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Neuauflage einer früheren Ausgabe
Übersetzt aus dem Englischen von Herberth E. Herlitschka
ISBN 978-3-492-97668-8
© Piper Verlag GmbH, München 2017
© Ms. Laura Huxley 1945
Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Time must have a Stop«, Chatto & Windus, London 1945
© der deutschsprachigen Ausgabe Piper Verlag GmbH, München 1961, 1989
Covergestaltung: zero-media.net, München
Covermotiv: FinePic®, München
Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe
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Doch Denken ist des Lebens Sklav, das Leben
Der Narr der Zeit; und Zeit, die messend schaut
Die ganze Welt, muss enden.
Sebastian Barnack kam aus dem Lesesaal der Bezirksbücherei von Hampstead und blieb im Vestibül stehen, um seinen abgetragenen Mantel anzuziehen. Mrs. Ockham, die ihn da erblickte, fühlte ein Schwert im Herzen. Dieses schmächtige, wunderschöne Menschenkind mit dem seraphischen Gesicht und dem blassblonden Lockenhaar war das lebende Abbild ihres eigenen, ihres einzigen, ihres toten und entschwundenen Lieblings.
Die Lippen des Buben, so gewahrte sie, bewegten sich, während er sich in seinen Mantel mühte. Sprach mit sich selbst – ganz wie ihr Frankie das immer getan hatte. Und nun wandte er sich dem Ausgang zu und kam an der Bank vorüber, auf der sie saß.
»So ein rauer Abend!«, sagte sie laut, einem jähen Impuls folgend, dieses lebende Phantom zurückzuhalten, die schmerzend scharfe Erinnerung tiefer in ihr wundes Herz zu bohren.
Aus seinen Gedanken gerissen, blieb Sebastian stehen, wandte sich ihr zu und starrte sie ein paar Sekunden verständnislos an. Dann ging ihm die Bedeutung dieses sehnsüchtig mütterlichen Lächelns auf. Sein Blick wurde hart. So etwas geschah ihm nicht zum ersten Mal. Sie behandelte ihn, als wäre er eins dieser entzückenden Babys in Kinderwagen, denen man den Kopf tätschelt. Der Funze wollte er’s zeigen! Aber wie gewöhnlich fehlte es ihm an der nötigen Courage und Geistesgegenwart. Und so lächelte er nur schwächlich und sagte einfach, ja, es sei ein rauer Abend.
Mrs. Ockham hatte mittlerweile ihr Handtäschchen geöffnet und eine kleine weiße Schachtel hervorgezogen.
»Möchten Sie nicht eine von diesen?«
Sie hielt ihm die Schachtel hin. Es war französische Schokolade, Frankies Lieblingsmarke – ihre eigene auch, übrigens. Sie hatte eine Schwäche für Süßigkeiten.
Sebastian betrachtete Mrs. Ockham ungewiss. Ihre Aussprache war einwandfrei und ihre Kleidung auf etwas saloppe, tweedige Art solid und von guter Qualität. Aber sie war dick und ältlich – mindestens vierzig, schätzte er. Er zögerte, hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, diese lästige Person in die Schranken zu weisen, und einem nicht weniger starken Verlangen nach diesen köstlichen langues de chat. Wie ein Mops, sagte er sich, während er in das plumpe, weiche Gesicht da vor sich blickte. Ein rosiger, haarloser Mops mit schlechtem Teint. Worauf er das Gefühl hatte, dass er nun eine Katzenzunge annehmen könne, ohne seiner Integrität etwas zu vergeben.
»Danke«, sagte er und schenkte ihr sein bezauberndes Lächeln, das Damen mittleren Alters immer ganz unwiderstehlich fanden.
Siebzehn Jahre alt zu sein, einen Geist zu besitzen, von dem man fühlte, dass er alterslos erwachsen war, und dabei auszusehen wie ein Della-Robbia-Engel von dreizehn – es war ein widersinniges und erniedrigendes Schicksal. Aber letzte Weihnachten hatte er Nietzsche gelesen, und seither wusste er, dass er sein Schicksal lieben müsse. Amor fati – jedoch gemäßigt durch gesunden Zynismus. Wenn Leute bereit waren, einen dafür zu bezahlen, dass man jünger aussah, als man war, warum ihnen nicht geben, was sie wollten?
»Wie gut die ist!«
Wieder lächelte er sie an, und seine Mundwinkel waren braun von Schokolade. Das Schwert in Mrs. Ockhams Herzen machte abermals eine schmerzhafte Umdrehung.
»Nehmen Sie die ganze Schachtel!«, sagte sie. Ihre Stimme zitterte, ihre Augen glänzten von Tränen.
»Nein, nein, das könnte ich nicht …«
»Nehmen Sie sie«, beharrte sie, »nehmen Sie sie doch!« Und sie drückte ihm die Schachtel in die Hand – in Frankies Hand.
»Oh … danke schön!« Es war genau, was Sebastian gehofft, ja, erwartet hatte. Er hatte seine Erfahrungen gemacht mit diesen sentimentalen alten Kühen.
»Ich hab einen Buben gehabt …«, sagte Mrs. Ockham mit gebrochener Stimme. »Ganz so wie Sie war er. Die gleichen Haare und Augen …« Die Tränen flossen ihr über die Wangen. Sie nahm die Brille ab und wischte die Gläser; dann schneuzte sie sich, stand auf und eilte in den Lesesaal. Sebastian sah ihr nach, bis sie seinem Blick entschwunden war. Mit einmal fühlte er sich schrecklich schuldig und gemein. Er blickte auf die Schachtel in seiner Hand. Ein Bub war gestorben, sodass nun er, Sebastian, diese Katzenzungen bekam; und wenn seine eigene Mutter am Leben wäre, wäre sie jetzt fast so alt wie diese armselige bebrillte Person. Und wenn er gestorben wäre, wäre seine Mutter genauso unglücklich und sentimental gewesen. Impulsiv machte er eine Bewegung, um die Schokolade wegzuwerfen; dann hielt er sich zurück. Nein, das wäre einfach dumm und abergläubisch. Er ließ die Schachtel in seine Manteltasche gleiten und trat in das nebelige Zwielicht hinaus.
»Millionen und Millionen«, flüsterte er vor sich hin; und die Ungeheuerlichkeit des Jammers schien mit jeder Wiederholung des Wortes zu wachsen. Überall auf der Welt lagen Millionen von Menschen in Schmerzen; Millionen starben in diesem selben Augenblick; noch mehr Millionen trauerten um sie, die Gesichter verzerrt wie bei dieser bedauernswerten ältlichen Scharteke, und die Tränen rannen ihnen über die Wangen. Und Millionen hungerten, Millionen waren eingeschüchtert und krank und bekümmert. Millionen wurden beschimpft und gestoßen und geschlagen von anderen, brutalen Millionen. Und überall der Gestank von Abfall und Fusel und ungewaschenen Körpern, auf allem der Mehltau der Dummheit und Hässlichkeit. Der Greuel war stets da, auch wenn man sich zufällig wohl und glücklich fühlte – stets da, gleich um die Ecke und hinter fast jeder Haustür.
Während er die Straße hinabging, fühlte sich Sebastian von einer ungeheuren unpersönlichen Traurigkeit überkommen. Nichts anderes mehr als Tod und Qual schien Dasein zu haben oder von Bedeutung zu sein.
Und dann kamen ihm diese Worte von Keats in Erinnerung: »The giant agony of the world!« Die Riesenqual der Welt. Er wühlte in seinem Gedächtnis, um die anderen Zeilen zu finden. »None may usurp this height …« Wie ging es nur?
None may usurp this height, returned that shade,
But those to whom the miseries of the world
Are misery, and will not let them rest …
Wie recht der Schatten hatte! Nur denen war die höchste Höhe erreichbar, die das Elend der Welt elend machte und nicht ruhen ließ. Und vielleicht war es Keats eines kalten Frühlingsabends eingefallen, als er, genauso wie jetzt er selbst, die Anhöhe von Hampstead hinabging; hier hinabging und bisweilen stehen blieb, um ein Bröcklein seiner Lungen herauszuhusten und an seinen und auch an den Tod anderer Menschen zu denken. Sebastian begann abermals und sagte es sich vor.
None may usurp this height, returned that shade,
But those …
Aber, du gütiger Himmel, wie grauenhaft schlecht es klang, wenn man es laut sprach! None may usurp this height, returned that shade, but those … Wie hatte er sich nur so etwas durchgehen lassen können! Aber natürlich war der gute Keats manchmal recht nachlässig gewesen. Und ein Genie zu sein, hatte ihn nicht vor den fürchterlichsten Geschmacklosigkeiten bewahrt. Es gab Stellen im Endymion, die einen schaudern machten. Und wenn man bedachte, dass es ein Äquivalent für Griechisch sein sollte … Sebastian lächelte mit mitleidiger Ironie in sich hinein. Eines Tages würde er der Welt zeigen, was sich mit griechischer Mythologie tun ließ! Mittlerweile kehrte sein Geist zu den Wendungen zurück, die ihm gerade vorhin in der Bibliothek eingefallen waren, während er dieses Buch von Tarn über die hellenistische Kultur las. »Vergiss der trockenen Feigen!«, so sollte es beginnen. »Vergiss der trockenen Feigen …« Aber getrocknete Feigen konnten immerhin gute Feigen sein. Für Sklaven gäbe es nie etwas anderes als die Missfrüchte und den Abfall der Ernte. Also: »Vergiss der fauligen Feigen.« Überdies hatte in dieser Klangverbindung »faulig« die passenderen Vokale und ergab Alliteration.
Vergiss der fauligen Feigen, des muffigen Mehls,
Der Sklavenpeitsche, der Greise voll Todesfurcht …
Aber das war scheußlich flach. Dampfgewalzt und makadamisiert wie schlechter Wordsworth. Wie wär’s mit »vom Tod angegraut«?
Vergiss der fauligen Feigen, der Trebern und Prügel,
Der Greise, vom Tod angegraut, der Frauen …
Er zögerte, fragte sich, wie dieses trostlose Leben des Gynaikeions zusammenfassen. Dann sprang aus dem geheimnisvollen Quell von Licht und Energie hinten in seinem Schädel die vollkommene Phrase hervor: » … Frauen in Zwingern.«
Sebastian lächelte über das Bild, das da auftauchte – ein ganzer Zoo wilder, undomestizierbarer Mädchen, eine ohrenbetäubende Voliere adeliger Witwen. Aber die gehörten in ein anderes Gedicht – ein Gedicht, mit dem er Rache nehmen würde an dem ganzen weiblichen Geschlecht. Im Augenblick hatte er sich mit Hellas zu befassen – mit der historischen Jämmerlichkeit, die Griechenland war, und mit der imaginären Herrlichkeit. Imaginär selbstverständlich nur, was ein ganzes Volk betraf, aber gewiss verwirklichbar von einzelnen, von einem Dichter vor allen. Eines Tages, irgendwie, irgendwo, würde diese Herrlichkeit in seiner Reichweite sein; davon war Sebastian überzeugt. Inzwischen aber war es wichtig, keinen Narren aus sich zu machen. Die Leidenschaftlichkeit seiner Sehnsucht müsste im Ausdruck durch eine gewisse Ironie gemildert werden, die Pracht des ersehnten Ideals durch die Würze des Absurden. Den toten Buben und die Riesenqual der Welt völlig vergessend, gönnte er sich eine Katzenzunge aus dem Vorrat in seiner Manteltasche und nahm mit vollem Mund die berauschende Arbeit des Dichtens wieder auf.
Vergiss der fauligen Feigen, der Trebern und Prügel,
Der Greise, vom Sterben geschreckt, der Frauen
in Zwingern.
Das genügte fürs Geschichtliche. Nun zum Imaginären!
In ewigem Frühling …
Er schüttelte den Kopf. »Ewiger Frühling«, das klang wie der Schulleiter, wenn er in einem dieser asininen Geografievorträge, die er hielt, vom Klima Ekuadors redete. »Chronischer Mai« bot sich als Alternative. Die Assoziationen mit Katarrh und Krampfadern entzückten ihn.
In chronischem Mai welche Alkibiadesse
Umdrängen Platos Bart …
Pfui Teufel! Dies war nicht der Ort für Eigennamen. »Muskelprotze« vielleicht? Dann fiel wie Manna »Schwergewichtler« vom Himmel. Ja, ja: »Welch schöngeist’ge Schwergewichtler.« Er lachte laut auf.
Und wenn man »Weisheit« für »Plato« setzte, erhielt man:
In chronischem Juni welch schöngeist’ge Schwergewichtler umdrängen den Bart der Weisheit!
Genießerisch wiederholte sich Sebastian die Worte ein paarmal. Und nun zum anderen Geschlecht!
Horch, ganz nah,
Dies Klimpern und Flöten!
Stirnrunzelnd vor sich hinstarrend, ging er weiter. Diese einherspringenden Bacchen, diese praxiteleischen Brüste und Popos, diese Tänzerinnen auf den Vasen – wie höllisch schwierig, irgendeinen Sinn aus ihnen herauszuholen! Kompression und Expression. Quetsche alle diese wollüstigen Visionen zu einem Klumpen und dabei ein Likörglas voll Wörtersaft aus ihnen heraus, zugleich herb zusammenziehend und süß zu Kopf steigend, zugleich ein Adstringens und ein Aphrodisiakum! Leichter gesagt als getan. Endlich begannen sich seine Lippen zu bewegen.
»Horch«, murmelte er wiederum.
Horch, ganz nah,
Dies Klimpern und Flöten! Voraus, hinterdrein,
Kreisel nach Kreisel, welch globische Elastoplastik
Entfinstert, letzte Schleier gelöst, ihre Monde!
Er seufzte und schüttelte den Kopf. Noch nicht ganz richtig; aber immerhin, vorläufig müsste es genügen. Und inzwischen war hier schon die Ecke. Sollte er geradenwegs heimgehen oder den Umweg über Bantry Place machen, Susan abholen und sie das neue Gedicht hören lassen? Sebastian zögerte einen Augenblick, entschied sich dann für das zweite und wandte sich nach rechts. Er fühlte sich in der Stimmung für ein Publikum und Applaus.
… welch globische Elastoplastik
Entfinstert, letzte Schleier gelöst, ihre Monde!
Aber vielleicht geriete das Ganze zu kurz. Es wäre vielleicht notwendig, noch drei oder vier Zeilen einzuschieben zwischen diese globische Elastoplastik und eine abschließende brillante Explosion bengalischer Lichter. Irgend etwas über den Parthenon, zum Beispiel. Oder vielleicht wäre etwas über Äschylos amüsanter.
Tragisch, auf Stelzen, Sublimitäten brüllend
Durch ein verzerrtes Mundloch …
Aber, du meine Güte! hier kamen diese bengalischen Lichter raketengleich, ununterdrückbar und unaufgefordert ihm in den Mund geschossen.
Und allzeit, im flimmernden Glanz, auf einem Tausend
Inseln, umschmiegt vom hyazinthenen Meer,
Welches Bangen, Begehren …
Nein, nein, nein. Zu unbestimmt, zu fleischlos abstrakt!
Welche Bullen und Buben, welch Rasen von Schwänen
und Lenden,
Welch strahlende Brünste, keuchend wie Schmiedebälge
Von Feuer zu hellerem Feuer …
Aber »hellerem« hatte gar keine Resonanz, keine über sich selbst hinausgehende Bedeutung. Was er brauchte, war ein Wort, das, während es die wachsende Heftigkeit des Feuers beschrieb, auch die Substanz seines eigenen, leidenschaftlich gehegten Glaubens vermitteln sollte – die Äquivalenz aller Ekstasen, der poetischen, der sexuellen, sogar der religiösen (wenn man sich auf dergleichen einließ), und ihre Überlegenheit über alle bloß alltäglichen und gewöhnlichen Zustände.
Er kehrte wieder zum Anfang zurück, weil er hoffte, auf diese Weise genug Wucht sammeln zu können, die ihn über das Hindernis trüge.
Und allzeit, im flimmernden Glanz, auf einem Tausend
Inseln, umschmiegt vom hyazinthenen Meer,
Welche Bullen und Buben, welch Rasen von Schwänen
und Lenden,
Welch strahlende Brünste, keuchend wie Schmiedebälge
Von Feuer … von Feuer …
Er zögerte; dann kamen die Worte.
Von Feuer zu reinerem Feuer, zu lauterstem Licht –
Die inkandeszenten Kopulationen der Götter.
Aber hier um die Ecke war schon Bantry Place, und sogar durch die geschlossenen, von Vorhängen bedeckten Fenster von Nummer fünf konnte er Susan bei ihrer Klavierstunde hören, wie sie diesen Scarlatti spielte, den sie den ganzen Winter geübt hatte. Eine Musik, so fiel ihm ein, die entstünde, wenn die Bläschen in einer Champagnerflasche rhythmisch emporschössen und, sobald sie die Oberfläche erreichten, in Klänge zerplatzten, so trocken aromatisch wie der Wein, aus dessen Tiefen sie aufstiegen. Der Vergleich gefiel ihm so sehr, dass ihm gar nicht bewusst wurde, nie Champagner geschmeckt zu haben; und als er schon an der Haustür klingelte, überlegte er weiter, dass diese Musik sogar noch trockener und aromatischer klänge, wenn’s ein Cembalo wäre, auf dem sie gespielt würde, und nicht der saftige Blüthner des alten Pfeiffer.
Über das Klavier weg erblickte Susan ihn, wie er das Musikzimmer betrat – mit diesen wunderschönen halbgeöffneten Lippen, das weiche Haar, durch das sie immer so sehnsüchtig gern mit den Fingern gefahren wäre und es gestreichelt hätte (aber das wollte er sie nie tun lassen), nun vom Wind zu einem bezaubernden Getümmel blasser Locken zerzaust. Wie lieb von ihm, einen Umweg gemacht zu haben, um sie abzuholen! Sie warf ihm ein schnelles frohes Lächeln zu, und dabei bemerkte sie plötzlich, dass winzig kleine Wasserperlen in seinen Haaren hingen, gleich diesen wunderschönen Tautropfen auf Kohlblättern – nur waren die hier viel kleiner und auf Florettseide aufgefädelt; und würde man sie berühren, wären sie kalt wie Eis. Schon der Gedanke daran genügte, den Fingersatz ihrer linken Hand völlig zu verwirren.
Der alte Dr. Pfeiffer, der im Zimmer hin und her schritt wie ein Tier im Käfig – ein kleiner, bäuchiger Bär in ungebügelter Hose und mit einem Walrossschnurrbart – nahm den zerkauten Zigarrenstummel aus dem Mundwinkel und schrie auf Deutsch: »Takt halten! Takt halten!«
Mit gewaltsamer Anstrengung vertrieb Susan den Gedanken an Tautropfen auf seidigen Locken aus ihrem Geist, riss die wackelnde Sonate zusammen und spielte weiter. Zu ihrem Ärger fühlte sie, wie sie errötete.
Blutrote Wangen, und das Haar rötlichgelb, schon fast rot. Rote Rüben und Karotten, dachte Sebastian unnachsichtig; und wie sich beim Lächeln das Zahnfleisch zeigte – das war buchstäblich anatomisch.
Susan ließ den Schlussakkord ausklingen und dann die Hände in den Schoß fallen und wartete auf das Urteil des Meisters. Dröhnend kam es auf einer Wolke Zigarrenrauchs einhergefahren.
»Gut, verry gut!« Und Dr. Pfeiffer schlug ihr auf die Schulter, als munterte er einen Karrengaul auf. Dann wandte er sich an Sebastian.
»Und hier ‘s dze liddle Ariel! Oder, perhaps, dze liddle Puck – not?« Er blinzelte zwischen zusammengekniffenen Augenlidern mit, wofür er es hielt, der spielerisch subtilsten, der exquisitesten und kultiviertesten Ironie hervor.
Kleiner Ariel, kleiner Puck … Zweimal an ein und demselben Nachmittag, und diesmal ohne jede Entschuldigung – einfach weil sich dieser alte Hanswurst einbildete, witzig zu sein.
»Da ich nicht Deutscher bin«, gab Sebastian scharf zurück, »habe ich nichts von Shakespeare gelesen – also wüsste ich’s wirklich nicht zu sagen.«
»Dze Puck, dze Puck!«, rief Dr. Pfeiffer und lachte so aus tiefster Brust, dass er seine chronische Bronchitis aufstörte und zu husten begann.
Ein Ausdruck der Besorgnis erschien auf Susans Gesicht. Der Himmel allein mochte wissen, wo das noch enden würde! Sie sprang vom Klavierstuhl auf. Und sobald sich die Explosionen und das beängstigend schleimige Keuchen von Dr. Pfeiffers Husten einigermaßen gelegt hatten, verkündete sie, dass sie sogleich gehen müsse; ihre Mutter habe ihr besonders eingeschärft, heute zeitig heimzukommen. Dr. Pfeiffer wischte sich die Tränen aus den Augen, biss abermals auf das schon sehr zerkaute Ende seiner Zigarre, traktierte Susan mit noch ein paar seiner schallenden Karrengaulliebkosungen und sagte ihr, sie solle um Gottes willen nicht vergessen, was er ihr über die Triller in der rechten Hand gesagt habe. Dann nahm er von einem Tischchen die mit Zedernholz ausgekleidete Silberkassette, die ein dankbarer Schüler ihm zum letzten Geburtstag geschenkt hatte, wandte sich an Sebastian, legte ihm eine gewaltige quadratische Tatze auf die Schulter und hielt ihm mit der anderen die Zigarren unter die Nase.
»Nehmen Sie eine«, sagte er zuredend. »Nehmen Sie eine schöne, große, dicke Havanna. Free of charge und garantiert, keinen Vomitus zu produzieren, nicht einmal bei einem Baby.«
»Oh, seien Sie still!«, schrie Sebastian in einer Wut, die an Weinen grenzte; und sich plötzlich duckend, schlüpfte er unter dem Arm seines Peinigers durch und lief aus dem Zimmer. Susan stand einen Augenblick unentschlossen, dann eilte sie ihm, ohne sich zu verabschieden, nach. Dr. Pfeiffer nahm die Zigarre aus dem Mund und schrie hinter ihr her.
»Schnell! Schnell! Ein Taschentuch für unser kleines Genie!« Die Haustür wurde zugeschlagen. Seiner Bronchitis trotzend, begann Dr. Pfeiffer abermals kolossal zu lachen. Vor zwei Monaten hatte das kleine Genie eine seiner Zigarren angenommen und, während Susan ihr Möglichstes mit der Mondscheinsonate tat, fast fünf Minuten lang gepafft.Dann kam ein panikhaftes Hinausstürzen ins Badezimmer; aber er war nicht mehr rechtzeitig hingelangt. Dr. Pfeiffers Sinn für Humor war mittelalterlich robust; für ihn war dieser Vomitus oben auf dem Treppenabsatz fast das Komischeste gewesen, was es seit den Späßen im Faust gegeben hatte.
Er schritt so schnell aus, dass Susan laufen musste; und auch so holte sie ihn erst unter der zweiten Laterne ein. Sie griff nach seinem Arm und drückte ihn herzlich.
»Sebastian!«
»Lass mich!«, herrschte er sie an und schüttelte sie ab. Niemand sollte ihn begönnern und bemitleiden.
O weh! Wieder hatte sie das Verkehrte getan. Aber warum musste er so entsetzlich empfindlich sein? Und warum scherte er sich überhaupt um so einen alten Esel wie Pfeiffy? Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Sie war die Erste, die sprach.
»Hast du heut was gedichtet?«
»Nein!«, log Sebastian. Diese inkandeszenten Kopulationen von Göttern waren erloschen und zu Asche geworden. Schon der Gedanke, diese Verszeilen jetzt, nach dem Vorgefallenen, zu rezitieren, machte ihm übel – wie kaltgewordene Überbleibsel einer Mahlzeit essen zu sollen.
Wieder entstand ein Schweigen. Es war ein freier Nachmittag, dachte Susan, und weil die Prüfungen bevorstanden, gab’s kein Fußballspiel. Hatte er ihn mit dieser grässlichen Person, dieser Esdaile, verbracht? Unter der nächsten Laterne warf sie einen Seitenblick auf ihn. Ja, kein Zweifel, er hatte dunkle Ringe unter den Augen. Die Schweine! Jäher Zorn erfüllte sie – Zorn, der einer Eifersucht entsprang, die besonders quälend, weil uneingestehbar war. Sie hatte keine Rechte; es war nie in Frage gekommen, dass sie etwas anderes sein könnten als Cousin und Cousine, beinahe Bruder und Schwester; überdies war es nur allzu schmerzhaft deutlich, dass er es sich nicht einmal träumen ließ, irgendwie anders an sie zu denken. Und übrigens, als er sie tatsächlich gebeten hatte, damals vor zwei Jahren, ihn sie ohne alle Kleider sehen zu lassen, hatte sie Nein gesagt, in einer völligen Panik. Zwei Tage später hatte sie Pamela Groves davon erzählt; und Pamela, die in eine dieser fortschrittlichen Schulen ging und deren Eltern so viel jünger waren als Susans, hatte bloß gebrüllt vor Lachen. Was für ein Getue wegen gar nichts! Pah! Sie und ihre Brüder und ihre Cousins – sie sahen einander immerzu ohne was anzuhaben. Ja, und die Freunde ihrer Brüder auch. Also warum der arme Sebastian nicht, wenn er es so gern wollte? Diese ganze dumme Prüderie aus dem vorigen Jahrhundert! Susan fühlte sich fast beschämt, dass sie und ihre Mutter so altmodische Ansichten hatten. Nächstes Mal, wenn Sebastian sie darum bäte, wollte sie sogleich ihren Pyjama ausziehen und sich vor ihn hinstellen, in der Haltung – so entschied sie nach einigem Nachdenken – dieser römischen Matrone, oder was immer sie war, auf dem Stich nach Alma Tadema im Arbeitszimmer ihres Vaters: lächelnd und mit erhobenen Armen sich das Haar aufbindend. Mehrere Tage lang probte sie die Szene vor ihrem Spiegel, bis sie in dem Ganzen absolut perfekt war. Aber leider wiederholte Sebastian seinen Wunsch nie, und sie besaß nicht die Keckheit, es selber vorzuschlagen. Was zum Ergebnis hatte, dass er die schauerlichsten Sachen trieb mit dieser Esdaile, diesem Luder, und sie gar kein Recht, gar keinen Grund hatte, auch nur zu weinen. Viel weniger noch, ihm eine herunterzuhauen, was sie gern getan hätte, und ihn zu beschimpfen und an den Haaren zu reißen und … und ihn so weit zu bringen, dass er sie küsse.
»Ich nehme an, du hast den Nachmittag mit deiner kostbaren Mrs. Esdaile verbracht«, sagte sie endlich und versuchte, es verachtungsvoll und überlegen klingen zu lassen. Sebastian, der mit gesenktem Kopf dahingeschritten war, blickte auf.
»Was geht das dich an?«, fragte er nach einer Pause.
»Gar nichts.« Susan zuckte die Achseln und stieß ein kurzes Lachen aus. Innerlich aber war sie wütend über sich selbst und schämte sich. Wie oft hatte sie sich nicht schon gelobt, sich nie mehr neugierig auf diese eklige Affäre zu zeigen, sich nie wieder diese grässlichen Einzelheiten anzuhören, die er ihr so lebhaft und mit so offenkundigem Genuss schilderte! Und merkwürdigerweise war die Neugier doch stets stärker als sie, und jedesmal hörte sie gierig zu, gerade weil diese Berichte über seine Liebschaft mit einer anderen ihr schmerzlich waren. Und auch, weil so an seinen Liebeserlebnissen wenigstens theoretisch und in der Fantasie teilzunehmen, auf eine dunkle Art aufregend war für sie und selbst schon etwas wie ein sinnliches Band zwischen ihnen, eine gedankliche Umarmung, schrecklich unbefriedigend und nur aufreizend, aber doch eine Umarmung.
Sebastian hatte weggeblickt; nun wandte er sich ihr plötzlich wieder zu, mit einem seltsamen, fast triumphierenden Lächeln, als hätte er soeben jemand überlistet.
»Na schön also«, sagte er, »du hast’s gewollt. Mach mir keinen Vorwurf, wenn’s deine jungmaidliche Züchtigkeit verletzt.«
Aber nach einem rauen Auflachen verstummte er und ging schweigend weiter, während er sich mit der Spitze des rechten Zeigefingers nachdenklich den Nasenrücken rieb. Wie gut sie diese Gebärde kannte! Die war das untrügliche Zeichen, dass er ein Gedicht verfasste oder über die beste Art nachdachte, eine seiner Geschichten zu erzählen.
Diese Geschichten, diese außerordentlichen Geschichten! Susan hatte in den von Sebastian erschaffenen Fantasiewelten fast ebenso lange und ganz so intensiv gelebt wie in der wirklichen Welt; intensiver vielleicht, denn in der wirklichen Welt musste sie sich mit ihrem eigenen, prosaischen Ich bescheiden, wogegen sie sich in der Geschichtenwelt mit Sebastians reicher Fantasie begabt fand und sich bewegt und erregt fühlte von Sebastians Wortfluten.
Die erste seiner Geschichten, deren sich Susan deutlich erinnerte, hatte ihr Sebastian auf dem Strand von Tenby erzählt, in jenem Sommer (es musste 1917 gewesen sein), als fünf Kerzen um ihre gemeinsame Geburtstagstorte gebrannt hatten. Sie hatten unter Seetang einen alten, geplatzten braunroten Gummiball gefunden. Sebastian trug ihn zu einem kleinen Tümpel und schwemmte den Sand heraus, der den Ball füllte. Auf der feuchten Innenseite war ein kleiner warzenähnlicher Auswuchs. Warum? Das wusste offenbar nur der Fabrikant. Für ein fünfjähriges Kind war es ein unergründliches Geheimnis. Sebastian berührte die Warze mit prüfendem Zeigefinger. Das sei der Bauchknopf, flüsterte er. Sie sahen sich verstohlen um, ob auch gewiss niemand zuhörte: der Nabel war etwas, das ans Unerwähnbare grenzte. Bei jedem Menschen wachse der Bauchknopf nach innen so wie hier, fuhr Sebastian fort. Und als sie ihn fragte, woher er das wisse, legte er mit einem umständlichen Bericht darüber los, was er Dr. Carter mit einem kleinen Mädel hatte tun sehen, im Ordinationszimmer, letztes Mal, als Tante Alice ihn wegen seiner Ohrenschmerzen hingeführt hatte. Aufgeschnitten hatte er es – das hatte Dr. Carter getan – aufgeschnitten mit einem großen Messer und einer großen Gabel, um den Bauchknopf von innen zu untersuchen. Und wenn man zu zäh war für Messer und Gabel, dann musste so eine Säge verwendet werden, wie die Fleischhauer sie zum Knochensägen hatten. Ja, tatsächlich und faktisch, beteuerte er, als sie ihrer entsetzten Ungläubigkeit Ausdruck gab, tatsächlich und faktisch! Und um es ihr zu beweisen, begann er mit der Kante seiner Hand auf den Ball loszusägen. Der gerissene Gummi klaffte unter dem Druck, die Wunde öffnete sich weiter und weiter, als die Säge immer tiefer in das einschnitt, was für Susan nun nicht mehr ein Ball, sondern der Bauch eines kleinen Mädels war – ja gradezu ihr eigener. »Ch-ch-ch-ch, ch-ch-ch-ch.« Sebastian rollte den Laut weit hinten in der Kehle. Es machte einem das Blut gerinnen, war wie das Geräusch einer Fleischhauersäge. Und dann, fuhr er fort, wenn sie tief genug geschnitten hatten, öffneten sie einen. So – und er zog die beiden Hälften des Balls auseinander. Sie öffneten einen und stülpten einem den oberen Lappen nach außen um – so; und dann schrubbten sie einem den Bauchknopf mit Wasser und Seife, um den Schmutz wegzukriegen. Er kratzte heftig an der geheimnisvollen Warze, und sein Nagel machte auf dem Gummi ein leises sprödes Geräusch, das für Susan unaussprechlich gruselig war. Sie stieß einen Schrei aus und hielt sich die Ohren zu. Noch jahrelang hatte sie sich immer schrecklich vor Dr. Carter gefürchtet und geschrien, so oft er ihr in die Nähe kam; und auch jetzt noch, wo sie doch wusste, dass das mit dem Bauchknopf alles Unsinn war, konnte der Anblick seiner kleinen schwarzen Instrumententasche oder der Schränke in seinem Ordinationszimmer, die voller Glasröhrchen und Flaschen und vernickelter Apparate waren, sie mit einer unbestimmten Angst erfüllen, die sie trotz allem Bemühen, vernünftig zu sein, nur schwer zu vertreiben vermochte.
Onkel John Barnack war oft monatelang abwesend, wenn er im Ausland herumreiste und Artikel schrieb für dieses Soziblatt, das Susans Vater nicht einmal zum Feuermachen in seinem Haus duldete. Sebastian hatte daher einen großen Teil seines Lebens unter der Obhut seiner Tante Alice und in nächster Nähe ihres jüngsten Kinds verbracht, der kleinen Susan, zwischen der und ihm selbst nur ein Altersunterschied von einem einzigen Tag war. Mit dem Heranwachsen seines kleinen Körpers und dieses frühreifen und fieberisch fantasievollen Geistes wurden die Geschichten, die er ihr erzählte – oder vielmehr in ihrer anregenden Gegenwart sich selbst erzählte – immer verwickelter und immer reicher an Einzelheiten. Manchmal zogen sie sich durch Wochen und Monate hin, in einer endlosen Reihe von Fortsetzungen, die er auf dem gemeinsamen Schulweg verfasste oder wenn sie vor dem Gasofen im Kinderzimmer ihr Abendbrot verzehrten oder miteinander auf dem offenen Oberdeck winterlicher Autobusse saßen, während ihre älteren Begleiter prosaisch im Innern fuhren. Da war zum Beispiel dieses Epos gewesen, das fast ununterbrochen durch das ganze Jahr 1923 lief – das Epos von den Lurnimans. Oder vielmehr von den Luuurnimans – denn der Name wurde stets im Flüsterton ausgesprochen und mit einer grässlich bedeutsamen Verlängerung der ersten Silbe. Diese Luuurnimans waren eine Familie menschlicher Oger, die in Tunnels lebte, welche strahlenförmig von einer zentralen Höhle ausgingen, die sich unmittelbar unter dem Raubtierhaus im Zoo befand.
»Horch!«, flüsterte Sebastian ihr jedesmal zu, wenn sie vor dem Käfig des sibirischen Tigers standen.
»Horch!« Und dann stampfte er mit dem Fuß auf die Pflasterung. »Es ist hohl drunter, hörst du’s nicht?«
Und ganz gewiss, Susan hörte es, und während sie es hörte, schauderte sie bei dem Gedanken, wie diese Luuurnimans zwanzig Meter tief dort unten saßen, im Mittelpunkt einer surrenden riesigen Maschinerie, und das Geld zählten, das sie aus den Gewölben der Bank von England gestohlen, und die Kinder brieten, die sie durch geheime Falltüren im Keller entführt hatten, und Kobras züchteten, um sie in die Abflussrohre loszulassen, sodass plötzlich, eines schönen Morgens, gerade wenn man sich hinsetzen wollte, ein bebrillter Schlangenkopf aus dem Klosett auftauchen und zischen würde. Sie glaubte natürlich gar nichts davon, aber auch wenn man’s nicht glaubte, machte es einem doch Angst. Diese grässlichen Luuurnimans mit ihren Katzenaugen und ihren patentierten elektrischen Pistolen und unterirdischen Rutschbahnen – sie wohnten nicht wirklich unter dem Raubtierhaus (obgleich es tatsächlich ganz hohl klang, wenn man dort aufstampfte). Aber das hieß nicht, dass sie nicht existierten. Der Beweis für ihre Existenz war die Tatsache, dass sie von ihnen träumte, dass sie jeden Morgen scharf nach diesen Kobras ausspähte.
Doch die Lurnimans waren jetzt wirklich schon eine alte Geschichte. Ihre Stelle war zunächst von einem Detektiv eingenommen worden; dann (nachdem Sebastian das Buch seines Vaters über die Russische Revolution gelesen hatte) von Trotzki; und dann von Odysseus, dessen Abenteuer während des Sommers und Herbsts 1926 abenteuerlicher gewesen waren als irgend etwas, das Homer je berichtet hatte. Gleichzeitig mit Odysseus tauchten zum ersten Mal Mädchen in Sebastians Erzählungen auf. Gewiss, sie waren einigermaßen auch schon in den früheren Epen vorgekommen, aber nur als Opfer von Ärzten, Kannibalen, Kobras und Revolutionären. (Was immer es war, wenn es nur Susan einen Schauder über die Haut jagte und dieses entsetzte Aufquietschen ungläubiger Abwehr hervorrief!) In der Neuen Odyssee jedoch begannen sie eine andere Rolle zu spielen. Sie wurden verfolgt und geküsst, sie wurden durch Schlüssellöcher bespäht, ohne was anzuhaben, sie wurden entdeckt, wie sie um Mitternacht in einem phosphoreszierenden Meer badeten, und Odysseus ging dann auch schwimmen.
Verbotene Themen, abstoßend fesselnd, abscheulich anziehend! Sebastian schlug sie gleichmütig und wie beiläufig an – pianissimo, sozusagen, und senza espressione, als eilte er über irgendeine langweilige Passage weg, eine Stelle bloßer Fünffingerübungen, die in die romantische Rhapsodie über seinen Odysseus eingeschoben war. Pianissimo, senza espressione, und dann – tschin! wie ein Akkord von Scriabine mitten in ein Haydn-Quartett – platzte er mit etwas ganz fürchterlich Schauderhaftem heraus! Und trotz allem Bemühen, es gleichgültig sachlich aufzunehmen, wie Pamela es aufgenommen hätte, war Susan immer so jäh erstaunt, dass sie einen Ausruf tat, dass sie errötete, sich die Ohren zuhielt und davonlief, als wollte sie kein einziges Wort mehr hören. Aber immer hörte sie wieder zu; und manchmal, wenn er seine Erzählung unterbrach, um ihr eine direkte und grässlich indiskrete Frage zu stellen, da sprach sie sogar selber über den unmöglichen Gegenstand, stammelnd, mit weggewendeten Augen, oder aber in unbeherrscht lautem Ton, der gegen ihren Willen in ein schrilles Gekicher überging.
Allmählich versiegte die Neue Odyssee. Susan war mit ihrer Musik und ihrer Abschlussprüfung in der Schule beschäftigt, und Sebastian verwendete seine ganze Freizeit aufs Lesen griechischer und der englischen Dichter und schrieb eigene Werke. Es schien keine Zeit fürs Geschichtenerzählen zu bleiben, und wann immer sie sich für eine kleine Weile zusammenfanden, sprach er ihr am liebsten seine neuesten Gedichte vor. Lobte sie die – und das tat sie gewöhnlich, denn sie hielt sie wirklich für wundervoll, – so leuchtete Sebastians Gesicht auf.
»Oh, es ist nicht gar zu schlecht«, sagte er dann wohl wegwerfend; aber sein Lächeln und das ununterdrückbare Glänzen seiner Augen verrieten, was er wirklich dachte. Manchmal jedoch kamen Zeilen vor, die sie nicht verstand oder nicht mochte; und wenn sie das zu sagen wagte, wurde er rot vor Zorn und nannte sie eine Idiotin, eine Philisterin; oder bemerkte sarkastisch, das sei nicht anders zu erwarten, da Frauen bekanntlich Spatzenhirne hätten; oder, es sei notorisch, dass Musiker kein Hirn, sondern nur Finger und ein Nervenzentrum in der Magengrube besäßen. Manchmal verletzten sie seine Worte; öfter aber riefen sie nur ein Lächeln hervor und gaben ihr das Gefühl, im Vergleich mit seiner durchsichtigen Kindlichkeit herrlich alt, weise und ihm trotz seiner blendenden Begabtheit überlegen zu sein. Wenn er sich so benahm, bekundete er sich damit ebenso als Kleinkind wie als Wunderkind und forderte sie gradezu heraus, ihn auch noch auf eine andere Art zu lieben – beschützerisch und mütterlich.
Und dann plötzlich, ein paar Wochen nach Beginn des laufenden Trimesters, hatten die Erzählungen wieder angefangen – aber mit einem Unterschied. Diesmal waren sie nicht Dichtung, sie waren Selbstbiografie: er hatte begonnen, ihr von Mrs. Esdaile zu erzählen. Das Kind in ihm war noch immer da, bedurfte noch immer dringend der Bemutterung, der Bewahrung vor den Folgen seiner Kindlichkeit; aber der herangewachsene Bub, den sie insgeheim mit einer ganz anders gearteten Leidenschaft anbetete, war nun der Liebhaber einer Frau – älter als sie selbst und hübscher und tausendmal erfahrener; reich obendrein, mit wunderschönen Kleidern und herrlich manikürt und hergerichtet; völlig außerhalb jeder Möglichkeit eines Wettbewerbs oder einer Nebenbuhlerschaft. Susan hatte ihn nie merken lassen, wie sehr es ihr zu Herzen ging; ihr Tagebuch aber war voll von Bitterkeit, und nachts, im Bett, hatte sie sich oft in Schlaf geweint. Und heute Nacht hätte sie wiederum Grund, sich elend zu fühlen.
Stirnrunzelnd warf Susan einen Seitenblick auf ihren Gefährten. Sebastian liebkoste noch immer nachdenklich seine Nase.
»Recht so!« platzte sie mit einem jähen Aufwallen von Groll heraus. »Reib dir deinen viehischen kleinen Rüssel, bis du es alles parat hast!«
Sebastian fuhr auf und wandte sich ihr zu. Ein Ausdruck der Beunruhigung erschien auf seinem Gesicht.
»Bis ich was alles parat habe?«, fragte er abwehrend.
»Alle deine schönen Reden und witzigen Erwiderungen!«, antwortete sie. »Du glaubst wahrscheinlich, ich kenn dich nicht? Pah, ich wette, du bist zu schüchtern, überhaupt etwas zu sagen, wenn du …« Sie verstummte, unfähig, die Worte zu äußern, die das verhasste Bild der Umarmung dieser zwei heraufriefen.
Zu anderer Zeit hätte diese höhnische Anspielung auf seine Schüchternheit – auf dieses erniedrigende Stummbleiben oder Stammeln, von dem er befallen wurde, wann immer er sich in fremder oder eindrucksvoller Gesellschaft befand – ihn aufgebracht und in Zorn versetzt. Diesmal aber war er nur belustigt.
»Darf ich denn nicht einmal die kleinste Lüge erzählen?«, fragte er. »Bloß um der Kunst willen?«
»Du meinst, um deinetwillen – weil du so wirken möchtest wie jemand aus einem Stück von Noël Coward?«
»Aus einem Stück von Congreve«, widersprach er.
»Aus von wem du willst!«, rief Susan, die glücklich war über diese Gelegenheit, ihrer aufgespeicherten Erbitterung Luft machen zu können, ohne deren wahre Natur und Ursache zu verraten. »Jede Lüge ist gut genug, solange du dich nur nicht so zeigen musst, wie du wirklich bist …«
»Ein Don Juan ohne den Mut zu seinen Überredungskünsten«, warf er ein. Es war eine Phrase, die er erfunden hatte, um sich darüber zu trösten, dass er auf der Weihnachtsgesellschaft bei den Boveneys so klägliche Figur gemacht hatte. »Und du ärgerst dich, weil ich das Gespräch auf eine Höhe bringe, auf der es sich hätte bewegen sollen. Sei nicht so scheußlich buchstabengetreu!«
Er lächelte sie so bezaubernd an, dass Susan einfach kapitulieren musste.
»Na gut«, murrte sie. »Ich werd dir glauben, auch wenn ich weiß, dass es eine Lüge ist.«
Sein Lächeln verbreiterte sich; er wurde der heiterste aller Della-Robbia-Engel.
»Auch wenn du’s weißt«, wiederholte er und lachte laut. Es war wirklich der köstlichste Witz. Die arme, gute Susan! Sie wusste, dass die Berichte über seine Konversationsgewandtheit gefälscht waren; aber sie wusste auch, dass er mit einer wunderschönen dunkelhaarigen jungen Frau ins Gespräch gekommen war, auf dem Oberdeck eines Autobusses nach Hampstead; dass diese Frau ihn zum Tee in ihre Wohnung gebeten, sich seine Gedichte vorlesen lassen und ihm erzählt hatte, wie unglücklich sie mit ihrem Mann sei, dann mit einem Wort der Entschuldigung den Salon verlassen und fünf Minuten später gerufen hatte: »Mr. Barnack, Mr. Barnack!« – und er ihr nachgegangen war, über den Flur und durch eine halb offene Tür in ein Zimmer, wo es stockfinster war, und plötzlich ihre bloßen Arme um sich und ihre Lippen auf seinem Gesicht gefühlt hatte. Susan wusste das alles und noch eine Menge mehr; und das Schönste daran war, dass Mrs. Esdaile gar nicht existierte, dass er ihren Namen im Telefonbuch gefunden hatte, ihr blasses ovales Gesicht in einem Band viktorianischer Stahlstiche und alles Übrige in seiner Fantasie. Und das Einzige, wogegen die arme Susan etwas hatte, war die Gewandtheit seiner Konversation!
»Sie hat heute schwarze, durchbrochene Spitzendessous getragen«, improvisierte er, von seiner Belustigung zu einer betonten Beardsleymanier fortgerissen, die er für gewöhnlich verachtete.
»Sieht ihr ähnlich!«, sagte Susan und dachte erbittert an ihre eigenen aus starker weißer Baumwolle.
Sebastian aber sah vor seinem innern Auge eine Kallipyge, über und über von spinnwebzarten Arabesken in Nadelarbeit gemustert wie einer dieser dekorativen Apfelschimmel aus Porzellan, auf deren Croupe die Tüpfel aus Blättern und spiraligen Ranken bestehen. Er lachte innerlich.
»Ich hab ihr gesagt, sie ist die neueste archäologische Entdeckung – die getüpfelte Aphrodite von Hampstead.«
»Lügner!«, sagte Susan emphatisch. »Du hast ihr gar nichts dergleichen gesagt.«
»Ich werd ein Gedicht auf die getüpfelte Aphrodite schreiben«, fuhr Sebastian fort, ohne sie zu beachten.
Ein ganzes Feuerwerk wunderschöner Ausdrücke begann in seinem Geist zu sprühen und zu prasseln.
»Ihr Widerrist ein Gekräusel spiraliger Ranken, ihre samtige Croupe getüpfelt von Brüsseler Rosen. Und um den Rumpf«, murmelte er, sich die Nase reibend, »um den Rumpf und die üppig geschmeidigen Flanken Spaliere von Muttermalen aus Klöppelspitzen.«
Und, Herrschaft noch einmal, da war noch ein zweiter tadellos guter Reim drin! Spiralen und Muttermalen – noch zwei starke Stifte, an die sich jede beliebige Menge von Spitzen und Göttinnenhaut hängen ließe.
»Oh, sei still!«, rief Susan.
Aber seine Lippen bewegten sich weiter.
»Getuscht auf die milchweiße Hinterhand, welche kunstvolle Kalligrafie, schwellend und schrumpfend bei jeder Bewegung.«
Da hörte er plötzlich seinen Namen gerufen und den Klangvon Laufschritten hinter sich.
»Wer, zum Teufel …?«
Sie blieben stehen und sahen sich um.
»Es ist Tom Boveney«, sagte Susan.
Und er war es!
Sebastian lächelte. »Ich wette mit dir um fünf Schill, er sagt: ›Hallo, Susel, schon wieder im Dusel vom Fusel?‹«
Zwei Meter groß, einen breit und einen halben dick, mit sandfarbenem Haar und übers ganze Gesicht grinsend, kam Tom herangerast wie der Cornwall–Express.
»Basty«, rief er, »du bist gerade der Mann, den ich suche! Oh, und hier ist ja auch Susan – hallo, Susel, schon wieder im Dusel vom Fusel?«
Er lachte und war entzückt, als Susan und Sebastian ebenfalls lachten – mit ungewohnter Herzlichkeit lachten.
»Also«, fuhr er fort, sich wieder an Sebastian wendend,
»das Problem ist gelöst.«
»Welches Problem?«
»Wann ich die Gesellschaft gebe. Da du doch am Trimesterschluss gleich wegfährst, hab ich sie aufs Ende der Ferien verschoben.«
Er grinste und klopfte Sebastian zutunlich auf die Schulter.
Auch der!, sagte sich Susan und überlegte weiter, dass fast jeder Mensch Sebastian gegenüber so fühlte – und er das ausnützte. Ja, er nützte es aus.
»Freut’s dich?«, fragte Tom.
Basty war seine Maskotte, sein Adoptivkind und zugleich der erlesene und wunderbare Gegenstand einer Liebe, die sich einzugestehen, ja auch nur zu verstehen und ihr einen Namen zu geben, er von Natur viel zu heterosexuell war. Es gab nichts, was er nicht getan hätte, um das Wohlgefallen seines kleinen Basty zu erwecken.
Doch statt entzückt übers ganze Gesicht zu strahlen, blickte Sebastian fast bestürzt drein.
»Aber, Tom«, stammelte er, »du darfst wirklich nicht … ich meine, du solltest dir meinetwegen keine Ungelegenheiten machen.«
Tom lachte und gab Sebastians Achsel einen beruhigenden Quetscher. »Mach ich mir nicht.«