Aus dem Englischen
von Kim Landgraf
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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel The Book of Tea zuerst
1906 bei Fox Duffield & Co. in New York.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.
© 2011 Anaconda Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
ISBN 978-3-7306-9076-5
V002
www.anacondaverlag.de
Die Schale der Menschheit
Die Schulen des Tees
Taoismus und Zen-Buddhismus
Der Teeraum
Wertschätzung der Kunst
Blumen
Teemeister
Tee war zuerst Medizin und wurde dann zum Getränk. Im 8. Jahrhundert begann er in China im Reich der Poesie als eine höhere Form der Zerstreuung zu gelten. Im 15. Jahrhundert wurde er in Japan zu einer Religion des Ästhetizismus erhoben – dem Teeismus. Der Teeismus ist ein Kult, der auf der Verehrung des Schönen inmitten der gemeinen Dinge des täglichen Lebens beruht. Er lehrt Reinheit und Harmonie, das Mysterium der Mildtätigkeit und die Romantik der sozialen Ordnung. Er bedeutet im Wesentlichen die Anbetung des Unvollkommenen, denn der Teeismus ist ein behutsamer Versuch, in diesem unmöglichen Etwas, das wir Leben nennen, das Mögliche zu erreichen.
Die Philosophie des Tees ist kein reiner Ästhetizismus im herkömmlichen Sinn, denn im Verbund mit unserer Ethik und Religion spiegelt sich alles in ihr, was wir über Mensch und Natur denken. Sie ist Hygiene, denn sie zwingt zur Reinlichkeit. Sie ist Ökonomie, denn sie findet Gefallen am Einfachen, nicht am Komplexen und Kostspieligen. Sie ist »moralische Geometrie«, insofern sie unser Verhältnis zum Universum bestimmt. Sie verkörpert den wahren Geist östlicher Demokratie, indem sie sämtliche ihrer Anhänger zu Aristokraten im Bereich des Geschmacklichen macht.
Die lange Isolation Japans von der übrigen Welt, der Selbstschau so dienlich, war für die Entwicklung des Teeismus von großem Vorteil. Unsere Häuser und Lebensgewohnheiten, Kleidung und Küche, Porzellan- und Lackkunst, Malerei und vor allem unsere Literatur – sie alle sind von ihm beeinflusst. Niemand, der sich mit japanischer Kultur eingehend beschäftigt, kommt an seiner Gegenwart vorbei. Der Teeismus hat ebenso die Eleganz vornehmer Damenzimmer durchdrungen, wie er Einzug in die Wohnstätten der einfachen Leute gehalten hat. Unsere Bauern haben gelernt, wie man Blumen bindet, der niedrigste Arbeiter weiß, wie er dem Fels und dem Wasser seinen Gruß entbietet. Im allgemeinen Sprachgebrauch heißt es, dass ein Mensch »keinen Tee in sich« habe, wenn er für die tragikomischen Seiten des Lebens unempfänglich ist. Ebenso brandmarken wir den ungezähmten Ästheten, der sich, achtlos gegenüber der Tragödie des Menschlichen, in der Flut entfesselter Gefühle austobt, als jemanden, der »zu viel Tee in sich« hat.
In der Tat mag sich der Außenstehende über diesen scheinbaren Lärm um Nichts etwas wundern. »Was für ein Sturm im Teeglas!«, wird er sagen. Doch wenn man bedenkt, wie klein die Schale menschlicher Freuden eigentlich ist, wie rasch sie von Tränen gefüllt, wie leicht sie in unserem unstillbaren Durst nach Unendlichkeit bis auf den letzten Tropfen geleert wird, dann haben wir uns nichts vorzuwerfen, wenn wir um die Teeschale so viel Aufhebens machen. Die Menschheit hat Schlimmeres getan. Zu freigebig haben wir huldigend dem Bacchus geopfert und uns nicht gescheut, sogar das blutbefleckte Bildnis des Mars zu verklären. Warum sollten wir uns also nicht der Königin der Kamelien weihen und im warmen Strom des Mitgefühls baden, der von ihrem Altar fließt? In dem flüssigen Bernstein, der in der elfenbeinfarbenen Schale ruht, berührt der Eingeweihte die süße Verschwiegenheit des Konfuzius, den prickelnden Reiz des Laotse und den ätherischen Duft des Shākyamuni selbst.
Wer in sich selbst die Kleinheit der großen Dinge nicht fühlen kann, neigt dazu, in anderen die Größe der kleinen Dinge zu übersehen. Der durchschnittliche Europäer und Amerikaner wird in seiner glatten Selbstgefälligkeit in der Teezeremonie lediglich ein weiteres Beispiel für die unzähligen Seltsamkeiten erblicken, aus denen die kindliche Skurrilität des Ostens für ihn besteht. Er war es gewohnt, Japan als barbarisch zu betrachten, während Japan eigentlich der sanften Kunst des Friedens frönte. Erst seit das Land damit begonnen hat, auf den mandschurischen Schlachtfeldern gewaltige Blutbäder anzurichten, nennt er Japan zivilisiert. In letzter Zeit wurde viel über den Ehrenkodex der Samurai gesprochen, über die Kunst des Todes, die unsere Soldaten das Selbstopfer bejubeln lässt. Dem Teeismus hingegen, der einen so großen Teil unserer Lebenskunst ausmacht, wurde fast gar keine Aufmerksamkeit geschenkt. Gerne sind wir bereit, Barbaren zu bleiben, wenn sich unser Anspruch auf Zivilisation auf den grausamen Ruhm des Krieges stützen soll. Gerne sind wir bereit, die Zeit zu erwarten, wenn unserer Kunst und unseren Idealen der gebührende Respekt gezollt wird.
Wann wird der Westen den Osten verstehen oder zumindest versuchen, ihn zu verstehen? Wir Asiaten sind häufig entsetzt über das merkwürdige Gespinst aus Fakten und Phantasien, das man uns bezüglich gewoben hat. Wir werden beschrieben, als lebten wir vom Duft der Lotusblüte, wenn nicht gar von Mäusen und Kakerlaken. Man spricht entweder von hilflosem Fanatismus oder erbärmlicher Wollust. Die Spiritualität der Inder wird als Ignoranz verspottet, der Ernst der Chinesen als Blödheit, der Patriotismus der Japaner als das Ergebnis von Fatalismus. Man hat sogar behauptet, wir seien aufgrund der Abgestumpftheit unseres Nervensystems weniger empfänglich für Schmerz und Verletzung!
Man amüsiere sich ruhig auf unsere Kosten! Warum denn auch nicht? Asien gibt das Kompliment zurück. Es gäbe noch mehr Grund zur Heiterkeit, wenn der Westen seinerseits wüsste, was wir über ihn denken und geschrieben haben. Dort finden wir all den Zauber des Blicks aus der Ferne, all die unbewusste Verehrung des Wunderbaren, all den stillen Unmut über das Neue und Unbestimmte. Man hat ihn mit Tugenden überladen, die zu erlesen sind, als dass man sie neiden könnte, hat ihn Verbrechen bezichtigt, die zu malerisch sind, als dass sie verdammt werden könnten. Unsere Autoren vergangener Epochen – weise Männer, die wussten, wovon sie sprachen – haben uns darüber unterrichtet, dass ihr unter euren Kleidern buschige Schwänze versteckt haltet und nicht selten Frikassee aus neugeborenen Babys verspeist! Nein, wir hatten noch Schlimmeres gegen euch vorzubringen: Wir hielten euch für die unklügsten Menschen der Welt, weil man euch nachsagte, zu predigen, was ihr niemals selbst praktiziert.
Solche Missverständnisse werden in Japan zunehmend seltener. Der Handel hat manch einem östlichen Hafen die europäischen Sprachen aufgenötigt. Junge Asiaten strömen für eine moderne Ausbildung in Scharen an westliche Universitäten. Unser Verständnis für eure Kultur reicht nicht sehr tief, doch zumindest sind wir bereit zu lernen. Einige meiner Landsleute haben sich im falschen Glauben, dass der Erwerb steifer Kragen und hoher Seidenhüte bereits die Errungenschaften westlicher Zivilisation ausmache, zu viele eurer Sitten und Umgangsformen zu eigen gemacht. So erbärmlich und bedauerlich ein solches Gehabe auch sein mag, es beweist unsere Bereitschaft, uns dem Westen auf Knien zu nähern. Leider begünstigt die Haltung des Westens ein ähnliches Verständnis des Ostens nicht. Der christliche Missionar kommt, um zu geben, nicht um zu empfangen. Eure Kenntnisse beruhen auf dürftigen Übersetzungen unserer großartigen Literatur, wenn nicht gar auf den unzuverlässigen Anekdoten einiger Durchreisender. Es geschieht selten, dass die ehrwürdige Feder eines Lafcadio Hearn oder die der Verfasserin von The Web of Indian Life, Margaret E. Noble, die orientalische Düsternis mit der Fackel unserer eigenen Geisteshaltung erhellt.
Vielleicht verrate ich meine persönliche Unkenntnis der Teezeremonie, wenn ich in dieser Weise kein Blatt vor den Mund nehme. Denn der ihr so eigene Geist der Höflichkeit verlangt, dass man lediglich sagt, was von einem erwartet wird, mehr nicht. Aber ich will hier kein höflicher Anhänger des Teekultes sein. Das gegenseitige Missverständnis zwischen der Neuen und der Alten Welt hat bereits so viel Schaden angerichtet, dass man sich nicht dafür zu entschuldigen braucht, wenn man seinen Teil zur Beförderung eines besseren Verständnisses beizutragen sucht. Dem Beginn des 20. Jahrhunderts wäre der Anblick eines blutigen Krieges erspart geblieben, wenn Russland sich dazu herabgelassen hätte, Japan besser zu verstehen. Was für fatale Folgen für die Menschheit liegen in der verächtlichen Missachtung der Probleme des Ostens! Der europäische Imperialismus, der es nicht für unter seiner Würde hält, das absurde Phantom einer »gelben Gefahr« heraufzubeschwören, versäumt zu begreifen, dass sich beizeiten vielleicht auch Asien der grausamen Bedeutung der »weißen Katastrophe« bewusst wird. Man mag über uns lachen, weil wir »zu viel Tee« in uns haben, aber wäre es umgekehrt falsch, zu vermuten, dass ihr im Westen »keinen Tee« in euch tragt?
Wir sollten die Kontinente davon abhalten, einander mit Spötteleien zu überhäufen, und aus Schaden klug werden, indem wir den gegenseitigen Zugewinn einer halben Hemisphäre anerkennen. Wir haben uns in unterschiedliche Richtungen entwickelt, aber es gibt keinen Grund, warum nicht der eine den anderen ergänzen sollte. Ihr seid größer geworden zum Preis der Rastlosigkeit. Wir hingegen haben eine Eintracht geschaffen, die sich gegen Übergriffe von außen kaum zur Wehr setzen kann. Und dennoch – ob man’s glaubt oder nicht – ist der Osten in mancher Hinsicht dem Westen überlegen.
Seltsamerweise ist sich die Menschheit bislang nur über der Teeschale begegnet. Sie ist die einzige asiatische Zeremonie, der man weltweit Anerkennung zollt. Der Weiße spottet über unsere Religion und Moral, doch das braune Getränk hat er ohne Zögern anerkannt. Der Nachmittagstee ist heute im Westen eine wichtige gesellschaftliche Institution. Im sanften Geklapper von Tablett und Tassen, im weichen Rascheln weiblicher Gastfreundschaft, im allverbreiteten Frage-Antwort-Spiel über Sahne und Zucker hat sich, wie wir wissen, ohne Frage die Hochachtung des Tees etabliert. Die philosophische Ergebung des Gastes in das Schicksal, das ihn in diesem unbestimmten Absud erwartet, verrät, dass sich der östliche Geist in diesem einen Fall als überlegen erweist.