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Am nächsten Morgen war Caitlin überrascht und erleichtert, ihre Tante schon in der Küche zu finden. Ein Radiomoderator verkündete gerade das Wetter, und im Hintergrund sang Bruce Springsteen irgendetwas über den Geist von Tom Joad. Caitlin umarmte ihre Tante und küsste sie auf die Wange. »Guten Morgen. Ich dachte, du lässt es ruhiger angehen, schläfst dich aus …«
Birdie hatte sich die struppigen Locken mit einer Spange am Hinterkopf festgesteckt und trug ein knöchellanges Sommerkleid. Das Hellblau ließ sie noch blasser wirken, und Cait fragte sich, wie schlimm es wirklich um sie stand. »Willst du dich nicht setzen? Ich mache gern Frühstück.«
»Das Wasser kocht gleich. Brot ist dort im Kasten, Butter und Marmelade stehen im Kühlschrank. Ja, vielleicht setze ich mich und nehme meine Pillen.« Birdie sank auf einen Küchenstuhl und griff nach einer der Tablettenschachteln, die auf dem Tisch lagen.
»Blau, gelb, grün … verdammte Chemie!«, murrte sie, spülte aber eine Tablette mit einem Schluck Wasser hinunter.
»Manchmal ist sie hilfreich.« Cait deckte den Tisch und goss eine Kanne Tee auf.
»Hmm, Penelope ist gefüttert. Ich stelle ihr immer eine volle Schüssel hin, bevor ich weggehe. Wenn ich Waren mitnehmen muss, fahre ich natürlich. Der Parkausweis liegt im Auto. Heute brauchen wir …«, erklärte Birdie, wurde jedoch von Caitlin unterbrochen.
»Wir sollen ja wohl heute nicht den Laden öffnen?« Caitlin ließ lautstark ihr Messer fallen.
»Nur für ein oder zwei Stunden. Ich muss dir zumindest zeigen, wie die Kasse funktioniert, oder nicht?«
Caitlin nahm das Brot aus dem Toaster und legte die ersten beiden Scheiben auf den Teller ihrer Tante. »Wir haben auch eine Kasse in unserem Geschäft. Ich möchte nur nicht, dass du dich zu sehr anstrengst. Hast du denn keine Aushilfe, die dir zumindest das Auspacken abnimmt?«
»Phoebe kommt an vier Nachmittagen in der Woche, aber ich schließe auf, das habe ich immer getan.« Energisch strich sich Birdie Butter auf ihren Toast.
»Töpferst du noch selbst?« Der Schuppen im Garten diente ihrer Tante seit jeher als Töpferwerkstatt.
»Selten. Phoebe kommt manchmal her und arbeitet eigene Entwürfe aus. Sie ist begabt, aber zu ungenau. Wenn die Mischung nicht stimmt, zerplatzen die Sachen beim Brennen, und das wird auf die Dauer teuer. Nein, ich verkaufe eigentlich nur noch das Porzellan von Portmeirion und den üblichen Souvenirkram eben.«
Birdie goss Milch in ihren Teebecher, der zu einer Serie gehörte, die sie vor Jahren gefertigt hatte.
»Ich mochte deine Stücke immer viel lieber als diesen Industriekram. Vielleicht hast du wieder Lust und Kraft, wenn du zurück bist. Jetzt musst du nur gesund werden, Birdie.« Sie versuchte, ihre Besorgnis zu verbergen, und schob die ungewohnte Nachdenklichkeit und Zerstreutheit ihrer Tante auf die bevorstehende Operation.
»Wenn ich wieder hier bin …«, sagte Birdie leise, griff plötzlich nach Caitlins Hand und streichelte sie sanft. »Caitlin …«
Alarmiert suchte Cait ihren Blick. Nur selten nannte ihre Tante sie bei ihrem vollen Namen, und dann ging es meist um etwas Ernstes.
»Ich habe keine Kinder, wie du weißt, und du und Jessica, ihr seid meine Familie, und …«
»Bitte nicht, Birdie!« Caitlin stand auf und drückte ihre Tante fest an sich. »Du wirst wieder ganz gesund, und dann machst du eine erholsame Reise, oder ich besuche dich für ein paar Wochen und gehe dir auf die Nerven. Hörst du?«
Mit sanfter Entschlossenheit machte sich Birdie von ihr los. »Setz dich bitte, Cait, und hör mir zu. Ich will nicht über mein Testament reden. So ein Unfug!«
Mit einem tiefen Seufzer und einer unguten Vorahnung nahm Cait ihren Platz am Tisch wieder ein.
»Aber man kann nicht wissen, wie eine Operation verläuft. Es fällt mir auch nicht leicht, aber ich finde einfach, dass du die Wahrheit über deine Eltern erfahren musst.« Hier stockte Birdie und begann, mit der Tablettenschachtel zu hantieren.
Diese Eröffnung traf Caitlin wie ein Schlag vor den Kopf. Ihr Mund wurde trocken, und ihre Knie waren so weich, dass sie nicht hätte aufstehen können. »Was? Ich meine … ich verstehe nicht!«
»Nein, wie solltest du auch. Deine Mutter war ein verschlossener Mensch. Sie … Oh, das ist verteufelt viel schwieriger, als ich gedacht hatte.« Mit fahrigen Händen versuchte Birdie, eine Schachtel zu verschließen, und stieß mit dem Ellenbogen ihren Becher um. Der Tee ergoss sich über die Tischplatte und tropfte auf Birdies Kleid. »Nein, auch das noch!«
Caitlin sprang auf, griff sich ein Küchentuch und wischte die braune Flüssigkeit auf, die zum Glück nicht mehr heiß war. »Tu mir einen Gefallen, Birdie, ja? Zieh dich um und denk nicht mehr daran. Ich bin so lange ohne die Wahrheit über meine Eltern zurechtgekommen, es macht mir nichts. Du bist immer für uns da gewesen, du bist mir wichtig, Birdie. Also, lass die alten Geschichten. Soll ich dir beim Umkleiden helfen?«
Ihre Tante quittierte diese Frage mit einem unwilligen Stirnrunzeln. »Ich bin gleich wieder da. Dann fahren wir nach Portmeirion.«
An einem sonnigen Junimorgen wie diesem gehörte Portmeirion zu den Touristenmagneten der Region. Caitlin steuerte ihren Kleinwagen die einspurige Straße entlang, welche die einzige Zufahrt auf die Halbinsel darstellte. Vor ihr zwängte sich ein Reisebus in eine Ausbuchtung, um einen entgegenkommenden Lieferwagen vorbeizulassen. Birdies Haus befand sich nur wenige Minuten von der Kreuzung entfernt, an der ein großes, farbiges Schild den Durchgang zu Sir Cloughs Verrücktheit anzeigte. Ihre Tante hatte zu den Ersten gehört, die in einem der pittoresken Häuser einen Laden hatten mieten dürfen. Anfangs hatte man ihr die selbst gefertigten Töpferwaren aus den Händen gerissen, und Birdie war mit der Produktion kaum nachgekommen. Mit der Einführung des Porzellans von Portmeirion, das eigens für das Dorf hergestellt wurde, hatte sich die Nachfrage verringert. Doch Kunsthandwerk blickte in Wales auf eine lange Tradition zurück, vor allem von den Töpfern hatten sich viele einen internationalen Ruf erarbeitet.
Caitlin war immer stolz auf ihre eigenwillige Tante gewesen, die sich ihren Weg auf eigene Faust erkämpft hatte. Solange sie Birdie kannte, hatte sie nie einen Mann an ihrer Seite gesehen und wusste auch von keiner verflossenen Liebe. Wenn Caitlin sie früher danach gefragt hatte, war Birdie ihr immer geschickt ausgewichen, und irgendwann war das Thema einfach unwichtig geworden.
Dicht belaubte Eichen, Birken und Ulmen überschatteten die Straße, die auf der Küstenseite von einer niedrigen Steinmauer begrenzt wurde. Ab und zu erhaschte man einen Blick aufs Meer, dessen aquamarinfarbenes Wasser unterhalb der Klippen zwischen den Blättern glitzerte. In ihrem neuen, ockerfarbenen Kleid sah Birdie viel besser aus, fand Caitlin und beobachtete, wie ihre Tante zwei Gärtner grüßte. Das ideale Dörfchen, das wie in Italien um eine kleine Piazza angelegt war, umgab eine ausgedehnte Parkanlage. Oberhalb der gepflegten Wanderwege war der Wald dicht und ursprünglich, doch im Zentrum sorgten Heerscharen von Landschaftspflegern und Gärtnern für eine immerwährende Blumenpracht und perfekt gestutzte Bäume und Hecken.
»Ich fahre nun schon seit zwanzig Jahren diese Straße hinunter, aber an einem Tag wie heute verstehe ich, was den Zauber von Portmeirion ausmacht«, sagte Birdie.
Sie fuhren an dem bereits überfüllten Touristenparkplatz vorbei und auf ein rosafarbenes Tor mit Schranke zu, durch die sie ein älterer Herr im Anzug winkte. »Guten Morgen, Mrs Bennett.«
»Wie geht es Ihnen heute, Mr Jones?«
»Ganz hervorragend, wie könnte es anders sein, bei diesem Wetter.« Der weißhaarige Herr, den Caitlin von vielen Besuchen kannte, blinzelte ihr zu. »Das ist aber schön, dass Sie Ihre Tante besuchen, Mrs Turner. Kommen Sie nachher ins Café, Ellie hat ihren Lemoncake gebacken.«
»Danke, das klingt verlockend!« Vorsichtig lenkte Caitlin den Wagen an einer Familie mit kleinen Kindern vorbei, die über die Straße zur Piazza mit den Brunnen wollten.
»Wir parken da vorn. Siehst du die blaue Hortensie unter der Palme? Gleich dahinter rechts«, dirigierte Birdie ihre Nichte auf ihren Stellplatz.
Es entging Caitlin nicht, dass es Birdie anstrengte, aus dem Wagen zu steigen, und sie nahm sich vor, ihre Tante so schnell wie möglich wieder nach Hause zu bringen. Zu Birdies Laden gelangte man durch eine der Loggien, die sich rings um die Piazza aneinanderreihten. Bizarre Skulpturen, Rosenspaliere und exotische Pflanzen schmückten die Gartenanlage um die Piazza. An den Hängen hatte der Architekt seine Vorstellungen von toskanischen Landhäusern, einem Campanile, römischen Kolonnaden und sogar einem Kuppelgebäude nach Vorbild des Pantheon verwirklicht. Kein Wunder, dass die Touristen ohne Unterlass ihre Kameras zückten. »Die Instandhaltung von all dem hier verschlingt doch sicher Unsummen?«
Birdie nickte. »Das Hotel ist zwar gut ausgebucht, aber sie müssen eine Menge in Events und Werbung investieren, um klarzukommen. Demnächst soll hier sogar ein Rockkonzert stattfinden …«
»Das klingt verzweifelt«, meinte Caitlin und trat mit ihrer Tante durch einen der vielen Rundbögen, hinter denen sich die Läden befanden.
»Arts & Crafts« stand auf dem Schild über der Tür. Der Laden nebenan hatte bereits geöffnet, und eine junge Frau schob gelangweilt Ständer mit Postkarten nach draußen. Sie brachte einen kaum hörbaren Gruß über die gepiercten Lippen und fluchte, als sie sich einen pinkfarbenen Fingernagel anstieß.
»Hallo, Lexi, das ist meine Nichte, Caitlin Turner. Sie wird mich für einige Tage vertreten«, erklärte Birdie freundlich. Sie schien sich nichts aus der übellaunigen Miene der Verkäuferin zu machen.
Lexi richtete ihre Aufmerksamkeit von ihrem Fingernagel auf Cait, taxierte sie kurz und sagte mit leichtem Lispeln: »Willst du für länger herkommen? Würde ich mir überlegen. Ist total langweilig hier, nur Touris, die Souvenirs wollen, und die Gören reißen alles aus den Regalen, und du kannst dauernd hinter ihnen herwischen.«
»Äh, nein, ich helfe nur aus. Ich lebe in Chester«, sagte Cait vorsichtig.
Die mit Kajal umrandeten Augen der Verkäuferin leuchteten auf. »Chester! Immerhin, besser als dieser öde Flecken hier. Aber ich hab’s vermasselt … Zu früh schwanger, falscher Mann …«
»Tja dann, wir sehen uns ja morgen. Birdie, du wolltest mir noch erklären …?« Hilfesuchend schaute Cait ihre Tante an, die bereits den Schlüssel in das Türschloss gesteckt hatte.
Eine altmodische Türglocke erklang, als die Glastür aufschwang und Cait sich Regalen voll mit buntem Porzellangeschirr gegenübersah. Einiges war sehr hübsch, aber dem Vergleich mit Birdies handgefertigten Unikaten konnten die Serienprodukte nicht standhalten. Allerdings hatten Birdies handbemalte Schalen und Vasen auch ihren Preis. Cait entdeckte Stücke, die schon seit Jahren auf einen Käufer warteten, und begriff, wie schwierig es sein musste, ausschließlich vom Verkauf eigener Stücke zu leben. Letztlich ging es ums Überleben, und da musste auch ein Künstler Kompromisse machen.
»Nimm Lexi nicht so ernst. Sie ist ganz in Ordnung, aber sie hat viel Kummer mit ihrem Mann, einem Paketausfahrer, der seinen Lohn in den Pubs durchbringt.« Birdie schaltete die Beleuchtung ein und blieb vor einer gerahmten Fotografie stehen.
Die Panoramaaufnahme zeigte einen roten Milan, der majestätisch seine Kreise über einem Bergsee zog. Der Blickwinkel war spektakulär und musste den Fotografen viel Zeit und Geduld gekostet haben.
»Wunderschön!« Cait schnalzte anerkennend mit der Zunge. »Wer hat das gemacht?«
»Jake Parry, ein Ranger aus dem Nationalpark. Er kümmert sich vor allem um die bedrohten Vogelarten. Ich habe ihn oben im Wald getroffen. Da sammelt er Eulengewölle. Wir sind ins Gespräch gekommen, und irgendwann hat er mir einige Fotografien zur Ansicht mitgebracht, weil er mein Urteil hören wollte. Er ist gut!« Birdie zeigte auf weitere Bilder, die in und zwischen den Regalen hingen und standen, und berührte mit einer Hand ihre Brust über dem Herzen.
»Birdie, setz dich, bitte«, bat Cait, doch ihre Tante atmete tief durch und fuhr fort. »Du notierst alles, was du verkaufst, in dem Buch neben der Kasse, und ab und zu kommt Jake vorbei. Dann gibst du ihm seinen Anteil. Er bekommt siebzig Prozent.«
»Das ist großzügig. Galeristen nehmen mindestens fünfzig Prozent.« So konnte ihre Tante keinen lohnenden Gewinn machen.
»Ich habe doch dadurch keine Extraarbeit. Nein, das ist schon in Ordnung.« Birdie nahm eine unregelmäßig geformte Schale in die Hand und strich liebevoll über die graublaue Glasur. »So eine ähnliche habe ich deinen Eltern zur Hochzeit geschenkt.« Leise fügte sie hinzu: »Es war nicht an mir, etwas zu sagen. Das musste sie selbst vor sich verantworten. Man sollte nicht mit einer Lüge in …« Plötzlich ließ Birdie die Schale fallen und griff sich ans Herz. Die schwere Keramikschale zersprang lautstark auf dem gefliesten Boden und übertönte Birdies gepressten Schmerzensschrei.
»Birdie! Um Himmels willen … Wen soll ich anrufen? Hast du Tabletten dabei?«, rief Caitlin aufgeregt und half ihrer Tante, sich auf einen Stuhl zu setzen.
Birdie stöhnte und atmete flach mit geschlossenen Augen, so als konzentriere sie sich. »Die blauen, in meiner … ah … Tasche.«
Ruhe bewahren, dachte Caitlin, suchte die Tabletten heraus und legte ihrer Tante eine in den Mund. Dann holte sie ein Glas Wasser, wartete, bis Birdie einen Schluck getrunken hatte, und rief den Notarzt an.
»Halte durch, Birdie, bitte, sei jetzt stark. Du schaffst das …«, murmelte Cait und legte ihrer Tante einen feuchten Lappen auf die schweißnasse Stirn. Eine schreckliche Angst kroch in ihr hoch, sie fühlte sich so hilflos wie damals, als ihr Vater gestorben war. Nicht ihre Mutter, sondern Birdie hatte die Mädchen getröstet und sich in Erklärungen versucht. Nein, dachte Cait, nicht Birdie, nicht jetzt! Ihre Zeit ist noch nicht gekommen. Sie küsste ihre Tante auf die Wangen, nahm ihre Hände und drückte sie.
»Nicht ohnmächtig werden, Birdie, der Arzt wird gleich da sein.«
»Hmm, mir ist so schwindelig.«
Es gelang Caitlin, ihre Tante bis zur Ankunft des Notarztes bei Bewusstsein zu halten. Birdies Atmung wurde gleichmäßiger, und der Arzt versicherte Caitlin, dass sie alles richtig gemacht und ihre Tante Glück gehabt hatte.
»Sie hatte einen OP-Termin in Bangor«, informierte Caitlin den Arzt, der die Sanitäter zu größter Eile anhielt.
»Dorthin fahren wir jetzt. Rufen Sie heute Abend im Ysbyty Gwynedd an. Vorher wird man Ihnen nichts sagen können. Aber machen Sie sich keine Sorgen!« Mit diesen Worten sprang der Arzt in den Rettungswagen, der sofort mit Blaulicht davonraste.
Fassungslos und mit Tränen in den Augen stand Caitlin vor dem Laden. »Ach, Birdie«, schluchzte sie.