geborenen.

Wie sehen Blinde?

Vor allem Menschen mit Sehrest werden oft gefragt, wie sie sehen. Für die meisten Menschen ist Blindheit nur schwer vorstellbar, aber schlecht sehen ist noch schlechter nachvollziehbar.

Ich antworte immer mit konkreten Beispielen: Jenes kann ich scharf sehen, das nächste unscharf, das kann ich sehen, aber nicht lesen und das kann ich gar nicht sehen. Für Sehende ist das schlecht nachvollziehbar, aber unser Sehvermögen lässt sich nur unzureichend verbal beschreiben. Man müsste durch die Augen eines anderen schauen und dazu noch dessen Wahrnehmung und Erfahrungen haben. Nur Menschen, die einmal gut gesehen haben, wissen, was es heißt, normal zu sehen. Sie haben zumindest den Vergleich mit ihrer Vergangenheit.

Auch Simulationen helfen nur bedingt weiter. Viele Behinderte lehnen Simulationen von Behinderungen ab. Zum einen verleiten sie viele Nicht-Behinderte zu dem Glauben, sie wüssten jetzt, was Behinderung sei. Das verleitet sie dazu, Behinderten Tipps zum richtigen Verhalten zu geben, was natürlich vollkommen absurd ist. Zum anderen können Simulationen zu unrealistischen Vorstellungen führen. Die Sehenden finden sich mit verbundenen Augen und Blindenstock nicht zurecht und glauben schließlich, alle Blinden würden in Dunkelheit leben und wären völlig hilflos. Dabei wird übersehen, dass Blinde meistens an ihre Situation angepasst sind und durch Übung, Erfahrung und Verstand sehr gut mit ihr zurechtkommen.

Ich sehe Simulationen nicht so kritisch. Am besten sollte jede Simulation durch ein Gespräch mit einem Menschen begleitet werden, der selbst betroffen ist. Oder noch besser, der „sehende Blinde“ lässt sich von einem „blinden Blinden“ führen.

Beispiele und Metaphern sind die einzige Möglichkeit, Sehenden zu erklären, was Blinde sehen. Wenn ich sage, ich sehe extrem unscharf, werden viele Sehende glauben, ich sähe vielleicht wie jemand, der durch ein Milchglas schaut. Dem ist aber nicht so, zumindest glaube ich das. Subjektiv sehe ich vollkommen scharf, erst wenn ich merke, dass ich zum Beispiel die Details eines Gesichts nicht erkennen kann weiß ich, das ich unscharf sehe. Es gibt diese schöne Funktion namens «unscharf maskieren» in Photoshop, mit der Gesichts-Unreinheiten und Falten beseitigt werden. So ähnlich sehe ich, als ob alles weich gezeichnet wäre.

Weder Hören noch Sehen

Offiziell gibt es rund 6000 taubblinde Menschen in Deutschland. Eine deutlich größere Gruppe bilden die Menschen, bei denen sowohl Hören als auch Sehen eingeschränkt sind, die Hör-Sehbehinderten.

Ihr könnt sicherlich einschätzen, wie wichtig die verbliebenen Sinne für die Behinderten sind. Umso schwerwiegender sind die Folgen, wenn gleich zwei essenzielle Sinne gestört sind. Das beide Sinne komplett ausfallen, kommt nicht so häufig vor, Hör-Sehbehinderungen Taub-Sehbehinderung oder Schwerhörigkeit-Blindheit sind jedoch nicht so selten.

Die Probleme können teils erheblich sein. Blinde und Gehörlose haben zum Beispiel ein höheres Unfallrisiko als Nicht-Behinderte. Wenn aber beide essenziellen Sinne eingeschränkt sind, steigt auch die Gefahr, dass man zum Beispiel ein Auto sowohl übersieht als auch überhört. Man hört keine Warnrufe, keine Fahrradklingel, keine heranrauschende Straßenbahn …

Für einen Hör-Sehbehinderten ist es erheblich schwieriger, einem Gespräch in einer lauten Umgebung zu folgen, denn Sehende können – ohne es selbst zu wissen – viel von den Lippen, den Kopfbewegungen und den Gesten ablesen. Blinde erkennen andere Menschen zumeist an ihren Stimmen, leider sind ja die wenigsten so nett, einen auffälligen Geruch zu haben. Für einen Hör-Sehbehinderten ist das schwieriger, weil das Spektrum seines Hörens eingeschränkt ist. Oft erkennen sie Menschen eher am Gang oder an der Kleidung.

Für Taubblinde gibt es nur wenige Wege, mit der Umwelt zu kommunizieren. Am Computer können sie mit der Braillezeile arbeiten. Mit anderen Menschen kommunizieren sie über die Lormen. Dabei handelt es sich um eine taktile Sprache. Die Sprecher zeichnen mit ihren Fingern Gesten in die Handfläche des Gesprächspartners.

Die Berliner Kunsthochschule arbeitet an der Entwicklung eines Lorm-Handschuhs. Mit diesem Handschuh sollen zwei Dinge möglich werden. Zum einen möchten die Entwickler erreichen, dass Taubblinde über das Internet kommunizieren können. Für Menschen, die weder Schrift- noch Lautsprache beherrschen ist das bisher nicht möglich. Ein zweites Ziel ist die Übersetzung von gesprochener Sprache in Lormen und umgekehrt. Die Lormen werden mittels kleiner Motoren im Handschuh an die Hand übermittelt.

Für von Geburt an Taubblinde ist die Situation besonders kompliziert. Sie können die Lautsprache nicht lernen und haben daher auch besondere Probleme, Lesen und Schreiben zu erlernen.

Diese Formen von Mehrfachbehinderungen treten auch häufig im Alter auf, also zu einer Zeit, wo es am schwierigsten ist, sich an die neue Situation anzupassen. Die berühmteste taubblinde Person ist sicherlich Helen Keller, sie hat es sogar geschafft, die Verbal-Sprache gut genug zu lernen, um selbst Bücher zu schreiben und politisch aktiv zu sein.