Der Titan
Jean Paul
Inhalt:
Jean Paul – Biografie und Bibliografie
Der Titan
Erster Band
Der Traum der Wahrheit
Erste Jobelperiode
Zweite Jobelperiode
Dritte Jobelperiode
Vierte Jobelperiode
Fünften Jobelperiode?
Sechste Jobelperiode
Siebente Jobelperiode
Achte Jobelperiode
Neunte Jobelperiode
Zweiter Band
Zehnte Jobelperiode
Elfte Jobelperiode
Zwölfte Jobelperiode
Dreizehnte Jobelperiode
Vierzehnte Jobelperiode
Dritter Band
Funfzehnte Jobelperiode
Sechzehnte Jobelperiode
Siebzehnte Jobelperiode
Achtzehnte Jobelperiode
Neunzehnte Jobelperiode
Zwanzigste Jobelperiode
Einundzwanzigste Jobelperiode
Zweiundzwanzigste Jobelperiode
Dreiundzwanzigste Jobelperiode
Vierundzwanzigste Jobelperiode
Fünfundzwanzigste Jobelperiode
Vierter Band
Sechsundzwanzigste Jobelperiode
Siebenundzwanzigste Jobelperiode
Achtundzwanzigste Jobelperiode
Neunundzwanzigste Jobelperiode
Dreißigste Jobelperiode
Einunddreißigste Jobelperiode
Zweiunddreißigste Jobelperiode
Dreiunddreißigste Jobelperiode
Vierunddreißigste Jobelperiode
Fünfunddreißigste Jobelperiode
Der Titan, Jean Paul
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
86450 Altenmünster, Loschberg 9
Deutschland
ISBN: 9783849633141
www.jazzybee-verlag.de
admin@jazzybee-verlag.de
Eigentlich Jean Paul Friedrich Richter, unter dem Namen Jean Paul berühmt gewordener Schriftsteller, geb. 21. März 1763 in Wunsiedel als Sohn eines Rektors und Organisten, gest. 14. Nov. 1825 in Bayreuth, verbrachte seine Kindheitsjahre, seit 1765, in dem Dorfe Joditz bei Hof, besuchte erst seit 1776 in dem nahen Schwarzenbach, wohin sein Vater versetzt worden war, regelmäßig die Schule, gewann aber die wesentlichsten Anregungen aus einer von früh an lebhaft, freilich auch wahllos betriebenen Lektüre, über die er in dicken Folianten ausführliche Auszüge eintrug. Um Ostern 1779 bezog er das Gymnasium in Hof. Durch den bald darauf erfolgten Tod des Vaters und der Großeltern geriet er mehr und mehr in materielle Bedrängnis, die ihn aber nicht hinderte, Ostern 1781 die Universität Leipzig zu besuchen, um Theologie zu studieren. Doch nahm er es mit den Studien (nur der Philosoph Platner fesselte ihn eine Weile) nicht sehr ernst und wandte sich bald ausschließlich der literarischen Tätigkeit zu, durch die er sich auch leichter über die äußere Not hinweghelfen zu können hoffte. Von bekannten Schriftstellern wirkten jetzt außer Hippel, der schon auf der Schule sein Lieblingsautor gewesen war, Rousseau und die englischen Humoristen und Satiriker stark auf ihn ein. Für sein erstes Buch, das nach des Erasmus' »Encomium moriae« verfaßte »Lob der Dummheit«, in dem er die Dummheit redend einführt, fand er keinen Verleger (es wurde erst lange nach Jean Pauls Tode bekannt). Besser ging es den des Dichters Eigenart schon deutlich verratenden »Grönländischen Prozessen«, die wenigstens einen Verleger fanden (Berl. 1783), wenn sie auch von dem Publikum und der Kritik sehr kühl aufgenommen wurden. Um den drängenden Gläubigern zu entrinnen, begab sich R. Ende 1784 heimlich von Leipzig hinweg und traf vom Frost erstarrt in Hof bei der Mutter ein, von wo es ihm auch in den nächsten Jahren nicht gelingen wollte, literarische Beziehungen anzuknüpfen, die seiner Not hätten ein Ende machen können. Erst zu Anfang 1787 bot sich dem Dichter wenigstens ein Unterkommen als Hauslehrer dar, er übernahm den Unterricht eines jüngeren Bruders seines Freundes Örthel in Töpen. Seine dortige Stellung war jedoch unbehaglich, und schon im Sommer 1789 kehrte er nach Hof zurück. Inzwischen schrieb er neue Satiren u. d. T.: »Auswahl aus des Teufels Papieren« (Gera 1789), die ebenso wenig Aufsehen erregten wie Jean Pauls Erstlingswerk. Im März 1790 übernahm er aufs neue ein Lehramt. Einige Familien in Schwarzenbach beriefen ihn zum Unterricht ihrer Kinder, und jetzt betrieb der Dichter sein Amt in angenehmen persönlichen Verhältnissen mit wahrhaft begeisterter Freudigkeit. Die Sonntagsbesuche in Hof gewährten erquickliche Erholung, und in dem damals mit seinem dortigen Freund Otto immer inniger geschlossenen Herzensbund erwuchs ihm ein köstlicher Besitz für sein ganzes späteres Leben. Um jene Zeit entstanden einige kleinere Humoresken: »Die Reise des Rektors Fälbel und seiner Primaner«, »Des Amtsvogts Freudels Klaglibell über seinen verfluchten Dämon« und das »Leben des vergnügten Schulmeisterleins Maria Wuz in Auenthal«. Sogleich nach Vollendung des »Wuz« begann R. einen großen Roman, dessen Plan ihn schon länger beschäftigte. Während der Arbeit zwar verflüchtigte sich der ursprüngliche Plan, die »Unsichtbare Loge« (Berl. 1793, 2 Bde.) blieb unvollendet; »eine geborne Ruine« nannte der Dichter selbst sein Werk, in dem neben einzelnen unvergleichlich schönen Stellen bereits die ganze Unfähigkeit Jean Pauls zu plastischer Gestaltung, die maßlose Überwucherung der phantastischen Elemente und alles, was sonst den reinen Genuß an seinen Dichtungen stört, zutage trat. Gleichwohl bildet das Erscheinen des Buches in Jean Pauls Leben einen Wendepunkt günstigster Art. Im Herbst 1792 legte er seine Hand an ein neues Werk, den »Hesperus« (Berl. 1795), der sich gleich der »Unsichtbaren Loge« eines großen Erfolgs beim Publikum erfreute. Seit dem Frühling 1794 wieder in Hof bei der Mutter weilend, schrieb er in den nächstfolgenden Jahren: »Das Leben des Quintus Fixlein« (Bayr. 1796), ein humoristisches Idyll wie das »Leben Wuz'«, nur in breiterer Anlage; die »Biographischen Belustigungen unter der Gehirnschale einer Riesin« (Berl. 1796), ein Romantorso mit satirischem Anhang; die »Blumen-, Frucht- und Dornenstücke, oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten Siebenkäs« (das. 1796–97, 4 Bde.), in gewissem Sinne die beste Schöpfung des Dichters, der in den Persönlichkeiten des sentimentalen Siebenkäs und des satirischen Leibgeber die entsprechenden Elemente seiner eignen Natur zu verkörpern versuchte. Noch während der Arbeit an dem letztgenannten Roman empfing Jean Paul eine briefliche Einladung nach Weimar, von weiblicher Hand geschrieben. In der Ilmstadt, meldete die Briefstellerin, die sich Natalie nannte (welchen Namen der Dichter alsbald einer Gestalt im »Siebenkäs« anheftete), seien die besten Menschen von Jean Pauls Werken entzückt. Ohne Verzug folgte dieser dem Ruf. Seine Aufnahme übertraf alle seine Erwartungen; vor allen andern begegnete ihm Charlotte v. Kalb (die pseudonyme Briefschreiberin) mit glühender Verehrung. Jean Paul hat von ihr manche Züge für die Schilderung der hypergenialen Linda im »Titan« entlehnt. Zurückhaltender empfingen Goethe und Schiller den Hesperusverfasser, der sich in Weimar meist im Kreis des ihm wahlverwandten Herder bewegte. In jene Zeit fallen die Anfänge des »Titan«, die Abfassung des »Jubelsenior« (Leipz. 1797) und die Schrift »Das Kampanertal, oder: Die Unsterblichkeit der Seele« (Erfurt 1798). Im Sommer 1797 trat eine neue weibliche Gestalt auf die Lebensbühne des Dichters, Emilie v. Berlepsch, eine junge und schöne Witwe, mit der Jean Paul eine Reihe wunderlich exaltierter Szenen durchmachte. Fast hätte eine (vermutlich unglückliche) Heirat den dramatischen Abschluß gebildet. Im Oktober 1797 führte eine Reise nach Leipzig den nun berühmt Gewordenen auf den Schauplatz seiner einstigen Kümmernis, und jetzt drängten sich die Bewunderer um ihn. 1798 folgte auf Einladung der Herzogin Amalie ein abermaliger Besuch in Weimar. Nach einem kurzen Aufenthalt in Hildburghausen (Frühjahr 1799), wo er vom Herzog den Titel eines Legationsrats erhielt, ging Jean Paul nach Berlin, in der Absicht, sich dort dauernd niederzulassen. Im Mai 1801 verheiratete er sich daselbst mit der Tochter des Tribunalrats Meyer, aber eine vom König erbetene Versorgung blieb versagt. Von den damals entstandenen Werken sind hervorzuheben: »Palingenesien« (Gera 1798, 2 Bde.); »Jean Pauls Briefe und bevorstehender Lebenslauf« (das. 1799; unter den hier vereinigten kleinern Aufsätzen seien erwähnt: »Der doppelte Schwur der Besserung« und die »Neujahrsnacht eines Unglücklichen«) und die »Clavis Fichtiana« (Erfurt 1800), eine Satire auf den Fichteschen Idealismus; er widmete sie F. H. Jacobi, den er als den größten Philosophen der Zeit bewunderte. In Berlin behagte es dem Dichter nicht auf die Dauer; bald nach seiner Hochzeit nahm er seinen Wohnsitz in Meiningen, wo er zum Herzog Georg in vertraute Beziehungen trat und den »Titan« (Berl. 1800–03, 4 Bde.) vollendete. Doch schon im Mai 1803 verließ er Meiningen wieder und siedelte sich nach kurzem Aufenthalt zu Koburg in Bayreuth an, wo er bis zu seinem Tode wohnen blieb. Das nächste größere Werk des fortan in nur selten unterbrochener idyllischer Zurückgezogenheit lebenden Dichters war ein philosophisches, die »Vorschule der Ästhetik« (Hamb. 1805, 3 Bde.; Tübing. 1813), ein Buch voll geistreichster Einfälle, wertvoll in den über die Theorie des Komischen handelnden Abschnitten. Danach folgte die Abfassung der »Flegeljahre« (Tübing. 1804–05, 4 Bde.). Auch in diesem Roman, der zu den genialsten Schöpfungen Jean Pauls gehört und ihm selbst die liebste blieb, hat er die eigne Doppelnatur, die Gemütsinnigkeit und die humoristische Neigung seines Wesens, jene in dem weich gestimmten Walt, diese in dessen Zwillingsbruder Vult, zur Darstellung bringen wollen. In der »Levana, oder Erziehungslehre« (Braunschw. 1807, 3 Bde.; Stuttg. 1815, 4. Aufl. 1861; neue Ausg. von R. Lange, Langensalza 1893) sollten die in der »Unsichtbaren Loge«, im »Titan« und in den »Flegeljahren« in Romanform dargelegten Grundsätze theoretisch ausgeführt wiederkehren. Während der Zeit der französischen Fremdherrschaft schrieb Jean Paul zu eigner und seines Volkes Erheiterung die Humoresken: »Des Feldpredigers Schmälzle Reise nach Flätz« (Tübing. 1809) und »Doktor Katzenbergers Badereise« (Heidelb. 1809, Bresl. 1823), zwei Erzählungen von derbster Komik. Aber auch in ernsthafteren, wenngleich an satirischen Schlaglichtern reichen Schriften suchte er den gesunkenen Mut der Nation auszurichten, so in der »Friedenspredigt in Deutschland« (Heidelb. 1808) und den »Dämmerungen für Deutschland« (Tübing. 1809). Das letztere Buch, gedruckt in der Zeit, als Davout das Bayreuther Land besetzt hielt, legt auch deshalb ein schönes Zeugnis für Jean Pauls männlichen Mut und edlen Sinn ab, weil er es veröffentlichte, nachdem ihm soeben durch den ganz von dem französischen Imperator abhängigen Fürst-Primas v. Dalberg eine Jahrespension von 1000 Gulden ausgesetzt worden war. Nachdem diese Pension mit dem Großherzogtum Frankfurt 1813 zu Ende gegangen, bezog der Dichter seit 1815 einen gleichen Jahresgehalt von dem König von Bayern. Aus den spätern Lebensjahren Jean Pauls sind zu verzeichnen als bedeutendere Schriften: »Das Leben Fibels« (Nürnb. 1811), »Der Komet, oder Nikolaus Marggraf« (Berl. 1820–22, 3 Bde.), die beiden letzten größeren Arbeiten des Dichters in der komischen Gattung; ferner das Buch »Selina, oder: Über die Unsterblichkeit der Seele« (Stuttg. 1827, 2 Bde.) und endlich das Fragment einer Selbstbiographie, das unter dem im Gegensatz zu Goethe gewählten Titel: »Wahrheit aus Jean Pauls Leben« (Bresl. 1826) erschien und die Jugenderinnerungen des Dichters enthält. Einen tiefen Schatten warf auf Jean Pauls Lebensabend der Tod seines einzigen Sohnes, der 1821 als Student in Heidelberg starb. Seitdem kränkelte er und war zuletzt über Jahresfrist des Augenlichts fast gänzlich beraubt. König Ludwig I. von Bayern ließ ihm 1841 in Bayreuth ein Erzstandbild (von Schwanthaler) errichten.
Jean Paul nimmt eine eigentümliche und schwer zu bezeichnende Stellung innerhalb unsrer klassischen Literaturperiode und zwischen den sich drängenden Richtungen seit dem Beginn des 19. Jahrh. ein. Unzweifelhaft vom besten Geiste des 18. Jahrh., von dem »Ideal der Humanität«, beseelt, schloss er sich doch in seiner Darstellungsweise weit mehr an die frühern Schriftsteller als an Lessing, Goethe oder Schiller an. Die Engländer, vor allen Swift und Sterne, die Franzosen Voltaire und Rousseau, die ostpreußische Schriftstellergruppe Hamann, Hippel und Herder beeinflussten die Entwickelung seines Talents und führten ihn im Verein mit seinem eignen Naturell und seinem persönlichen Schicksal auf wunderliche Abwege. Gemeinsam mit unsern großen Dichtern blieben R. die Überzeugung von der Entwickelungsfähigkeit des Menschengeschlechts und ein freiheitlicher Zug; aber er gelangte niemals zu einer Entwickelung im höheren Sinne des Wortes. Der Abstand zwischen seinen frühesten und spätesten Werken ist ziemlich unwesentlich; die Widersprüche des unendlichen Gefühls und des beschränkten realen Lebens bildeten den Ausgangspunkt aller seiner Romane; aus ihnen gingen die weichen, wehmut- und tränenvollen Stimmungen hervor, über die er sich dann durch seinen unter Tränen hell lachenden Humor erhob. In der empfindsamen Zeit, in der Jean Paul auftrat, musste er den größten Erfolg haben; die schreienden Mängel seiner Darstellung wurden geleugnet; ja, sie scheinen in den meisten Kreisen gar nicht empfunden worden zu sein. R. gelangte nur in dem Idyll und in den besten Episoden seiner größeren Romane zu wirklich künstlerischer Gestaltung; meist wurden bei ihm Handlung und Charakteristik unter einer wuchernden Fülle von Einfällen, reflektierenden Abschweifungen, Episoden und fragmentarischen Einschiebseln verdeckt und erstickt. Verhängnisvoller noch ward für ihn die oben schon erwähnte Vielleserei, in der er ein Gegengewicht gegen die Enge seiner Verhältnisse gesucht hatte, und in ihrer Folge die leidenschaftliche Bilderjagd und Zitatensucht. Alle diese Mängel vereint drückten seinem Stil mit endlosen Perioden und unzähligen Einschachtelungen den Charakter des Manierierten auf, den der Dichter nur da abstreift, wo er von seinem Gegenstand aufs tiefste ergriffen und in innerster Bewegung ist. Gegenüber dem Enthusiasmus, der R. eine Zeitlang zum gefeiertsten Schriftsteller der Nation erhob, heftete sich die spätere Kritik wesentlich an die bezeichneten Unvollkommenheiten seiner Erscheinung. Während in seinen ausgedehnteren Werken, der »Unsichtbaren Loge«, dem »Hesperus«, dem »Titan« und »Komet«, nur einzelne glänzende Beschreibungen, humoristische Episoden oder jene zahlreichen »schönen Stellen« noch zu fesseln vermögen, von denen mehrmals besondere Sammlungen veranstaltet wurden, gewähren alle in ihren Hauptteilen idyllischen oder entschieden humoristischen Dichtungen einen weit reinern Genuss und lassen das Talent und die tieferen Eigentümlichkeiten besser hervortreten. Immer steht die liebevolle, reine Teilnahme bei ihm an allen Mühseligen und Beladenen, an den Armen, Bedrückten und Bedrängten im Vordergrund. Sein Blick für das Köstliche im Unscheinbaren, das Große und Ewige im Beschränkten ist tief und beinahe untrüglich; auch seine Naturliebe verleiht allen seinen Werken Partien von bestrickendem Zauber. Seine scharfe Beobachtung des Komischen wirkt unwiderstehlich, und alle diese Vorzüge erwecken lebhaftes Bedauern, daß dem Dichter das Erreichen klassischer, künstlerisch vollendeter Form versagt blieb. Richters Werke erschienen gesammelt in erster, aber ungenügender Ausgabe in 60 Bänden (Berl. 1826–38), besser in 33 Bänden (das. 1840–42; 3. Ausg. 1860–62, 34 Bde.) sowie in Auswahl in 16 Bänden (2. Ausg., das. 1865); ferner in der Hempelschen Ausgabe, mit Biographie von Gottschall (das. 1879, 60 Tle.; Auswahl 31 Tle.) und eine Auswahl in Kürschners »Deutscher Nationalliteratur« (hrsg. von Nerrlich, Stuttg. 1882 ff., 6 Bde.). Nach des Dichters Tod erschien noch »Der Papierdrache« (hrsg. von seinem Schwiegersohn Ernst Förster, Frankf. 1845, 2 Bde.). Von verkürzenden Bearbeitungen, die den Dichter der Gegenwart näher bringen wollen, sei erwähnt die des »Titan« von O. Sievers (Wolfenbüttel 1878). Von seinen Briefen sind zu nennen: »Jean Pauls Briefe an Friedrich Heinrich Jacobi« (Berl. 1828); »Briefwechsel Jean Pauls mit seinem Freund Chr. Otto« (das. 1829–33, 4 Bde.); »Briefwechsel zwischen Heinrich Voß und Jean Paul« (hrsg. von Abr. Voß, Heidelb. 1833); »Briefe an eine Jugendfreundin« (hrsg. von Täglichsbeck, Brandenb. 1858). Die »Briefe von Charlotte v. Kalb an Jean Paul und dessen Gattin« (Berl. 1882) und »Jean Pauls Briefwechsel mit seiner Frau und Christian Otto« (das. 1902) gab Nerrlich heraus. Aus der zahlreichen Literatur über R. heben wir hervor: Spazier, Jean Paul Friedrich R., ein biographischer Kommentar zu dessen Werken (Leipz. 1833, 5 Bde.); die Fortsetzung von »Wahrheit aus Jean Pauls Leben« von Otto und Förster (Bresl. 1826–33, 8 Hefte); E. Förster, Denkwürdigkeiten aus dem Leben von Jean Paul (Münch. 1863, 4 Bde.); Henneberger, Jean Pauls Aufenthalt in Meiningen (Meiningen 1863); Planck, Jean Pauls Dichtung im Licht unsrer nationalen Entwickelung (Berl. 1868); Vischer, Kritische Gänge, neue Folge, Bd. 6 (Stuttg. 1875); Nerrlich, Jean Paul und seine Zeitgenossen (Berl. 1876) und Jean Paul, sein Leben und seine Werke (das. 1889); Jos. Müller, Jean Paul und seine Bedeutung für die Gegenwart (Münch. 1894), Die Seelenlehre Jean Pauls (das. 1894) und Jean Paul-Studien (das. 1899); Hoppe, Das Verhältnis Jean Pauls zur Philosophie seiner Zeit (Leipz. 1901); Reuter, Die psychologische Grundlage von Jean Pauls Pädagogik (das. 1902): Allievo, Gian Paolo R. e la sua Levana (Tur. 1900); Czerny, Sterne, Hippel und Jean Paul (Berl. 1904); F. J. Schneider, Jean Pauls Altersdichtung Fibel und Komet (das. 1901) und Jean Pauls Jugend und erstes Auftreten in der Literatur (das. 1905). Eine begeisterte, formvollendete »Denkrede auf Jean Paul« verfaßte Börne (1825).
Den vier schönen und edeln SCHWESTERN auf dem Thron
»Aphrodite, Aglaja, Euphrosyne und Thalia sahen einst in das irdische Helldunkel hernieder und, müde des ewig heitern, aber kalten Olympos, sehnten sie sich herein unter die Wolken unserer Erde, wo die Seele mehr liebt, weil sie mehr leidet, und wo sie trüber, aber wärmer ist. Sie hörten die heiligen Töne heraufsteigen, mit welchen Polyhymnia unsichtbar die tiefe bange Erde durchwandelt, um uns zu erquicken und zu erheben; und sie trauerten, daß ihr Thron so weit abstehe von den Seufzern der Hülflosen.
Da beschlossen sie, den Erdenschleier zu nehmen und sich einzukleiden in unsere Gestalt. Sie gingen von dem Olympos herab; Amor und Amorinen und kleine Genien flogen ihnen spielend nach, und unsere Nachtigallen flatterten ihnen aus dem Mai entgegen.
– Aber als sie die ersten Blumen der Erde berührten und nur Strahlen und keine Schatten warfen: so hob die ernste Königin der Götter und Menschen, das Schicksal, den ewigen Zepter auf und sagte: der Unsterbliche wird sterblich auf der Erde, und jeder Geist wird ein Mensch ! –
Da wurden sie Menschen und Schwestern und nannten sich Luise, Charlotte, Therese, Friederike; die Genien und Amorinen verwandelten sich in ihre Kinder und flogen ihnen in die Mutterarme, und die mütterlichen und schwesterlichen Herzen schlugen voll neuer Liebe in einer großen Umarmung. Und als die weiße Fahne des blühenden Frühlings flatterte – und menschlichere Thronen vor ihnen standen – und als sie, von der Liebe, der Harmonika des Lebens, selig-erweicht, sich und die glücklichen Kinder anblickten und verstummten vor Lieb' und Seligkeit: so schwebte unsichtbar Polyhymnia vorüber und erkannte sie und gab ihnen Töne, womit das Herz Lieb' und Freude sagt und gibt....«
– Und der Traum war geendigt und erfüllt; er hatte, wie immer, nach der Wirklichkeit und dem Wachen sich gebildet. Darum sei er den vier schönen und edlen Schwestern geweiht, und alles, was ihm im Titan ähnlich ist, sei es auch!
Jean Paul Fr. Richter.
Fahrt nach Isola bella – der erste Freudentag im Titan – der Pasquinos- Götzendiener – Lob der Reichsintegrität – das Moussieren der Jugend – süßes Blutvergießen – die Erkennung eines Vaters – groteskes Testament – deutsche Vorliebe für Gedichte und Künste – der Vater des Todes – Geister-Akt – der blutige Traum – die Schaukel der Phantasie
1. Zykel
An einem schönen Frühlingsabend kam der junge spanische Graf von Cäsara mit seinen Begleitern Schoppe und Dian nach Sesto, um den andern Morgen nach der borromäischen Insel Isola bella im Lago maggiore überzufahren. Der stolz-aufblühende Jüngling glühte von der Reise und von dem Gedanken an den künftigen Morgen, wo er die Insel, diesen geschmückten Thron des Frühlings, und auf ihr einen Menschen sehen sollte, der ihm zwanzig Jahre lang versprochen worden. Diese zweifache Glut hob den malerischen Heros zur Gestalt eines zürnenden Musengottes empor. In die welschen Augen zog seine Schönheit mit einem größern Triumphe ein als in die engen nördlichen, wovon er herkam; in Mailand hatten viele gewünscht, er wäre von Marmor und stände mit ältern versteinerten Göttern entweder im farnesischen Palast oder im klementinischen Museum oder in der Villa Albani; ja hatte nicht der Bischof von Novara mit seinem Degen an der Seite vor wenigen Stunden bei Schoppen, der zuletzt ritt, nachgefragt, wer es sei? Und hatte nicht dieser mit einer närrischen Quadratur seines Runzeln-Zirkels um die Lippen weitläufig versetzt (um dem geistlichen Herrn Licht zu geben): »Mein Telemach ists, und ich mache den Mentor dabei – ich bin die Rändelmaschine und der Prägstock, der ihn münzt – der Glättzahn und die Plattmühle, die ihn bohnt – der Mann, der ihn regelt«?
Die jugendlich warme Gestalt Cesaras wurde durch den Ernst eines nur in die Zukunft vertieften Auges und eines männlichfestgeschlossenen Mundes und durch die trotzige Entschlossenheit junger frischer Kräfte noch mehr veredelt; er schien noch ein Brennspiegel im Mondlicht, oder ein dunkler Edelstein von zu vieler Farbe zu sein, den die Welt, wie andere Juwelen, erst durch Hohlschleifen lichtet und bessert. –
In dieser Nähe zog ihn die Insel, wie eine Welt die andere, immer heftiger an. Seine innere Unruhe stieg durch die äußere Ruhe. Noch dazu stellte Dian, ein Grieche von Geburt und ein Künstler, welcher Isola bella und Isola madre öfters umschifft und nachgezeichnet hatte, ihm diese Prachtkegel der Natur in feurigen Gemälden näher vor die Seele; und Schoppe gedachte des wichtigen Menschen öfters, den der Jüngling morgen zum ersten Male sehen sollte. Als man unten auf der Gasse einen festschlafenden Greis vorübertrug, dem die untergehende Sonne Feuer und Leben in das markige starkgegliederte Angesicht warf und der eine nach italienischer Sitte aufgedeckt getragne – Leiche war: so fragt' er erschrocken und schnell die Freunde: »Sieht mein Vater so aus?«
Was ihn nämlich mit so heftigen Bewegungen der Insel zutreibt, ist folgendes: Auf Isola bella hatt' er die drei ersten irdischen Jahre mit seiner Schwester, die nach Spanien, und neben seiner Mutter, die unter die Erde ging, mitten in den hohen Blumen der Natur liegend süß vertändelt und verträumt – die Insel war für den Morgenschlummer des Lebens, für seine Kindheit, Raffaels übermaltes Schlafgemach gewesen. Aber er hatte nichts davon im Kopfe und Herzen behalten als in diesem ein schmerzlich süßes tiefes Aufwallen bei dem Namen, und in jenem das Einhorn, das als Familienwappen der Borromäer auf der obersten Terrasse der Insel steht.
Nach dem Tode der Mutter versetzte ihn sein Vater aus der welschen Blumenerde – einige blieb an den Pfahlwurzeln hängen – in den deutschen Reichsforst, nämlich nach Blumenbühl – im Fürstentum Hohenfließ, das den Deutschen so gut wie unbekannt ist –; hier ließ er ihn im Hause eines biedern Edelmannes so lange erziehen, oder deutlicher und allegorischer, er ließ hier die pädagogischen Kunstgärtner so lange mit Gießkannen, Inokuliermessern und Gartenscheren um ihn laufen, bis sie an den hohen schlanken Palmbaum voll Sagomark und Schirmstacheln mit ihren Kannen und Scheren nicht mehr langen konnten.
Jetzt soll er nach der Rückreise von der Insel aus dem Feldbeete des Landes in den Loh- und Treibkübel der Stadt und auf das Gestelle des Hofgartens kommen, mit einem Worte nach Pestitz, der Universität und Residenzstadt von Hohenfließ, deren Anblick sogar bisher sein Vater ihm hart verboten hatte.
Und morgen sieht er diesen Vater zum – erstenmal! – Er mußte brennen vor Verlangen, da sein ganzes Leben eine Anstalt zu dieser gemeinschaftlichen Landung war, und seine Pflegeeltern und Lehrer eine chalkographische Gesellschaft waren, die den Autor seines Lebensbuches so herrlich vor das Titelblatt in Kupfer stach. Sein Vater, Gaspard de Cesara, Ritter des goldnen Vlieses (ob spanischer oder österreichischer, wünscht' ich selber genauer zu wissen), ein vom Schicksal dreischneidig und glänzend geschliffner Geist, hatte in der Jugend wilde Kräfte, zu deren Spiel nur ein Schlachtfeld oder Königreich geräumig gewesen wäre und die sich im vornehmen Leben so wenig bewegen konnten als ein Seekraken im Hafen – er stillte sie durch Gastrollen in allen Ständen und Lust- und Trauerspielen, durch das Treiben aller Wissenschaften und durch eine ewige Reise – er wurde mit großen und kleinen Menschen und Höfen vertraut und oft verflochten, zog aber immer als ein Strom mit eignen Wellen durchs Weltmeer. – Und jetzt, nachdem er die Land- und Seereise um das Leben, um dessen Freuden und Kräfte und Systeme gemacht, fährt er (besonders da ihm der Affe der Vergangenheit, die Gegenwart, immer nachläuft) in seinem Studieren und im geographischen Reisen fort, aber stets für wissenschaftliche Zwecke, wie er denn eben die europäischen Schlachtfelder bereiset. Übrigens ist er gar nicht betrübt, noch weniger froh, sondern gesetzt; auch hasset und liebt, oder tadelt und lobt er die Menschen so wenig wie sich, sondern schätzet jeden in seiner Art, die Taube in ihrer und den Tiger in seiner. Was oft Rache scheint, ist bloß das harte kriegerische Durchschreiten, womit ein Mann Lercheneier und Ähren ertritt, der nie fliehen und fürchten kann, sondern nur anrücken und stehen. – –
Ich denke, die Ecke ist breit genug, die ich hier aus der Whistonschen Kometenkarte von diesem Schwanzsterne für die Menschen abgeschnitten. Ausbedingen will ich, eh' ich weiterrede, mir dieses, daß ich Don Gaspard auch zuweilen den Ritter heißen dürfe, ohne das goldne Vlies anzuhängen; – und daß ich, zweitens, nicht von meiner Höflichkeit gegen die kurze Leser-Memorie genötigt werde, seinem Sohne Cesara (unter diesem Namen soll der Alte nie auftreten) den Taufnamen abzuzwicken, der doch Albano heißet. –
Da jetzt Don Gaspard aus Italien nach Spanien ging: so hatt' er durch Schoppe unsern Albano oder Cesara aus Blumenbühl hierher führen lassen; ohne daß man weiß, warum so spät. Wollt' er in den vollen Frühling der jungen Zweige schauen? – Wollt' er dem Jüngling einige Bauernregel im hundertjährigen Kalender des Hoflebens aufschlagen? – Wollt' ers den alten Galliern oder den jetzigen Kapbewohnern nachmachen, die ihre Söhne nur waffenfähig und erwachsen vor sich ließen? – Wollt' er nichts weniger als das? – Nur so viel begreif' ich, daß ich ein gut williger Narr wäre, wenn ich mir im Vorhofe des Werks die Last aufbürden ließe, von einem so sonderbaren Manne mit einer um so viele Grade deklinierenden Magnetnadel schon aus so wenigen Datis eine Wilkesche magnetische Neigungskarte zu zeichnen und zu stechen; – er, aber nicht ich bin ja der Vater seines Sohns, und er soll wissen, warum er ihn erst bärtig vorbeschieden.
Als es 23 Uhr (die Stunde vor Sonnenuntergang) schlug und Albano die langweiligen Schläge addieren wollte: war er so aufgeregt, daß er nicht imstande war, die lange Tonleiter zu ersteigen; er mußte hinaus ans Ufer des Lago, in welchem die aufgetürmten Inseln wie Meergötter aufstehen und herrschen. Hier stand der edle Jüngling, das beseelte Angesicht voll Abendrot, mit edeln Bewegungen des Herzens und seufzte nach dem verhüllten Vater, der ihm bisher mit Sonnenkraft, wie hinter einer Nebelbank, den Tag des Lebens warm und licht gemacht. Dieses Sehnen war nicht kindliche Liebe – diese gehörte seinen Pflegeeltern an, weil kindliche nur gegen ein Herz entsteht, woran wir lange lagen, und das uns gleichsam mit den ersten Herzblättern gegen kalte Nächte und heiße Tage beschirmte –; seine Liebe war höher oder seltener. Über seine Seele war der Riesenschatten des väterlichen Bildes geworfen, der durch Gaspards Kälte nichts verlor; Dian verglich sie mit der Ruhe auf dem erhabenen Angesichte der Juno Ludovici; und der warme Sohn verglich sie mit einer andern schnellen Kälte, die im Herzen oft neben zu großer fremder Wärme einfällt, wie Brennspiegel gerade in den heißern Tagen matter brennen. Ja er hoffte sogar, er vermöge vielleicht dieses so quälend ans Eisfeld des Lebens angefrorne Vaterherz durch seine Liebe abzulösen; der Jüngling begriff nicht, wie einem treuen warmen Herzen zu widerstehen sei, wenigstens seinem.
Dieser Heros, in der ländlichen Kartause und mehr unter der Vorwelt als Mitwelt aufgewachsen, legte an alles antediluvianische Riesenellen; die Unsichtbarkeit des Ritters machte einen Teil von dessen Größe aus, und die Mosisdecke verdoppelte den Glanz, indem sie ihn verhing. – Überhaupt zog unsern Jüngling ein sonderbarer Hang zu übermäßigen Menschen hin, wovor sich andere entsetzen. Er las die Lobreden auf jeden großen Menschen mit Wollust, als wären sie auf ihn; und wenn das Volk ungewöhnliche Geister eben darum für schlimme hält – wie es alle seltene Petrefakta für Teufelsglieder nimmt –, so wohnte umgekehrt in ihm immer neben der Bewunderung die Liebe an, und seine Brust wurde immer zugleich weit und warm. Freilich hält jeder Jüngling und jeder große Mensch, der einen andern für groß ansieht, ihn eben darum für zu groß. – Aber in jedem edeln so Herzen brennt ein ewiger Durst nach einem edlern, im schönen nach einem schönern; es will sein Ideal außer sich in körperlicher Gegenwart, mit verklärtem oder angenommenem Leibe erblicken, um es leichter zu erstreben, weil der hohe Mensch nur an einem hohen reift, wie man Diamanten nur an Diamanten glänzend macht. – Will hingegen ein Literator, ein Kleinstädter, ein Zeitungsträger oder Zeitungsschreiber einen großen Kopf zu Gesicht bekommen und ist er auf einen großen Kopf ebenso ersessen wie auf eine Mißgeburt mit drei Köpfen – oder auf einen Papst mit ebensoviel Mützen – oder auf einen ausgestopften Haifisch – oder auf eine Sprach- und Buttermaschine: so tut ers nicht, weil ein warmes, seinen innern Menschen beseelendes Ideal von einem großen Manne, Papste, Haifische, Dreikopfe und Buttermodelle ihn drängt und treibt, sondern weil er frühmorgens denkt: »Es soll mich doch wundern, wie der Kauz aussieht«, und weil ers abends bei einem Glase Bier berichten will. –
Albano blickte am Ufer mit steigender Unruhe über das glänzende Wasser nach dem heiligen Wohnplatze der vergangnen Kindheit, der vergangnen Mutter, der weggezognen Schwester hin – die Freudenlieder schwammen auf den fernen Barken her und berauschten ihn – jede laufende Welle, die schäumende Brandung trieb eine höhere in seinem Busen auf – die Riesenstatue des heiligen Borromäus1, die über die Städte wegsah, verkörperte den Erhabnen (seinen Vater), der sich in seinem Herzen aufrichtete, und die blühende Pyramide, die Insel, wurde der väterliche Thron – die funkelnde Berg- und Gletscherkette wand sich fest um seinen Geist und zog ihn empor zu hohen Wesen und hohen Gedanken. – –
Die erste Reise, zumal wenn die Natur nichts als weißen Glanz und Orangeblüten und Kastanienschatten auf die lange Straße wirft, beschert dem Jüngling das, was oft die letzte dem Mann entführt – ein träumendes Herz, Flügel über die Eisspalten des Lebens und weit offne Arme für jede Menschenbrust.
Er ging zurück und bat seine Freunde mit seinem siegenden Auge, noch diesen Abend abzuschiffen, wiewohl Don Gaspard erst morgen auf die Insel kam. Was er oft nach einer Woche tun wollte, nahm er sich auf den nächsten Tag vor, und endlich tat ers – sogleich. Dian klopfte dem eiligen Boreas voll Liebe auf den Kopf und sagte: »Ungeduldiges Wesen! Du hast hier die Flügel vom Götterboten, und da unten auch!« (auf die Füße zeigend) »Aber glühe dich nur ab! In der schönen Nachmitternacht steigen wir ein, und wenn die Morgenröte am Himmel leuchtet, landen wir an.« – Dian hatte nicht bloß eine artistische Aufmerksamkeit für den wohlgestalteten Liebling, sondern auch eine zärtliche, weil er in Blumenbühl, wo er als Landbaumeister zu tun hatte, oft sein bildender Kinder- und Jugendfreund gewesen war, und weil er jetzt auf der Insel für einige Zeit aus seinen Armen nach Rom entwich. Da der Landbaumeister dasselbe Überströmen im Jüngling für keines hielt, das er im Greise schalt, eine Überschwemmung für keine in Ägypten, obwohl für eine in Holland; und da er für jedes Individuum, Alter und Volk eine andere gleichschwebende Temperatur annahm und in der heiligen Menschennatur keine Saite zu zerschneiden, sondern nur zu stimmen fand: so mußte wohl Cesara am heitern duldenden Lehrer, auf dessen beiden Gesetztafeln nur stand: Freude und Maß!, recht innig hängen, noch inniger als an den – Tafeln selber.
Die Bilder der Gegenwart und der nahen Zukunft und des Vaters hatten die Brust des Grafen so sehr mit Größe und Unsterblichkeit gefüllt, daß er gar nicht begriff, wie jemand sich könne begraben lassen, ohne beide errungen zu haben, und daß er den Wirt, sooft er etwas brachte, – zumal da er immer sang und wie Neapolitaner und Russen in Molltönen – bedauerte, weil der Mann nie etwas wurde, geschweige unsterblich. Das letztere ist Irrtum; denn hier bekommt er seine Fortdauer, und ich nenne und belebe gern seinen Namen Pippo (der abbrevierte Filippo). Als sie endlich gingen und bezahlten, und Pippo einen Kremnitzer Dukaten küßte mit den Worten: »Gelobt sei die heilige Jungfrau mit dem Kinde auf dem rechten Arm«: so erfreuete sich Albano, daß der Vater dem frommen Töchterlein nachschlage, das den ganzen Abend ein Jesuskind wiegte und fütterte. Freilich merkte Schoppe an: auf dem linken Arme trage sie das Kindlein leichter2; aber der Irrtum des guten Jünglings ist ein Verdienst wie die Wahrheit.
Unter dem Glanze des Vollmondes bestiegen sie die Barke und glitten über die leuchtenden Wellen dahin. Schoppe schiffte einige Weine mit ein, »weniger«, sagt' er, »weil auf der Insel nichts zu haben sei, als weil er, wenn das Fahrzeug leck würde, dann nichts auszupumpen brauchte als die Flaschen3; dann höb' es sich wieder«.
Cesara sank schweigend immer tiefer in die dämmernden Schönheiten des Ufers und der Nacht. Die Nachtigallen schlugen begeistert auf dem Triumphtore des Frühlings. Sein Herz wuchs in der Brust wie eine Melone unter der Glocke, und er hob sie immer höher über der schwellenden Frucht. Auf einmal bedacht' er, daß er so den Tulpenbaum des prangenden Morgens und die Kränze der Insel nur wie eine italienische Seidenblume Staubfaden für Staubfaden, Blatt für Blatt zusammenlegen sehe; – da befiel ihn sein alter Durst nach einem einzigen erschütternden Guß aus dem Füllhorn der Natur; er verschloß die Augen, um sie nicht eher zu öffnen als oben auf der höchsten Terrasse der Insel vor der Morgensonne. Schoppe dachte, er schlafe; aber der Grieche erriet lächelnd die Schwelgerei dieser künstlichen Blindheit und band selber vor die großen unersättlichen Augen das breite schwarze Taftband, das als eine weibliche Binde und Spitzenmaske sonderbar und lieblich gegen das blühende, aber männliche Gesicht abstach.
Nun neckten ihn beide freundlich mit mündlichen Nachtstücken von den herrlichen Ufer-Ornamenten, zwischen denen sie zogen. »Wie stolz« (sagte Dian zu Schoppen) »richtet sich dort das Schloß Lizanza und sein Berg, gleich einem Herkules, mit zwölffachen Gürteln aus Weinlaub in die Höhe!« – »Den Grafen« (sagte Schoppe leiser zu Dian) »bringt der Augen-Schmachtriemen um viel. Seht Ihr nicht, Baumeister, poetisch zu reden, den Glimmer von Aronens Stadt? Wie schön legt sie Lunens blanc d'Espagne auf und scheint sich im umgeworfnen Pudermantel des Mondscheins für morgen aufzusetzen und zu putzen! – Doch ist das wenig, sieht man dort den heiligen Borromäus, der den Mond als eine frischgewaschene Nachtmütze aufhat, besser an: steht der Gigant nicht wie der Mikromegas des deutschen Staatskörpers dort, ebenso hoch, ebenso starr und so steif?« –
Der Glückliche schwieg und gab statt der Antwort einen Handdruck der Liebe – er träumte nur die Gegenwart und zeigte, er könne warten und entbehren. Wie ein Kinderherz, dem die Vorhänge und die Nachmitternacht das nahe Weihnachtsgeschenk verdecken, zog er auf dem Lustschiffe mit fester Binde dem nahen Himmelreiche entgegen. Dian trug, soweit es das Doppellicht des Mondscheins und der nachhelfenden Aurora zuließ, eine Zeichnung von dem verhüllten Träumer in sein Studienbuch. – – Ich wollt', ich hätte sie da und säh' es, wie mein Liebling mit dem unterbundenen Sehnerven auf ihr zugleich das gegen die innere Welt gerichtete Auge des Traumes und das gegen die äußere Welt gespitzte Ohr der Aufmerksamkeit anstrengt. Wie schön ist so etwas, gemalt – wieviel schöner, erlebt!
Der Mantel der Nacht wurde dünner und kühler – die Morgenluft wehte lebendig an die Brust – die Lerchen mengten sich unter die Nachtigallen und unter die singenden Ruderleute – und er hörte hinter seiner lichtern Binde die frühen Entdeckungen der Freunde, die in den offnen Städten der Ufer das Menschengewühl aufleben und an den Wasserfällen der Berge bald Himmelsrot, bald Nebel wechseln sahen. – Endlich hing die zerlegte Morgenröte als eine Fruchtschnur von Hesperidenäpfeln um die fernen Kastaniengipfel; und jetzt stiegen sie auf Isola bella aus.
Der verhangne Träumer hörte, als sie mit ihm die zehen Terrassen des Gartens hinaufgingen, neben sich den einatmenden Seufzer des Freudenschauders und alle schnelle Gebete des Staunens; aber er behielt standhaft die Binde und stieg blind von Terrasse zu Terrasse, von Orangendüften durchzogen, von höhern freiern Winden erfrischt, von Lorbeerzweigen umflattert – und als sie endlich die höchste Terrasse erstiegen hatten, unter der der See 60 Ellen tief seine grünen Wellen schlägt, so sagte Schoppe: »Jetzt! jetzt!« – Aber Cesara sagte: »Nein! Erst die Sonne!« Und der Morgenwind warf die Sonne leuchtend durchs dunkle Gezweig empor, und sie flammte frei auf den Gipfeln – und Dian zerriß kräftig die Binde und sagte: »Schau umher!« – »O Gott!« rief er selig erschrocken, als alle Türen des neuen Himmels aufsprangen und der Olymp der Natur mit seinen tausend ruhenden Göttern um ihn stand. Welch eine Welt! Die Alpen standen wie verbrüderte Riesen der Vorwelt fern in der Vergangenheit verbunden beisammen und hielten hoch der Sonne die glänzenden Schilde der Eisberge entgegen – die Riesen trugen blaue Gürtel aus Wäldern – und zu ihren Füßen lagen Hügel und Weinberge – und zwischen den Gewölben aus Reben spielten die Morgenwinde mit Kaskaden wie mit wassertaftnen Bändern – und an den Bändern hing der überfüllte Wasserspiegel des Sees von den Bergen nieder, und sie flatterten in den Spiegel, und ein Laubwerk aus Kastanienwäldern faßte ihn ein Albano drehte sich langsam im Kreise um und blickte in die Höhe, in die Tiefe, in die Sonne, in die Blüten; und auf allen Höhen brannten Lärmfeuer der gewaltigen Natur und in allen Tiefen ihr Widerschein – ein schöpferisches Erdbeben schlug wie ein Herz unter der Erde und trieb Gebirge und Meere hervor. – – O als er dann neben der unendlichen Mutter die kleinen wimmelnden Kinder sah, die unter der Welle und unter der Wolke flogen – und als der Morgenwind ferne Schiffe zwischen die Alpen hineinjagte – und als Isola madre gegenüber sieben Gärten auftürmte und ihn von seinem Gipfel zu ihrem im waagrechten wiegenden Fluge hinüberlockte – und als sich Fasanen von der Madre-Insel in die Wellen warfen: so stand er wie ein Sturmvogel mit aufgeblättertem Gefieder auf dem blühenden Horst, seine Arme hob der Morgenwind wie Flügel auf, und er sehnte sich, über die Terrasse sich den Fasanen nachzustürzen und im Strome der Natur das Herz zu kühlen.
Er nahm, ohne sich umzusehen, verschämt die Hände der Freunde und drückte sie ihnen, damit er nicht sprechen müsse. Das stolze Weltall hatte seine große Brust schmerzlich ausgedehnt und dann selig überfüllt; und da er jetzt die Augen wie ein Adler weit und fest in die Sonne öffnete; und da die Erblindung und der Glanz die Erde verdeckte und er einsam wurde; und die Erde zum Rauch und die Sonne zu einer weißen sanften Welt, die nur am Rande blitzte: so tat sich sein ganzer voller Geist wie eine Gewitterwolke auseinander und brannte und weinte, und aus der reinen blassen Sonne sah ihn seine Mutter an, und im Feuer und Rauch der Erde stand sein Vater und sein Leben eingehüllt.
Still ging er die Terrassen herunter und fuhr oft über die nassen Augen, um den feurigen Schatten wegzuwischen, der auf alle Gipfel und alle Stufen hüpfte. –
Hohe Natur! wenn wir dich sehen und lieben, so lieben wir unsere Menschen wärmer, und wenn wir sie betrauern oder vergessen müssen, so bleibst du bei uns und ruhest vor dem nassen Auge wie ein grünendes abendrotes Gebirge. Ach vor der Seele, vor welcher der Morgentau der Ideale sich zum grauen kalten Landregen entfärbet hat – und vor dem Herzen, dem auf den unterirdischen Gängen dieses Lebens die Menschen nur noch wie dürre gekrümmte Mumien auf Stäben in Katakomben begegnen – und vor dem Auge, das verarmt und verlassen ist und das kein Mensch mehr erfreuen will – und vor dem stolzen Göttersohne, den sein Unglaube und seine einsame, menschenleere Brust an einen ewigen unverrückten Schmerz anschmieden – – vor allen diesen bleibst du, erquickende Natur, mit deinen Blumen und Gebirgen und Katarakten treu und tröstend stehen, und der blutende Göttersohn wirft stumm und kalt den Tropfen der Pein aus den Augen, damit sie hell und weit auf deinen Vulkanen und auf deinen Frühlingen und auf deinen Sonnen liegen! – –
2. Zykel
Ich wüßte einem Menschen, den ich lieb habe, nichts Schöneres zu wünschen als eine Mutter – eine Schwester – drei Jahre Beisammenleben auf Isola bella – und dann im zwanzigsten eine Morgenstunde, wo er auf dem Eden-Eiland aussteigt und alles dieses mit dem Auge und der Erinnerung auf einmal genießend umfängt und in die offne Seele drückt – – O du allzuglücklicher Albano auf dem Rosenparterre der Kindheit – unter Italiens tiefblauem Himmel – in den schwelgerischen Zitronenlauben voll Blüten – auf dem Schoße der schönen Natur, die dich wie eine Mutter liebkoset und hält, und vor dem Angesichte der erhabnen, die wie ein Vater in der Ferne steht – und mit einem Herzen, das heute den seinigen erwartet! –
Die drei Menschen durchirrten jetzt langsam und wankend das schwimmende Paradies. Obgleich die beiden andern es öfters betreten hatten: so wurde doch aus ihrem silbernen Zeitalter durch die Sympathie mit Albanos Taumel wieder ein goldenes; der Anblick einer fremden Entzückung weckt den alten Eindruck der unsrigen auf Wie Leute, die an Brandungen und Wasserfällen wohnen, lauter sprechen: so gab das herrliche Brausen des aufgeregten Lebens-Meeres ihnen allen, sogar Schoppen, eine stärkere Sprache; nur konnte dieser nie so feierliche Worte, wenigstens Gebärden treffen wie ein anderer Mensch.
Schoppe, der dem guten Italien den Abschiedskuß zuwerfen mußte, wollte gern noch die letzten nur zerstreuet um den Freudenbecher hängenden Tropfen konservieren, die so süß wie italienische Weine waren, voll deutschem Feuerstoff ohne deutschen Sauerstoff. Unter Sauerstoff meint' er Abschiednehmen und Rührung: »Tut das Schicksal«, sagt' er, »irgendeinen Retraiteschuß, beim Himmel! so wend' ich gelassen den Gaul um und reite pfeifend zurück. Der Henker müßte darin (oder darauf) sitzen, wenn ein geschickter Bereiter nicht sein Trauerroß so zureiten wollte, daß es sich recht gut zu einem Handgaul des Freudenpferdes anstellte; ich schule sowohl mein Sonnenroß als mein Bagageroß viel anders.«
Vor allen Dingen nahmen sie jetzt die Otaheiti-Insel durch Märsche ein, und jede Provinz derselben mußte ihnen, wie eine persische dem Kaiser, ein anderes Vergnügen entrichten. – »Die untern Terrassen« (sagte Schoppe)»müssen uns Majoratsherren den Obst- und Sackzehent in Zitronen- und Orangendüften abliefern – die oberste trägt die Reichssteuer in Aussichten ab – die Grotte drunten zahlet, hoff' ich, Judenschutz in Wellen-Gemurmel und der Zypressenwald drüben seine Prinzessinsteuer in Kühle – die Schiffe werden ihren Rhein- und Neckarzoll nicht defraudieren, sondern ihn dadurch erlegen, daß sie sich von weitem zeigen.«- –
Es wird mir nicht schwer, zu merken, daß Schoppe durch diese scherzhaften Vexierzüge die heftigen Bewegungen in Cesarens Kopf und Herzen brechen wollte; denn noch immer ging der Glanz der Morgenentzückung, wiewohl der Jüngling über kleinere Dinge unbefangen sprach, nicht von dessen Gesicht. In ihm zitterte jede Erschütterung lange – und eine am Morgen den ganzen Tag – und zwar darum nach, weswegen eine Sturmglocke länger nachsummt als eine Schafglocke; gleichwohl konnte ein solcher Nachklang weder seine Aufmerksamkeit noch seine Werke und Gespräche stören.
Mittags wollte der Ritter kommen. Bis dahin schwärmten und sumseten sie stiller-genießend mit Bienenflügeln und Bienenrüsseln durch die honigreiche Flora der Insel; und sie hatten jene heitere Unbefangenheit der Kinder, der Künstler und der südlichen Völker, die nur den Honigbehälter der Minute ausnascht; und daher fanden sie an jeder anfallenden Welle, an jedem Zitronenspalier, an jeder Statue unter Blüten, an jedem rückenden Widerschein, an jedem fliehenden Schilfe mehr als eine Blume, die den gefüllten Kelch weiter unter dem warmen Himmel aufmachte, anstatt daß es uns unter unserm kalten wie den Bienen geht, vor denen Maifröste die Blumen verschließen. – O die Insulaner tun recht. Unser größter und längster Irrtum ist, daß wir das Leben, d.h. seinen Genuß, wie die Materialisten das Ich, in seiner Zusammensetzung suchen, als könnte das Ganze oder das Verhältnis der Bestandteile uns etwas geben, das nicht jeder einzelne Teil schon hätte. Besteht denn der Himmel unsers Daseins, wie der blaue über uns, aus öder matter Luft, die in der Nähe und im Kleinen nur ein durchsichtiges Nichts ist und die erst in der Ferne und im Großen blauer Äther wird? Das Jahrhundert wirft den Blumensamen deiner Freude nur aus der porösen Säemaschine von Minuten; oder vielmehr an der seligen Ewigkeit selber ist keine andere Handhabe als der Augenblick. Das Leben besteht nicht aus 70 Jahren, sondern die 70 Jahre bestehen aus einem fortwehenden Leben, und man hat allemal gelebt und genug gelebt, man sterbe, wenn man will.
3. Zykel
Endlich als die drei Frohen sich in die Tafelstube eines Lorbeerwaldes vor ihre Speis- und Trankopfer, die Schoppe zu Sesto ins Proviantschiff eingepackt hatte, niedersetzen wollten: ging durch die Zweige ein feiner, elegant und einfärbig gekleideter Fremder mit langsamen festen Schritten auf die liegende Tischgesellschaft zu und wandte sich, ohne zu fragen, sofort an Cesara mit der deutschen, langsam, leise und bestimmt prononcierten Anrede: »Ich habe dem Herrn Grafen Cesara eine Entschuldigung zu bringen.« – »Von meinem Vater?« fragt' er schnell. – »Um Verzeihung, von meinem Prinzen;« (versetzte der Fremde) »er verhinderte Ihren Herrn Vater, der kränklich aufstand, in der Morgenkühle zu reisen, aber gegen Abend wird er eintreffen. – Indes bring' ich« (setzte er mit einem wohlwollenden Lächeln und mit einer leichten Verbeugung hinzu) »dem Herrn Ritter ein Opfer, daß ich den Anfang des Glücks, künftig länger bei Ihnen zu sein, Herr Graf, mit einer Nachricht Ihres Verlustes mache.« – – Schoppe, der fein erriet, ohne fein zu sprechen, fuhr sofort heraus – weil er sich von keinem Menschen imponieren ließ –: »Sonach sind wir pädagogische Maskopisten und Unioten. Willkommen, lieber Grau-Bündner!« – »Es freuet mich«, sagte kalt der Fremde, der grau angezogen war.
Spitzen