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© 2021 Menno Visser

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

Cover: Johanna und Menno Visser

ISBN: 978-3-7557-4388-0

INHALT

ZUR EINSTIMMUNG

„Das Leben ist leidvoll." So wird eine Kernaussage von Buddha oft übersetzt. Eine angemessenere Übersetzung lautet jedoch „Das Leben läuft unrund."1 Dieses Unrund-Laufen kennt ein jeder: Wir haben eine Vorstellung davon, wie etwas zu sein hat, eine Art "Sollwert", und dann läuft es nicht so, wie wir gedacht hatten. Anstatt uns nun erst einmal mit dem zu beschäftigen, was da gerade wirklich ist, also dem "Istwert", gehen wir sofort ans Werk, um den erwünschten Sollwert zu erreichen – und leiden.

Im Zen dagegen üben wir, diesen Widerspruch zwischen Soll- und Istwert aufzuheben: Nicht, indem wir fatalistisch alles so hinnehmen, wie es ist. Sondern, indem wir über diesen Widerspruch zwischen Soll- und Istwert hinausgehen und eine weniger ichzentrierte Haltung zum Leben einnehmen. Um das zu trainieren, entwickelten die verschiedenen Zen-Traditionen in den letzten 1500 Jahren verschiedene Übungsprogramme. Ein Kernstück dabei sind die Zeiten intensiver Meditation in einer Gruppe (Japanisch: Sesshin), während derer Vorträge (Teishos) gehalten werden und dreimal täglich Einzelgespräche mit dem Zenlehrer stattfinden ("Taiwa" bzw. im Rahmen der Koan-Schulung "Dokusan"). Insgesamt eine sehr intensive Zeit, die traditionell vom Wecken um 4 Uhr bis zur Bettruhe um 23 Uhr andauert, wobei unser Geist sich auch im Schlaf mit den Koans beschäftigt. Denn diese Koans sind ein weiterer Baustein im Zen-Training. Hinweise zur Koan-Arbeit finden Sie in vielen der folgenden Teishos, insbesondere in Nr. 13, und Nr. 25.

Alle Teishos in diesem Buch sind Abschriften aus live gehaltenen Vorträgen. Um die Lebendigkeit der Teishos zu erhalten, wurden nur wenige Änderungen vorgenommen, z. B. wurden grobe grammatikalische Fehler entfernt. So ist ein guter Kompromiss zwischen den Ansprüchen an einen Lesetext und einen Vortragstext entstanden.

Dabei handelt es sich bei diesen Vorträgen nicht um wissenschaftliche Abhandlungen, sondern um eine lebendige Darstellung der buddhistischen Lehre – geboren aus dem Augenblick eines Sesshins heraus. Deshalb lassen Sie diese Teishos am besten einfach auf sich einwirken, so wie ein sanfter Regen die Erde wässert. Dieser Dharma-Regen nährt am besten, wenn Sie nicht mehr als zwei Teishos pro Tag lesen. Und lassen Sie sich nicht von den wenigen Fachbegriffen stören, die sich nicht aus dem Zusammenhang selbst erklären. Diese sind im Text unterstrichen und werden im Anhang erklärt.

Auch, wenn die Teishos in den anderen Abschnitte nicht schwierig zu verstehen sind, so empfehle ich, wenn Sie noch wenig Erfahrung mit Zen haben, mit dem Abschnitt "Zen im Alltag" zu beginnen.

Die Teishos beginnen bis auf wenige Ausnahmen mit dem Zitat eines klassischen Koan. Verwendet wurden die Koan-Sammlungen Mumonkan, Hegikanroku, Denkoroku, Eiserne Flöte und Shumon Kattoshu. Oft haben die Autoren der jeweiligen Koan-Sammlung dem eigentlichen Koan, gekennzeichnet als DER FALL, noch EINFÜHRENDE WORTE vorangestellt, oder dem Koan folgen noch KOMMENTARE oder VERSE2. Beendet wird das einleitende Koan oder Zitat immer mit dem dreifachen Klang einer GLOCKE; das Teisho selbst und auch diese Einführung endet mit dem Ausruf:

HAI!


1 "leidvoll" ist eine Übersetzung des Sanskrit-Wortes "duhkha", welches vom Wortstamm her bedeutet: ein Loch in einem Rad (also Radnabe), das nicht in der Mitte des Rades zentriert ist.

2 Gelegentlich werden EINFÜHRENDE WORTE, KOMMENTARE oder VERSE nicht aufgeführt oder gekürzt wiedergegeben, da diese sich oft auf Begriffe, Legenden oder Kulturelles aus dem alten China beziehen, was die Verständlichkeit erschweren kann.

PSYCHOLOGISCHE ASPEKTE

1. Gib dem Affen eine Banane
– buddhistische Psychologie
(Shoyoroku, Fall 72)

DER FALL:

Kyozan fragte Chuyu: „Was bedeutet eigentlich ‚Buddha-Natur‘?“ Chuyu antwortete: „Dir zur zu Liebe will ich ein Beispiel erzählen: Da ist ein Raum mit 6 Fensteröffnungen und in der Mitte des Raumes befindet sich ein Affe. Eine Person draußen ruft: ‚Affe! Affe!‘ und der Affe antwortet. In der gleichen Weise reagiert der Affe an allen 6 Fenstern, wenn er durch sie angesprochen wird.“

Kyozan darauf: „Was ist, wenn der Affe schläft?“ Chuyu verließ sein Meditationskissen, griff ihn beim Arm und sagte: „Affe! Affe! Du und ich, wir haben uns gerade getroffen!“

GLOCKE

Buddhisten reden immer wieder von der Buddha-Natur: „Ich will meine Buddha-Natur verwirklichen.“ Und tun so, als wüssten sie genau, was die Buddha-Natur ist. Ganz so klar scheint es aber doch nicht zu sein. Sonst würde es nicht so viele Koan-Geschichten darüber geben, in denen der eine Zenmönch den Anderen danach fragt. Oft ist die Antwort etwas harsch, so z. B. im Fall 34 der Koan-Sammlung "Eiserne Flöte".

Ein Mönch fragte den Zenmeister Seppo: „Sage mir, wie siehst du deine eigene Buddha-Natur?“ Als Antwort gab der Meister dem Mönch drei Stockhiebe. Das hielt den Mönch aber nicht davon ab, zu einem anderen Kloster zu pilgern und dem dortigen Zenmeister Ganto die gleiche Frage zu stellen. Und ratet mal, was die Antwort war?

Richtig, drei Hiebe mit dem Stock. Typisch, werden manche von euch sagen. Typisch martialisches Macho-Zen! Die Akteure in diesem Koan, also Kyozan und Chuyu, sind dagegen Anhänger von Marshall Rosenberg und kommen gerade von einem Seminar in gewaltfreier Kommunikation – und das in China vor 1200 Jahren.

Chuyu spricht also nicht mit Wolfssprache, sondern übt Giraffensprache, wenn er sagt: „Dir zur zu Liebe will ich ein Beispiel erzählen: Da ist ein Raum mit 6 Fensteröffnungen und in der Mitte des Raumes befindet sich ein Affe. Eine Person draußen ruft: ‚Affe! Affe!‘ und der Affe antwortet. In der gleichen Weise reagiert der Affe an allen 6 Fenstern, wenn er durch sie angesprochen wird.“

Also da gibt es einen Affen, der in einem Raum mit 6 Öffnungen lebt. Ihr könnt euch das vorstellen wie ein Ein-Zimmer-Haus mit 6 Fenstern. - Wieso genau 6 Fenster? Nun das sind die 6 Sinnesqualitäten, mit denen wir Menschen ausgestattet sind, also Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Körperempfinden. Der Sinn für das Körperempfinden umfasst dabei diverse Sinne, u. a. den Schmerz- und Tastsinn sowie das Gleichgewichtsorgan.

Wer jetzt genau aufgepasst hat, zählt nur 5 Fenster, also 5 Sinnesorgane. Das ist auch richtig, denn im westlichen Sprachgebrauch werden nur 5 Sinnesorgane unterschieden. Mit dem berühmten 6. Sinn sind ja auch nur diejenigen ausgestattet, die zu übersinnlichen Wahrnehmungen fähig sind, oder intuitiv das Richtige tun nach dem Motto: „Da hat mich mein 6. Sinn gewarnt …!“

In der buddhistischen Psychologie dagegen gibt es wirklich einen 6. Sinn, nämlich den Denksinn. Wem jetzt die Haare zu Berge stehen, weil das zu sehr nach esoterischem Unsinn klingt, dem sage ich „Warte ab!“ Denn was ist mit den anderen Konstrukten, mit denen die moderne westliche Psychologie die Funktion unseres Gehirns erklärt? Was ist mit dem Modell von Freud: Über-Ich, Ich und Es. Oder mit der Transaktionsanalyse: Eltern-Ich, Erwachsenen-Ich und KindIch. Oder was ist mit dem Modell des Inneren Teams von Schulz von Thun.

Die Annahme eines 6. Sinnes, eines Denksinns oder Denkorgans, ist eine solche Modellvorstellung, die erklären soll, wie wir funktionieren. Und diese Modellvorstellung hat viel Charme, weil sie uns hilft, unsere Buddha-Natur zu verstehen. Kein Wunder also, dass Kyozan sich der buddhistischen Psychologie bedient, um die Frage nach der Buddha-Natur zu beantworten.

Was ist der Denksinn denn eigentlich? Der Denksinn ist dazu da, alle unsere Geistesprodukte wahrzunehmen. Und da hat unser Denksinn viel zu tun, denn unser Gehirn ist voll mit Geistesprodukten: Ihr alle kennt Tagträume und Gefühle. Aber auch die Produkte unseres planenden Geistes gehören dazu. Und unsere Willensregungen. Einfach alles, was wir denken.

So sinnvoll unsere Geistesprodukte manchmal sein mögen, oft nerven sie enorm: Gerade, wenn wir einschlafen wollen, fällt uns ein Geistesprodukt ein, das wir im Moment überhaupt nicht gebrauchen können, z. B. den bevorstehenden Abgabetermin für unsere Masterarbeit. Auch beim Meditieren nerven unsere Geistesprodukte: So habe ich einmal 25 Minuten lang darüber meditiert, wie toll es wäre, wenn sich ein paar Kilometer südlich von Bremen ein 5000 m hohes Gebirge erheben würde. Wie toll ich da wandern könnte! Während dieser 25 Minuten hatte ich überhaupt keine Schmerzen, obwohl es der berüchtigte schmerzreiche dritte Tag eines Sesshins war. Meine Wirklichkeit in diesen 25 Minuten war mein innerer Fantasie-Film vom Fünftausender, und da traten alle anderen Wahrnehmungen in den Hintergrund.

Das revolutionäre an der buddhistischen Psychologie ist, dass sie vor 2000 Jahren erkannte, dass unsere Geistesprodukte als innere Wirklichkeit genau so bedeutend sind wie die äußere Wirklichkeit. Sie erkannte, dass der Denksinn sogar wichtiger ist als die anderen Sinnesorgane.

Bei dem ganzen Gerede über unsere Geistesprodukte: Das Ziel unserer Meditation sollte doch sein, gar keine Gedanken zu haben, quasi gedankenlos zu sein und völlig im Nichts zu verweilen. Wenigstens denken wir oft, dass das das Ziel der Meditation und überhaupt das Ziel von Zen sei.

Wenn wir jedoch unsere Meditation mit der Vorstellung betreiben, möglichst keine Geistesprodukte zu haben, engen wir die Wahrnehmungsfähigkeit unseres Denksinns ein, ja wir versuchen dann, unser Denken abzuschneiden. Dieses Einengen und Abschneiden unseres Denksinns kann aber nicht Ziel unserer Meditation sein. Im Gegenteil geht es im Zen darum, alle unsere Wahrnehmungsmöglichkeiten, also unsere Fensteröffnungen, zu erweitern.

Insofern ähnelt Zen vielen psychotherapeutischen Verfahren, in denen es auch darum geht, uns von (nicht mehr zu uns passenden) Vorstellungen - wie wir zu sein zu haben oder nicht zu sein haben – zu befreien. Dazu müssen diese Vorstellungen jedoch wahrgenommen werden können. Jede (tiefenpsychologisch fundierte) Psychotherapeutin ist also eine Abbrucharbeiterin, die das 6. Fenster erweitert, damit der Denksinn mehr von der inneren Wirklichkeit wahrnehmen kann.

Im Unterschied zu dieser Art von Psychotherapie beschäftigt sich Zen dann allerdings nicht weiter mit unseren Geistesprodukten. Im Zen freuen wir uns zwar, wenn unser Geist immer weniger von Vorstellungen eingeengt wird, aber weder unsere einengenden Vorstellungen selbst, noch das, was unser Geist ohne diese Vorstellungen ungehinderter wahrnehmen kann, wird im Zen analysiert.

„Jetzt meditiere ich schon länger, und meine Gedanken während der Meditation nehmen zu statt ab!“ Kennt ihr das? - Ich höre das oft von meinen Schüler*innen. Das passiert, wenn wir die Fensteröffnung für unseren Denksinn erweitert haben und ist nichts Schlimmes. Dass wir bei einem längeren Zen-Sesshin dann irgendwann immer weniger Geistesprodukte produzieren, steht auf einem anderen Blatt. Darüber will ich heute nicht sprechen.

Sind wir eigentlich abgeschweift von dem Koan? Nein, im Gegenteil, wir sind mitten drin in dem wunderbaren Bild von Chuyu: So wie der Affe die Wirklichkeit seiner eigenen Geistesprodukte mit dem 6. Sinn nur eingeschränkt wahrnehmen kann, so kann er auch mit den anderen 5 Sinnen die ihn umgebende Wirklichkeit nur gefiltert und verzerrt wahrnehmen. Er schaut ja auch nur durch kleine Fenster.

Das liegt nicht nur an daran, dass z. B. unsere Augen nicht alles wahrnehmen können, sondern auch daran, dass unser Gehirn nur eine begrenzte Anzahl von Informationen verarbeiten kann. Unser Arbeitsspeicher hat höchstens – ich nenne jetzt mal eine Hausnummer - 8 Megabyte, oder vielleicht waren es bei Einstein 12 Megabyte. Aber auch Einsteins Arbeitsspeicher war begrenzt. An diesem kleinen Arbeitsspeicher können wir mit der Zen-Praxis oder mit anderen Methoden nichts ändern. Wenigstens nicht, solange wir nicht irgendwelche zusätzlichen Chips ins Gehirn einbauen können.

Woran wir etwas ändern können, ist unsere Arroganz, zu glauben, dass wir uns und unsere Umwelt wissen. Gerade durch Zen lernen wir, wie sehr unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit eingeengt ist. Dies gilt insbesondere für die Geistesprodukte, die unser Denksinn wahrnimmt. Denn der Affe reagiert ja immer, egal, durch welches Fenster er von außen angerufen wird. Egal, ob der Seh-Sinn ein heranrasendes Auto sieht, oder ob der Denksinn unseren Ärger über "den Regen genau jetzt" wahrnimmt. Der Affe antwortet sofort. Er ist den Sinneseindrücken hilflos ausgeliefert.

Und er merkt es gar nicht einmal. Der Affe nimmt wahr: Das bin ich! Ich bin das, was meine 6 Sinne mir erzählen, insbesondere der 6. Sinn, also der Denksinn. Das bin ich. Der Affe leidet unter der Verblendung, er sei nur seine Gedanken, seine Gefühle, seine Planungen usw. Zusammengefasst: Das, was mir mein Denksinn an Geistesprodukten liefert, das bin ich, denkt der Affe. Das ähnelt einem Ausspruch des Philosophen Descartes: „Ich denke, also bin ich!“ Im Zen dagegen sagen wir: „Ich bin, also denke ich!“

Der Affe ist allen seinen Sinnen hilflos ausgeliefert. Ruft ein Geistesprodukt durch das 6. Fenster: „Warum regnet es gerade jetzt?“, reagiert er automatisch mit Ärger. Im Buddhismus nennen wir solche Geistesprodukte "Geistesgifte".

Beim „Warum regnet es gerade jetzt?“ handelt es sich um das Geistesgift des "Nicht-Haben-Wollens“, wir können auch sagen, das Geistesgift des Hasses. Ruft ein Geistesprodukt durch das 6. Fenster: „He, der Sex mit der Äffin gestern war toll, das möchte ich immer haben“, dann wird der Affe sofort unruhig und aufgeregt, obwohl überhaupt keine Äffin in Sicht ist. Klar, das ist das Geistesgift des "Haben-Wollens" oder der Gier.

Und das dritte Geistesgift, die Verblendung, habe ich schon erwähnt. Verblendung ist, sich vollkommen mit den Geistesprodukten, die einem unser Denksinn liefert, zu identifizieren. Verblendung ist dieses "alles auf sich zu beziehen" – als wenn es regnen würde, um uns zu ärgern. Verblendung ist, nur um sich selber zu kreisen und alles durch das enge Fenster des "ich, mein, mir, mich" zu betrachten.

Der Affe in dem Beispiel reagiert nicht nur sofort auf die Rufe von außen, sondern er hält seine Wahrnehmung auch für die absolute Wirklichkeit. Ist seine Wahrnehmung auch noch so von seinen Gelüsten oder Ablehnungen verzerrt, für ihn ist genau das und nur das die Wirklichkeit. Und eben diese Identifikation des Affen mit seinen eigenen Vorstellungen, wie etwas zu sein hat, oder nicht zu sein hat, lässt den Affen leiden.

Wir brauchen keinen Ausflug in die Biologie zu machen, die uns sagt, dass wir Menschen zu den affenartigen Tieren gehören. Es ist klar, dass wir alle diesen Affen, den Chuyu da beschreibt, sehr gut kennen. Aber wollen wir uns immer wie Schimpansen oder Gorillas verhalten? Wollen wir hilflos der Affenbande da im Kopf ausgeliefert sein? Was sagt uns die buddhistische Psychologie dazu?

Die buddhistische Psychologie unterscheidet bei unserem Wahrnehmungsprozess drei Phasen, die sogenannten Nens, (Abbildung weiter unten). Das 1. Nen ist der reine Wahrnehmungsprozess. An diesen Prozess können wir uns nicht erinnern. Erst während des 2. Nen findet eine Verankerung in unserem Bewusstsein statt, die auch ein Erinnern möglich macht. Diese Verankerung wird im Unterschied zum 1. Nen auch als Seheindruck, Höreindruck bzw. Denkeindruck bezeichnet.

Nun fragt ihr euch wahrscheinlich, wozu diese Unterscheidung zwischen 1. und 2. Nen? Die Phase des 1. Nen ist von uns z. B. durch das Tragen einer Brille oder durch Hörgeräte beeinflussbar; die Phase des 2. Nen ist dagegen nicht beeinflussbar.

Interessant wird es nun bei der dritten Phase: Während des 3. Nen findet nämlich die Weiterverarbeitung der Eindrücke statt, also das Analysieren, Vergleichen und Bewerten dessen, was uns das 2. Nen präsentiert. Wenn wir ein Auto steuern und es sich nicht um die erste Fahrstunde handelt, geht das sehr schnell und meist unbewusst vonstatten. Das wäre ja auch gefährlich, wenn dieser Verarbeitungsprozess mehr als einige Millisekunden dauern würde, und dazu noch nervig, wenn wir jeden Schaltvorgang bewusst erleben würden.

Das 3. Nen funktioniert also wunderbar schnell und meist unbewusst. Es gibt aber auch negative Folgen dieser Funktionsweise des 3. Nen. Zum Beispiel im Kontakt mit anderen Menschen.

Stellt euch einmal vor: Da kommt jemand in den Zen-Kreis Bremen, und möchte Mitglied unserer Gemeinschaft werden. Eine Person, die Zen schon in anderen buddhistischen Zentren geübt hat. Wenn ihr euch einmal ganz ehrlich prüft - wie schnell habt ihr diese Person sozusagen "vermessen" und eingeordnet? Vielleicht habt ihr in Sekundenschnelle abgecheckt, ob ihr die Person attraktiv findet und sie für euch als Partnerin oder Partner infrage kommen würde.

Oder ihr habt sie sofort eingeordnet nach einem einfachen Muster, dass die buddhistische Psychologie auch schon kannte: Nämlich die drei Übel im Kontakt mit anderen Menschen, die da lauten: "besser als ich", "schlechter als ich" und "genauso wie ich". Wobei das dritte Übel "genauso wie ich" zwar sehr nach esoterischem All-Einheit-Gesülze klingt: „Wir sind alle gleich“, aber dennoch Bewerten und Vergleichen ist. Wenn wir den drei Übeln verfallen, sehen wir die andere Person nicht mehr wirklich, sondern sehen sie durch unsere enge Ego-Brille. Und da wir uns in buddhistischen Kreisen bewegen, äußert sich das so: Wir denken: „Die Person ist spirituell weiter als ich“, oder „Die Person ist spirituell nicht so weit wie ich“, oder „Wir sind beide gleich weit auf dem Zen-Weg“.

Die andere Person - das Gegenüber - wird wie ein Objekt betrachtet: Eine Interaktion "Ich" zu "Es". Eine wirkliche Kommunikation mit unserem Gegenüber benötigt jedoch - um mit Martin Buber zu sprechen - eine Interaktion "Ich" zu "Du".

Bloß wie kommen wir zu einer Interaktion "Ich" zu "Du"? Schauen wir uns dazu wieder unser Koan an: Nachdem Chuyu das Beispiel mit dem Affen gebracht hatte, fragte Kyozan: „Was ist, wenn der Affe schläft?“

Ja, was ist, wenn der Affe hinter den 6 Fenstern unserer Sinneseindrücke schläft? Was ist, wenn nach dem 1. und 2. Nen nicht sofort das 3. Nen in Aktion tritt? Was ist, wenn wir in der Wahrnehmung der anderen Person verweilen, anstatt zu bewerten und zu vergleichen? Was ist, wenn der Affe schläft?

Dann findet eine Interaktion von "Ich" zu "Du" statt. Dann findet echte Kommunikation statt.

Habt ihr solch eine echte Kommunikation schon erlebt? Na klar, werdet ihr sagen! Und ihr habt recht. Das sind die Gesprächssituationen, in denen wir das Gefühl haben: „Mensch, der Kontakt eben, der war wirklich intensiv!“ Interessanterweise muss das nicht ein Gespräch mit eurer Lebenspartnerin oder eurem Lebenspartner gewesen sein. Das kann auch ein kurzer Kontakt mit einem völlig unbekannten Menschen gewesen sein. Erkennbar ist die Echtheit dieses Kontakts von "Ich" zu "Du" immer daran, wie tief sie uns zufrieden macht, ja sogar begeistern kann.

Genauso hier im Koan: Chuyu springt begeistert auf von seinem Meditationskissen, ergreift Kyozan beim Arm und ruft: „Affe! Affe! Du und ich, wir haben uns gerade getroffen!“

Wie bringen wir nun unseren Affen zum Schlafen, damit eine Interaktion "Ich" zu "Du" statt "Ich" zu "Es" stattfinden kann?

Durch tägliches Üben. Z. B. auf dem Meditationskissen. Im Zazen üben wir, nicht hilflos und automatisch auf die Eindrücke unserer Sinne zu reagieren. Wenn unser Fuß juckt, dann nehmen wir den Juckreiz bewusst wahr, aber reagieren nicht darauf. Genauso nehmen wir unsere Geistesprodukte wahr und lassen sie wieder ziehen und reagieren nicht.

Es kann also eine Lücke geben zwischen dem 2. Nen, also dem Sinneseindruck, und dem 3. Nen, also der Weiterverarbeitung des Eindrucks. Das Verweilen in dieser Lücke ist eine Kernübung in der Zen-Meditation. Das ist nicht einfach und gelingt auch nicht die ganze Meditationsübung über. Aber das Üben des Verweilens in dieser Lücke während Zazen hilft uns dabei, auch im Alltag und in der Kommunikation mit Anderen in dieser Lücke zu verweilen. Und wenn wir in dieser Lücke verweilen, dann können wir nicht nur mit unserem Gegenüber, sondern auch mit uns selbst ungehinderter in Kontakt treten.

Was zeigt sich dann, wenn wir in der Lücke zwischen reiner Wahrnehmung und Weiterverarbeitung der Wahrnehmung verweilen?

Unsere Buddha-Natur. Unsere Buddha-Natur ist dieser Zustand, wenn unser innerer Affe schläft. Wir sind hellwach in unserer Wahrnehmung, ja viel wacher als sonst, gerade weil unser innerer Affe, der alles in Bezug auf sich selbst einordnet, vor sich hindöst.

Das ist die Antwort auf Kyozans Frage: „Was bedeutet eigentlich ‚Buddha-Natur‘?

Ich will euch aber jetzt nicht ohne einen praktischen Tipp alleine lassen. Neben der Meditation auf dem Sitzkissen gibt es viele weitere Möglichkeiten, das Verweilen in dieser Lücke auch im Alltag zu üben. Eine Möglichkeit, die sich besonders in der Interaktion mit anderen Menschen bewährt hat, lautet: „Tief ein- und ausatmen, innerlich zurücktreten, nicht bewerten und das Ganze sehen“.

Ich praktiziere das selbst, z. B. letzte Woche. Wir hatten Gäste eingeladen. Einer war immer noch nicht eingetroffen und wir hatten angefangen zu essen. Plötzlich sagte meine Frau zu mir: „Jetzt hast du wie immer allen Salat aufgegessen, wo Klaus doch noch fehlt!“ Meine normale Reaktion wäre: „Wieso eigentlich immer?“ und „Wer isst denn sonst immer den ganzen Salat auf und für mich bleibt nichts übrig?“ Stattdessen habe ich geübt: Tief ein- und ausatmen, innerlich zurücktreten, nicht bewerten und das Ganze sehen. Und dann habe ich gesagt: „Gut, wenn Klaus noch kommt, dann mache ich noch Salat, wir haben ja welchen im Kühlschrank!“

Dieses Mantra „Zurücktreten, nicht bewerten, das Ganze sehen“ ist kein einfacher Kommunikationstrick, sondern ermöglicht es uns, in dieser Lücke zwischen Wahrnehmung und Reaktion zu verweilen. Oder in diese Lücke wieder zurückzukehren, selbst wenn die Magensäure oder die Galle sich bereits gemeldet hat. Es hilft also auch, wenn der Affe schon aufgewacht ist und gleich aus einem Fenster antworten will.

Mit dem Mantra „Zurücktreten, nicht bewerten, das Ganze sehen!“ und unserem tiefen Ein- und Ausatmen geben wir unserem inneren Affen eine Banane in die Hand. Damit ist er zufrieden, und kann weiter dösen!

Und wir haben die Chance, in dieser Lücke zwischen Wahrnehmung und Reaktion zu verweilen und unsere Buddha-Natur zu erleben.

HAI!

2. Haben wir zwei "wahre Selbst"?
(Mumonkan, Fall 35)

Vorweg der Hintergrund des Koan: Seijo ist eine junge Frau, die ihren Jugendfreund heiraten will. Ihre Eltern wählen jedoch einen anderen Ehemann für sie aus. Daraufhin flieht sie mit ihrem Freund in eine entfernte Provinz. Dort heiraten sie und bekommen Kinder. Später möchte Seijo Frieden mit ihren Eltern schließen. Also kommt sie zurück in ihr Heimatdorf zusammen mit ihrem Ehemann. Um die mittlerweile alten Eltern nicht zu sehr zu erschrecken, schickt Seijo ihren Ehemann vorweg. Dieser berichtet den Eltern von der gemeinsamen Flucht. Die sind jedoch verwundert: „Aber Seijo ist doch hier, zwar schwerkrank, aber …!“ Gemeinsam gehen sie in das Nebenzimmer. Und tatsächlich, dort liegt Seijo krank im Bett, in einer Art Wachkoma. Nun das eigentliche Koan:

DER FALL:

Zenmeister Goso fragte seine Mönche: „Seijo's Seele ist von ihrem Sein getrennt. Was ist die wirkliche Seijo?"

MUMONS KOMMENTAR:

Wenn du verstehst, was die Wirklichkeit ist, dann wirst du merken, dass wir von einer Hülle zur nächsten Hülle gehen, wie Reisende, die jede Nacht wo anders übernachten. Wenn ihr's nicht erfasst habt, rennt nicht ungezügelt herum. Wenn plötzlich die Auflösung von Erde, Wasser, Feuer und Luft beginnt, werdet ihr einer Krabbe gleichen, die - in kochendes Wasser gefallen - mit sieben Armen und acht Beinen wild um sich schlägt. Sagt dann nicht, ich hätte euch nicht gewarnt.

MUMONS VERSE:

Der Mond über den Wolken ist immer der Gleiche;

Täler und Berge sind voneinander getrennt.

Alle sind gesegnet! Alle sind gesegnet!

Sind sie eins oder sind sie zwei?

GLOCKE

„Was ist die wirkliche Seijo?" Eine interessante Geschichte und eine schwierige Frage. Vielleicht wollt ihr zuerst wissen, wie das Märchen ausgeht? Der Ehemann ist natürlich verdutzt und rennt zurück. Aber seine Seijo ist gesund und wartet auf ihn. Sie gehen gemeinsam zur Hütte der Eltern. Als sie dann in das bewusste Zimmer kommen, erwacht die andere Seijo, erhebt sich aus ihrem Lager und verschmilzt mit der geflüchteten Seijo zu einer Person. Und alle sind gesund und leben glücklich zusammen. Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.

Ein naives Märchen – wir im Zen sollten uns damit nicht aufhalten, sondern direkt zum Kern vorstoßen, nämlich zu der Frage: Was ist die wahre Seijo? Was ist unser wahres Selbst?

Stopp. - Lasst uns die Geschichte doch einmal genau betrachten: Da ist eine junge Frau, die überhaupt nicht gefragt wird, wen sie denn heiraten möchte. So etwas gibt es heute in Deutschland nicht mehr, oder nur noch selten. Aber dass Eltern zentrale Bedürfnisse ihrer Kinder missachten und die Gefühle ihrer Kinder mit Füßen treten, das geschieht häufig.

Und wie reagiert ein Kind auf ein seelisches Trauma? Wir können auch sagen: Wie reagiert Seijo? Und beziehen wir das auf uns, können wir fragen: Wie gehen wir, die wir hier in der Zendo sitzen, mit traumatischen Erlebnissen (nicht nur aus unserer Kindheit) um? Wir reagieren oft, indem wir den unerwünschten Teil von uns abtrennen. Nicht so drastisch, wie Seijo, aber: Wir spalten unsere Persönlichkeit in erwünschte und unerwünschte Teile.

Sich aus dieser Perspektive mit dem Koan zu beschäftigen, klingt nicht sehr Zen-mäßig. Mumon hatte vermutlich etwas anderes im Sinn, als er diesen FALL für seine Koan-Sammlung auswählte. Genauso weitere Generationen von Zenlehrer*innen, für die die emotionalen und psychologischen Aspekte dieses FALLs nur von der Essenz des Koan ablenken. Aber genau das kann ein Problem im Zen sein, nämlich unsere Gefühle zu übergehen und abzutrennen, um ungehindert zur vermeintlichen Essenz des Zen vorzustoßen.

Viele Menschen beginnen mit der Zen-Übung, gerade weil sie das Gefühl haben, den Kontakt mit irgendetwas Vitalem in sich selber verloren zu haben. Damit will ich nicht sagen, dass die meisten Zen-Anfänger eine gespaltene Persönlichkeit haben und quasi zu zweit mit ihrem abgetrennten Schatten zum Dokusan kommen. Aber viele haben das Gefühl, dass etwas fehlt und nicht von ihnen gelebt wird. Und sie hoffen, dass die Zen-Praxis ihnen dabei helfen wird, eins mit sich selber zu werden.

Aber nun zu euch, die ihr mir zuhört. Welche Erwartung habt ihr an Zen? Was soll Zen euch bringen?

Ihr erwartet nichts! Sehr gut! Das ist eine echte Zen-Antwort: Ihr erwartet nichts! Das ist immer richtig! Und trotzdem gibt es eine Anfangs-Motivation! Ohne die würden wir uns der anstrengenden Zen-Praxis gar nicht aussetzen.

Also, was erwartet ihr vom Zen? - Jetzt mal keine Zen-Antwort.

Habt ihr die Erwartung, dass Zen euch stabil macht? So stabil, dass ihr nicht mehr willenlos von euren Emotionen herumgestoßen werdet? Das ist doch das Ziel von Zen: In seiner Buddha-Natur zu verweilen und frei von egoistischen Gefühlen zu sein. Oder?

Ein Weg, uns von unserer naturnotwendig auch durch unser Ich gefärbten Gefühlswelt zu "befreien", ist, diese Gefühlswelt abzuspalten, besonders den Teil der Gefühlswelt, der uns nicht gefällt: Die altruistische Liebe zu allen Wesen darf bleiben. Aber zum Beispiel unser Bedürfnis, von Anderen geliebt und wertgeschätzt zu werden, nicht.

Dabei ist es ein Grundbedürfnis des Menschen, wertgeschätzt zu werden. Ein Grundbedürfnis wie Essen, Trinken und ein Dach über dem Kopf haben. Jeder Mensch ist ein soziales Wesen und will in seinem Sein von den anderen Menschen gesehen werden.

Auch wenn wir im Zen spurenlos leben wollen, d. h. nicht viel Aufhebens um unsere Person machen wollen, dürfen wir nicht einfach über unser Grundbedürfnis nach "Gesehen werden" hinwegbügeln. Also spaltet euer Bedürfnis nach Anerkennung nicht ab, auch nicht in einer buddhistischen Gemeinschaft, sondern nehmt es wahr als einen Teil eurer selbst. Denn wenn wir uns von unseren persönlichen Bedürfnissen trennen, weil sie doch nur Ego sind, dann trennen wir uns von einem Teil unseres wahren Selbst. Anstatt unsere wahre Buddha-Natur zu verwirklichen, werden wir zu Zen-Geistern.

Im Zen haben wir dafür das Bild eines einsamen Kranichs, der auf einer verdorrter Kiefer sitzt, oder das Bild eines zu Eis erstarrten Wassertropfens, der im warmen Sonnenschein nicht schmilzt.3 Oder wir sagen auch: Totes Zen.

Es kann sein, dass wir gar nicht bemerken, dass wir die Zen-Praxis dazu benutzen, etwas von uns abzutrennen. Dieser Prozess kann unbemerkt vonstattengehen, wie bei Seijo, die sich - für sie selbst unbemerkt - aufgeteilt hat.

Und auch Zenmeister*innen sind nicht frei davon, ungewollte Anteile von sich abzuspalten. Ganz deutlich wird das bei Zenmeistern wie Taizen Maezumi oder Gempo Merzel – um nur einige zu nennen -, die mit vielen ihrer Schülerinnen sexuelle Verhältnisse hatten. Selbst wer nun unterstellt, dass in Einzelfällen Schülerinnen solch ein Verhalten provoziert haben, kann nicht die Masse der Vorfälle erklären; und überhaupt: In jedem Fall liegt ein Missbrauch des Schülerin-Lehrer-Verhältnisses durch die Zenmeister vor.

Wie sind solche eklatanten Verstöße gegen die Ethik des Zen zu erklären, wenn nicht damit, dass diese Zenmeister Persönlichkeitsanteile von sich abgespalten haben, die dann im Geheimen ihr Dasein fristen, bis sie dann an völlig falscher Stelle wieder aufploppen.

Was aber nun mit Seijo? Geschickt wäre es, wenn sie offen mit ihren Eltern sprechen würde, wenn sie sprechen würde von ihrem Gefühlszwiespalt: Einerseits die Liebe zu ihren Eltern, die sich ja auch später in ihrem Bedürfnis zeigt, sich wieder versöhnen zu wollen. Und andererseits die Liebe zu ihrem Jugendfreund. Aber sie spricht nicht, sondern geht dem Konflikt aus dem Weg.

Was hier die Legende so plakativ schildert, ist nicht nur unser grundsätzliches Problem, verdrängte und abgespaltene Bedürfnisse wahrzunehmen. Die Geschichte mit Seijo zeigt auch, wie wichtig es ist, verdrängte und abgespaltene Bedürfnisse offen anzugehen und zu verbalisieren, auch wenn wir im Zen immer so tun, als wäre Schweigen Gold.

Im Zen geht es darum, alle Bestandteile unseres wahren Selbst zu enthüllen und wahrzunehmen, statt die Abspaltung zu perfektionieren.

Dabei kann uns auch die Koan-Arbeit weiterhelfen. Denn durch das Eintauchen in ein Koan, in alle Aspekte des Koan, begeben wir uns manchmal in Situationen, die wir unbewusst vermeiden wollen.

Wir werden mit verdrängten Anteilen konfrontiert und müssen sie ausagieren, um das Koan zu lösen. Denn das alleinige Sprechen über ein Koan ist nie die Lösung, wie Koan-Schüler*innen wissen. Die Koan-Arbeit kann dann sehr einer Psychotherapie ähneln, in der ungelebte Anteile, die ihre Stimme verloren haben, zunächst im vor-verbalen Raum erlebt werden, bevor ausgesprochen werden können.

Das ersetzt natürlich keine Psychotherapie und beantwortet nicht die Frage: Was ist die wirkliche Seijo? Schauen wir uns das einmal im zeitlichen Verlauf an.

Da gibt es

- ein junges Mädchen,

- eine verheiratete und abgespaltene Seijo und dann

- eine wieder vereinigte Seijo,

und das zieht sich über viele Jahre hin. Welche ist nun die wirkliche Seijo?

Nehmt euren Lebenslauf - oder jetzt einmal meinen Lebenslauf: Zwar hatte ich zum Glück noch kein Wachkoma, aber im Gymnasium verharrte ich zunächst in einem Lern-Koma, bis es einem Lehrer gelang, mich zu motivieren. Ich studierte dann Medizin, Theaterwissenschaften und Soziologie, war Hochschulpolitiker, arbeitete als Internist und Chirurg, gründete eine Familie, wurde Betriebsarzt und später Zenlehrer.

War ich immer die gleiche Person? Spontan würde ich antworten: Ja! Klar gab es Änderungen, aber im Kern bin ich immer der Gleiche geblieben. Wenn ich dann etwas tiefer schaue, geht es mir wie einer Gestalt von Bertold Brecht, dem Herrn Keuner:

„Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: ‚Sie haben sich gar nicht verändert.‘ ‚Oh!‘ sagte Herr K. und erbleichte.“4

Herr K. weiß offensichtlich, dass wir uns ständig ändern – teils aus eigenem Antrieb, teils, weil wir uns an die äußeren Umstände anpassen. Er erschrickt, wenn ihm unterstellt wird, dass er sich nicht geändert habe. Er erbleicht, wenn er als einsamer Kranich auf einer verdorrten Kiefer gesehen wird oder als gefrorener Eistropfen, der sich selbst im warmen Sonnenschein nicht verändert.

Jedoch ist es gar nicht nötig, dass wir einen langen Zeitraum wie bei einem Lebenslauf betrachten. Beobachtet einfach nur einige Minuten: Eben wart ihr noch gelangweilt, dann kommt ein Telefonanruf und ihr seid freudig erregt, danach niedergeschlagen, weil die geplante Verabredung abgesagt wurde. Wo war die ganze Zeit über euer wahres Selbst, wo war die wirkliche Nadine und der wirkliche Marc?

Egal, welches Szenario ihr euch ausdenkt. Es ist unvermeidlich, dass wir manche Zustände, in denen wir uns befinden, als gesegnet empfinden und andere lieber überspringen oder wegdenken möchten. Wir möchten das eine auswählen und sagen: Das ist das wahre Selbst von Nadine oder Marc und das andere nicht. Von wegen: „Alle sind gesegnet!", wie Mumon sagt

Nun werdet ihr einwenden: Unsere Äußerlichkeiten, die fünf Daseinsfaktoren oder Skandhas, die unser Ego bilden, die ändern sich zwar, aber darunter liegt doch unsere wahre Buddha-Natur, die ändert sich nicht.

Dann frage ich zurück: Wenn ihr z. B. heute Morgen bei der Meditation hellwach und voller Gleichmut wart und jetzt müde und unkonzentriert seid und nur noch auf das Mittagessen wartet. Habt ihr dann heute Morgen euer wahres Selbst gezeigt und im Moment nicht?

Unser wahres Selbst, unsere Buddha-Natur, ist das, was wir heute Morgen waren und das, was wir jetzt sind. Zwar suggeriert uns unser ichzentriertes Denken, dass wir heute Morgen unser wahres Ich zeigen konnten, und im Moment gerade mal nicht. Das ist so, weil wir eine Vorstellung davon haben, wie unser wahres Selbst aussieht. Wir meinen zu wissen, dass es da etwas Stabiles, Definiertes gibt, das unerschütterlich die Grundlage unseres Daseins bildet. Etwas, das unabhängig von der Umwelt ist.

Tatsächlich aber können wir nicht einmal unser wahres Selbst sein und einmal nicht. Wir sind immer genau das, was wir gerade sind. Und wenn wir dann auf unserem Zen-Weg versuchen, das, was nicht zu unserer Vorstellung von einem wahren Selbst passt, abzuschneiden, dann werden wir enden wie Seijo, aufgespalten in zwei Personen. Eine Person im Wachkoma, die ständig ohne ablenkende Gedanken ist, also leer von Gedanken ist, mit anderen Worten: in der im Zen so gepriesenen Leerheit verweilt. Und eine Person, die Gefühle, Gedanken und Willensregungen hat, also ihr Leben mit allem Auf und Ab verbringt.

Wir müssen also das als unsere wahre Natur annehmen, was wir gerade leben. Wenn wir Gehmeditation üben, dann sind wir "Gehmeditation üben", wenn wir uns nicht konzentrieren können, dann sind wir "unkonzentriert sein". Ohne, dass wir das durch Aburteilen verdrängen.

So wie im Sesshin der schmerzende Rücken zu unserer Wirklichkeit gehört, so gehören auch unsere Bedürfnisse zu uns. Das bedeutet nicht, dass wir unsere Bedürfnisse jeweils auch ausleben, - das haben Taizen Maezumi und Gempo Merzel offensichtlich missverstanden -, sondern es geht um das Wahrnehmen unserer Bedürfnisse und Gefühle. Wenn wir uns darin immer mehr üben, können wir irgendwann auch wahrnehmen, dass wir mehr sind als unsere enge Ich-Grenze. Mehr als unsere Bedürfnisse und Gefühle. Es geht also um ein Plus, statt um ein Minus. Wir können dann wahrnehmen, was Mumon in seinem VERS beschreibt:

Alle sind gesegnet! Alle sind gesegnet!

Abgesehen von diesen tiefenpsychologischen Aspekten, betreiben wir alle nicht auch eine ganz banale Art von Persönlichkeitsspaltung?

Teilen wir uns nicht auf in einen Menno, der gerade sein Frühstücks-Müsli isst, und einen Menno, der sich im Geist mit der neuesten Zeitungsnachricht beschäftigt. - Wer bin ich dann? Die Person, in deren Mund sich gerade die Aromastoffe des Müslis entfalten, oder die Person, die sich über die Unverschämtheiten irgendeines Präsidenten ärgert?

Wir leben also oft wie ein Geist, wir leben in einer Art Wachkoma5. Wenn ihr das nicht kennt, dann spreche ich nur von mir. Denn ich kenne das. Und dieses Leben im Wachkoma hat Folgen: Weil ich in vielen Situationen nicht richtig dabei bin, nicht in der Situation bin, wird das Leben irgendwie grau. Ich bemühe mich zwar um die schönen Dinge im Leben, aber auch diese werden schal, weil sie eingebettet sind in ein Wachkoma-Leben.

Wie Thich Nhat Hanh es beschreibt:

Wenn ich nicht in der Lage bin, fröhlich das Geschirr zu spülen, sondern so schnell wie möglich, damit ich aus der Küche herauskommen und meinen Nachtisch und meine Tasse Tee zu mir nehmen kann, so werde ich gleichermaßen auch nicht in der Lage sein, alle diese Dinge voller Freude zu genießen. Mit der Tasse in der Hand denke ich dann darüber nach, was ich als nächstes tun muss, und der Duft und der Geschmack des Tees zusammen mit dem Vergnügen, ihn zu trinken, sind einfach verschwunden. Ich fühle mich dann ständig in die Zukunft gezogen und kann niemals wirklich in der Gegenwart leben."6

Ich weiß das, und ihr wisst das. Aber es wissen und darüber reden, reicht nicht. Dazu Fall 40 aus der Koan-Sammlung Hegikanroku:

Während eines Gesprächs sagte Riku Taifu zu Zenmeister Nansen: „Der Dharma-Lehrer Jo hat gesagt 'Himmel und Erde stammen aus der gleichen Wurzel. Alle Dinge und ich sind aus dem gleichen Stoff.' Ist das nicht absolut fantastisch?" …

Riku Taifu ist offensichtlich begeistert über das Intersein aller Dinge. Nansen bleibt jedoch unberührt von dieser allumfassenden buddhistischen Weisheit. Denn im Koan folgt:

… Nansen zeigte auf eine Blume im Garten, machte Taifu darauf aufmerksam und sagte: „Die Menschen von heute sehen diese Blume, als wären sie in einem Traum."

- Alleine das Wissen vom Intersein und der Unteilbarkeit unserer Buddha-Natur (Alle Dinge und ich sind aus dem gleichen Stoff.) und

- alleine das Wissen, dass wir uns mit dem, was wir sind und tun, vereinigen müssen,

bringt uns nicht weiter. Auch, wenn wir nicht wie Seijo in einem realen Wachkoma im Bett liegen.

Wenn wir Radio hören oder Zeitung lesen und gleichzeitig Frühstücken, schmecken wir das Frühstück wie ein Geist in einem Traum, wir sind weder bei dem einen, noch bei dem anderen. Der Zenmeister Setcho kommentiert die Geschichte von Riku Taifu und Nansen mit folgenden Versen:

„Hören, Sehen, Berühren und Wissen sind nicht getrennt;

man sollte Berge und Täler7 nicht wie in einem Spiegel betrachten.“

Da wir uns aber häufig in dieser Trennung üben - nicht nur beim Frühstücksradio -, brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn wir ebenso häufig in diesem Wachkoma leben. Also ist unsere Aufgabe: Immer wieder inne zu halten und zum gegenwärtigen Augenblick zurückzukehren! Und nicht frustriert zu sein, wenn wir pausenlos zurückfallen in die Trennung, in unsere Traumwelt von Gedanken, Planungen, Fantasien usw.

Langsam aber sicher werden wir uns dann in die Richtung bewegen, die in der Seijo-Legende beschrieben wird. Was meine ich mit dieser Richtung?

Unser Ausgangspunkt ist ja klar: Als Neugeborene erleben wir uns am Anfang noch ungetrennt von unseren Eltern. Und wir haben noch keine Trennung von Hören, Sehen, Berühren und Wissen. Dann entwickeln wir ein ICH. Das ist notwendig, denn tatsächlich sind - wie Mumon im VERS sagt - Täler und Berge getrennt voneinander. Wir trennen uns von unseren Eltern wie Seijo sich von ihren Eltern trennt. Allerdings haben wir nicht, wie Seijo, ein Double zur Hand.

Wie Seijo stürzen wir uns dann ins Leben, heiraten (oder auch nicht), bekommen Kinder (oder auch nicht), haben unseren Beruf oder eine andere Tätigkeit und merken, dass das nicht alles ist. Wir merken, dass wir uns im Alltag verlieren, und begeben uns auf die Suche. Wir begeben uns auf einen spirituellen Weg, um wieder ganz, wieder eins zu werden. Um unsere wahre Heimat zu finden.

Wer kennt das Kinderbuch von Janosch: „Oh, wie schön ist Panama!“? Die Geschichte geht so: Tiger und Bär sind nicht mehr ganz zufrieden mit ihrer Hütte und brechen auf und begeben sich auf die Suche nach Panama. Zum Schluss kehren zu ihrer eigenen Hütte zurück, die sie als wunderschönes Panama erleben. Mit diesem wiederentdeckten inneren Panama können sie sich nun viel besser identifizieren.

Wir ähneln da Tiger und Bär: Auf gewisse Weise ist unsere wahre Heimat nämlich die Gleiche, wie bei unserem Aufbruch: Sie ist das, was wir im Augenblick sind, mit allen schönen und unschönen Aspekten unserer Person.

Die verschiedenen Seiten unserer Persönlichkeit und auch die Täler und Berge unserer Heimat bleiben zwar getrennt voneinander, aber sie werden, wie Setcho sagt, nicht mehr wie in einem Spiegel betrachtet. Wir sehen unser inneres Panama direkt und klar vor uns. Und vereinigen uns damit mit uns selber, werden wie Seijo am Ende wieder eins.

Das ist unser Zen-Weg. Schön, hoffnungsvoll und etwas märchenhaft. Oh, wie schön ist Panama.

So etwas kann Mumon nicht einfach so stehen lassen. Er sagt in seinem KOMMENTAR, den ich jetzt einmal etwas umformuliere:

Macht euch keine Illusionen über diese kuschelige wahre Heimat, über euer wahres Selbst, welches ihr dann gefunden habt. Denn mal ist es kuschelig, mal eklig, je nachdem, in welcher Herberge ihr gerade übernachtet. Und glaubt ja nicht, dass ihr euch das aussuchen könnt. Eine Hülle geht zur nächsten. Eben seid ihr noch von Glücksgefühlen überströmt, fühlt euch vollkommen und eins mit allem. Dann kommt der Chef mit einer dummerweise auch noch berechtigten Kritik, und schon fühlt ihr euch komplett anders und würdet am liebsten zur komatösen Seijo ins Bett flüchten und die Decke über den Kopf ziehen. Euer wahres Selbst ist unbeständig, ja ist die Unbeständigkeit selbst. Euer wahres Selbst verwirklicht sich nämlich jeden Augenblick neu. Wenn ihr das wirklich tief verstanden habt, dann verschwindet alle Angst vor Veränderung und alles ist gesegnet. Ihr begebt euch ohne Vorstellungen hinein in das, was ist. Selbst wenn die Auflösung von Erde, Wasser, Feuer und Luft beginnt, heißt, ihr im Sterben liegt, werdet ihr innerlich gefasst in den Tod gehen.

Und Mumon sagt weiter in seiner aufmunternden Art: „Wenn ihr es aber nicht tief verstanden habt, dann werdet ihr einer Krabbe gleichen, die - in kochendes Wasser gefallen - verzweifelt mit sieben Armen und acht Beinen um sich schlägt."

Und Mumon setzt noch einen drauf: „Sagt nicht, ich hätte euch nicht gewarnt!“ Was nun? Ich nehme mir Mumons Tipp zu Herzen: „Rennt nicht ungezügelt umher!“ Das bedeutet: nicht herumeiern, mal dies ausprobieren, mal jenes, ohne abzuwarten. Kein Esoterik-Hopsen von einer Blüte zur nächsten.

Um wieder auf Janoschs Panama-Kinderbuch zurückzukommen: Notwendigerweise muss ich mich auf den Weg nach Panama machen, aber ich muss aufpassen, dass ich nicht ständig die Richtung auf meiner spirituellen Suche ändere. Denn sonst komme ich nicht wieder in meinem inneren Panama an, sondern gehe nach Costa Rica, Kolumbien oder gar Venezuela8.

Wenn wir uns also auf den Zen-Weg begeben haben, sollten wir ihn konsequent gehen und uns täglich im Gewahrsein üben, mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg. Und wir sollten versuchen, die Unbeständigkeit von wirklich Allem zu verstehen.

Und lasst uns beobachten, vorurteilsfrei beobachten, wie wir uns z. B. verhalten, wenn gerade jemand in unserer Auto-Einfahrt parken will? Schlagen wir dann wie eine Krabbe mit unseren sieben Armen und acht Beinen um uns? Oder atmen wir dreimal tief ein und aus, und nehmen den Mond wahr, der trotz unserer Ärger-Wolken für alle gleich ist. Tauchen also erstmal in die nicht-unterscheidende Weisheit ein, die Riku Taifu so bewundert. Und fangen erst danach an, den Unterschied zwischen Tal und Berg – also die unterscheidende Weisheit - zu praktizieren, indem wir sagen:

„Entschuldigung, wenn Sie hier halten wollen, dann geht das nur für zehn Minuten, denn dann brauche ich mein Auto.“ Hoffen wir, dass dann wirklich alle gesegnet sind.

Und wer - wie ich - keine eigene Einfahrt für sein Auto hat, weil ich gar kein Auto besitze, dem sei gesagt: Ihr findet garantiert noch heute ein anderes Übungsobjekt für drei tiefe Atemzüge.

HAI!


3 Shoyoroku, Fall 28

4 Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke 12, Prosa 2, S. 383

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