Impressum

Volker Ebersbach

b - a - c - h oder Die Unwirklichkeit der Zeit

 

ISBN 978-3-96521-576-4 (E-Book)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

Das Buch erschien 2000 im Hans Boldt Literaturverlag GmbH, Winsen/Luhe und Weimar in der Weimarer Reihe.

 

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Bach sagte 1738, es solle „wie aller Music, also auch des General Basses Finis und End Uhrsache anders nicht als nur zu Gottes Ehre und Recreation des Gemüths seyn. Wo dieses nicht in Acht genommen wird, da ists keine eigentliche Music sondern ein Teuflisches Geplerr und Geleyer.“

Zelter an Goethe, 7. 9. 1827: „Könnte ich Dir an einem glücklichen Tage eine von Seb. Bachs Motetten zu hören geben, im Mittelpunkt der Welt solltest Du Dich fühlen, denn Einer wie Du gehört dazu. Ich höre die Stücke zum wievielhundertsten Male und bin lange nicht fertig und werde es nie werden.“

In Berka machte der Organist und Brunneninspektor Johann Heinrich Schütz den Dichter Johann Wolfgang von Goethe mit der damals fast vergessenen Musik Johann Sebastian Bachs bekannt. Man dürfe es, meinte der Geheimrat, die Bachsche Musik nicht merken lassen, dass man sie höre, da sie für sich selbst musiziere, „als wenn die ewige Harmonie sich mit sich selbst unterhielte, wie sichs etwa in Gottes Busen kurz vor der Weltschöpfung möchte zugetragen haben.“

Vorbemerkung des Herausgebers

Das hier erstmalig vollständig und, abgesehen von einer Angleichung an den heutigen Lautstand der deutschen Sprache, in seiner ursprünglichen Gestalt veröffentlichte Manuskript fand sich im Archiv der Universität Leipzig, nachdem der Herausgeber im Leipziger Bach-Archiv zahlreiche Anhaltspunkte für seine Existenz gesammelt hatte. Eingelegte Zettel früherer Benutzer legten eine Herkunft aus der Universitätsbibliothek Jena nahe. Über seinen anonymen Verfasser ist nichts bekannt und auch nichts in Erfahrung zu bringen gewesen, was über die sparsamen Bemerkungen in seinen Darlegungen hinausginge.

Zwingende Gründe – die romantisch gefärbte, der Jenaer Frühromantik nahe Sprache und einige philosophische Reflexionen sowie andere Einprengsel verschiedener Art – sprechen dafür, dass der Anonymus nach 1800, als Bach so gut wie vergessen war, noch gelebt und seine Darstellung erst zu dieser Zeit verfasst hat. Es handelt sich allem Anschein nach um einen Menschen, den man zu anderen Zeiten als „verbummelten Studenten“ oder vielleicht auch als „verbummeltes Genie“ abgetan hätte, um einen verarmten Landedelmann, der sich nach verschiedenen nicht abgeschlossenen Studien für die ihm angebotenen Brotberufe zu schade war und doch von keinem ererbten Vermögen leben konnte. Die Selbstüberschätzung und die Verstiegenheiten, die er dem Thomaskantor andichtet, waren wohl sein eigenes Problem. Eine Geniezeit mit entsprechenden Geniekult, eine Art „Sturm und Drang“ scheint der Anonymus, wiewohl älter als diese Generation, noch durchgemacht zu haben, und unzweideutigen Anspielungen ist zu entnehmen, dass er Schillers Antrittsvorlesung an der Universität Jena aus dem Jahr 1789 hörte und bei den Jenaer Frühromantikern zu Gast war.

Der vorliegende Text beruht vermutlich auf einem anderen, viel früher verfassten. Der musisch interessierte Student der Theologie, vormals selbst Thomasschüler, hat wohl alles, was er in Gesellschaft des erblindeten Meisters erlebte und hörte, sofort oder wenige Stunden, höchstens ein paar Tage danach in Gedächtnisprotokollen festgehalten und dann lange Zeit nicht wieder angesehen. Ein Wunder, dass er diese Papiere nicht auch irgendwo liegen ließ wie den Traktat, den er erwähnt. Stellenweise ist vielleicht zu spüren, dass zwischen der noch barocken Sprache der ersten und der spätaufklärerisch-frühromantischen dieser zweiten Niederschrift fast ein Menschenalter steht. Dass die Themen wohl nachträglich in eine den Aufzeichnungen ursprünglich sicher nicht eigene Chronologie der Bach-Vita gebracht wurden, durch Umbau ihrer Abfolge, ist zwar als Stilisierung zu durchschauen, zwingt aber keineswegs zu der Annahme, wir hätten es mit freien Erfindungen zu tun.

Der Schreiber wandte sich, wie er selbst eingangs erwähnt, einem Studium der Mathematik, der Physik, der Astronomie und der Philosophie zu, nicht nur, um seinen lebhaften Glaubenszweifeln auf ein gewissermaßen neutrales Terrain zu entkommen, sondern auch, um das Wesen der Musik besser zu begreifen. Er spielte selbst mehrere Instrumente, gewiss Gambe und Cembalo. Seine Niederschrift ist nicht zuletzt deshalb glaubwürdig, weil sie einiges über Bach mitteilt, das kurz nach dem Tod des Thomaskantors schon vergessen war und erst von der neueren Bachforschung bestätigend wiedergefunden wurde. Darüber hinaus aber vermittelt der Anonymus uns einen „unheimlichen Bach“, der bisher nicht nur verschwiegen blieb, sondern auch überhaupt nicht denkbar schien. Der Kirchen-Bach und die Bach-Kirche bestätigten einander unaufhörlich darin, Persönlichkeit und Biografie des Thomaskantors fromm zu verschleiern.

Vor einer Reduzierung Bachs auf den gottesfürchtigen Kirchenmusiker haben schon mehrere Kenner gewarnt, allerdings immer nur mit dem durchaus richtigen, aber nicht ausreichenden Hinweis auf die Vielzahl weltlicher Kompositionen, die Bach vor seinem Thomaskantorat und auch während seiner Amtszeit geschaffen hat. Seltener findet man das Eingeständnis, dass die Mehrzahl von Bachs Orgelwerken nur deshalb kirchlich wirkt, weil die meisten und besten Orgeln in Kirchen stehen. Die Orgel war Bach zeitlebens das liebste und wichtigste Instrument, und seine Triosonaten, Toccaten, Präludien, Fugen und manches andere behandelte er, wiewohl er sie für ein der Kirche vorbehaltenes Instrument setzte, als reine Musik, als allein dem Musikalischen und allenfalls über Musikalisches vermittelt dem Religiösen verpflichtete Kompositionen – um das in dem Fall missverständliche Wort „weltlich“ einmal zu meiden.

Das Manuskript hätte viel eher gefunden werden können. Aber auch den Kommunisten war aus verständlichen Gründen der „Kirchen-Bach“ doch weit bequemer als der „unheimliche Bach“. Es weist am Anfang Brandspuren auf. Mit dem Deckblatt fehlt nicht nur der Name des Verfassers, wenn dieser Anonymus, der ja auch während seines Erzählens jede Selbstenthüllung nahezu ängstlich vermeidet, ihn überhaupt angegeben hat – auch ein Titel ist nicht mehr auszumachen. Der Herausgeber nahm sich darum die Freiheit, seinem Fund einen Namen zu geben und dafür die beiden Hauptgegenstände des Textes zu verwenden, die sich schließlich als ein und derselbe erweisen: b-a-c-h oder Die Unwirklichkeit der Zeit.

Der Anonymus nähert sich der Formel selbst mit einer gewissen Folgerichtigkeit. Aber es soll nicht verschwiegen werden, dass dabei eine frappant ähnliche Stelle aus Hermann Hesses Roman „Der Steppenwolf“ Pate gestanden hat. Angesichts eines Radiobastlers, den er „hingerissen von der Idee der Drahtlosigkeit, anbetend auf frommen Knien vor dem Gott der Technik“ liegend erblickt, erinnert sich der Erzähler einer Weisheit der alten Inder, die er allerdings – wie unser Anonymus – ebenso gut bei Aristoteles, bei Thomas von Aquino und – wie wir – in Einsteins Relativitätstheorie hätte finden können:

„Die Hauptsache jener alten Erkenntnis, die Unwirklichkeit der Zeit, sei bisher von der Technik noch nicht bemerkt worden, schließlich werde aber natürlich auch sie ,entdeckt‘ werden und den geschäftigen Ingenieuren in die Finger geraten. Man werde, vielleicht schon sehr bald, entdecken, dass nicht nur gegenwärtige, augenblickliche Bilder und Geschehnisse uns beständig umfluten, so, wie die Musik aus Paris und Berlin jetzt in Frankfurt oder Zürich hörbar gemacht wird, sondern dass alles je Geschehene ganz ebenso registriert und vorhanden sei und dass wir wohl eines Tages, mit oder ohne Draht, mit oder ohne störende Nebengeräusche, den König Salomo und den Walther von der Vogelweide werden sprechen hören.“

Die Eingangszitate wurden vom Herausgeber ausgewählt.

Sophienhöhe, den 28. Juli des Jahres 2000

Der Herausgeber

VORREDE DES ANONYMUS

Sollte ich mit diesen Blättern auch nur einen wohlgesonnen Leser finden, so möge er mir verzeihen, dass ich sie nicht vernichtet habe. Skrupel, aber auch eine gewisse Trägheit hinderten mich lange, sie an die Öffentlichkeit zu bringen. Aber da ich nach meinen Besuchen bei dem alten Thomaskantor schon die Vorbehalte eines Studenten der Theologie überwand und die eilig hingeworfenen Stichworte zu einem kleinen Bericht für die Schublade ausarbeitete, musste auch die Zeit kommen, in der ich das mathematisch Zweifelhafte und das philosophisch Unzulässige der vorläufigen Ausführungen für nichts achtete und im Abstand der Jahre und der Erfahrung dieses unglaubliche Büchlein zusammenstellte.

Ich habe die Theologische Fakultät verlassen, als ich ihren Gegenständen meinen Glauben versagen musste, und dennoch manchen Kirchenmann gefunden, der weniger glaubte als ich und um des Brotes willen doch Pfarrer wurde oder Pfarrer blieb. Aber ich habe mich doch in allem, was ich auf den Gebieten der Mathematik, der Physik, der Astronomie und der Philosophie an Kenntnissen sammelte, um den Glaubenszweifeln zu entrinnen und das Wesen der Musik besser zu begreifen, nicht so weit von einem fast kindlichen Urglauben entfernen können, dass ich für die Schauer des Geheimnisvollen, Rätselhaften, Übersinnlichen völlig unempfänglich geworden wäre. Ich fürchtete damals, bald zu sterben. Ein Wesen mit diesen Zweifeln, so hoffärtig im Denken, so meinte ich, konnte der Herrgott nicht lange auf Erden wandeln lassen. Und nun bin ich in den Siebzigern! Ich hoffte also nur, zu sterben, weil ich es wünschte.

Johann Sebastian Bach hörte ich mehrfach respektlose Worte über Religiöses, über den christlichen Glauben, über die Kirchen und ihre Würdenträger, ja über den Herrgott selber sagen. Aber wie er selbst seine Erblindung zeitweise für eine Strafe Gottes halten mochte, so blieb auch mir der Gedanke nie fern, das Vergessen, in welches der Thomaskantor und sein Werk so bald nach seinem Tod fielen, sei ihm eine Strafe Gottes für eine unerhörte Selbstüberhebung gewesen, mir aber eine Warnung. Ich fürchtete, dass mich, wenn ich mein Wissen nicht für mich behielte, alsbald ein Blitz erschlüge. Darum ließ ich meine Aufzeichnungen so lange liegen. Ich fürchtete, den Fluch, der sich anzubahnen schien in dem, was sie erzählen, auf mich selber zu ziehen. Nicht einmal die Zeit, in der es unter den deutschen Geistern von Genies geradezu wimmelte, gab mir den Mut, das, was ich über Bach wusste, mit dem Etikett des Genialen zu versehen und öffentlich zu machen. Ich war zwei, drei Jahrzehnte älter als diese Leute, hatte kein einziges Studium wirklich abgeschlossen und wusste in meiner Armut und meiner verachteten Rolle recht gut, wie weit ein „genialer Kopf“ kommt, der kein „Brotgelehrter“ werden will.

Ich schrieb, wenn wir allein waren, so gut ich konnte, mit, was der Thomaskantor sprach, und er bemerkte es nicht, weil er fast blind war. Während der zwölf Besuche, die ich seinem letzten Lebensjahr abstahl, kam ich mir jedes Mal wie einer der zwölf Jünger vor, die dem Sohn Gottes zu Füßen saßen, ohne einen Gedanken daran, welcher von ihnen. Als ich zum ersten Mal meine Aufzeichnungen für die Öffentlichkeit aufbereiten wollte, fühlte ich mich aber wie Judas, der ihn verriet. Der Anlass meiner Besuche war zunächst so unschuldig wie nur irgendeiner: Hilfsbereitschaft. Da er sich nicht so helfen ließ, wie ich es ihm angeboten hatte, wurde die Sache doch heikel. Aber haben ihn seine eigenen Söhne, die ihn als „die alte Perücke“ belächelten, etwa nicht verraten? Carl Philipp Emanuel Bach versuchte, die Platten mit der unvollendeten „Kunst der Fuge“, die niemand kaufen wollte, sechs Jahre nach seines Vaters Tod zu jedem Preis, der ihm geboten würde, zu verkaufen, und gab sie schließlich um den bloßen Metallwert her. Niemand weiß heute, wo sie geblieben sind; vermutlich schmolz man sie ein. Gemessen daran scheint mir der Verrat, dessen ich mich schon mit meinen ersten Aufzeichnungen schuldig machte, gering: Ich hielt fest, was der Erblindende, der mit dem Komponieren nicht weiterkam, einem, dem er nicht mehr in die Augen sehen konnte, darüber erzählte. Mir allein vertraute er sein Geheimnis an, das Geheimnis, was er mit dem zunehmend sich verzweigenden, in vier magischen Tönen sich steigernden Geflecht perfekter Fugen gewollt hatte. Er ließ mich allein mit den seinen Worten, die man schlechthin nicht für sich behalten kann, so wie er an der Stelle, wo die Quadrupelfuge abbricht, den Lauschenden alleinlässt, sooft das Werk originalgetreu aufgeführt wird.

Der rätselhafte, unheimliche Bach, den ich während meiner zwölf Besuche 1749/50 erlebte, ist auch so unbekannt geblieben, dass ich beinahe sicher bin: Niemand wird ihn mir glauben. Dass er seiner Zeit und dem zeitgenössischen Musikleben ein Fremder geworden war, sogar den eigenen Söhnen, das weiß man, sofern man überhaupt noch von ihm weiß. Schon sein Nachfolger im Thomaskantorat, Johann Friedrich Doles, wandte sich, soweit sein Dienst es ihm erlaubte, dem Gewandhaus zu, der 1741 von dem Kaufmann Zehmisch gegründeten Konzertgesellschaft, die seither das Musikleben Leipzigs maßgebend bestimmt. Aber wem die Kunst etwas bedeutet, der fragt zu keiner Zeit, welchen Wert Johann Sebastian Bach auf dem Markt habe. Adam Friedrich Oeser sah ich die Decke des Gewandhauses bemalen, und als er die letzten Striche an die Szene verwendete, die zeigt, wie die alte Musik verjagt und die neue eingeführt wird, pfiff ich ein paarmal scharf, dass die Akustik der Wände eine Probe ihrer Güte abgaben, die Töne b-a-c-h. Der Meister verstand und setzte mit hurtigem Pinsel ein fliegendes, ein davonflattemdes Blatt hinzu, auf dem noch heute deutlich die Buchstaben BACH zu lesen sind. In all den zwölf Monaten wartete der Thomaskantor darauf, wieder zu sehen. Mir schien, er wartete darauf, mit eigenen Händen und eigenen Augen die Komposition zu beenden, mit der er im 239. Takt steckengeblieben war. Doch – um dies schon vorwegzunehmen – je weiter der Erblindete auch körperlich verfiel, je weniger die Operation das hielt, was der englische Ophthalmiater versprochen hatte, desto häufiger fand ich Bach damit zufrieden, dass sein, wie er meinte, ohnehin ad infinitum fortsetzbarer Fugen-Zyklus gleichsam in die Ewigkeit mündete. Mir fielen dazu die Verse des Angelus Silesius ein:

 

„Man sagt, die Zeit ist schnell.

Wer hat sie sehen fliegen?

Sie bleibt ja unverrückt

Im Weltbegriffe liegen.“

 

Seither fragte ich mich auch, was es denn damit sei, dass, wie wir immer sagen, die Zeit vergehe. Ist es wirklich die Zeit, die vergeht? Das ginge doch nur, wenn man die Zeit mit dem Gang einer Uhr verwechselt. Der Uhrzeiger gibt der Zeit einen Weg, den sie nicht wirklich geht, den nur die Uhr geht. Nicht die Zeit vergeht, sondern wir vergehen! Wenn ich im allgemeinen Getriebe der Straßen, Plätze und Gassen die Leute in ihrer Eile wie in ihrer Bummelei beobachte, frage ich mich oft: Denkt von den Gläubigen denn nicht einer an den Weltuntergang, wie ihn die Apokalypse des Johannes schildert? Bedenkt von den Ungläubigen denn nicht einer, dass die Sonne schon bald erkalten wird, dass noch viel eher, vielleicht in ein paar tausend Jahren schon, die Menschheit verlöschen muss, weil unser Planet verödet, weil er öde und leer sein wird, wie ihn der Gläubige sich am ersten Schöpfungstage vorstellt? Aber ich sage mir auch: Es ist gut so, dass es jetzt niemanden kümmert, wenn jenseits unserer Tage alle Lebensbedingungen schwinden, wenn wir sie vielleicht sogar selbst zerstören mit Dampfmaschinen, galvanischen Giften und Bergaushöhlungen auf der Suche nach fossilen Brennstoffen. Noch bevor der letzte Mensch verreckt ist, wird jedes Gedächtnis an die Menschheitsgeschichte ausgelöscht sein. Die Gestirne werden durchs All treiben, als hätte es die Erde niemals gegeben. Unsere Lebenszeit geht das nichts an, und weder unsere Kinder noch unsere Enkel brauchen derlei zu befürchten. Aber welchen Klang nimmt der Begriff des Fortschritts dabei an, den wir aus Frankreich und England immer häufiger hören? Welchen Sinn haben noch Ziele, die über unsere Tagesbedürfnisse hinausgehen? „Nach uns die Sintflut!“ pflegte König Ludwig XV. an seiner üppigen Tafel zu rufen. Wir wissen nun, was kam: Eine Woge von Blut schwappte von der Guillotine und rann durch die Straßen von Paris, dass man die Hunde aus den Gossen vertreiben musste!

Nicht nur in der Weltgeschichte zeigen die Dinge, die wir betreiben, andere Ergebnisse als die, die wir erwarteten oder gar bezweckten. Nicht einmal Ursache und Wirkung scheinen mir immer in der Kongruenz zu stehen, in der sie die Naturwissenschaften beschreiben. Aber das führte zu weit. Ich fand jedenfalls allzu oft bestätigt, dass die Zeit, die wir als linear ablaufend erfahren, uns niemals das ganze Sein offenbart, dass ihre Wirklichkeit also in Frage steht. Aristoteles stand meines Erachtens als Erster ratlos vor diesem Befund, und er legte den Grund für die Sätze des Thomas von Aquino in seiner Summa Theologica: „ de ratione temporis est quod habeat prius et posterius, de ratione vero aetemitatis est quod ist tota simul.“ Das ist deutsch: „Es gehört zum Begriff der Zeit, dass sie ein Früher und Später kennt, zum Begriff der Ewigkeit, dass sie in ihrer ganzen Fülle zugleich ist.“ Da also die Ewigkeit in ihrer ganzen Fülle zugleich ist, ist sie auch unbegrenzt, gibt es auch keine Grenze zwischen ihr und der Zeitlichkeit – das heißt: In allem Zeitlichen ist auch das Ewige, alles Zeitliche ist offen zum Ewigen. Überall in der Mathematik und in der Physik fand ich dies bestätigt: Sie verfangen sich in sich selbst, in allen Rechenoperationen stoßen sie an ihre Grenzen, sobald sich die Größen Unendlich und Null einmischen, was deshalb strikt zu meiden ist.

Darum sind mir alle kompilatorischen Versuche, Bachs letztes Werk abzuschließen, so verhasst wie die Unart, nach dem Verklingen des letzten Tones den Choral „Vor deinen Thron tret‘ ich“ anzustimmen. Die Stille, die da eintritt, muss ausgehalten werden. Sooft ich mir vorzustellen versuchte, wohin über die Quadrupelfuge und über den 239. Takt hinaus das nachgelassene Werk des Thomaskantors noch hätte gedeihen sollen, fand ich ihn – meist im Gegensatz zu mir, der ihn so lange nicht verstand – versöhnt mit seinem Erblinden und Dahinwelken, und mit seinem Sterben ging er nur den Weg, den „Die Kunst der Fuge“ mit ihrem ersten Thema längst eingeschlagen hatte.

1. PRÄLUDIUM: Von Vätern und Müttern

In der Stadt Leipzig war sechs Wochen vor der Michaelis-Messe ruchbar geworden, dass der alte Thomaskantor Bach erblindet sei und sowohl eine große Arbeit als auch einen unerquicklichen Streit um eine Rezension habe liegen lassen müssen. Der Streit war eine Lappalie, die ich in ihrer Bedeutung für Bach erst allmählich durchschauen lernte. Die große Arbeit aber war nicht nur Kennern ein Begriff. Er hatte im letzten Schimmer seines verblassenden Ruhmes vor mehreren Jahren damit begonnen. Sie war in aller Munde, und zwar auf eine schändliche Weise: Der durch und durch hässliche Leipziger Dialekt nannte mit einer noch hässlicheren Zweideutigkeit, auf die zwei Frauen und die zwanzig Kinder des nicht nur in musicis produktiven Compositeurs anspielend, das erhabene opus magnum „Die Gunst der Fuche“. Wer dazu begriffsstutzig die Stirn runzelte wie ich, der ich aus anderen deutschen Gegenden gekommen war und auch nach den Jahren an der Thomasschule und der Theologischen Fakultät noch nicht weit genug in das Dickicht dieser selbst im Sächsischen noch befremdenden Mundart vorgedrungen war, der wurde mit einem gemeinen Grinsen belehrt: „Gannst ooch Furche sach‘n.“ Wobei es mehr wie „Fursche“ klang. So sprach man in der Mitte des geistvollen Jahrhunderts, das nun so blutig zu Ende geht, über einen Mann, der den Geist und das Wesen der Musik selbst verkörperte. So begann das Vergessen, das sich über ihn breitete. So entblößte sich die allgemeine Verrohung als dessen eigentliche Ursache.

Das Schäbige dieser obszönen Witzelei traf mich besonders schmerzhaft, da ich gerade meine Braut verloren hatte. Wie heiter waren wir nach einigen Theaterabenden durch Leipzigs Straßen gebummelt, bei denen wir Stücke des jungen Lessing gesehen hatten, „Der Freigeist“, „Der junge Gelehrte“, „Die alte Jungfer“, „Der Misogyn“, verdeutscht der „Weiberfeind“. Das hatte uns ihr Vormund nun verboten.

 

Hinsichtlich des Standes waren wir einander ebenbürtig. Aber ich sah mich nicht in der Lage, je so viel Geld in meine Truhe zu locken, wie ich für eine standesgemäße Ehe brauchte, und ihr Vormund erkannte unsere Brautschaft einfach nicht an. Ihr Vater war sehr früh verstorben, ihre Mutter erst kürzlich. Wir liebten uns und hatten nach einem Abend in galanter Gesellschaft bereits heimlich von der verbotenen Paradiesesfrucht gekostet. Seit ich meine Braut nicht wiedersehen durfte, wünschte ich nichts sehnlicher, als einmal noch mit ihr zu schlafen und dann die ewige Ruhe mit ihr zu finden. Neben ihren Eltern waren auf dem Großen Gottesacker zu Halle gerade noch zwei Stellen frei. Auch meine Eltern lagen schon unter der Erde. Zu ihnen zog es mich zwar nicht weniger. Aber die Erde, die ihre Särge bedeckte, gehörte meiner Familie nicht mehr. So galten mir der Park und das Gutshaus, worin ich aufgewachsen war, als einer der Orte, wo man nicht begraben werden möchte.

Ich ging also zu ihm, um ihm meine Dienste anzubieten. Der Gang fiel mir nicht leicht. Man drängte sich damals noch immer danach, sich Bachs Schüler nennen zu dürfen, ob nun zu Recht oder zu Unrecht. Lange Zeit hatte auch jeder Musiker, ob von Rang oder nicht, wenn er nach Leipzig kam, versucht, dem Thomaskantor vorzuspielen, ihm die eigenen Sachen zu zeigen. Das machte ihn im Lauf der Zeit unzugänglich. Nicht einmal sein Lieblingsschüler Johann Ludwig Krebs war ihm immer willkommen, den er einmal mit einem Wortspiel gelobt hatte: „Der ist der einzige Krebs in meinem Bache.“ Auch Angehörige seiner weitverzweigten Familie, die sich etwa mit dem Namen „BACH“ empfehlen konnten, hatten es schwer damit, zu ihm vorzudringen. Da ich als ehemaliger Thomasschüler seine harsche, ja verletzende Art in Dingen, die ihm einerseits zu vertraulich, andererseits auch peinlich zu werden drohten, kannte, war ich auf eine Abfuhr gefasst und wappnete mich mit Insistenz.

Die unverhoffte Erkrankung seiner Augen hatte aber im Reglement seiner weitläufigen Wohnung, die sich im linken Flügel der umgebauten Thomasschule befand, einiges durcheinandergeworfen. Seine Frau Anna Magdalena Bach machte sich, wie ich sah, in ihrem Kräutergärtlein zu schaffen, und alle Türen und Fenster standen der warmen Sommerluft wegen weit offen. Ihr Kanarienvogel, angeregt vom Lärmen und Poltern der hinausstürmenden Schuljugend, schmetterte seine beinahe endlose Melodie mit einer so kräftigen Stimme in die Sonne, als wollte er damit der Mauser entkommen oder die Arznei segnen, welche die Bachin für ihren Mann unter den verschiedenen Pflänzlein zusammensuchte. Es gelang mir also, unbemerkt in das Schulhaus zu huschen, dessen Flure und Treppen ich so gut kannte wie seine üblen Gerüche, und ungefragt über die Schwelle zu kommen, und da der Hilfebedürftige gerade nach seiner Frau rief, sagte mir mein Gehör, wo er zu finden war.

Er saß, mit einem alten Hausmantel bekleidet, die nach der neueren Mode vom Scheitel in steileren, fast eckigen Wellen ausladende Allongeperücke auf dem Haupt, also halbwegs empfangsbereit in einem weiten Lehnstuhl und schaute suchend umher mit trüben, lebensarmen Augen, deren einst kräftiges Blau verblasst war und keine Pupillen mehr zu haben schien, und er richtete sie blicklos auf mich, weil unter meinem Schritt die Schwelle knarrte. Zu der Zeit, im August 1749, dunkelte man seine Komponierstube noch nicht ab. Er ließ ein halbbeschriebenes Blatt Notenpapier auf den Schoß sinken, hatte also versucht, etwas von dem Geschriebenen zu erkennen.

Ich entschuldigte mich für mein Eindringen mit einer halben Lüge, alles sei offen, aber kein Mensch zugegen gewesen, und stellte mich als seinen einstigen Schüler vor, nannte ihm auch meinen klingenden Adelsnamen, den ich hier in aller Bescheidenheit verschweige, und unterließ, da er mich vielleicht doch wahrnahm, keine der damals üblichen respektvollen Kratzfüße und Gesten.

„Ein Thomaner?“, fragte er unbeeindruckt. „Dann jedenfalls keiner von den Rüpeln. Nur deren Namen habe ich behalten, die der Braven nicht.“

Ich erinnerte ihn an manches gemeinsame Musizieren, zu dem ich vor allem meine bescheidenen Fähigkeiten auf der Gambe und am Cembalo beigesteuert hatte, und an ein Gespräch über Orthodoxie und Pietismus, in das wir vor zwei Jahren anlässlich meiner Immatrikulation an der Theologischen Fakultät geraten waren.

An das „Geschwätz“, sagte er, erinnere er sich nicht, und die Gambe habe kein Adliger so gut gespielt wie Fürst Leopold von Anhalt-Köthen.

„Ich bin der Schüler“, erklärte ich, „der Ihrem Sohn Carl Philipp Emanuel oft geholfen hat, das Cembalo zu stimmen, das in der Kirchenluft so schnell den rechten Klang einbüßt.“

„Ich nehme keinen Schüler“, fuhr er fort mit einer Armbewegung, als wischte er mich hinweg.

Dies sei nicht der Grund meines Kommens, sprach ich in die Pause. Aber ich wagte es kaum noch, ihm meine Hilfe bei der Niederschrift der „Kunst der Fuge“ anzutragen. Was erblickt wohl ein Blinder, wenn er dennoch etwas zu sehen glaubt? Er schaut in sich selbst hinein, und was er da findet, das möchte er mitteilen. Darum wich ich aus, ich hätte vor, etwas über sein Leben zu schreiben, auf das er nun wohl innerlich zurückblicke. Aber das kam übel an.

„Ein Musikerlexikon verfassen?“, knurrte er. „Wie es jetzt üblich ist? Und mich darin verunglimpfen? Ärger, als es schon geschah, weil meine Augen nichts mehr prüfen können? Neinnein!“

Ich sagte, ich sei gar nicht vom Fach.

„Und wäre es einer vom Fach!“

Ich wusste, dass sich in Hamburg Mattheson lobend über Bach geäußert hatte, glaubte aber nicht, dass Bach Lob brauchte. „Matthesons Lob war wohl vom Fach, aber kalt, zu kalt! Er hat mich gelobt, aber nicht gern.“

„Wie das?“

„Mit Lob für andere verdüstert man sich selbst. Das kränkt die eigene Eitelkeit. In seinen Schriften klirrt sie ja allenthalben!“

„Ein Meister achtet nicht auf Kritiker.“

Er aber sprach von ungestrafter Missgunst, von Zurücksetzung, fühlte sich übergangen, der Name Johann Gottfried Walther fiel, ein Freund noch aus der Zeit in Weimar, der ihn enttäuscht hatte. Ich war auf diese Tirade nicht gefasst und merkte mir nicht alles. „In meiner Musik“, schloss er, „in meiner Musik erfährt man alles über mich.“

Er hatte gesprochen, als würde ihm sein eigener Speichel immer bitterer. Mir wurde ängstlich zumute. Aber ich brachte es nicht fertig, einfach aufzustehen und zu gehen. So wies ich auf das Blatt, das in seinen Fingern zitterte, ich berührte es so, dass er es spürte, und fragte, ob er das meine.

„Ich hab‘s komponiert. Wer spielt‘s? Ich selber. Wer noch? Und wenn ich nicht mehr, wer dann?“ Da er sich erhob und, das Notenpapier beiseitelegend, unsicher auf das Cembalo zuging, erriet ich, dass er blind und auswendig spielen konnte und wollte, und so nahm ich seinen Ellenbogen, um ihn zu führen. Von der Berührung ging etwas aus, das mich hoffen ließ, sein Vertrauen zu erwerben.