In dieser Studie wird der Versuch einer Reaktualisierung des klassischen Begriffs der Verdinglichung unternommen, dessen Bedeutungsgehalt bei näherer Betrachtung erheblich verschwimmt. Axel Honneth schlägt im Rückgriff auf Lukács, Heidegger und Dewey einen anerkennungstheoretischen Begriff der Verdinglichung vor, der sich auch gesellschaftstheoretisch fruchtbar machen läßt. In ihren luziden Kommentaren diskutieren Judith Butler, Raymond Geuss und Jonathan Lear diesen Vorschlag. Eine Erwiderung von Axel Honneth beschließt den Band.
Axel Honneth ist Professor für Sozialphilosophie an der Columbia University in New York und der Goethe-Universität in Frankfurt am Main sowie Direktor des dortigen Instituts für Sozialforschung. Zuletzt erschienen: Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit (2011 und stw 2048) sowie Der Wert des Marktes (stw 2065, hg. zus. mit Lisa Herzog).
Verdinglichung
Eine anerkennungstheoretische Studie
Mit Kommentaren von
Judith Butler, Raymond Geuss und Jonathan Lear und einer Erwiderung von Axel Honneth
Suhrkamp
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Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt
eISBN 978-3-518-73812-2
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Verdinglichung
Vorwort
Einleitung
I. Verdinglichung bei Lukács
II. Von Lukács zu Heidegger und Dewey
III. Der Vorrang der Anerkennung
IV. Verdinglichung als Anerkennungsvergessenheit
V. Konturen der Selbstverdinglichung
VI. Soziale Quellen der Verdinglichung
Kommentare und Erwiderung
Judith Butler
Den Blick des Anderen einnehmen: Ambivalente Implikationen
Raymond Geuss
Philosophische Anthropologie und Sozialkritik
Jonathan Lear
Die changierende Mitte
Axel Honneth
Erwiderung
Textnachweise
Namenregister
Die vorliegende Studie stellt die überarbeitete und erweiterte Fassung der Tanner-Lectures dar, die ich im März diesen Jahres an der Universität Berkeley gehalten habe. Ich hatte mir zum Ziel gesetzt, ein bedeutendes Thema des westlichen Marxismus aus aktuellem Anlaß so zu reformulieren, daß es auch für die eher analytisch geschulten Ohren des Publikums in Berkeley in seinen theoretischen Umrissen und seiner Dringlichkeit verständlich wird; und natürlich wollte ich auf diesem Wege auch versuchen, den Begriff der Anerkennung für ein Thema fruchtbar zu machen, das bis heute zur unbewältigten Erbmasse der Tradition der Kritischen Theorie gehört. Wenn ich die Reaktionen des Publikums nicht falsch gedeutet habe, so scheint dieser Brückenschlag zwischen Frankfurt und Berkeley geglückt zu sein; vor allem die drei »Respondants«, die eingeladen waren, um meine Vorträge zu kommentieren – Judith Butler, Raymond Geuss und Jonathan Lear –, haben mir durch ihre ungemein engagierten und klugen Einwände deutlich gemacht, daß meine Ausführungen mit wohlwollendem Interesse verfolgt wurden. Ich habe ihre Vorschläge und Empfehlungen bei der Überarbeitung des Manuskripts ebenso zu berücksichtigen versucht wie die Hinweise, die ich in Frankfurt von Rahel Jaeggi und Christopher Zurn erhalten habe. Ihnen allen bin ich für die beherzte Kritik dankbar, die sie meinem Manuskript gewidmet haben. Im Verlag schließlich hat Eva Gilmer alles getan, um eine schnelle Veröffentlichung meiner Vorlesungen zu ermöglichen; auch ihr möchte ich für ihr Engagement herzlich danken.
Frankfurt/M., im Mai 2005
Axel Honneth
»Alle Verdinglichung ist ein Vergessen.«
(Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung)
»Das Wissen gründet sich am Schluß auf der Anerkennung.«
(Ludwig Wittgenstein, Über Gewißheit)
Der Begriff der »Verdinglichung« ist in den 20er und 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein Leitmotiv der Sozial- und Kulturkritik im deutschsprachigen Raum gewesen. Wie in einem Brennspiegel schienen sich in diesem Ausdruck oder benachbarten Begriffen die historischen Erfahrungen zu konzentrieren, die die Weimarer Republik unter dem Druck wachsender Arbeitslosigkeit und ökonomischer Krisen prägten: Die sozialen Beziehungen erweckten zunehmend den Eindruck nüchtern-kalkulatorischer Zweckhaftigkeit, die handwerkliche Liebe zu den Dingen war offenbar einer Einstellung der bloß instrumentellen Verfügung gewichen, und selbst die inwendigen Erfahrungen der Subjekte ließen den eiskalten Hauch von berechnender Willfährigkeit erahnen. Allerdings bedurfte es erst der Geistesgegenwart eines intellektuell engagierten Philosophen, bevor solche diffusen Stimmungen tatsächlich auf den einen Nenner der »Verdinglichung« gebracht werden konnten; und es war Georg Lukács, dem es in seiner 1923 erschienenen Aufsatzsammlung Geschichte und Klassenbewußtsein[1] gelang, durch eine kühne Zusammenfassung von Motiven aus den Werken von Marx, Max Weber und Georg Simmel diesen Schlüsselbegriff zu prägen. Im Zentrum seines Bandes, der von der Hoffnung auf eine bevorstehende Revolution angetrieben war, steht die lange, dreiteilige Abhandlung über die »Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats«;[2] sie hat eine ganze Generation von Philosophen und Soziologen beflügelt, die Lebensformen unter den damals herrschenden Verhältnissen als eine Folge sozialer Verdinglichung zu analysieren.[3]
In der Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs allerdings war es um die zeitdiagnostische Zentralstellung der Kategorie der »Verdinglichung« geschehen; als habe der Zivilisationsbruch des Holocaust jede spekulative Neigung zur überschießenden Gesellschaftsdiagnose erlahmen lassen, begnügten sich die Sozialtheoretiker und Philosophen weitgehend mit der Analyse von Demokratie-und Gerechtigkeitsdefiziten, ohne noch von Pathologiebegriffen wie »Verdinglichung« oder »Kommerzialisierung« Gebrauch zu machen. Zwar lebten solche Perspektiven natürlich in den Schriften der Frankfurter Schule, zumal in den Arbeiten von Adorno, fort, zwar flammte während der Studentenbewegung noch einmal kurz die Erinnerung an die Studie von Lukács auf,[4] im ganzen aber schien das Projekt einer Verdinglichungsanalyse doch endgültig einer lang entrückten Vergangenheit anzugehören. Von »Verdinglichung« auch nur zu sprechen konnte wie ein Symptom erscheinen, verstockt einer kulturellen Epoche angehören zu wollen, die durch die Nachkriegszeit, kulturelle Reformen und theoretische Neuerungen ihre Legitimation verloren hatte.
Erst in der jüngsten Gegenwart mehren sich die Anzeichen, daß diese Situation sich doch noch einmal ändern könnte; wie ein philosophisch unverarbeiteter Brocken kehrt die Kategorie der »Verdinglichung« aus den Untiefen der Weimarer Republik wieder und betritt erneut die Bühne des intellektuellen Diskurses. Es sind drei, wenn nicht vier Indizien, die die Vermutung eines solchen zeitdiagnostischen Stimmungswandels zu stützen vermögen. Zunächst und noch ganz unspektakulär läßt sich auf eine Vielzahl neuerer Romane und Erzählungen verweisen, die eine ästhetische Aura der schleichenden Ökonomisierung unseres Alltagslebens verbreiten; durch die Art der benutzten Stilmittel oder die Auswahl des herangezogenen Vokabulars legen es diese literarischen Zeugnisse nahe, die soziale Welt so zu betrachten, als gingen ihre Bewohner mit sich und anderen im wesentlichen wie mit leblosen Gegenständen um, also ohne eine Spur der inneren Empfindung oder des Versuchs der Perspektivübernahme. Die Liste der Autoren oder Autorinnen, die in diesem Zusammenhang zu nennen wären, reicht von den amerikanischen Erzählern Raymond Carver und Harold Brodkey über das Enfant terrible der französischen Literatur, Michel Houellebecq, bis zu den deutschsprachigen Schriftstellerinnen Elfriede Jelinek und Silke Scheuermann.[5] Ist in solchen narrativen Werken die Verdinglichung nur als eine atmosphärische Stimmung präsent, so wird sie in neueren soziologischen Analysen als eine veränderte Form des menschlichen Verhaltens studiert; zahllos sind heute im Bereich der Kultursoziologie oder der Sozialpsychologie die Untersuchungen, die eine verstärkte Tendenz der Subjekte ausmachen, bestimmte Gefühle oder Wünsche aus Opportunitätsgründen so lange bloß vorzuspielen, bis sie als Bestandteile der eigenen Persönlichkeit auch tatsächlich erlebt werden[6] – eine Form der emotionalen Selbstmanipulation also, die schon Lukács vor Augen hatte, als er vom Journalismus als einer »Prostitution« von »Erlebnissen und Überzeugungen«[7] sprach und darin eine letzte Steigerungsform sozialer Verdinglichung erblickte.
Gewiß, in derartigen Diagnosen einer Tendenz zum Gefühlsmanagement taucht der Begriff der »Verdinglichung« ebensowenig explizit auf wie in den meisten der literarischen Zeugnisse, die heute eine Atmosphäre kalter Sachlichkeit und Manipulation verbreiten; das ändert sich erst mit der dritten Klasse von Texten, die gegenwärtig eine Wiederkehr der Verdinglichungsthematik vermuten lassen. Auch innerhalb der Ethik oder Moralphilosophie finden sich in der jüngsten Zeit nämlich Bemühungen, solcher sozialen Phänomene theoretisch habhaft zu werden, wie sie Lukács in seiner Analyse durchaus vorgeschwebt haben mögen. Dabei wird häufig vom Begriff der »Verdinglichung« ausdrücklich Gebrauch gemacht, ohne jedoch die Verbindung zum Ursprungstext herzustellen: So spricht Martha Nussbaum in neueren Studien gezielt von »Verdinglichung«, um damit besonders krasse Formen der instrumentellen Benutzung anderer Personen zu kennzeichnen,[8] während Elizabeth Anderson auf den Begriff zwar verzichtet, aber durchaus vergleichbare Phänomene der ökonomischen Verfremdung unserer Lebensverhältnisse analysiert.[9] In solchen ethischen Zusammenhängen ist von »Verdinglichung« oder verwandten Prozessen in einem dezidiert normativen Sinn die Rede; gemeint ist damit ein menschliches Verhalten, das insofern gegen unsere moralischen oder ethischen Prinzipien verstößt, als andere Subjekte nicht gemäß ihrer menschlichen Eigenschaften, sondern wie empfindungslose, tote Gegenstände, eben als »Dinge« oder »Waren«, behandelt werden; und die empirischen Phänomene, auf die mit derartigen Bestimmungen Bezug genommen wird, umfassen so unterschiedliche Tendenzen wie die wachsende Inanspruchnahme von Leihmutterschaften, die Vermarktlichung von Liebesbeziehungen oder die explosionsartige Entwicklung der Sexindustrie.[10]
Schließlich ist noch ein vierter Kontext auszumachen, in dem die Kategorie der »Verdinglichung« heute erneut verwendet wird, um hervorstechende Entwicklungen in unserer Gegenwart begrifflich zu charakterisieren. Im Umfeld der Diskussionen, die in jüngster Zeit über die Ergebnisse und sozialen Wirkungen der Hirnforschung geführt werden, ist nicht selten davon die Rede, daß die strikt naturwissenschaftliche Herangehensweise in diesem Fall eine verdinglichende Einstellung verrate: Denn in dem Vorsatz, so lautet das Argument, das menschliche Fühlen und Handeln durch die bloße Analyse von neuronalen Verschaltungen im Gehirn zu erklären, wird von allem lebensweltlichen Wissen abstrahiert und damit der Mensch wie ein erfahrungsloser Automat, letztlich also wie ein Ding, behandelt. Wie in den zuvor genannten ethischen Ansätzen, so wird auch hier also der Begriff im wesentlichen herangezogen, um einen Verstoß gegen moralische Prinzipien zu kennzeichnen; der Umstand, daß in der neurophysiologischen Betrachtung des Menschen dessen personale Eigenschaften scheinbar nicht zur Kenntnis genommen werden, wird als ein Fall von »Verdinglichung« bezeichnet.[11] In beiden Kontexten spielen mithin die ontologischen Konnotationen, die der Begriff doch mit seiner Anspielung auf bloße Dinge enthält, nur eine untergeordnete, marginale Rolle: Nicht weil ein bestimmtes, »verdinglichendes« Verhalten gegen ontologische Präsuppositionen unseres Alltagshandelns, sondern weil es gegen moralische Prinzipien verstößt, gilt es als fragwürdig oder falsch. Demgegenüber glaubte Lukács noch, ohne jeden Bezug auf ethische Grundsätze auskommen zu können; er nahm in seiner Abhandlung den Begriff der »Verdinglichung« insofern wörtlich, als er damit eine soziale Verhaltenspraxis zu charakterisieren können glaubte, die nur aufgrund der Verfehlung ontologischer Tatsachen schon als falsch gelten sollte.
Natürlich besitzt auch die Verdinglichungsanalyse von Lukács, obwohl sie auf ein moralisches Vokabular vollständig verzichtet, einen normativen Gehalt. Schließlich verrät ja schon die Verwendung des Begriffs der »Verdinglichung« die Unterstellung, daß es sich bei den geschilderten Phänomenen um die Verfehlung einer »eigentlichen« oder »richtigen« Form der Einstellung zur Welt handeln muß; und schließlich geht Lukács wie selbstverständlich davon aus, daß seine Leserinnen und Leser zustimmen, wenn er die geschichtliche Notwendigkeit einer Revolutionierung der gegebenen Verhältnisse darstellt. Aber der Einsatzort dieser impliziten Urteile befindet sich auf einer theoretischen Stufe, die unterhalb der argumentativen Ebene liegt, auf der in den genannten Kontexten die entsprechenden Wertungen formuliert und begründet werden; denn Lukács erblickt in der Verdinglichung eben nicht einen Verstoß gegen moralische Prinzipien, sondern die Verfehlung einer menschlichen Praxis oder Einstellungsweise, die die Vernünftigkeit unserer Lebensform ausmacht.[12] Die Argumente, die er gegen die kapitalistische Verdinglichung unserer Lebensverhältnisse vorbringt, besitzen nur indirekt einen normativen Charakter, weil sie sich aus den deskriptiven Elementen einer Sozialontologie oder philosophischen Anthropologie ergeben, die die rationalen Grundlagen unserer Existenz zu erfassen versucht; insofern läßt sich von der Lukácsschen Verdinglichungsanalyse sagen, daß sie die sozialontologische Erklärung einer Pathologie unserer Lebenspraxis liefert.[13] Ob wir freilich heute noch so reden dürfen, ob wir Einwände gegen eine bestimmte Lebensform unter Hinweis auf sozialontologische Einsichten rechtfertigen dürfen, ist keineswegs ausgemacht. Ja, es ist nicht einmal klar, ob wir angesichts der hohen Erfordernisse strategischen Handelns in heutigen Gesellschaften mit dem Begriff der »Verdinglichung« überhaupt noch einen in sich stimmigen Gedanken zum Ausdruck bringen können.
Um die Frage klären zu können, ob dem Begriff der »Verdinglichung« heute noch ein brauchbarer Wert zukommt, ist es wohl sinnvoll, sich zunächst an der klassischen Analyse von Lukács zu orientieren; allerdings werden wir schnell feststellen, daß seine kategorialen Mittel nicht ausreichen, um die phänomenologisch häufig richtig erfaßten Vorgänge angemessen konzeptualisieren zu können. Lukács hält sich eng an das ontologisierende Alltagsverständnis des Begriffs der »Verdinglichung«, wenn er schon auf der ersten Seite seiner Studie in Anschluß an Marx behauptet, daß Verdinglichung nichts anderes bedeute, als »daß eine Beziehung zwischen Personen den Charakter einer Dinghaftigkeit«[1] erhält. In dieser elementaren Form bezeichnet der Begriff offensichtlich einen kognitiven Vorgang, durch den etwas, was an sich keine dinglichen Eigenschaften besitzt, also beispielsweise Menschliches, als etwas Dingliches angesehen wird; dabei ist zunächst unklar, ob es sich im Falle einer solchen Verdinglichung bloß um einen epistemischen Kategorienfehler, um eine moralisch verwerfliche Handlung oder um eine im ganzen verzerrte Form von Praxis handeln soll. Schon nach wenigen Sätzen wird freilich deutlich, daß Lukács mehr als nur einen Kategorienfehler vor Augen haben muß, weil der Vorgang der Verdinglichung eine Vielschichtigkeit und Stabilität erhält, die mit einem kognitiven Irrtum kaum zu erklären wäre. Als soziale Ursache für die Verstetigung und Verbreitung der Verdinglichung nimmt Lukács nun die Ausweitung des Warentausches an, der mit der Etablierung kapitalistischer Gesellschaften zum herrschenden Modus intersubjektiven Handelns geworden ist; sobald die Subjekte beginnen, ihre Beziehungen zu ihren Mitmenschen primär über den Austausch von äquivalenten Waren zu regeln, werden sie dazu genötigt, sich zu ihrer Umwelt in ein verdinglichendes Verhältnis zu setzen; denn sie können nun nicht mehr umhin, die Bestandteile einer gegebenen Situation allein noch unter dem Gesichtspunkt des Ertrages wahrzunehmen, den diese für ihre egozentrischen Nutzenkalküle abwerfen könnten. Der damit erzwungene Perspektivenwechsel wirkt sich in verschiedenen Richtungen aus, die für Lukács ebenso viele Formen der Verdinglichung ausmachen: Die Subjekte sind im Warentausch wechselseitig dazu angehalten, (a) die vorfindlichen Gegenstände nur noch als potentiell verwertbare »Dinge« wahrzunehmen, (b) ihr Gegenüber nur noch als »Objekt« einer ertragreichen Transaktion anzusehen und schließlich (c) ihr eigenes Vermögen nur noch als zusätzliche »Ressource« bei der Kalkulation von Verwertungschancen zu betrachten. Lukács zieht alle diese Einstellungsänderungen, die die Beziehungen zur objektiven Welt, zur Gesellschaft und zum eigenen Selbst betreffen, im Begriff der »Verdinglichung« zusammen, ohne auf die nuancenreichen Unterschiede zwischen ihnen zu achten; als »dinghaft« wird sowohl der quantitativ taxierte Gegenstand wie der instrumentell behandelte Mitmensch wie auch das Bündel an eigenen Fähigkeiten und Bedürfnissen bezeichnet, die nur noch auf ihre ökonomische Verwertbarkeit hin erfahren werden; zudem fließen in der als »verdinglichend« bestimmten Einstellung verschiedene Komponenten zusammen, die vom handfesten Egoismus über die Teilnahmslosigkeit bis zum primär ökonomischen Interesse reichen.
Aber Lukács will in seiner Analyse noch mehr, als bloß eine Phänomenologie derjenigen Einstellungsänderungen liefern, die die Teilnahme am Warentausch den Menschen abverlangt. Zwar ist sein Blick zu Beginn beinahe ausschließlich auf jene Phänomene gerichtet, die Marx als »Warenfetischismus« beschrieben hat,[2] aber schon nach wenigen Seiten beginnt er, sich von der engen Bindung an die ökonomische Sphäre zu lösen, indem er die Verdinglichungszwänge auf das gesamte Alltagsleben im Kapitalismus überträgt. Es ist im Text nicht ganz klar, wie diese soziale Generalisierung theoretisch vonstatten geht, weil Lukács zwischen alternativen Erklärungsstrategien zu schwanken scheint: Da findet sich einerseits das funktionalistische Argument, daß es zum Zweck der Expansion des Kapitalismus erforderlich sei, alle Lebenssphären dem Handlungsmuster des Warentausches anzugleichen;[3] und gleichzeitig ist im Anschluß an Max Weber davon die Rede, daß der Prozeß der Rationalisierung eigensinnig zu einer Ausdehnung von zweckrationalen Einstellungen auf soziale Bereiche führe, die bislang traditionellen Verhaltensorientierungen unterworfen waren.[4] Wie problematisch auch immer die Begründung für diesen Schritt der Verallgemeinerung sein mag, mit seiner Hilfe gelangt Lukács schließlich zur zentralen These seiner Studie, der zufolge im Kapitalismus die Verdinglichung zur »zweiten Natur«[5] des Menschen geworden ist: Allen Subjekten, die an der kapitalistischen Lebensform partizipieren, muß es zur habituellen Gewohnheit werden, sich selber und die umgebende Welt nach dem Schema bloß dinglicher Objekte wahrzunehmen.
Bevor ich die Frage weiterverfolgen kann, um welche Art von Fehler es sich bei dieser Verdinglichung handeln soll, muß erst noch der nächste Schritt in der Analyse von Lukács dargestellt werden. Bislang hat er, wie wir gesehen haben, den Begriff des »Dings« oder der »Dinghaftigkeit« recht fahrlässig auf alle Phänomene übertragen, die von einem Subjekt in seiner Umwelt oder an der eigenen Person als ökonomisch verwertbare Größen wahrgenommen werden; gleichgültig, ob es sich um Gegenstände, andere Personen oder eigene Kompetenzen und Gefühle handelt, sie werden Lukács zufolge als dingliche Objekte erlebt, sobald sie unter Gesichtspunkten ihrer Verwendbarkeit in wirtschaftlichen Transaktionen betrachtet werden. Aber diese begriffliche Strategie reicht natürlich nicht aus, um den Gedanken der »Verdinglichung« als einer »zweiten Natur« zu rechtfertigen, weil damit eine Übertragung auch auf nichtökonomische Sphären oder Handlungsdimensionen verknüpft ist: Wie soll erklärt werden, was Verdinglichung außerhalb der Handlungssphäre des Äquivalenttausches heißt, wenn damit allein eine Umdefinition aller Situationsgegebenheiten in ökonomisch kalkulierbare Bezugsgrößen gemeint ist? Interessanterweise scheint Lukács das hierin angelegte Problem selber gesehen zu haben, denn er ändert im Zuge seiner Analyse schon bald die Richtung seiner begrifflichen Herangehensweise: Anstatt primär auf die Veränderungen zu achten, die sich auf Seiten der erfaßten Gegenstände durch die Verdinglichung vollziehen, nimmt er nun die Transformationen in Augenschein, die das handelnde Subjekt an sich selber erfahren muß. Auch im »Verhalten« der Subjekte, so behauptet Lukács, ergeben sich unter den Zwängen des Warentauschs Veränderungen, die deren gesamtes Verhältnis zur umgebenden Wirklichkeit betreffen; sobald nämlich ein Aktor dauerhaft die Rolle des Tauschpartners einnimmt, wird er zu einem »kontemplativen«, »einflußlosen Zuschauer« dessen, »was mit seinem eigenen Dasein, als isoliertem, in ein fremdes System eingefügtem Teilchen geschieht«.[6] Die Begriffe der »Kontemplation« und der »Teilnahmslosigkeit« werden mit dieser Verlagerung des begrifflichen Bezugspunktes zum Schlüssel für das, was sich im Modus der Verdinglichung auf der Ebene des sozialen Handelns vollzieht: Das Subjekt nimmt selber nicht mehr aktiv am Handlungsgeschehen seiner Umwelt teil, sondern wird in die Perspektive eines neutralen Beobachters versetzt, den die Ereignisse psychisch oder existentiell unberührt lassen. Mit »Kontemplation« ist hier also weniger eine Haltung der theoretischen Versenkung oder Konzentration gemeint als eine Einstellung der duldsamen, passiven Beobachtung; und »Teilnahmslosigkeit« soll bedeuten, daß der Handelnde nicht länger emotional vom Geschehen affiziert ist, sondern es ohne innere Anteilnahme, eben beobachtend, an sich vorüberziehen läßt.
Es ist unschwer zu erkennen, daß mit dieser begrifflichen Strategie eine geeignetere Basis gefunden ist, um zu erklären, was mit dem Gedanken der »Verdinglichung« als einer »zweiten Natur« des Menschen gemeint sein kann. Zwar scheinen für eine vollständige Explikation weiterhin einige theoretische Zwischenschritte zu fehlen, aber die grundlegende Idee läßt sich wohl doch in folgender Weise wiedergeben: In der sich erweiternden Handlungssphäre des Warentausches sind die Subjekte gezwungen, sich selber statt als Teilnehmer nur mehr als Beobachter des sozialen Geschehens zu verhalten, weil die wechselseitige Kalkulation der möglichen Erträge eine rein sachliche, möglichst affektneutrale Einstellung verlangt; mit dieser Veränderung der Perspektive geht zugleich eine »verdinglichende« Wahrnehmung aller situationsrelevanten Gegebenheiten einher, weil die zu tauschenden Gegenstände, die Tauschpartner und schließlich die eigenen Persönlichkeitspotentiale allein noch in ihren quantitativen Verwertungseigenschaften zur Kenntnis genommen werden dürfen; zur »zweiten Natur« wird eine derartige Einstellung, wenn sie kraft entsprechender Sozialisationsprozesse so sehr zu einer habitualisierten Gewohnheit wird, daß sie das individuelle Verhalten im gesamten Spektrum des Alltagslebens bestimmt; die Subjekte nehmen unter derartigen Bedingungen auch dann ihre Umwelt nach dem Muster bloß dinglicher Gegebenheiten wahr, wenn sie nicht direkt in Tauschvollzüge involviert sind. Unter »Verdinglichung« versteht Lukács mithin den Habitus oder die Gewohnheit eines bloß beobachtenden Verhaltens, in dessen Perspektive die natürliche Umwelt, die soziale Mitwelt und die eigenen Persönlichkeitspotentiale nur noch teilnahmslos und affektneutral wie etwas Dingliches erfaßt werden.
Mit dieser knappen Rekonstruktion ist indirekt immerhin schon bestimmt, um welche Art von Fehler oder Versagen es sich für Lukács bei der »Verdinglichung« nicht handeln kann. Eine solche verfälschende Perspektive stellt nicht, wie wir schon gesehen haben, einen bloß epistemischen Kategorienfehler dar; das ist aber nicht nur deswegen nicht der Fall, weil es sich bei der Verdinglichung um ein vielschichtiges und verstetigtes Einstellungssyndrom handeln soll, sondern weil diese Einstellungsänderung viel zu tief in unsere Gewohnheiten und Verhaltensweisen eingreift, als daß sie wie ein kognitiver Irrtum durch eine entsprechende Korrektur einfach auflösbar wäre. Die Verdinglichung bildet eine unsere Perspektive verzerrende »Haltung«[7] oder Verhaltensweise, die in kapitalistischen Gesellschaften so verbreitet ist, daß sich von ihr als einer »zweiten Natur« des Menschen sprechen läßt. Daraus ergibt sich nun aber auf der anderen Seite, daß die »Verdinglichung« bei Lukács auch nicht als eine Art von moralischem Fehlverhalten, als ein Verstoß gegen moralische Prinzipien begriffen werden darf; denn dazu fehlt einer solchen verzerrenden Haltung das Element des subjektiven Vorsatzes, das nötig wäre, um hier eine moralische Terminologie ins Spiel zu bringen. Im Unterschied zu Martha Nussbaum ist Lukács nicht an der Frage interessiert, ab wann die Verdinglichung anderer Personen einen Grad annimmt, der Anlaß zur Behauptung einer moralisch verachtenswerten Handlung gibt;[8] für ihn sind vielmehr alle Mitglieder kapitalistischer Gesellschaften in derselben Weise in das verdinglichende Verhaltenssystem einsozialisiert, so daß die instrumentelle Behandlung des Anderen zunächst nur ein soziales Faktum, nicht aber ein moralisches Unrecht darstellt.
Mit diesen Abgrenzungen sind wir an einen Punkt gelangt, an dem sich abzuzeichnen beginnt, wie Lukács den Schlüsselbegriff seiner eigenen Analyse verstanden wissen möchte. Wenn es sich nämlich bei der Verdinglichung weder bloß um einen epistemischen Kategorienfehler noch um ein moralisches Fehlverhalten handelt, so bleibt schließlich nur übrig, sie sich als eine im ganzen verfehlte Form von Praxis vorzustellen; das teilnahmslose, beobachtende Verhalten, als das Lukács die Verdinglichung zu begreifen versucht, bildet ein Ensemble von Gewohnheiten und Einstellungen, welches gegen Regeln einer ursprünglicheren oder besseren Form von menschlicher Praxis verstößt. Schon diese Formulierung macht freilich deutlich, daß auch eine solche Fassung des Verdinglichungsbegriffs nicht frei von normativen Implikationen ist; zwar haben wir es nun nicht mehr mit dem einfachen Fall einer Verletzung von moralischen Prinzipien zu tun, aber wir sind doch mit der ungleich schwierigeren Aufgabe konfrontiert, eine »wahre« oder »eigentliche« Praxis gegenüber ihrer verzerrten oder verkümmerten Form ausweisen zu müssen. Die normativen Grundsätze, auf die Lukács in seiner Verdinglichungsanalyse angewiesen ist, bestehen nicht in einer Summe von moralisch legitimierten Prinzipien, sondern in einem Begriff der richtigen menschlichen Praxis; und ein derartiger Begriff bezieht seine Rechtfertigung viel stärker aus Aussagen der Sozialontologie oder philosophischen Anthropologie als aus dem Bereich, der herkömmlich Moralphilosophie oder Ethik genannt wird.[9]
Nun ist es nicht so, daß Lukács sich über diese normative Herausforderung nicht im klaren wäre. Obwohl er eine starke Neigung besitzt, mit Hegel gegen die Idee eines »abstrakten Sollens« zu polemisieren, weiß er doch sehr genau, daß seine Rede von einer verdinglichenden Praxis oder »Haltung« der Rechtfertigung durch einen Begriff wahrer menschlicher Praxis bedarf. Daher streut er an vielen Stellen in seinem Text Hinweise ein, die beleuchten sollen, wie ein praktisches Weltverhältnis des Menschen beschaffen wäre, das nicht vom Zwang zur Verdinglichung affiziert ist: Vom tätigen Subjekt heißt es da etwa, daß es als »miterlebend«,[10] als »organische Einheit«[11] und als »kooperativ« begriffen werden muß, während von der Gegenstandsseite behauptet wird, daß sie vom teilnehmenden Subjekt als »qualitativ Einzigartiges«[12] oder »Wesentliches«,[13] als inhaltlich Bestimmtes erfahren werden kann. In einem seltsamen Kontrast zu derartigen, anthropologisch durchaus nachvollziehbaren Passagen stehen allerdings diejenigen Äußerungen von Lukács, in denen er seine Vision einer »wahren« Praxis des Menschen unter Rückgriff auf Hegel und Fichte zusammenzufassen versucht; dort heißt es nämlich dann, daß wir von einer unverzerrten Tätigkeit nur sprechen können, wo das Objekt als Produkt des Subjekts gedacht werden kann und Geist und Welt daher letztlich zusammenfallen.[14] Wie diese Passagen zeigen, hat Lukács sich bei seiner Kritik der Verdinglichung wohl maßgeblich von einem identitätsphilosophischen Begriff der »Tätigkeit« leiten lassen, wie ihn etwa Fichte mit seinem Gedanken einer spontanen Aktivität des Geistes geliefert hat,[15] und es dürfte heute keine Frage sein, daß Lukács mit einer solchen Grundlegung seiner Kritik der »Verdinglichung« jede Chance einer sozialtheoretischen Rechtfertigbarkeit geraubt hat.[16] Aber unterhalb der offiziellen, idealistischen Verlautbarungen finden sich in seinem Text eben auch Stellen, an denen es wesentlich gemäßigter heißt, daß die eigentliche, »wahre« Praxis genau jene Eigenschaften der Teilnahme und Interessiertheit besitzt, die durch die Ausweitung des Warentauschs zerstört wurden; nicht die Erzeugung des Objekts durch ein zum Kollektiv ausgedehntes Subjekt, sondern eine andere, intersubjektive Einstellung des Subjekts bildet hier das Muster, das als Kontrastfolie zur Bestimmung einer verdinglichenden Praxis dient. Es ist diese Spur im Text von Lukács, die mich im Fortgang meiner Überlegungen nun vor allem beschäftigen wird; ich will mich der Frage zuwenden, ob es nicht tatsächlich sinnvoll ist, den Begriff der »Verdinglichung« in der Weise zu reaktualisieren, daß der gemeinte Sachverhalt als Verkümmerung oder Verzerrung einer ursprünglichen Praxis verstanden wird, in der der Mensch zu sich und zu seiner Umwelt ein anteilnehmendes Verhältnis einnimmt.
Allerdings stehen einer solchen Rehabilitierung eine Reihe von Hindernissen entgegen, die mit bislang nichtthematisierten Problemen in der Abhandlung von Lukács zusammenhängen. Fragwürdig an der Weise, wie Lukács verfährt, ist ja nicht nur seine »offizielle« Strategie, als den normativen Bezugspunkt seiner Kritik der Verdinglichung einen Praxisbegriff zu verwenden, der nach idealistischer Manier alles Objektive aus der subjektiven Tätigkeit der Gattung hervorgehen läßt. Mindestens ebenso problematisch an seinem Vorgehen ist die sozialtheoretische These, daß allein die Ausdehnung des Warentausches die Ursache für eine Verhaltensänderung sein soll, die nach und nach in alle Lebenssphären der modernen Gesellschaft eindringt; ungeklärt an dieser Behauptung ist die marxistische Prämisse, der zufolge die Teilnahme an ökonomischen Tauschprozessen eine derart durchschlagende Bedeutung für die Individuen besitzt, daß sich dadurch deren gesamtes Selbst- und Weltverhältnis dauerhaft verändert, ja aus dem Lot gebracht wird. Ferner stellt sich im selben Zusammenhang natürlich die Frage, ob Lukács nicht gravierend das Ausmaß unterschätzt, in dem hochdifferenzierte Gesellschaften aus Effektivitätsgründen darauf angewiesen sind, daß ihre Mitglieder einen strategischen Umgang mit sich und anderen erlernen; wenn dem so wäre, dürfte eine Kritik der Verdinglichung von vornherein nicht so totalisierend wie Lukács verfahren, sondern müßte soziale Sphären ausgrenzen, in denen jenes beobachtende, teilnahmslose Verhalten einen vollkommen legitimen Platz besitzt.[17] Es ist im folgenden nicht meine Absicht, alle diese Unklarheiten und Probleme im einzelnen systematisch zu behandeln; meine Hoffnung ist vielmehr, daß durch eine handlungstheoretische Umformulierung des Lukácsschen Verdinglichungsbegriffs eine Perspektive entsteht, in der jene ungeklärten Fragen ihren dramatischen Charakter verlieren und statt dessen Anlaß zu erhellenden Spekulationen geben.
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