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Håkan Nesser: Der Kommissar und das Schweigen
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Die schwedische Originalausgabe erschien 1997
unter dem Titel »Kommissarien och tystnaden«
bei Albert Bonniers Förlag, Stockholm
Copyright © 1997 by Håkan Nesser
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2001
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Neumarkter Str. 28, 81673 München
ISBN 978-3-641-09046-3
V002
www.btb-verlag.de
www.randomhouse.de

Inhaltsverzeichnis

I - 15. Juli
Kapitel 1
II - 17. – 18. Juli
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
III - 19. – 23. Juli
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
IV - 23. – 28. Juli
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
V - 28. – 31. Juli
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
VI - 31. Juli – 1. August
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
VII - 10. August
Kapitel 41
Copyright

1

Das Mädchen in Bett Nummer zwölf wachte früh auf. Ein Sommermorgen. Durch die dünnen Gardinen drang sanftes Dämmerlicht in den Schlafsaal. Es begann behutsam die Nacht auszuwischen, das Dunkel aus den Ecken zu tragen, schnupperte an den ahnungslosen Träumen der anderen Mädchen. An ihren ruhigen Atemzügen. Das Mädchen blieb eine Weile liegen und lauschte ihnen. Vorsichtig versuchte sie Nuancen auszumachen. Kathrine schlief wie üblich auf dem Rücken und schnarchte leise mit offenem Mund. Belle zischte wie eine Schlange. Marieke zu ihrer Rechten schnaubte, ein Arm baumelte über den Bettrand und das dichte rote Haar lag wie ein Fächer auf dem Kopfkissen ausgebreitet. Ein Tröpfchen Speichel hing in ihrem Mundwinkel. Kurz spielte das Mädchen mit dem Gedanken, ihn mit dem Zipfel ihres Lakens abzuwischen, ließ es dann aber bleiben.

Sie hätte es Marieke erzählen sollen. Zumindest Marieke. Hätte etwas sagen sollen, eine Nachricht hinterlassen oder was auch immer. Aber jetzt war es zu spät dafür, und schließlich hatte sie gestern Abend noch nicht wirklich gewusst, was sie tun sollte. Hatte lange hin und her überlegt. Das war kein einfacher Beschluss. Sie war dagelegen und hatte ihn fast ausgebrütet, hatte sich in dem knarrenden Eisenrohrbett hin und her gewälzt bis tief in die Nacht hinein, bis Marieke und auch Ruth gefragt hatten, ob sie vielleicht krank wäre, und Belle sie mehrere Male gebeten hatte, diesen Lärm doch zu lassen.

Belle war ziemlich reizbar, aber sie hatte einen Vater, der Jellinek irgendwie nahe stand, und deshalb musste man sich gut mit ihr stellen. Das wurde jedenfalls behauptet. Es wurde so viel hier in Waldingen behauptet.

Sie hatte also im Bett gelegen und mit sich gerungen. Sie wusste nicht, wie spät es gewesen war, als sie endlich eingenickt war, und nicht, wie spät es jetzt war, aber besonders viele Stunden Schlaf konnte sie nicht abbekommen haben, das war zu spüren. Wie auch immer, am besten, sie stand jetzt auf. Sie hatte sich zwar immer auf ihren inneren Wecker verlassen können, aber es gab keinen Grund zu glauben, dass er sie auch weiter wach halten würde. Absolut keinen.

Vorsichtig schob sie die schwere Decke zur Seite und setzte sich auf. Holte Jeans, T-Shirt und Turnschuhe aus dem Schrank und zog sich hastig an. Spürte, wie sich in ihrem Zwerchfell Unruhe breit machte, verdrängte sie aber mit Hilfe ihrer Wut.

Mit ihrer Wut und ihrem Gerechtigkeitsgefühl.

In unterdrückter Hektik schnappte sie sich die restlichen Kleidungsstücke. Es war nicht einfach, alles auf einmal an sich zu raffen, aber sie schaffte es. Schnürte den Rucksack zu und schlich sich hinaus. Die Tür knarrte wie immer, als sie sie aufschob, und einige Treppenstufen gaben einen unglücklichen Jammerton von sich, als sie auf sie trat, doch in weniger als einer halben Minute war sie draußen.

Sie lief eilig über das taufeuchte Gras zum Waldrand und blieb erst stehen, als sie den kleinen Hügel hinter sich gelassen und die erste Talmulde erreicht hatte. Als sie außer Sichtweite des Hauses war. Außer Reichweite.

Eine Weile blieb sie zögernd im Blaubeergestrüpp stehen, zitternd in der noch anhaltenden Nachtkühle, während sie über Himmelsrichtungen nachdachte. Sie spürte, wie sie buchstäblich mit den Zähnen klapperte. Wenn sie geradeaus weiter durch den Wald ginge, müsste sie früher oder später zur großen Straße kommen, das wusste sie. Aber es war ein ganz schönes Stück bis dorthin. Auch wenn es ihr gelingen würde, sich ziemlich gerade zu halten, würde es mindestens eine halbe Stunde dauern, und es war natürlich nicht gesagt, dass sie nicht vielleicht aus Versehen im Kreis gehen würde. Das war ganz und gar nicht sicher. Ihr ganzes Leben lang hatte sie in der Stadt gewohnt, Wälder und Natur waren nicht gerade ein vertrautes Milieu.

Fremdes Revier, wie man so sagte.

Im normalen Fall hätte sie natürlich ein Gebet sprechen können. Zu Gott beten, dass er ihr beistehe und ihr ein Stück auf dem Weg helfe, aber das fand sie an diesem Morgen nicht passend.

Nicht passend und in gewisser Weise auch nicht ehrlich.

Gott hatte in letzter Zeit sein Gesicht gewechselt. Ja, das traf es ungefähr. Er war groß geworden, riesig und unergründlich und – auch wenn ihr dieser Gedanke nicht gefiel – ein klein wenig erschreckend. Über den sanften, bärtigen, Sicherheit ausstrahlenden Onkel ihrer Kindheit hatte sich ein Schatten gelegt.

Etwas Finsternes.

Und wenn sie es genau bedachte, dann begriff sie, dass gerade dieses Finsterne der Grund dafür war, warum sie jetzt hier zögernd im Blaubeergestrüpp stand.

Zögernd und mit Angst und Wut kämpfend. Und mit ihrem Gerechtigkeitssinn, wie gesagt.

Genau deshalb.

Rechts fiel das Gelände ab. Zum See und dem geschlängelten Kiesweg zu Finghers Hof hin, wohin sie abends immer grüppchenweise gingen, um Milch zu holen. Kartoffeln, Gemüse und Eier.

Immer zu viert mit den beiden klapprigen Leiterwagen und Jellinek an der Spitze. Niemand hatte richtig verstanden, warum Jellinek immer dabei sein musste. Die Schwestern hätten doch genügt? Aber vielleicht wollte er sie nur vor Gefahren bewahren. Wahrscheinlich war es so. Finghers Hof war der einzige Kontakt, den sie mit der Anderen Welt hatten, wie Jellinek sie in seinen Reden, die er vormittags und am Abend hielt, zu bezeichnen pflegte.

Die Andere Welt?

Jetzt stehe ich in der Anderen Welt, dachte sie. Ich bin nicht mal zweihundert Meter in sie hineingelaufen, und schon weiß ich nicht mehr, in welche Richtung ich gehen soll. Vielleicht stimmte ja doch, was er gesagt hatte? Vielleicht war tatsächlich Jellineks Gott der richtige Gott und nicht ihr eigener, ihr guter, verzeihender und fast ein bisschen kindischer Freudengott?

»Teufel auch!«, murmelte sie und erschauerte wieder, diesmal aber vor allem wegen des Fluchs. Was um alles in der Welt nützte ein Gott, wenn er nicht gütig war?

Aber was wollte sie eigentlich tun, wenn sie es schaffen würde, zur großen Straße zu kommen? Ja, auf diese Frage hatte weder sie noch einer der Götter eine Antwort.

Das würde sich schon zeigen, wie ihre Großmutter immer zu sagen pflegte. Kommt Zeit, kommt Rat. Sie warf einen letzten Blick über den Hügel, auf die Gebäude dahinter, nur der alleroberste Teil des spitzen Dachs des Esssaals lugte noch zwischen den Bäumen hervor.

Und dann natürlich das große schwarze Kreuz, das anzunageln sie am ersten Tag mitgeholfen hatten. Sie holte tief Luft, kehrte allem den Rücken zu und machte sich auf den Weg hinunter zum See. Es war immer noch am sichersten, den vertrauten Kiesweg einzuschlagen.

 

Sie erreichte ihn genau bei der Riesenbirke, in die Marieke und sie geplant hatten, vor ihrer Abreise ihre Namen einzuritzen.

Vorausgesetzt, sie schafften es, sich nach draußen zu schleichen. Wenn sie sich zwanzig Minuten Zeit von dem Reinen Leben stehlen konnten, es ihnen gelang, ungesehen hinauszuhuschen und zurückzukommen. Eigentlich hatten sie sich keine große Hoffnungen in diese Richtung gemacht – es war eher etwas, was man so sagte – aber jetzt stand sie doch hier und strich mit den Händen über die weiße, glatte Rinde.

Das Reine Leben? dachte sie. Die Herde des Guten Lichts?

Die Andere Welt?

Scheißgerede.

Das Wort rutschte ihr ebenso schnell heraus wie gestern. Scheißgerede. Da hatte sie es nicht unterdrücken können, wie eine böse, ungezogene kleine Sommerschwalbe war es ihr herausgeflogen, und plötzlich war es zu einer Wolke angeschwollen.

Ja, genau so war es gewesen. Eine dunkle, bedrohliche Wolke, die sich über alle Anwesenden im Saal des Lebens hängte. Die die Mädchen dazu brachte, die Luft anzuhalten, und Jellinek, seine bleichen Augen für Sekunden, die ihr wie Tage erschienen, auf sie zu richten.

»Ich möchte hinterher mit dir reden«, hatte er schließlich gesagt, und dann hatte sein Blick sie verlassen, und er hatte in seinem üblichen ruhigen Tonfall weitergesprochen. Über die Reinheit und das Weiße und die Nacktheit und all das andere.

Hinterher im Weißen Raum.

Aber auch dort hatte er nicht viele Worte an sie verschwendet. Nur die Tatsache festgestellt.

»Der Teufel, mein Mädchen. Du hast den Teufel in dir. Morgen werden wir ihn austreiben.«

Dann hatte er sie mit einer müden Handbewegung ins Bett geschickt.

Sie hatte davon gehört, dass man Teufel austrieb, aber sie wusste nicht, wie es vonstatten ging. Sie hatte geglaubt, das wäre etwas, womit sich nur die Erwachsenen beschäftigten, aber so war es wohl nicht. Jeder konnte vom Teufel besessen sein, sogar ein Kind, das hatte sie gestern Abend gelernt.

Und jetzt sollte er ausgetrieben werden. Sicher nicht gerade ein angenehmes Erlebnis. Sicher um einiges schlimmer als die Auspeitschung der Sünden, und obwohl sie nun seit mehr als zwei Wochen hier war, war es ihr immer noch nicht gelungen, sich an die Rute zu gewöhnen. Jedes Mal musste sie hinterher heimlich ein wenig weinen, und sie hatte nie bemerkt, dass eines der anderen Mädchen in ähnlicher Weise reagierte.

Plötzlich war das Weinen wieder in ihr. Ohne Vorwarnung brannte es in ihrem Hals, und dann liefen ihr die Tränen über die Wangen, sodass sie gezwungen war, sich an den Wegrand zu setzen. Sie wollte nur eine Weile dort sitzen bleiben, um die Tränen laufen zu lassen, wollte warten, bis alles vorbei war. Es war doch lächerlich, mitten auf dem Weg dahinzuspazieren und dabei zu heulen. Auch wenn es bestimmt nicht später als sechs oder halb sieben war und obwohl sie kaum Gefahr lief, einem Menschen zu begegnen – so war es doch peinlich.

Sie zog ein Taschentuch aus ihrem Rucksack und putzte sich die Nase. Blieb dann sicherheitshalber noch einige Minuten sitzen – und gerade als sie aufstehen wollte, um weiterzugehen, hörte sie einen Zweig in der Nähe knacken. Und mit einer schnell anwachsenden Gewissheit wurde ihr klar, dass sie ganz und gar nicht so allein war, wie sie geglaubt hatte.

2

»Und wer hat das behauptet?«, fragte Jung und öffnete eine Coca-Cola-Dose. »Dass er aufhören will, meine ich?«

Ewa Moreno zuckte mit den Schultern.

»Keine Ahnung, woher das Gerücht kommt«, sagte sie. »Aber Rooth und Krause haben gestern in der Kantine darüber geredet ... wundern würd’s mich aber nicht.«

»Was?«, fragte Jung. »Was würde dich nicht wundern?« Er nahm ein paar kräftige Schlucke und versuchte anschließend nicht zu rülpsen.

»Dass er die Nase voll hat, natürlich. Er ist jetzt mindestens fünfunddreißig Jahre dabei. Und wie lange willst du noch weitermachen?«

Jung überlegte, während er diskret eine Wolke Kohlensäure durch die Nase ausstieß.

»Manchmal wird man ja auch schon vorzeitig abgeschossen«, sagte er. »Wenn man Glück hat, meine ich. Nein, ich versuche mich fit zu halten, indem ich gar nicht darüber nachdenke. Willst du?«

Er reichte ihr die Dose, und Moreno trank sie bis zum Boden leer.

»Verdammte Hitze«, sagte sie. »Ich glaube, ich habe seit heute Morgen drei Liter getrunken. Aber übrigens, du kannst doch Münster fragen. Wenn jemand es weiß, dann er.«

Jung nickte.

»Wie alt ist er?«

»Wer? Münster?«

»Nein, der Hauptkommissar natürlich. Er ist doch noch nicht sechzig, oder?«

»Keine Ahnung«, sagte Ewa Moreno. »Wie lange müssen wir hier eigentlich noch herumhängen? Es passiert ja doch nichts. Außer dass das Gehirn anfängt zu kochen.«

Jung schaute auf seine Uhr.

»Noch eine Stunde laut Befehl.«

»Fahr noch eine Runde«, sagte Moreno. »Dann kommt wenigstens noch etwas Zug in die Geschichte. Es ist ja wohl nicht Sinn der Sache, dass wir hier sitzen und uns einen Sonnenstich holen. Oder was meint der Inspektor?«

»Man muss bereit sein, auf seinem Posten zu sterben«, erwiderte Jung und startete das Auto. »Das steht im Reglement. Jedenfalls fände ich es verdammt schade, wenn er abspringen würde ... Es ist zwar manchmal nicht ganz einfach, aber trotzdem. Wohin soll’s denn gehen?«

»Zum Kiosk, um noch mehr Cola zu kaufen«, sagte Moreno.

»Euer Wille ist mir Befehl«, erklärte Jung. »Aber ich glaube, ich nehme diesmal was ohne Kohlensäure. Verdammt, guck dir das an! Obwohl, es hängt schließlich in der Sonne ...«

Er deutete auf das gigantische Thermometer am Giebel der Schwimmhalle.

»Siebenunddreißig Grad«, stellte Moreno fest.

»Genau! So warm wie das Blut, nicht mehr und nicht weniger.«

»Ich habe Durst«, sagte Moreno.

 

Kommissar Van Veeteren kroch ins Auto und schloss die Augen.

»Diese Frau!«, knurrte er. »Und dieser Frau habe ich mein Leben geschenkt.«

Er stöhnte. Das Auto hatte über eine Stunde in der knallenden Hitze auf dem Marktplatz gestanden. Als er jetzt die Hände aufs Lenkrad legte, hatte er kurz den Geruch verbrannten Fleischs in der Nase. Zum Teufel, dachte er. Diesen Weg müssen wir alle mal gehen.

Der Schweiß lief ihm den Körper hinunter. Übers Gesicht, den Nacken und unter den Achseln. Er kurbelte die Scheiben herunter und wischte sich sorgfältig die Stirn mit einem zweifelhaften Taschentuch ab.

Betrachtete anschließend das nasse Tuch. Bestimmt waren auch ein paar Tropfen kalter Schweiß darunter.

Fünfundzwanzig Jahre meines Lebens! korrigierte er sich und startete den Wagen. Bog aus der Parkbucht. Ein Vierteljahrhundert!

Und jetzt hatte sie versucht, ihm noch einmal zwei Wochen zu stehlen. Er ging erneut ihr Gespräch durch.

Die Hütte draußen bei Maalvoort. Ja, vielen Dank ... Viel Platz. Vier Zimmer und Küche. Dünen, Strand und Meer ... Renate und er. Jess und die Zwillinge ...

Er wunderte sich darüber, wie sorgfältig sie die Sache geplant hatte. Das Gespräch hatte schon eine ganze Weile gedauert, getrieben von den günstigen Winden seines guten Willens, wie es schien, und dann waren plötzlich die Fragen und dieser Vorschlag vollkommen überraschend auf ihn niedergeprasselt. . . Er hätte es besser wissen müssen. Verdammt, wurde er denn nie schlauer?

Hatte er nicht im August Urlaub? Da würde doch Jess endlich für ein paar Wochen nach Hause kommen. Wie wäre das schön, die Enkelkinder mit Großvater und Großmutter gemeinsam... (der Teufel und seine Großmutter! war ihm da eingefallen, und er musste mitten in seiner Überraschung lachen)... Das Haus war so ziemlich das Letzte gewesen, sie hatte sich erst spät darum gekümmert, und die meisten waren schon belegt gewesen. Wenn er seine Ruhe haben wollte, würde ihn nichts daran hindern, es gab genügend Platz für Privatsphäre, wie gesagt. Sowohl drinnen als auch draußen ...

Eine gewisse Planung lag mit Sicherheit dahinter. Das war eine klassische Überrumpelung, dachte er. Eine typische, elegante Überrumpelung seitens seiner ehemaligen Ehefrau, die in alten, trüben Wassern fischte. Verdammte Scheiße.

Er stellte die Stereoanlage an und gleich wieder aus.

Jess und die Kinder ...

»Wie schade«, hatte er geantwortet.

Und Erich hatte auch versprochen zu kommen, zumindest für ein paar Tage.

»Wie schade, meine Liebe. Das ist dir zu spät eingefallen. Ich habe schon gebucht.«

»Gebucht?« Ihre Augenbrauen waren in ehrlichem Zweifel in die Höhe geschossen. »Du hast gebucht?«

»Kreta!«, stieß er auf gut Glück aus. »Zwei Wochen vom Ersten an.«

Sie glaubte ihm nicht. Das sah er sofort, die eine Augenbraue sank zurück in die Ausgangsposition, während die andere wie ein stummer, geknickter Verweis in der Stirn haften blieb.

»Kreta«, wiederholte er vollkommen unnötigerweise. »Rethymnon, aber ich wollte auch rüber auf die Südseite ... und, tja ...«

»Fährst du allein?«

»Allein? Verdammt, natürlich fahre ich allein. Was denkst du denn?«

Er krachte mit dem linken Vorderrad gegen den Rand einer Verkehrsinsel und fluchte laut und herzhaft.

Ein Vierteljahrhundert also! Fünf Jahre in Freiheit, und immer noch war sie da und konnte aus dem Hinterhalt ihre Pfeile abschießen. Worauf war sie eigentlich aus? Er erschauerte mitten in der Sommerhitze. Wischte sich mit dem Taschentuch über den Nacken. Bog auf den Rejmer Plejn ab und fand einen freien Parkplatz unter einer der Ulmen.

Kreta? dachte er und stieg aus. Warum eigentlich nicht? Ja, genau. Warum eigentlich nicht! Wenn man die Unschuld mit einem neuen Hymen wiederherstellen konnte, dann dürfte es doch wohl eine einfache Sache sein, aus einer Notlüge eine rückwirkend fungierende Wahrheit zu machen.

Ich drücke mich heute ja elegant aus, dachte er bei sich. Beim Teufel und seiner Großmutter! Eine rückwirkend fungierende Wahrheit! ... Ich sollte noch heute mit meinen Memoiren beginnen.

Er überquerte den Marktplatz. Schob sich einen Zahnstocher in den Mund und betrat das Reisebüro an der Ecke.

 

Die Frau, die vorne am Schalter saß, hatte ihm den Rücken zugekehrt, und es dauerte eine Weile, bis ihm klar wurde, wer sie war. Ihr kastanienbraunes Haar war seit dem letzten Mal noch ein bisschen kastanienbrauner geworden, und ihre Stimme hatte eine deutlich hellere Tonlage angenommen.

Dem Teufel sei Dank.

Ulrike Fremdli. Als er sie das letzte – und einzige – Mal getroffen hatte, war gerade ihr Ehemann ermordet worden. Van Veeteren rechnete kurz nach und kam zu dem Schluss, dass es im Februar gewesen sein musste. Im vergangenen Februar – diesem feuchtkalten, gottverlassenen Monat, der gelobten Zeit der Hoffnungslosigkeit, wie Mahler es zu nennen pflegte. Sie hatten in einem einfachen, aber gemütlichen Wohnzimmer in einem ganz normalen, gemütlichen Reihenhaus draußen in Loewingen gesessen. Er und Ulrike Fremdli, die frisch gebackene Witwe. Er hatte ihr die üblichen, klinisch trostlosen Fragen vorgelegt, und er war von ihrer Art beeindruckt gewesen, mit ihnen umzugehen.

Mit den Fragen und mit ihrer eigenen, schockartigen Trauer. Als er sie verließ, war ihm klar gewesen, dass er einer Frau begegnet war, in die er sich hätte verlieben können. Vor dreißig Jahren. Zu der Zeit, als er sich noch verliebte. Er hatte auch später immer wieder einmal daran gedacht. Doch, das wäre schon möglich gewesen.

Wenn er sein Leben nicht einer anderen geschenkt hätte, natürlich.

Und jetzt saß sie hier und buchte eine Reise. Ulrike Fremdli. Knapp über die Fünfzig, soweit er es beurteilen konnte. Mit frischer Kastanienfarbe im Haar.

Es gab da so gewisse Muster ...

Er zog eine Wartenummer und setzte sich auf den dünnen Stahlrohrsessel hinter ihr, ohne sich zu erkennen zu geben. Es gab natürlich keinen Grund dafür, dass sie sich noch ebenso intensiv an ihn erinnerte wie er an sie. Oder sich überhaupt an ihn erinnern würde. Er wartete. Blätterte in einem der Kataloge, die vor ihm auf dem Glastisch lagen. Schob den Zahnstocher hinüber in den rechten Mundwinkel und versuchte so auszusehen, als würde er nicht lauschen.

Als wäre er einfach nur ein ganz gewöhnlicher Charteraspirant. Oder ein ungewöhnlich verschwitzter Teil der Einrichtung.

Aber er hörte zu. Seine Trommelfelle waren bis aufs Äußerste gespannt. Gleichzeitig begann ein dumpf beunruhigendes Gefühl in ihm zu erodieren. Sowohl im Magenbereich als auch hinter dem Kehlkopf, wo, wie er schon seit längerer Zeit wusste, die Seele ihren Platz hatte. Zumindest was ihn betraf.

Denn es ging um Kreta. Das war so klar wie Kloßbrühe, das begriff er sofort. Der sonnengebräunte Verkäufer sprach von Theseus und Ariadne und von der Stadt der Witwen. Von Spili und Matala und vom Samaria-Wein.

Und jetzt von Rethymnon.

Kommissar Van Veeteren schluckte. Zog sein Taschentuch heraus und wischte sich von neuem den Nacken ab; trotz der trägen Ventilatoren, die unter der Decke die Luft umrührten, war es heiß wie im Backofen.

»Man darf die Strömungen nicht unterschätzen«, erklärte der Verkäufer.

Sehr richtig, dachte Van Veeteren.

»Hotel Christos«, schlug der junge Adonis vor. »Einfach, aber gut gepflegt. Liegt mitten in der Altstadt ... nur eine Minute bis zum venezianischen Hafen.«

Ulrike Fremdli nickte. Der Halbgott lächelte. »Dann also Abreise am Ersten? Für zwei Wochen?«

Van Veeteren spürte ein Schwindelgefühl in sich aufsteigen und wieder vorbeiziehen. Ein fast pubertäres Schwirren. Er legte den Katalog hin und sprang vom Sessel auf. Ich brauche frische Luft, dachte er. Verdammt noch mal. Es roch schon von weitem nach Herzinfarkt.

Draußen auf der Straße blieb er im Schatten einer Linde stehen. Spuckte den Zahnstocher aus und biss sich hart auf die Lippen. Stellte fest, dass er nicht aufwachte und dass er folglich auch nicht geträumt hatte.

Verdammte Scheiße, dachte er. Ich bin für so etwas zu alt.

Er kaufte sich einen halben Liter Mineralwasser am Kiosk und trank die Flasche in einem Zug aus. Anschließend blieb er noch eine Minute einfach nur stehen und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Dumm, sich zu sehr zu ereifern, dachte er.

Noch dümmer, nicht den kleinen Zeichen Glauben zu schenken, die einem vor die Füße fallen, dachte er anschließend. Und wenn ich nun schon einmal hier bin ...

Er trat wieder in das Sonnenlicht. Ging schnell und entschlossen über den Marktplatz und bog in die Kellnerstraat ein. Marschierte an einigen Antiquariaten vorbei, bis er an der Ecke zur Kupinski-Gasse stehen blieb. Dort wischte er sich die Stirn ab und schaute in das voll gestopfte Schaufenster.

Vorsichtig, als ginge es um ein Pokerblatt.

Doch, das Schild hing immer noch dort.

Mitarbeiter gesucht
Evtl. Teilhaberschaft
F. Krantze

Es musste mittlerweile seit – er dachte nach – sechs Wochen dort hängen. Er stieß einen vorsichtigen Seufzer der Erleichterung aus. Ja es war schon der halbe Sommer vergangen, seitdem er es das erste Mal gesehen hatte.

Er zögerte wieder eine Weile, bevor er langsam zurück zum Marktplatz schlenderte. Kaute auf einem Zahnstocher und betrachtete verstohlen die alten Jugendstilfassaden von der Jahrhundertwende. Verwittert, aber immer noch voller Schönheit. Die buschigen Linden, die den Bürgersteig im dunklen Schatten liegen ließen. Yorrick’s Café an der Ecke. Winderblatt’s gegenüber. Ein großer keuchender Bernhardiner, dessen Zunge bis auf den Fußweg hing, unter einem der Tische.

Doch, dachte er. Hier könnte man es schon aushalten. Und als er ins Auto stieg, hatte er einen Beschluss gefasst. Wenn das Schild im August noch dort hängt ... Ja, dann soll es so sein.

So einfach war das.

 

Noch einfacher war es anschließend, unverzüglich nach Klagenburg zu fahren und per Telefon eine zweiwöchige Charterreise nach Rethymnon, Kreta, zu buchen, im Hotel Christos, das ihm von einem guten Freund empfohlen worden war. Einzelzimmer. Abreise am 1. August, Rückreise am 15.

Als das erledigt war, schaute er auf die Uhr. Sie zeigte 11.40. Es war der 17. Juli.

Keine gute Idee, sich vor der Mittagspause ins Präsidium zu begeben, stellte er fest und versuchte eine gewisse Resignation zu empfinden. Aber das gelang ihm eher schlecht. Er tigerte stattdessen in der Wohnung herum und fächelte sich mit der gestrigen Allgemejne Luft zu. Das war so ziemlich vergebliche Liebesmüh. Er seufzte. Zog sein verschwitztes Hemd aus, holte ein Bier aus dem Kühlschrank und legte Pergolesi auf den CD-Player.

Das Leben? dachte er.

Reiner Zufall oder geregelte Ordnung?

3

»Wegen der Hitze haben die Leute keine Lust, ein Ding zu drehen«, sagte deBries.

»Quatsch«, erwiderte Reinhart. »Natürlich stimmt genau das Gegenteil.«

»Wie meint ihr das?«, wollte Rooth gähnend wissen.

»Na, haben sie doch«, sagte Reinhart. »Mit steigender Hitze fallen die Schranken, und schließlich ist der Mensch im Grunde ein kriminelles Tier. Lies mal ›Der Fremde‹. Lies mal Schopenhauer.«

»Ich mag nicht lesen«, sagte Rooth. »Jedenfalls nicht bei dieser Hitze.«

»Außerdem werden die Triebe stärker«, fuhr Reinhart fort und zündete sich seine Pfeife an. »Ist ja kein Wunder. Guck dir doch nur all die Frauen an, die halb nackt in der Stadt herumlaufen, da ist es doch nicht überraschend, wenn den frustrierten Männchen alles zusammenläuft.«

»Frustrierte Männchen?«, wiederholte Rooth. »Was zum Teufel ...?«

»Ja, ja«, knurrte deBries. »Es stimmt schon, die Frauenmörder sollten bei diesem Wetter alle zum Leben erwachen, aber bis jetzt hatten wir jedenfalls noch keinen hier.«

»Wartet nur«, sagte Reinhart. »Der Hochdruck hält ja erst seit vier Tagen an. Übrigens, wo ist denn verdammt noch mal eigentlich der Hauptkommissar? Ich dachte, wir sollten uns nach der Mittagspause zusammensetzen. Jetzt ist es bald halb zwei.«

DeBries zuckte mit den Achseln.

»Der spielt bestimmt Badminton mit Münster.«

»Nein«, erklärte Rooth und biss in einen Apfel. »Münster war eben noch bei mir.«

»Mit vollem Mund spricht man nicht«, sagte Reinhart.

»Dann könnte er nicht viel von sich geben«, warf deBries ein.

»Halt’s Maul«, sagte Rooth.

»Genau das meinte ich«, sagte Reinhart.

Die Tür ging auf, und Van Veeteren kam herein, mit Münster im Schlepptau.

»Guten Morgen, Herr Hauptkommissar«, begrüßte Reinhart ihn. »Gut geschlafen?«

»Ich habe mich durch die Hitze etwas verspätet«, erklärte Van Veeteren und sank hinter seinem Schreibtisch auf den Stuhl.

»Nun?«

Es blieb eine Weile still.

»Was meint der Hauptkommissar mit ›Nun‹?«, fragte Rooth und biss wieder ab.

Van Veeteren seufzte.

»Berichtet!«, sagte er. »Womit seid ihr beschäftigt? Reinhart zuerst. Der Vallastepyromane, wie ich annehme?«

Reinhart bekam eine senkrechte Falte auf der Stirn und zog an seiner Pfeife. Nickte etwas vage. Die Brandstiftung in Vallaste hatte inzwischen schon zweieinhalb Jahre auf dem Buckel, und die Ermittlungen waren bereits mehrere Male eingestellt worden, aber sobald es an anderen größeren Verbrechen mangelte, holte er den Fall immer wieder hervor. Er war es, der in dieser Sache die Fäden in der Hand hielt, und es war seine Ehre, die beschmutzt wurde, so lange der Täter frei herumlief.

Es gab sicher nicht mehr viele in der Mannschaft, die in diesen Bahnen dachten, das musste der Hauptkommissar sich eingestehen, aber er wusste, dass Reinhart es noch tat.

»Ich habe da ein paar lose Fäden«, gab er zu. »Ich denke, es könnte sich lohnen, sie einmal näher zu betrachten. Wenn es sonst nichts gibt, das ein etwas größeres Gehirn erfordert ...«

»Hrrm«, räusperte Münster sich.

»Bestimmte Körperteile schwellen in der Hitze an«, sagte deBries.

»Wie dem auch sei«, brummte Van Veeteren. »Schau dich da um.«

Er lehnte sich zurück und betrachtete seine Untergebenen mit geläutertem Blick. Es war keine besonders homogene Schar, zumindest nicht vom Äußeren her. DeBries war seit einem Monat frisch geschieden und hatte die erste Zeit der Freiheit dazu genutzt, seine Garderobe zu verjüngen – das Resultat war etwas, das in erster Linie an einen aus dem Winterschlaf erwachten, entarteten Achtzigerjahre-Yuppie denken ließ. Oder einen notdürftig cleanen Rockkünstler der Sechziger beim Comeback, wie Reinhart vorgeschlagen hatte. Die Mumie von Woodstock. Rooth seinerseits hatte – möglicherweise auf Grund der herrschenden Hitzewelle – sich dazu entschlossen, seinen schütteren Bart abzurasieren, und das babypoartige Unterteil seines Gesichts stand in scharfem Kontrast zu den braun gebrannten Wangen, der Stirn und den Geheimratsecken.

Er sieht aus wie das fehlende Glied in der Kette, dachte der Hauptkommissar.

Münster schließlich sah aus wie Münster, nur mit Schweißflecken unter den Achseln, und Reinhart hatte den Hauptkommissar schon immer an das erinnert, was er wahrscheinlich in seinem tiefsten Inneren auch war: ein intellektueller Hafenarbeiter.

Und er selbst war gewiss auch keine Schönheit. Nur Glück, dass es noch innere Schönheit gibt, stellte er gähnend fest.

»Wann machen die Herren Urlaub, bitte einer nach dem anderen?« , fragte er. »Vielleicht ist das eine bessere Frage als die nach dem Rapport.«

»Am Fünften«, sagte Reinhart.

»Nächste Woche«, sagte deBries. »Ich wäre dankbar, wenn ich nicht mehr in irgendwas mit reingezogen würde.«

»Das Gleiche gilt für mich«, sagte Münster. »Aber Jung und Heinemann werden den Laden im August schon schmeißen, wenn etwas sein sollte. Zusammen mit Rooth und Moreno natürlich.«

»Sure«, stimmte Rooth zu.

»Kannst du Französisch?«, wollte deBries wissen. »Hast ’nen Fernkurs gemacht?«

Rooth kratzte sich an seinem Phantombart.

»Fuck off«, sagte er. »Altes deutsches Sprichwort. Wollen wir jetzt hier mit diesem Gelaber weitermachen oder hat der Hauptkommissar noch etwas anderes für uns?«

»Verschwindet«, sagte Van Veeteren. »Aber seht zu, dass ihr Pompers und Lutherson dingfest macht. Das weiß doch jeder Mensch, dass die das waren.«

»Danke für den Tipp«, sagte deBries.

Er verließ mit Rooth das Zimmer.

»Die Leute werden reizbar bei der Hitze«, stellte Münster fest, als die Tür wieder zufiel. »Ist ja aber auch kein Wunder.«

»Genau das hab ich ja gerade erklärt«, sagte Reinhart. »Ist noch was, oder kann ich mich zurückziehen? Ihr könnt mich ja jederzeit anrufen, wenn etwas sein sollte.«

»Verschwinde«, wiederholte der Hauptkommissar, und Reinhart trottete langsam davon.

Münster ging ans Fenster und schaute hinaus. Auf die Stadt und die Hitze, die über den Häuserdächern waberte.

»Hauptsache, wir stolpern jetzt nicht noch über einen Mord oder so was«, sagte er und lehnte seine Stirn ans Fensterglas. »Direkt vor den Ferien und so, ich kann mich noch dran erinnern, wie es vor zwei Jahren war ...«

»Sei bloß still«, unterbrach ihn der Hauptkommissar. »Wecke keine böswilligen Mächte. Übrigens habe ich für die erste Augusthälfte eine Reise gebucht ... unwiderruflich. Ich werde jede Leiche in diesen Wochen an dich und Reinhart delegieren.«

Vielleicht auch alle, die danach noch kommen, dachte er. Er streifte sich die Schuhe ab und begann lustlos in den Papieren zu blättern, die stapelweise auf seinem Schreibtisch lagen.

»Vielen Dank«, sagte Münster. »Ich bin auf jeden Fall ab Montag nicht mehr hier anzutreffen.«

Der Hauptkommissar tauschte den Zahnstocher aus und faltete die Hände im Nacken.

»Ich könnte mir eigentlich gut einen Zwei-Wochen-Fall vorstellen«, sagte er. »Gern etwas außerhalb und für mich allein.«

»Das glaube ich«, sagte Münster.

»Was?«

»Das kann ich mir denken«, erklärte Münster.

»Und was meint der Herr Kommissar damit?«

»Nichts Besonderes«, antwortete Münster. »Vielleicht draußen am Meer?«

Van Veeteren dachte nach.

»Nun ja«, sagte er. »Weiß der Teufel, nein, ich glaube, lieber an einem kleinen See. Schließlich habe ich noch das Mittelmeer vor mir ... Hat der Kommissar eigentlich seinen Schläger dabei?«

Münster seufzte.

»Natürlich. Aber ist es nicht ein bisschen zu heiß dafür?«

»Heiß?«, schnaubte Van Veeteren. »Auf Kreta haben sie eine Durchschnittstemperatur von vierzig Grad zu dieser Jahreszeit. Mindestens. Wollen wir los, oder nicht?«

»Wenn der Hauptkommissar so lieb bittet«, seufzte Münster und trat vom Fenster weg.

»Ich lade dich auch hinterher zu einem Bier ein«, erklärte Van Veeteren großzügig. Er stand auf und schlug ein paar Pseudoschläge in die Luft. »Wenn du gewinnst«, fügte er hinzu.

»Ich glaube, da werd ich mich schon mal im Voraus bedanken«, sagte Münster.

 

Ungewöhnlich gute Laune, dachte er später, als sie im Fahrstuhl standen, auf dem Weg hinunter in die Garage. Richtig menschlich, heute muss etwas wirklich Außergewöhnliches passiert sein.

Spili, dachte der Hauptkommissar seinerseits. Die Quelle der Jugend ... eine halbe Stunde hinauf in die Berge mit einem Mietauto von Rethymnon aus ... der Wind in ihrem Haar, und dann ergibt sich das eine oder andere ...

Warum nicht?

Und anschließend Krantzes Antiquariat.

4

Rein physisch gesehen, war der Morgen des 18. Juli ein perfekter Morgen.

Der Himmel war wolkenfrei, die Luft klar und noch kühl; das dunkle Wasser des Meeres lag spiegelblank da, und Polizeianwärter Merwin Kluuge absolvierte seine sieben Kilometer lange Strecke auf den erlenbestandenen Stränden in neuer Rekordzeit – sechsundzwanzig Minuten und fünfundfünfzig Sekunden.

Er holte zufrieden unten am Anleger für kleine Boote Luft, dehnte sich und joggte dann locker zum Reihenhaus hinauf, wo er duschte, Wasser aufsetzte und seine blonde Ehefrau weckte, indem er ihr vorsichtig und liebevoll über den Bauch strich, in dem sie seit sechs Monaten seine Frucht und Hoffnung trug.

Das Reihenhaus war noch jüngeren Datums. Erst acht Wochen waren vergangen, seit sie, mit gütiger Hilfe durch das Sparguthaben der Schwiegereltern, es in Besitz hatten nehmen können, und immer noch wurde er von einem Gefühl jungfräulicher Verwunderung ergriffen, wenn er morgens darin erwachte. Wenn er seine Füße auf die weinrote Auslegware im Schlafzimmer stellte. Wenn er in den Zimmern herumtappte und über Strukturtapeten und Kiefernpaneele strich, deren immer noch frischer Holzduft wie eine Verheißung ungeahnter Möglichkeiten und wohlverdienter Fortschritte in der Luft hing. Und wenn er die Blumenbeete begoss oder die kleine Rasenfläche zum Wald hin mähte, konnte er nicht anders, er fühlte eine heiße, intensive Dankbarkeit gegenüber dem Leben schlechthin.

Ohne jede Vorwarnung hatte es sich plötzlich vor ihm aufgetan. War auf ein neues, sonnenklares Gleis gewechselt, auf dem er und Deborah die einzigen Waggons waren, die in einem insgesamt sicheren und harmonischen Zug, der sein Ziel in der Zukunft hatte, überhaupt etwas bedeuteten. Alles hatte sich mit der Erkenntnis von Deborahs Schwangerschaft ergeben – oder eher mit deren Bekanntgabe. Die Hochzeit war nur zwei Wochen später vonstatten gegangen, und wenn Merwin Kluuge an diesem schönen Sommermorgen vorsichtig mit den zarten und fürs bloße Auge fast unsichtbaren Haarwirbeln auf dem prallen Bauch seiner Frau spielte, dann überfiel ihn dabei ein Gefühl, das fast als religiös zu bezeichnen war.

»Tee oder Kaffee?«, fragte er zärtlich.

»Tee«, murrte sie, ohne die Augen zu öffnen. »Du weißt doch, dass ich seit drei Monaten keinen Kaffee mehr trinke. Warum fragst du dann?«

Ja, natürlich, dachte Kluuge und ging in die Küche, um das Tablett fertig zu machen.

Dann aßen sie zusammen im Bett Frühstück, wobei sie auf dem neuen 27-Zoll-Fernsehapparat ein Morgenprogramm anschauten und Kluuge wieder mit vorsichtigen Fingern die angespannte Haut streichelte und nach Tritten und anderen feststellbaren Lebenszeichen von Merwin junior suchte, und genau um 07.45 Uhr verließ er sein Heim und sein bettwarmes Glück.

Er holte sein Zwölfgangfahrrad aus der Garage, befestigte die Klammern an den Hosenbeinen, die Aktentasche auf dem Gepäckträger und machte sich auf den Weg.

Genau elf Minuten später bremste er auf dem Kleinmarckt. Der Platz lag noch fast menschenleer da, drei oder vier Budenbesitzer waren dabei, die Luken zu öffnen und Obst und Gemüse in die Stände neben dem Rathaus zu packen, und um die sprudelnde Fontäne promenierten fette Tauben in schlaffer Faulheit. Kluuge stellte sein Fahrrad in dem Ständer vor der Polizeiwache ab, sicherte es mit einem doppelten Bogenschloss ab und wischte sich einen Schweißtropfen von der Stirn. Dann trat er durch die Türen aus Milchglas, begrüßte Frau Miller in der Rezeption und nahm das Dienstzimmer des Revierchefs in Besitz.

Er setzte sich hinter den riesigen Schreibtisch, zog die Fahrradklammern ab und schlug die erste Seite des Notizblocks auf, der neben dem Telefon lag.

Mädchen verschwunden??? stand dort.

Er schaute aus dem Fenster, das Frau Miller einen Spalt geöffnet hatte, und betrachtete den blühenden Holunder. Dass es Holunder war, hatte ihm der Chef erzählt, dass er blühte, konnte jeder sehen.

Rein physisch betrachtet, war es immer noch ein perfekter Morgen, aber was Merwin Kluuges Pflichten als Vertretung des Ferien machenden Polizeichefs betraf, so zeigten sich zweifellos einige Unwetterwolken.

Zumindest eine.

Genau gezählt eine.

 

»Urlaub«, hatte Polizeichef Malijsen gesagt und ihm mit zwei Fingern auf das Schlüsselbein geklopft. »Du weißt doch verdammt noch mal wohl, was Urlaub bedeutet? Ruhe und Frieden. Einsamkeit und Handlungsfreiheit. Nadelwald, hoher Himmel und neue Angelgewässer. Ich habe diese verfluchte Hütte von meinem sauer verdienten Gehalt gemietet und habe vor, dort drei Wochen zu bleiben, selbst wenn die Japaner angreifen sollten. Hat der Herr Anwärter das verstanden?«

Dass die Japaner früher oder später die Welt einem neuen – und deutlich besser geplanten – Pearl Harbour aussetzen würden, das behauptete Polizeichef Malijsen seit dreißig Jahren, und er versäumte selten eine Gelegenheit, es anzuführen.

»Du wirst den Laden hier schmeißen. Es ist an der Zeit, dass du endlich auf eigenen Beinen stehst, wenn aus dir etwas anderes als ein Aktenhengst und Marckxeinbuchter werden soll.«

Und tatsächlich bestand der Löwenanteil an Kluuges üblichen Aufgaben darin, die monatlichen Berichte des Sorbinowoer Polizeireviers zusammenzustellen und abzuschicken. Das war so, seit er vor gut drei Jahren hier seinen Dienst angetreten hatte, und würde wohl auch bis zu dem Tag – der noch ein Jahrzehnt hin war – so bleiben, an dem Malijsen mit dem Recht des Alters seinen Posten abgab, um sich stattdessen dem süßen Nichtstun hinzugeben und vor dem Fernseher zu sitzen. Oder Angelfliegen zu binden. Oder Verteidigungsanlagen zu bauen, die vor der immer unausweichlicheren Attacke der schlitzäugigen Gelben schützen sollten.

Laut Kluuges Sicht auf die Welt und deren Bewohner war Polizeichef Malijsen nicht ganz gescheit, eine Auffassung, die möglicherweise von dem einen oder anderen Sorbinowo-Bewohner geteilt wurde, aber ganz gewiss nicht von allen. Über Malijsen ging das Gerücht, dass er – trotz eines gewissen Mangels an Originalität – dennoch der richtige Mann für seinen Posten war und dass er fein säuberlich zwischen Recht und Unrecht unterscheiden konnte, zwischen Schurken und rechtschaffenen Menschen in allen Teilen des Distrikts. Sogar eine so zweifelhafte Gestalt wie Edward Marckx – Brandstifter, Knastbruder, jähzorniger Junkie und Schläger – hatte einmal anlässlich irgendeiner Verhaftung seine grimmige Ansicht über den Polizeichef verkündet:

»Ein ziemlich widerlicher Kerl, aber doch mit einem Herz im Leib und einem Arsch zum Draufsitzen!«

Möglicherweise wäre Kluuge sogar bereit, diese Quintessenz einer Charakterisierung zu unterschreiben.

Jedenfalls war Malijsen dann in der Türöffnung noch für ein paar Sekunden ernst geworden. Er hielt in seinem Sermon inne und hob eine Augenbraue.

»Du wirst doch wohl klarkommen?«

Kluuge war ein genau abgemessenes Schnauben gelungen. Nicht zu grob. Keine Nervosität.

»Aber selbstverständlich.«

Malijsen hatte dennoch ein wenig zweifelnd ausgesehen und eine Karte aus seiner Brieftasche gezogen.

»Stör mich verdammt noch mal nicht unnötig! Natürlich gibt es ein Telefon unten im Ort, aber ich brauche diese Wochen einfach, um über Lilian hinwegzukommen.«

Lilian war Malijsens krebskranke Ehefrau, der nach mehreren Jahren mehr oder weniger martialischer Schmerzen endlich die Gnade zuteil geworden war, dieses Erdenleben zu verlassen. Voll gepumpt mit Drogen und nur noch ein Schatten ihrer selbst ... das war Mitte März gewesen; Kluuge war gemeinsam mit Deborah bei der Beerdigung gewesen, und diese hatte festgestellt, dass der Polizeichef zwar eine Träne vergossen, aber nicht gerade über Gebühr geweint hatte.

»Falls es irgendeinen Dreck gibt, kannst du dich stattdessen immer an VV wenden«, erklärte Malijsen. »Das ist ein alter Kollege von mir, und er ist mir noch einen Gefallen schuldig.«

Er gab ihm die Karte, und Kluuge stopfte sie in seine Brusttasche, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Eine Viertelstunde später ließ er sich hinter dem ziemlich abgenutzten Schreibtisch nieder, lehnte sich zurück und schaute drei Wochen ruhiger und prestigeerfüllter Diensterfüllung entgegen.

Das war vor sechs Tagen gewesen. Am letzten Freitag. Heute war Donnerstag.

Das erste Gespräch war am Dienstag hereingekommen.

Das zweite gestern.

So eine Scheiße, dachte Kluuge und starrte auf die Karte mit dem vertrauten Namen. Er blieb sitzen und drehte sie in den Händen, während er in der Erinnerung zwei Tage zurückging.

 

»Da ist eine Frau, die dich sprechen möchte.«

Er registrierte, dass Frau Miller das Wort »Polizeichef« vermied. Das hatte sie die ganze Zeit schon gemacht; anfangs hatte ihn das etwas irritiert, inzwischen ignorierte er es.

»Am Telefon?«

»Genau.«

»Ich übernehme das Gespräch.«

Er nahm den Hörer hoch und drückte auf den weißen Knopf.

»Ist das die Polizei?«

»Ja.«

»Ein Mädchen ist verschwunden.«

Die Stimme war so leise, dass er sich anstrengen musste, sie zu verstehen.

»Ein Mädchen? Mit wem spreche ich denn?«

»Das kann ich nicht sagen. Aber aus Waldingen ist ein Mädchen verschwunden.«

»Waldingen? Können Sie etwas lauter sprechen?«

»Aus dem Lager des Reinen Lebens in Waldingen.«

»Sie meinen diese Sekte?«

»Ja. Aus deren Konfirmationslager in Waldingen ist ein Mädchen verschwunden. Mehr kann ich nicht sagen. Sie müssen sich um die Sache kümmern.«

»Warten Sie. Wer sind Sie? Von wo aus rufen Sie an?«

»Ich muss jetzt aufhören.«

»Warten Sie doch ...«

Dann war das Gespräch unterbrochen. Kluuge hatte zwanzig Minuten lang nachgedacht. Schließlich hatte er Frau Miller damit beauftragt, die Nummer von Waldingen herauszusuchen  – schließlich gab es ja da draußen nur diese alten Ferienlagergebäude –, und kurz danach hatte er selbst dort angerufen.

Hatte eine sanfte Frauenstimme ans Telefon bekommen und ihr erklärt, dass man Informationen darüber bekommen habe, wonach eine der Lagerteilnehmerinnen verschwunden sei. Die Frau am anderen Ende hatte aufrichtig überrascht geklungen und gesagt, dass jedenfalls beim Essen vor zwei Stunden niemand gefehlt habe.

Kluuge hatte sich bedankt und aufgelegt.

Das zweite Gespräch war dann gestern gekommen. Eine halbe Stunde vor Dienstschluss. Frau Miller war bereits nach Hause gegangen, und die Nummer der Zentrale war auf das Telefon des Polizeichefs umgestellt gewesen.

»Ja. Polizeichef Kluuge hier.«

»Sie haben nichts gemacht.«

Die Stimme klang diesmal etwas kräftiger. Aber zweifellos war es die gleiche Frau. Die gleiche angespannte, erzwungene Ruhe. Irgendwo zwischen Vierzig und Fünfzig wahrscheinlich, aber Kluuge wusste, dass er nicht besonders gut darin war, das Alter von jemandem zu schätzen.

»Mit wem spreche ich?«

»Ich habe gestern angerufen und Ihnen gesagt, dass ein Mädchen verschwunden ist. Sie haben nichts gemacht. Wahrscheinlich wurde sie ermordet. Wenn Sie nicht eingreifen, bin ich gezwungen, mich an die Zeitungen zu wenden.«

Da hatte Kluuge das erste Anzeichen von Panik gespürt. Er schluckte und dachte fieberhaft nach.

»Woher wissen Sie, dass ein Mädchen verschwunden ist? Ich bin der Sache nachgegangen. Es wird in Waldingen niemand vermisst.«

»Haben Sie angerufen und nachgefragt? Das ist doch klar, dass die alles abstreiten.«

»Wir haben einige Kontrollen durchgeführt.«

Er fand selbst, dass das eine gute Formulierung war, aber die Frau ließ sich nicht damit abspeisen.

»Wenn keiner eingreift, werden noch mehr sterben.«

Dann sagte es Klick. Kluuge blieb eine Weile mit dem Hörer in der Hand sitzen, bevor er auflegte und stattdessen auf Lilian Malijsen im Brautschleier und Goldrahmen starrte, die ganz außen auf der Schreibtischecke stand.

Mein Gott, durchfuhr es ihn. Und wenn sie jetzt die Wahrheit sagt?

Er hatte so einiges über Das Reine Leben gehört. Und gelesen. Nach allem, was er verstanden hatte, beschäftigten die sich so mit allem Möglichen.

Zungenreden.

Teufelsaustreibung.

Sexuelle Rituale.

Obwohl Letzteres sicher nur ein übel wollendes Gerücht war. Böses Gerede und der übliche gutbürgerliche Neid. Quatsch! dachte Kluuge und ging dazu über, von neuem den Holunder zu betrachten, aber irgendwo tief in seinem Inneren  – wahrscheinlich ganz tief drinnen im Kerngehäuse seiner Gefühle, um einen von Deborahs jüngsten Lieblingsausdrücken zu verwenden – war ihm klar, dass es doch ernst war.

Ernst. Da war etwas in der Stimme der Frau. Da war auch etwas in der Situation selbst: sein eigenes unverschämt wohlgeordnetes Dasein – Deborah, das Reihenhaus, die Vertretung als Polizeichef, die perfekten Morgenstunden ... da war es eigentlich nur recht und billig, wenn so etwas hier auftauchte.

Denn es musste immer einen Ausgleich geben, wie sein Vater zu sagen pflegte. Zwischen Plus und Minus. Zwischen Fortschritt und Rückschlag. Sonst lebt man nicht.

Er schob sich einen Bleistift in den Mund. Begann gedankenverloren auf ihm herumzukauen, während er sich Malijsens Reaktionen vorzustellen versuchte, wenn sich herausstellen sollte, dass man ein ermordetes Mädchen in seinem Distrikt gefunden hatte und die Polizei einen Hinweis zu dem Fall bekommen, ihn aber ignoriert hatte. Dann versuchte er sich die Folgen vorzustellen, die daraus entstehen würden, wenn er unnötigerweise den himmlischen Frieden über dem heiligen Angelgewässer störte. Es waren jeweils weiß Gott keine lustigen Visionen, die vor Merwin Kluuges innerem Auge entstanden. Und auch keine besonders nützlichen, wenn man an mögliche zukünftige Karrieremöglichkeiten dachte.

Das Reine Leben? dachte er. Ein Mädchen verschwunden?

Wäre kein Wunder.

Wäre absolut kein Wunder.

Entschlossen griff er zum Telefon und wählte die Nummer der Polizeizentrale in Maardam.