CHRISTOPH MARZI
ROMAN
Originalausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
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Originalausgabe 09/2013
Redaktion: Uta Dahnke
Copyright © 2013 by Christoph Marzi
Copyright © 2013 dieser Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umschlaggestaltung: Eisele Grafikdesign, München
Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels
ISBN 978-3-641-10091-9
V003
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Für Tamara
»We can only see ourselves because
someone else has seen us first.«
PAUL AUSTER, The Red Notebook
1
Das Klingeln des alten Telefons ließ sie aufschrecken. »Verdammt«, murmelte sie verschlafen und tastete unbeholfen nach dem Hörer. »Es ist noch Nacht«, hörte sie sich sagen.
»Die Sonne geht gerade auf.«
Sie seufzte. »Ian?«
»Faye«, sagte er.
Sie verfluchte sich dafür, nach dem Hörer gegriffen zu haben; nicht umsonst steckte das pechschwarze Telefon mit der seltsam geformten Gabel in einem alten Reisekoffer, der geöffnet neben der Matratze auf dem Boden stand. Sie spürte, wie sich die geringelte Schnur, wenn sie sich zur Seite drehte, um ihr Handgelenk wand.
»Ich musste an dich denken.«
Sie öffnete die Augen zu einem flüchtigen Blinzeln, schloss sie sofort wieder. »Ich musste nicht an dich denken«, sagte sie und erinnerte sich daran, dass Ian gern und oft die allerersten Alben der Talking Heads gehört hatte.
»Erinnerst du dich an den Sonnenaufgang in Key West?«
War das denn die Möglichkeit? »Hast du eine Ahnung, wie früh es ist?«
»Sechs Uhr neununddreißig.«
»Das ist viel zu früh.« Sie betonte jedes einzelne Wort.
»Die Sonne ist gerade aufgegangen, und ich musste an dich denken. Ich weiß, das klingt jetzt seltsam, aber ich hatte dieses intensive Gefühl, dich anrufen zu müssen. Weißt du, wo ich gerade bin?«
Nein, sie wollte nicht wissen, wo er war.
Er sagte es ihr trotzdem. »Am Strand. Du weißt schon, oben in Martha’s Vineyard. Das Sommerhaus.«
Sie seufzte. »Ian, wir sind nicht mehr zusammen.«
Unbeeindruckt von dieser Feststellung, sagte er: »Hast du dich jemals gefragt, ob es ein Fehler war, dass wir uns getrennt haben?« Er hörte sich wach an. Du liebe Güte. Sie würde nie verstehen, wie sich jemand um diese unmenschliche Uhrzeit bereits wach fühlen – geschweige denn, wach anhören – konnte.
»Ich«, korrigierte sie ihn, »habe mich von dir getrennt.«
»Ja«, sagte er, »aber hast du dich jemals gefragt, ob es nicht auch anders hätte kommen können?«
»Nein, eigentlich nicht.« Sie war ehrlich. Sie hatte sich das wirklich noch nie gefragt, nicht einmal damals.
»Wenn du nur die Sonne sehen könntest«, sagte er träumerisch.
Wenn ich doch nur schlafen könnte!, dachte Faye. Sie zwang sich, die Augen zu öffnen, und starrte kurz auf den Wecker, der neben dem Koffer stand, zwischen der Matratze und dem Telefon. »Warum geht die Sonne so verdammt früh auf? Es ist Herbst. Geht die Sonne da nicht später auf?«
»Es ist so wunderschön hier«, hörte sie die Stimme aus dem Hörer. Sie stellte sich das Gesicht dazu vor. Sie hatte Ian Hedges vor etwa drei Jahren nach einem Konzert kennengelernt, und der Rest hatte sich, wie man so schön sagt, ergeben, wie Dinge dieser Art sich ergeben, wenn man nichts tut, um sie zu verhindern. »Es würde dir gefallen«, sagte er. »Wenn ich nur beschreiben könnte, wie das Meer riecht.«
»Ich bin müde«, versuchte es Faye noch einmal höflich. Sie interessierte sich nicht für das Meer.
»Wann beginnst du zu arbeiten?«, wollte er wissen.
»Ist doch egal«, grummelte sie. »Jetzt jedenfalls noch nicht.«
»Faye.«
Sie verzog das Gesicht. Ian Hedges hatte ihren Namen schon immer gern ausgesprochen. Öfter als nötig, wie sie fand, obwohl es vermutlich daran lag, dass er es als Dozent gewöhnt war, sein Gegenüber möglichst namentlich anzusprechen.
»Warum rufst du mich an?«
Er zögerte, schwieg. »Faye?« Jetzt klang es wie eine Frage.
Sie sagte nichts.
»Faye?«
»Wenn du so weitermachst, lege ich auf.«
Erneut Stille. Faye bildete sich ein, die Brandung zu hören.
»Ich mag dich noch immer.« Seine Stimme klang leise, fast brüchig, verletzlich.
Sie seufzte müde. »Ich mag dich auch, Ian, aber ich bin froh, nicht mehr mit dir zusammen zu sein.«
»Warum?«
»Darum!«
»Das hast du damals auch gesagt.«
Sie öffnete die Augen, nur einen Spaltbreit, registrierte schleppend langsam, dass die Sonne wirklich aufging. »Wir sind seit zwei Jahren nicht mehr zusammen, und du hast vor einem Jahr geheiratet.«
Schweigen.
Nur Brandungsrauschen.
»Wir sollten das Gespräch jetzt beenden«, schlug Faye vor.
»Ich kann nicht glauben, dass du so denkst.«
»Tue ich aber.«
»Faye?«
Sie holte tief Luft.
»Du hast nicht einmal ein Lied über uns geschrieben.«
»Stimmt.«
Erneut Stille.
»Wenn du diesen Sonnenaufgang sehen könntest. Dieses Licht. Oh, wenn du die Farben sehen könntest!«
Sie seufzte.
»Man wird nachdenklich, wenn man hier steht.« Sie stellte sich ihn so vor, wie sie ihn damals gesehen hatte. Wie er in seiner sportlichen Kleidung am Strand auf und ab ging, das wallende blonde Haar im Wind, dazu bestimmt, auf Tennisplätzen bewundert zu werden. »Ich musste dich einfach anrufen. Okay, ich weiß, es ist noch früh, aber ich wollte deine Stimme hören …«
»Lass das!«
»Ich bin in zwei Tagen wieder in der Stadt.«
Faye setzte sich äußerst langsam auf der Matratze auf. Ihr dunkles Haar fiel ihr ins Gesicht. »Ich wusste nicht einmal, dass du fort warst.« Warum redete sie überhaupt mit ihm?
»Ich hatte eine Gastprofessur in Paris. An der Sorbonne.«
Klingt nach Frühstück, dachte sie.
»Ein Jahr lang«, fuhr er fort.
Das war doch verrückt. »Du hast mich immer aus Paris angerufen?« Hin und wieder hatte er sich bei ihr gemeldet, meistens spontan, so wie jetzt, zu unmöglichen Zeiten und vornehmlich, wenn er etwas angetrunken war, tief in Selbstmitleid versunken, einer potenziellen Affäre nachtrauernd.
»Du bist es wert, dass man dich von jedem Ort der Welt aus anruft«, sagte er.
»Oh, bitte!«
»In zwei Tagen«, versuchte er sie zu ködern. »Wir gehen essen und reden.«
»Vergiss es.«
»Faye.«
»Wir sind nicht mehr zusammen. Und du bist jetzt verheiratet.«
»Ich war mit ein paar Frauen ausgegangen, nachdem wir uns getrennt hatten.«
»Schön.«
»Weißt du, was ihr Fehler war?«
Nein, das wusste sie nicht.
»Sie alle waren nicht du.«
»Ian, die meisten Frauen, die da draußen herumlaufen, sind nicht ich.«
»Ich liebe dich noch.«
»Nein, tust du nicht.«
»Ich vermisse dich.«
»Tust du auch nicht.«
»Du hättest die Telefonnummer ändern können, wenn du wirklich nicht mehr mit mir hättest reden wollen.« Hörte sie da vielleicht einen Hoffnungsschimmer in seiner Stimme?
»Ich bin zu faul, um die Telefonnummer ändern zu lassen.«
»Vermisst du es denn gar nicht, mit …«
»Nein.« Sie drückte die Gabel nach unten, legte den Hörer neben das Telefon in den Koffer, ließ sich auf die Matratze zurücksinken, wickelte sich wie eine Katze ins Bettzeug ein und schloss die Augen.
Irgendwann spürte sie dann die Sonne auf ihrem Gesicht, und der Wecker, das rostige alte Ding, klingelte laut und scheppernd. Faye Archer stand auf, wankte unbeholfen auf kalten, nackten Füßen durch die Wohnung zur Küchenzeile, machte sich einen Kaffee, ging damit zum Fenster, öffnete es und sog die frische Morgenluft ein.
Die Geräusche ihrer Welt tauchten den ganzen Stadtteil in das goldene Licht des Spätsommers, und das Gefühl, eine Melodie, die sie nur flüchtig im Vorbeigehen auf der Straße gehört hatte, mühelos pfeifen zu können, beschlich sie, während sie noch schlaftrunken aus dem Fenster schaute. Brooklyn Heights begrüßte sie mit dem unaufdringlichen Rauschen der Blätter der Bäume, die die Häuser in der Montague Street säumten, jene Sandsteinhäuser, deren Fenster und Türen wie Gesichter anmuteten und die allesamt kleine Treppen hatten, die zu den Eingängen hinaufführten. Die Autos fuhren langsam, weil man nicht wissen konnte, wo und wann jemand die Straße kreuzte. Die Passanten auf den Gehwegen bewegten sich da schon schneller, zumindest um diese Uhrzeit, weil sie die U-Bahn rüber nach Manhattan erwischen wollten oder einen Job in Downtown hatten. Kinder gingen in Gruppen zur Schule, ein Müllwagen hielt vor dem Haus. Zwei Männer in Overalls packten die Müllsäcke und warfen sie hinten in den Wagen. Einer von ihnen, bärtig und groß wie die Männer in Minnesota, schaute nach oben. Faye, die mit ihrer Tasse Kaffee am Fenster stand, winkte ihm lächelnd zu. Er winkte zurück, nicht so überrascht, wie er hätte sein müssen – er hatte die junge Frau, die oben im ersten Stock von Nr. 28b am Fenster stand, immerhin noch nie zuvor gesehen. Andererseits grüßten die Menschen einander in dieser Gegend, zumindest in manchen Straßen. Man sah oft die gleichen Gesichter, Tag für Tag, und ohne zu wissen, wie die Namen der Menschen lauteten und was für ein Leben sie führten, hatte man doch den Eindruck, sie zu kennen. Wenn man neu hinzugezogen war, dann fühlte man sich nicht allein. Das war das Erste, was Faye damals aufgefallen war. Okay, man war zwar allein, weil man niemanden wirklich kannte, aber man hatte das Gefühl, ein Teil dieser Gemeinschaft zu sein – und das war allemal besser, als dieses Gefühl nicht zu haben.
Sie seufzte und dachte an ihren Einzug in diese Wohnung; ihre Besitztümer hatten mühelos in einen geliehenen Chevy gepasst.
Wie lange war das jetzt her? Zwei Jahre? Zuerst hatte sie in einem muffigen Studentenwohnheim in Queens gewohnt. Das war direkt nach ihrer Ankunft in New York gewesen. Und davor, vor der großen Stadt, die, wie sie damals dachte, gleichsam die Welt war, in einer Bude in Redwood Falls, Minnesota. Sie hatte als ordentliche Studentin die Columbia besucht und gejobbt; und dann, vor sechs Jahren, hatte sie das Studium abgebrochen, um das Leben zu spüren, so, wie sie es sich immer vorgestellt hatte. Ein langer, unsteter Weg war das gewesen. Redwood Falls und Brooklyn Heights, die entgegengesetzten Enden einer sehr seltsamen Skala.
Sie rieb sich müde die Augen. Oh, sie hasste es, wenn sie plötzlich Gedanken wie diese überraschten, und das am frühen Morgen, kurz nach dem Aufwachen, wenn sie keine Chance hatte, an etwas anderes zu denken. Sie war dem müden Grübeln hilflos ausgeliefert, bis das alles langsam in der Flut von Liedern aus dem Radio verschwamm.
Du bist neunundzwanzig, hast dein Studium abgebrochen, arbeitest in einem Buchladen und bist eine richtige Künstlerin, wie du es immer wolltest. Faye wunderte sich immer wieder, dass man mit so wenigen Worten ein ganzes Leben umschreiben konnte. Ja, sie war hin und wieder eine Künstlerin. Abends, in Clubs mit dem Flair der 50er-Jahre. Nur das Klavier, ein Mikrofon und sie und ab und zu eine Gitarre. Hin und wieder sogar mit Band.
Sie seufzte noch mal. Manchmal half das, heute irgendwie nicht. Sie fühlte sich seltsam, als würde sie darauf warten, dass etwas passierte. Aber was sollte an einem Tag wie diesem schon passieren?
Sie sah den Müllmännern hinterher, schon waren sie verschwunden. Unten auf der Straße hatte der Tag längst begonnen.
Faye Archer begann eine Melodie zu summen, und dann schüttete sie den Rest des schwarzen Kaffees in den Blumenkasten, der vor dem Fenster stand. Sie tat das öfter, den Blumen machte es anscheinend nichts aus.
Dass Ian sich gemeldet hatte, war lästig, nicht mehr.
»Der Kerl ist ein Waschlappen«, hatte Dana schon damals erkannt. »Der wird dir noch lange auf die Nerven gehen.«
»Damit komme ich schon klar.«
»Du brauchst eine neue Telefonnummer«, hatte sie ihr geraten.
»Ja, ich weiß.«
Dana war ihre beste Freundin. »Du weißt, dass du es wieder vergessen wirst.«
»Ja, auch das.«
Faye hatte es bisher noch nicht geschafft, sich eine neue Nummer zuzulegen. Die Anrufe von Ian hielten sich in Grenzen, irgendwie gehörte die Sache mit der neuen Telefonnummer zu den Dingen, die zu erledigen sie nie schaffte, weil immer etwas anderes dazwischenkam, und außerdem war er der einzige Exfreund, der sich noch meldete.
Als sie zusammenkamen, drei Jahre war das jetzt her, war Faye schon nicht mehr an der Columbia eingeschrieben gewesen. Im Nachhinein war man immer schlauer. Das war eine der Lektionen, die es zuhauf umsonst gab.
Faye rieb sich müde den letzten Schlaf aus den Augen.
»Hallo, Tag!«, sagte sie laut und blinzelte in den Sonnenschein. Sie überlegte kurz, ob sie mit den Staubkörnern, die träge im Licht schwebten, tanzen sollte. Sie lächelte still vor sich hin.
Dann stakste sie ins Bad und nahm eine kalte Dusche, schrie dabei innerlich, so laut sie nur konnte, und wickelte sich schließlich in ein Handtuch ein; mit dem zweiten rubbelte sie sich die schulterlangen dunklen Haare halbwegs trocken. Als sie damit fertig war, trippelte sie durch die fast leere Wohnung und suchte ihre Klamotten zusammen.
Sie schlüpfte in ein orangefarbenes Kleid, zog grüne Chucks dazu an und ließ die Haare trocknen, während sie sich aufs Fensterbrett setzte, die Kaffeepfütze im Blumenkasten betrachtete – Kaffee, das wusste sie aus Erfahrung, versickerte langsamer als Wasser – und dann erneut nach unten auf die Straße schaute, um dem belanglosen Treiben dort zu folgen.
Ihr Blick wanderte schließlich in die Wohnung zurück, und sie fragte sich, wann genau sie damit begonnen hatte, sich hier heimisch zu fühlen. Minnesota war so weit weg wie das Leben einer völlig Fremden und Queens mit den seltsamen Studentenfreundschaften und den oft wechselnden männlichen Bekanntschaften ebenso. Sie führte jetzt ein ruhiges Leben, und wenn sie ehrlich war, sah die Wohnung auch genau so aus. Ja, sparsam und ruhig, mit einer Unmenge an Grünpflanzen, die groß waren, riesengroß teilweise, und die wucherten, in allen Ecken, und raschelten, wenn sie in Eile über die Holzdielen lief.
Mitten im Raum standen eine knallrote breite Couch mit weißen Punkten und ein altes Klavier, Rücken an Rücken, könnte man sagen. Wenn man auf der roten Couch lag, dann konnte man aus dem Fenster schauen und sich im Geäst des Baumes verlieren, der da draußen stand. Auch konnte man bequem eine Tasse Tee oder ein Glas Wein auf dem Klavier abstellen.
Irgendwie passend, dachte Faye. Die Dinge, die ihr Leben bestimmten, waren gleichsam der Mittelpunkt der Wohnung geworden. Auf der Couch saß sie gern und lange, einfach so, oft untätig, schläfrig, tagträumend. Man konnte auf ihr wunderbar gar nichts tun, Bücher lesen, Songtexte schreiben, sich Melodien ausdenken oder einfach nur die Augen schließen und der Stille lauschen. Und wenn man sich die Melodien, die immer irgendwo in der Stille verborgen waren, dann vergegenwärtigt hatte, musste man nichts anderes tun, als aufstehen, um das Klavier herumgehen, sich auf den Schemel setzen und zu spielen beginnen.
Es gab einen hölzernen Buddha, der fett und mit einem penetrant ruhigen und ausgeglichenen Gesichtsausdruck neben dem Fenster saß und dem Faye ein Post-it mit der Aufschrift Ich bin Om – und was bist du? an die Stirn geklebt hatte. Ein Zimmer weiter befanden sich ein alter Kleiderschrank und eine Matratze mit einer chinesischen Stehlampe daneben. Auf dem Boden neben der Matratze lagen Zeitschriften – Rolling Stone, Vogue, Yoga for U – und Bücher von Elizabeth Gilbert, Carrie Fisher, Grady Tripp und Margaret Atwood. In einem alten Reisekoffer, der aufgeklappt war, stand das uralte pechschwarze Telefon mit der geringelten Schnur.
»Das Ding ist grässlich«, pflegte Dana zu sagen. »So was von hässlich.«
»Es ist alt.«
»Das ist nicht mal vintage.«
»Du musst es ja nicht anfassen«, antwortete Faye dann.
Dana mochte es, sie mit ihrem Hang zu wirklich alten Dingen aufzuziehen. Dana mochte neue Sachen. Moderne Smartphones, Möbel mit schönem Design, sogar in der Küche legte sie Wert auf exklusives Design. Faye war da anders.
»Genau wie dein alter Drahtesel«, war das Nächste, was Dana öfter bemängelte.
»Ich mag dieses Rad«, war Fayes Meinung dazu.
»Es sieht einfach nicht sicher aus.«
»Es ist meins. Ich liebe es.«
»Nach dem ersten Unfall wirst du anders darüber denken.«
»Bisher ist alles gut gegangen.«
»Ich bin deine Freundin, ich bin nur besorgt.«
»Wofür ich dir unendlich dankbar bin.«
Ihr Fahrrad hatte Rostflecken, war schon uralt, fuhr aber noch einwandfrei und war so wunderbar nicht perfekt. Es stand neben der Eingangstür, und Faye musste es fast jeden Tag ein Stockwerk nach unten tragen. Außerdem hatte sie es eigenhändig lackiert: wie die Couch war auch das Fahrrad nun knallrot, wenn auch in einem etwas anderen Knallrot gestrichen und überall weiß gesprenkelt.
»Du und deine Punkte«, hatte Fayes Vater immer gesagt.
Und ihre Mutter hatte bemerkt: »Du bist seltsam.«
Faye indes hatte schon als Kind geahnt: »Punkte machen das Leben schöner.«
Im Gegensatz zu ihrer alten Familie in Minnesota hatte Dana schnell erkannt: »Die Punkte, das bist du.«
»Ja«, hatte Faye erwidert, »alle auf einmal.«
Sie lächelte still.
Es half alles nichts. »Los geht’s!«
Faye zwinkerte der gepunkteten Couch zu und machte sich fertig für den Tag. Bevor sie die Wohnung verließ, betrachtete sie sich in dem großen Spiegel, der neben der Tür an die Wand gelehnt stand. Sie war nicht so hübsch, dass die Männer sich auf der Straße reihenweise nach ihr umdrehten, aber auch nicht so unscheinbar, dass sie gar keinen Eindruck hinterließ. Sie war irgendwie irgendwer irgendwo dazwischen. Wie eine leise Melodie, die man nur im Vorbeigehen hört, fast unbewusst, und deren unbeschwerter Klang einem nicht mehr aus dem Kopf geht.
»Ein neuer Tag«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild und lächelte. Das war ihr kleines Ritual.
»Zeige jedem neuen Tag ein neues Lächeln!« Das hatte ihr Arbeitgeber ihr geraten.
Fernöstliche Weisheiten, ha!
»Es funktioniert wirklich«, sagte sie zu dem Spiegelbild und lächelte, und das Spiegelbild lächelte sonnig zurück.
Dann nahm sie die Umhängetasche, suchte kurz, wie eigentlich immer, den Schlüsselbund – diesmal fand sie ihn in einem der Grünpflanzentöpfe und hatte wirklich nicht den leisesten Schimmer, wie er dorthin gekommen war –, prüfte sich ein letztes Mal im Spiegel, suchte noch den Geldbeutel – der lag auf dem Waschbecken im Bad, warum auch immer –, schaute erneut in den Spiegel, zum wirklich allerletzten Mal, und verließ die Wohnung, ohne die Tür abzuschließen, um im Notfall auch ohne Schlüssel wieder hineinzukommen.
Der Tag konnte beginnen.
Draußen schien die Sonne, und entsprechend beschwingt fühlte sich Faye. Ian Hedges und der Anruf waren bereits vergessen.
Brooklyn am Morgen war wie ein Lied, das gerade erst begonnen hatte. Alles war noch langsam. Die Menschen hatten noch die vagen Träume der Nacht in den Augen und versuchten, die septemberliche Wirklichkeit zu packen, indem sie selbige durch den duftenden Dampf aus Pappbechern betrachteten. Das Licht machte aus allem eine Fotografie wie aus den frühen Siebzigern, und das Gefühl, sich an einem Ort zu befinden, der so weit entfernt vom hektischen New York der Postkarten und Fernsehsendungen war, wie es nur ging, umgab jede einzelne Bewegung wie eine sanfte Farbe.
Faye hatte spontan beschlossen, zu Fuß zur Arbeit zu gehen. Sie würde ein wenig länger brauchen, könnte sich aber unterwegs eine Pause beim Zeitungsstand in der Joralemon Street gönnen und die Schlagzeilen des Tages überfliegen, denn sie hasste es, schon am Morgen den Laptop einzuschalten und zu surfen. Außerdem mochte sie den Geruch des Zeitungspapiers, das Rascheln und die Druckerschwärze an ihren Fingern.
Der kleine Buchladen namens Real Books, in dem sie tagsüber arbeitete, lag gleich an der Ecke Court Street und State Street, keine zehn Minuten von ihrer Wohnung entfernt, wenn man schlenderte. Wie jeden Morgen, wenn sie diesen Weg entlangging oder -radelte, so kam es ihr auch heute vor wie ein Geschenk, das alles tun zu können. Sie dachte an die vielen anderen Jobs, die sie gehabt hatte. Keiner davon war wirklich prickelnd gewesen, doch dann hatte der Zufall zugeschlagen wie in einem Film.
Vor zwei Jahren hatte Faye einen Yogaworkshop besucht. Auf Anraten von Dana, natürlich, denn damals war Yoga der neue Trend gewesen. Dort hatte sie Mica Sagong kennengelernt. Mica, der, wie sie später herausfand, auch selbst Yogakurse gab, belegte gewöhnlich die Matte neben ihr, war einen Kopf größer als sie, ein großer Koreaner, und sah aus wie der Held in einem Kung-Fu-Film. Er hatte schwarzes, sauber geschnittenes Haar und einen Körper, der nur aus Muskeln bestand. Er trug immer Schwarz, seine Haltung war perfekt, aufrecht, kraftvoll, die Bewegungen anmutig, und er schien so sehr in sich zu ruhen, dass er wirklich nichts von dem Getuschel der anderen Kursteilnehmer mitbekam, angefangen bei Äußerungen wie »Der redet mit keinem« und »Komischer Typ« bis hin zu boshaften Unterstellungen.
Das mit dem Reden konnte Faye bestätigen. Anfangs sagte er kein Wort, war vollends konzentriert. Doch dann, im dritten Kurs, sprach er Faye an. »Du stehst falsch.«
Sie schenkte ihm ein Lächeln und sagte: »Namaste.«
Er schüttelte den Kopf und wiederholte: »Du stehst falsch.«
Faye, die es sich gerade auf der Matte bequem machen wollte, verteidigte sich: »Wir haben noch gar nicht angefangen.«
»Nein, nein, du stehst auf der falschen Seite.« Seine Stimme klang weich und sanft und irgendwie beruhigend.
Dennoch hatte sie keine Ahnung, was er meinte.
»Beim letzten Mal standest du rechts von mir«, erklärte er geduldig.
»Und?«
»Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn du links von mir stehst. Du stehst immer rechts von mir. Es hat mit der Ordnung der Dinge und dem Gleichgewicht zu tun.« Dann bat er sie höflich, doch, wenn möglich, die Matte zu seiner Rechten zu belegen. »Ich kann natürlich auch die Matte neben dir nehmen.«
»Kein Problem.« Faye wechselte die Matte.
»Namaste«, sagte der Koreaner und grinste.
Nach dem Kurs lud er sie auf einen Tee ein.
»Ich bin Faye Archer.«
»Mica Sagong«, stellte er sich vor.
Sie tranken Ingwertee in einem Imbiss namens TanDa Two an der Flatbush Avenue, benannt nach dem vietnamesischen Dichter, wie das gleichnamige und bekanntere Restaurant an der Park Avenue. Faye redete, und Mica hörte zu, wobei ihr nicht auffiel, dass sie diejenige war, die viel redete.
»Du kannst das gut.« Ihr Kompliment bezog sich auf das Yoga.
»Ich weiß«, sagte er sachlich.
Dann erfuhr sie, dass er ein richtiger Shaolin war. Ein Shaolin aus New York, der seine Vorliebe für amerikanische Literatur pflegte und die Comics von Marvel und DC liebte. Insbesondere eine hübsche Superheldin im sexy Outfit namens Onyx hatte es ihm angetan.
»Sie hat der grausamen Gewalt in der Welt entsagt und ist einem Ashram-Tempel beigetreten«, erklärte er und beschrieb diese Heldin ausführlich.
»Oh«, sagte Faye, beeindruckt und unwissend.
»Auch Green Arrow hat in diesem Tempel gelebt.«
Faye lächelte höflich. Sie kannte sich mit Superhelden nicht gut aus.
»Magst du Comics?«, fragte Mica geradeheraus.
»Ich lese eigentlich gar keine Comics.«
»Du kannst es lernen«, war seine Antwort.
Faye nickte.
Mica trank seinen Tee und schaute sie an. Ruhig und fast wie ein Therapeut. »Ich habe einen Job für dich.« Er sagte das mit einer Bestimmtheit, die keinen Zweifel daran ließ, dass sie den Job auch wirklich haben wollte.
Bis dahin war sich Faye noch nicht einmal sicher gewesen, dass sie sich auf der Suche nach einem neuen Job befand. Das sagte sie auch.
»Nicht immer wissen wir, was wir wollen«, erwiderte Mica nur.
Gutes Argument!
Sein einziger Angestellter hatte gekündigt.
»Ich habe das Sortiment um Comics erweitert«, erklärte Mica, »und es gab Meinungsverschiedenheiten.«
Faye sagte: »Okay.«
Mica nickte und sagte ebenfalls: »Okay!«
So kam es, dass Faye Archer an diesem Abend spontan Buchhändlerin wurde. Bei dem vermutlich einzigen Buchhändler in Brooklyn, der neben Marvel- und DC-Comics auch noch Chau-Buddhismus, Kung Fu, Yoga und Tai-Chi wichtig nahm.
»Bei mir gibt es nur richtige Bücher«, erklärte er ihr. »Nur Papier.« Er war für Anfang vierzig erstaunlich altmodisch. »Richtige Bücher bestehen nicht aus Bits und Bytes.«
Damit konnte Faye gut leben. Richtige Bücher sind eben aus Papier, richtige Musik wird mit richtigen Instrumenten gemacht.
»Okay«, sagte sie noch mal, und bereits am nächsten Tag kündigte sie den Job als Kassiererin im Macy’s. Kurz darauf fand sie eine neue Wohnung in Brooklyn Heights, mit Unterstützung von Mica, der eine Kundin hatte, die jemanden kannte, der von jemandem gehört hatte, dessen Eltern schon bald eine Wohnung vermieten wollten. So lief das in den meisten Fällen.
Gleich an ihrem ersten Arbeitstag gab Mica ihr dann einen X-Men-Comic. »Für die Mittagspause!«
Sie las den Comic.
»Ich glaube, ich mag andere Bücher lieber.«
»Es ist gut, wenn man ehrlich ist«, stellte Mica fest.
Seitdem hatte er nie wieder versucht, ihr einen Comic aufzudrängen. Ihrerseits begab sie sich selten in die Comic-Ecke des Ladens.
»Bücher haben eine Seele«, pflegte Mica Sagong zu sagen. »Keiner muss die Seele eines Buches suchen. Die Seele des Buches findet den Leser. Das tut sie immer.«
Faye lächelte bei dem Gedanken an ihre ersten Stunden im Real Books. Sie konnte verstehen, dass die anderen Frauen in dem Yogakurs Abstand zu Mica gesucht hatten. Er sah teuflisch gut aus und war einfach zu verschroben, um keine Gerüchte zu provozieren.
»Wie findest du ihn?«, hatte Faye ihre Freundin gefragt, nachdem diese sie im Laden besucht hatte.
»Er ist schräg«, war Danas Meinung gewesen.
»Interessant?«, hatte Faye sie geködert.
»Nicht für mich.«
»Schade.«
Damit war das erledigt gewesen.
Ich arbeite bei einem schrägen Shaolin-Koreaner, der Comics und Bücher mag.
Das Leben selbst konnte manchmal schräg sein. Und das war gut, so jedenfalls sah es Faye Archer.
Als sie an diesem Morgen dort ankam, im Real Books, war noch kein Kunde im Laden. Alles war ruhig.
»Du siehst müde aus«, begrüßte Mica sie. Er trug Schwarz, wie immer, und las die New York Times.
»Ich habe noch komponiert.«
»Ein trauriges Lied?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ein lustiges Lied. Klingt wie ein Seemannslied, irgendwie.« Sie dachte an den gut aussehenden Matrosen, der ihr damals, als sie vierzehn gewesen war, zugezwinkert hatte.
»Du und deine Seeleute.«
Sie grinste. »Du vergisst wirklich nie eine Geschichte.«
»Ich bin umgeben von Geschichten«, antwortete er. »Ich lebe mitten unter ihnen.«
Faye wusste, was er meinte.
Der Buchladen war eine Mischung aus Antiquariat und normaler Buchhandlung. Die Pflanzen, die grün und saftig mit allen möglichen Blätterformen bis unter die Decke wucherten, erweckten den Eindruck, man befände sich in einer Gärtnerei. Es roch milde nach würzigen Räucherstäbchen.
In den Regalen, an denen Efeu emporrankte – eine von Micas seltsamen Ideen –, standen die Taschenbuchausgaben der aktuellen Romane, eine Ecke weiter die Hardcover. In massiven Holzkisten, wie sie früher auf Schiffen verwendet wurden, die gebrauchten Bücher. Man konnte bequem durch den Laden schlendern und sich alles in Ruhe anschauen. Bunte Teppiche mit orientalischen Mustern bedeckten den Boden; an den freien Wänden hingen leuchtende Tücher, die zu den Räucherstäbchen passten.
Es gab eine gemütliche Ecke weiter hinten im Laden, in der ein runder Tisch mit kunstvollem Steinmosaik und passenden Stahlstühlen stand. Auf einem Regal befand sich ein Kaffeeautomat.
Die Lampen an der Decke verströmten warmes Licht. Ein kleiner Brunnen, in dem Wasserschildkröten schwammen, plätscherte in der Stille. Eine enge Wendeltreppe aus Stahl führte nach oben, wo weitere Kisten mit alten Büchern herumstanden, darüber hinaus zwei Liegestühle, in denen man schmökernd einschlafen konnte, wenn man wollte, und ein paar Korbstühle, die meistens von den beiden Katzen, Titus und Tatz, besetzt waren – Mica mochte die Bücher von S. F. Said.
»Mr. Chance hat wieder eine Ladung vorbeigebracht.« Mica deutete nach hinten, ins Büro. Eigentlich war es nur ein weiterer Raum mit einem Schreibtisch und einem Laptop. Mica hielt zwar nicht das Geringste von elektronischen Büchern, gegen einen Laptop aber hatte er nichts einzuwenden.
Faye sah, dass zwei große Umzugskisten auf dem Boden standen.
»Das sind ganz schön viele.«
»Und dazu fast neuwertig.«
»Wie immer.«
Mr. Chance aus Cobble Hill brachte etwa alle drei Wochen eine Kiste oder auch, wie heute, gleich zwei mit jüngst gelesenen Büchern vorbei. Ausnahmslos waren es Hardcover, samt und sonders in allerbestem Zustand.
»Er nimmt die Schutzumschläge ab, wenn er sie liest«, sagte Mica.
»Weiser Mann«, antwortete Faye.
»Ich bin zu alt, um sie ein zweites Mal zu lesen«, hatte Mr. Chance einmal erklärt. Er rauchte Zigaretten der Marke Schimmelpenninck und sah immer aus, als habe er nächtelang nicht geschlafen, was, betrachtete man die Bücher in den Kisten, wohl auch so war.
»Übernimmst du das?«
»Ist gut.« Faye zog sich nach hinten zurück. Ein dünner Vorhang trennte das Büro vom Laden. Dort konnte sie in Ruhe die Bücher auspacken.
Sie notierte jeden Titel in einer Liste in einem schwarzen Notizbuch. Mica führte Bücher, keine Dateien. Den Laptop nutzte er zum Surfen und zur Pflege seiner privaten Shaolin- und Yoga-Homepage. Sie machte sich einen Tee und besah sich die Romane, die Mr. Chance in den letzten beiden Wochen gelesen hatte: E. O. Wilson, Joseph Roth, Nicholas Christopher, Siri Hustvedt, Ethan Canin, Mark Helprin, Glen David Gold, Richard Ford, Edgar Rice Burroughs, Cormac McCarthy. Sie ordnete die Romane nach den Autoren und stapelte sie ordentlich auf dem Schreibtisch. Gedankenverloren trank sie ihren Tee, träumte sich durch die Geschichten und Welten, die sie da stapelte, und dachte an den Songtext, den sie am Vorabend begonnen hatte. In der Tat hörte er sich an wie ein altes Seemannslied, aber er war irgendwie beschwingt. Dafür, dass er von Abschied handelte, war er wirklich äußerst beschwingt.
Vorn betrat derweil ein Kunde den Laden. Sie hörte es an dem Bimmeln der Türglocke.
Das war der Moment, der diesen Tag zu etwas Besonderem machte.
In dem Moment, als sich ihr Leben änderte, ahnte Faye natürlich nicht, dass dies der Moment war, in dem sich ihr Leben änderte. Es war nur ein weiterer Moment, so gewöhnlich wie die Staubkörner, die im Licht tanzten. Faye begutachtete die Bücher auf dem Schreibtisch, und vorn, im Laden, sprach Mica mit einem Kunden. Nichts an diesem speziellen Moment war ungewöhnlich oder gar außergewöhnlich.
Zugleich aber spürte Faye, dass dieser Augenblick irgendwie anders war. Anders als gewöhnlich. In einem Kinofilm hätte jeder Zuschauer gewusst, dass jetzt etwas passierte. Etwas, was wichtig war. Schon allein die Filmmusik hätte darauf hingewiesen. Faye Archer aber lebte in keinem Film, und so ahnte sie, sah man von einem komischen Gefühl ab, nichts von alledem.
Letzten Endes lag es an der Stimme des jungen Mannes. Sie hörte diese Stimme, und alles in ihr wurde wach. Es fühlte sich so an, als würde sie aus einem tiefen Schlaf aufwachen, ruckartig und unverhofft, ohne zu wissen, was los war, einfach nur so, mit pochendem Herzen und einem komischen Gefühl überall.
»Eine schöne Ausgabe«, hörte sie Mica Sagong sagen. »Wirklich. Einzig der Einband ist ein wenig beschädigt, aber das macht die Seele des Buchs aus.«
»Ja.«
»Und, nicht zu vergessen, eine schöne Geschichte.«
»Manche Geschichten«, sagte der junge Mann, »sind wie Melodien.«
Faye Archer fühlte sich mit einem Mal so rot mit weißen Punkten wie lange nicht mehr.
Manche Geschichten sind wie Melodien.
Wie ging dieser Satz weiter? Und wo hatte sie ihn schon mal gehört? War das möglich? Konnte es sein, dass sie diesen kleinen Satz schon einmal gehört hatte? Und, wenn ja, wann? Und wo? Und wer hatte ihn gesagt? Meine Güte, sie war ganz durcheinander und wusste nicht einmal, warum. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals.
Manche Geschichten sind wie Melodien.
Irgendwie hatte er sich traurig angehört, als er das sagte. Aber das bildete sie sich womöglich ein.
Faye ging vorsichtig zum Vorhang, zog ihn ein wenig beiseite und lugte hindurch. Der junge Mann hatte sich gerade verabschiedet. Sie sah ihn nur von hinten. Er trug einen Anzug und eine Umhängetasche aus grauem Stoff. Mit dem Bimmeln der Türglocke verließ er den Laden.
Mist!
Faye sah ihm nach und sammelte Schnappschüsse: braunes Haar, verwuschelt, ein Dreitagebart, den konnte sie erkennen. Wer immer er war, er schaukelte beim Gehen, als sei er auf See. Oder zumindest dachte sie sich, dass es so sein könnte.
Erst als er fort war, traute sie sich in den Laden.
»Wer war das?«
Mica musterte sie, als habe er sie noch nie zuvor gesehen. »Ein Kunde?«
Okay! »Was hat er gekauft?«
»Ist das wichtig?« Manchmal hatte Mica Sagong diese Angewohnheit, Dinge zu sagen, die einen tierisch auf die Palme bringen konnten. Er sagte sie mit einer Seelenruhe, die schon fast meditativ war.
»Ich bin einfach neugierig.«
»Du bist sonst nie neugierig.«
»Jetzt schon.« Sie schaute zur Tür.
»Das sehe ich.«
Sie wurde ungeduldig. »Sag schon!«
»Er hat sich Frühstück bei Tiffany gekauft. Eine alte Ausgabe aus den späten Siebzigern.«
Faye nickte nur. Sie kannte den Film, nicht aber das Buch. Den Film mochte sie. Vor allem die Musik.
»Du bist wirklich neugierig«, stellte Mica Sagong fest.
Faye erwiderte nur: »Oh, Mann!«
Ohne Mica weiter zu beachten, lief sie nach draußen auf die Straße und suchte sie mit den Augen ab. Der junge Mann war inzwischen auf der anderen Straßenseite, wo ein Motorroller stand. Bevor Faye mehr von ihm sehen konnte, hatte er sich einen Helm samt Sonnenbrille aufgesetzt. Er startete den Roller, dann fuhr er fort. Und das war auch schon alles.
Faye seufzte.
Manche Geschichten sind wie Melodien.
Sie holte tief Luft. »Was war das denn?«, wunderte sie sich. Sie ärgerte sich, weil er fort war. Sie hätte ihn ansprechen sollen. Meine Güte, darüber würde sie ein Lied schreiben können.
Und dann?
Manche Geschichten sind wie Melodien!
Das Gefühl, dass dieser Fremde etwas gesagt hatte, was eigentlich ihr gehörte, war … so verwirrend.
Sie ging in den Laden zurück. Die Knie zitterten ihr.
»Du siehst aus, als würdest du dein Gleichgewicht suchen.«
»Warum musst du immer so reden, als wäre das hier ein Esoterikladen? Du führst dich auf wie ein Lehrer.«
»Wir sind alle Lehrer. Und alle sind wir Schüler.«
Sie verdrehte die Augen. »Du bist nicht mein Lehrer«, sagte sie.
»Wenn du das Gefühl hast, ich bin wie ein Lehrer«, sagte er mit seiner ruhigen, leisen Stimme, »dann bin ich vielleicht der Lehrer, den du gerade jetzt brauchst.«
Sie seufzte. Er konnte sie mit so was zur Weißglut treiben, das wusste er ganz genau, und er hatte höllischen Spaß daran, das wusste sie ebenfalls. Man konnte es in seinen Augen erkennen.
Dann sah sie das Notizbuch. Es lag neben der Kasse. Vorhin hatte dort kein Notizbuch gelegen. »Was ist das?«
Bevor Mica etwas erwidern konnte, war sie schon bei dem Notizbuch und schlug es auf.
»Das ist seins«, sagte Mica. »Er hat es wohl vergessen.«
Faye schaute ihn an.
»Vielleicht kommt er zurück«, meinte Mica, »du musst nur warten.«
Faye zog eine Grimasse und blätterte flink und neugierig darin herum. Die Seiten waren dick, gutes Papier.
»Es ist unhöflich, das zu tun.«
»Und? Dann ist es eben unhöflich«, sagte sie schnell. Sie fühlte sich nicht unhöflich.
Sie fühlte sich …
Kitschig, kam es ihr in den Sinn. Sie fühlte sich irgendwie kindisch und sentimental. Ja, genau so.
Das Notizbuch jedenfalls war randvoll mit Zeichnungen, Skizzen. Gesichter, Momente, Szenen, alle schattenhaft mit Bleistift zu Papier gebracht. Die meisten unfertig. Fast sahen sie aus wie die Comics, die Mica so mochte, nur realer. Sie sahen aus wie Entwürfe zu einem Comic.
»Er kann zeichnen«, stellte Mica fest.
»Ach, ja?«
Faye fielen spontan mindestens zwei neue Lieder dazu ein. Die Texte zu den Melodien würde sie erst noch schreiben müssen, aber alles andere nicht. Das eine war ein Tango, ganz klar, das andere ein Bossa nova, beide in Schwarz-Weiß, nur Klavier, sonst nichts, so wie die Zeichnungen.
»Vielleicht steht da eine Adresse drin.« Mica beugte sich vor. Er war immer neugierig.
Faye blätterte weiter. Sie erkannte Häuser mit Treppen, Bäume, Zäune. »Das ist Brooklyn.«
Mica schwieg.
Faye blätterte schneller.
»Nur ein Name.« Ganz klein gekritzelt, unter einer der Zeichnungen. »Alex Hobdon.« Aber keine Adresse.
Mica machte nur: »Hm!«
Faye beachtete ihn nicht.
»Alex Hobdon.« Sie sprach den Namen langsam aus, als beinhaltete er eine Magie, die sie sich nicht entgehen lassen wollte.
Mica Sagong betrachtete sie dabei prüfend und merkte an: »Faye Archer, du hast diesen seltsamen Blick!«
Sie fühlte sich ertappt und hatte das Gefühl, rot zu werden.
»Blödsinn.«
Mica Sagong sah sie nur an. »Blödsinn?«
Nun war Faye sich sicher, tiefrot zu sein. »Doofer Shaolin«, sagte sie gespielt wütend, pustete ihm dann aber einen Kuss zu und lächelte dabei, weil Lächeln oft hilft.
»Ignorante Künstlerin«, sagte er und lächelte ebenfalls.
Damit war das Gespräch erst einmal beendet. Faye wusste, dass Mica später darauf zurückkommen würde, aber jetzt noch nicht. Und das war gut so.
Auf dem Nachhauseweg machte sie noch schnell im Supermarkt am Sidney Place halt und kaufte das Nötigste ein: jede Menge Obst, zwei Flaschen Rotwein, Erdnüsse, Frischkäse, Toast und Milch. Langsam schlenderte sie heimwärts, und die Luft roch noch immer nach Sommer. Kinder saßen auf den Treppen vor den Häusern, eine dicke Katze hockte auf einem Hydranten und sah sie aus schmalen Augen an, eine Frau warf ihr abfällige Blicke zu – alles wie immer.
Faye ertappte sich dabei, auf der Straße nach dem Motorroller Ausschau zu halten.
Kitschig!
Sie hatte diesen Mann nur wenige Augenblicke gesehen. Geredet hatte sie schon gar nicht mit ihm. Trotzdem! Am liebsten wäre sie laut singend durch die Straßen gerannt, einfach nur, weil sie einem Menschen über den Weg gelaufen war, der, davon war sie überzeugt, etwas Besonderes war. Nun ja, den sie kennenlernen wollte. Das traf es wohl schon eher. Sie flüsterte heimlich seinen Namen in den Sommerwind und dachte an seine Augen, die sie gar nicht gesehen hatte, und den Motorroller und daran, wie er auf dem Motorroller im Verkehr verschwunden war.
Am Abend schaltete sie den Laptop ein. Sie googelte den Namen – Alex Hobdon – und fand ihn bei Facebook. Genau genommen, fand sie mehrere Personen des gleichen Namens, aber nur eine dieser Personen hatte einen gezeichneten Motorroller als Profilbild, also klickte sie dieses Profil an. Sie öffnete eine Flasche Rotwein, setzte sich auf die Couch, den Laptop auf dem Schoß, und überlegte, was sie jetzt tun sollte. Ihm schreiben, na klar, was sonst! Aber was? Ihr fiel nichts ein.
Sie trank das Glas Rotwein leer, nicht hastig, aber auch nicht zu langsam. Als sie die Wirkung spürte, ging sie zum Klavier und klimperte ein wenig darauf herum. Ihr nächster Auftritt war erst in zwei Wochen, drüben in der Cushion Factory, und bis dahin, das hatte sie sich vorgenommen, wollte sie noch mindestens zwei neue Lieder fertig haben.
Sie seufzte.
Ging zum Laptop zurück. Sie lehnte sich zurück, nahm noch einen Schluck Rotwein.
»Schreib es einfach hin und dann weg damit«, flüsterte sie und fühlte sich ein wenig heiser dabei – und schon begannen ihre Finger zu tippen.
Holly_Go!
Hallo! Vielleicht sind Sie der Alex Hobdon, der sich heute ein Buch gekauft hat? Das klingt bescheuert, tut mir leid. Aber Sie haben im REAL BOOKS in Brooklyn Heights heute ein Notizbuch vergessen, wenn Sie der Alex Hobdon sind, den ich meine. Es sind schöne Zeichnungen darin. Liebe Grüße, Holly_Go!
Alex Hobdon
Hallo, Holly_Go! Vielen Dank für die Nachricht. Bin ich wirklich so einfach zu finden? Ich vergesse ständig irgendwo meine Notizbücher! Eine dumme Angewohnheit. Eigentlich heißen sie ja Skizzenbücher, aber ich finde Notizbuch treffender. Wann und wo kann ich es denn abholen? Schnelle Grüße, Alex
Holly_Go!
Mr. Hobdon, das Notizbuch wartet im Laden auf Sie. Entweder Sie treffen mich dort an oder Mica Sagong, den Inhaber. Er weiß Bescheid.
Alex Hobdon
Ich bin Alex. Mr. Hobdon klingt so förmlich.
Holly_Go!
Ich bin Holly.
Alex Hobdon
Hallo, Holly. Wirklich ein verrückter Zufall, ich habe mir heute den Roman von Truman Capote gekauft. Hat Holly_Go! etwas mit der Holly aus dem Roman zu tun? Dein Profilbild sieht aus wie das berühmte Foto von Audrey Hepburn.
Holly_Go!
Ich mache Musik. Altes Zeug, Chansons, in kleinen Clubs. Wenn ich Musik mache, bin ich Holly_Go! Deswegen auch das Foto.
Alex Hobdon
Wir könnten chatten, das geht schneller und verkürzt die Wartezeiten.
Holly_Go!
Ich chatte nie.
Alex Hobdon
Ich bin müde. Es ist schon ziemlich spät. Du lässt dir wirklich viel Zeit mit deinen Antworten. Ich komme morgen im Laden vorbei und schnappe mir das Notizbuch. Vielleicht sehen wir uns ja. Bis dahin. Gute Nacht.
Holly_Go!
Gute Nacht, Alex.
Faye atmete tief durch. Sie schaltete zuerst den Laptop aus, dann die Lampen in ihrer Wohnung. Allein die Straßenlaternen ließen jetzt Licht an der hohen Decke tanzen. Draußen war die Nacht noch immer voller Geräusche: ferne Sirenen, Stimmen, Musik, Autos, Menschen. Diese Stadt, das wusste Faye, schlief nie, und der Himmel über ihr war niemals ganz dunkel.