Inhaltsverzeichnis
Die Originalausgabe erschien 2008
unter dem Titel »Sundays at Tiffany’s« bei Little, Brown und Company,
Hachette Book Group USA, New York.
Als mein Sohn Jack vier Jahre alt war, musste ich nach Los Angeles verreisen. Ich fragte ihn, ob er mich vermissen werde. »Nicht so richtig«, antwortete er. »Du wirst mich nicht vermissen?«, vergewisserte ich mich. Jack schüttelte den Kopf. »Liebe heißt, nichts kann zwei Menschen trennen«, erklärte er. Ich glaube, dies ist der Kern dieser Geschichte, in der es um den festen Glauben daran geht, dass im Leben nichts wichtiger ist, als zu lieben und geliebt zu werden. Zumindest meiner Erfahrung nach.
Deswegen ist diese Geschichte Dir, Jack, meinem klugen Sohn, mit viel Liebe gewidmet. Und Suzie – deiner Mutter, meiner besten Freundin und Frau in einer Person.
Und Richard DiLallo, der an einem entscheidenden Punkt bei der Entwicklung der Geschichte eine große Hilfe war.
J. P.
PROLOG
Janes Michael
Michael rannte, so schnell er konnte, die Straßen entlang – vorbei am Verkehrsstau – zum New York Hospital, wo Jane im Sterben lag, als er plötzlich von einer Szene aus seiner Vergangenheit verfolgt wurde, von einer wirren Abfolge überwältigender Erinnerungen, die ihn beinahe aus seinen Turnschuhen rissen. Er erinnerte sich, wie er mit Jane im Astor Court des St. Regis Hotel unter kaum vorstellbaren Umständen gesessen hatte.
Er erinnerte sich an alles – an Janes Früchtebecher mit Kaffeeeis und heißer Karamellsoße, an das, worüber sie gesprochen hatten -, als wäre es gestern gewesen. Die ganze Geschichte war kaum vorstellbar. Nein, nicht nur kaum, sondern alles andere als vorstellbar.
Wieder eines dieser unbegreiflichen Geheimnisse des Lebens, dachte Michael, während er noch einen Zahn zulegte.
Wie die Tatsache, dass Jane ihm jetzt nach allem, was sie gemeinsam durchgemacht hatten, wegstarb.
TEIL EINS
Es war einmal in New York
EINS
Jede Kleinigkeit dieser Sonntagnachmittage ist in mein Gedächtnis eingebrannt, doch statt bei der Sache mit mir und Michael gleich auf den Punkt zu kommen, werde ich mit dem weltbesten, leckersten und vielleicht sündigsten Eisbecher beginnen, der im St. Regis Hotel in New York City serviert wird.
Ich nahm immer das Gleiche: zwei faustgroße Kugeln Kaffeeeis, verwirbelt mit einem Strang heißer Karamellsoße, die dicker, klebriger und zäher wird, wenn sie die Eiscreme berührt. Darauf kam echte Sahne. Selbst im Alter von acht Jahren kannte ich den Unterschied zwischen echter Schlagsahne und dem gefälschten Nichtmilchprodukt aus der Sprühdose.
Auf der anderen Seite meines Tisches im Astor Court saß Michael, unanfechtbar der hübscheste Mann, den ich kannte oder, ich korrigiere, bis dahin kennengelernt hatte. Und der netteste, freundlichste und vielleicht klügste Mensch.
An jenem Tag beobachtete er mich mit seinen leuchtend grünen Augen, als ich mit unverhohlener Freude dem Kellner in weißer Livree entgegenblickte, der den Eisbecher mit quälender Langsamkeit vor mich stellte.
Michael bekam eine Schale mit Melonenkugeln und Zitronensorbet. Seine Fähigkeit, den Freuden eines Früchteeisbechers zu widerstehen, konnte mein kindliches Gehirn noch nicht begreifen.
»Vielen Dank«, sagte Michael, der seine Liste beneidenswerter Eigenschaften durch ein hohes Maß an Höflichkeit ergänzte.
Woraufhin der Kellner … nichts erwiderte.
In den Astor Court ging man, wenn man im St. Regis Hotel ein schickes Dessert haben wollte. An diesem Nachmittag saßen hier wichtig aussehende Menschen, die wichtig wirkende Gespräche führten. Im Hintergrund spielten zwei Geiger auf Symphonieorchesterniveau, als wären sie im Lincoln Center.
»Okay«, sagte Michael schließlich. »Zeit, mit dem Jane-und-Michael-Spiel zu beginnen.«
Mit strahlenden Augen klatschte ich in die Hände.
Das Spiel funktionierte so: Einer von uns deutete auf einen Tisch, der andere musste sich überlegen, um was für Leute es sich handeln könnte. Der Verlierer bezahlte das Dessert.
»Und los!« Michael streckte den Finger in Richtung dreier junger Mädchen in fast identischen hellgelben Leinenkleidern.
Ohne zu zögern sagte ich: »Debütantinnen. Erste Saison. Gerade den Abschluss an der High School gemacht. Vielleicht in Connecticut. Vielleicht – wahrscheinlich – Greenwich.«
Michael legte den Kopf in den Nacken und lachte. »Du hast eindeutig zu viel Zeit mit Erwachsenen verbracht. Aber sehr gut, Jane. Ein Punkt für dich.«
»Also gut.« Ich deutete auf einen anderen Tisch. »Dieses Paar da drüben. Das aussieht wie die Cleavers in Leave it to the Beaver. Erzähl mir ihre Geschichte.«
Der Mann trug einen graublau karierten Anzug, die Frau eine leuchtend rosa Jacke mit grünem Faltenrock.
»Ehepaar aus Nord-Carolina«, ratterte Michael sogleich los. »Wohlhabend, Inhaber einer Tabakladenkette. Er ist geschäftlich hier. Sie begleitet ihn, um einen Einkaufsbummel zu machen. Jetzt erzählt er ihr, dass er die Scheidung einreichen will.«
»Oh.« Ich blickte auf den Tisch hinab und stieß kräftig die Luft aus, während ich den Löffel in meinen Eisbecher tauchte und ihn mir dann in den Mund schob. »Ja, anscheinend lassen sich alle Paare scheiden.«
Michael biss sich auf die Lippen. »Ach nein, warte, Jane. Ich habe Unrecht. Er bittet sie nicht um die Scheidung. Er sagt ihr, er hat eine Überraschung – er hat eine Kreuzfahrt geplant. Auf der Queen Elizabeth II. nach Europa. Es sind ihre zweiten Flitterwochen.«
»Klingt schon besser.« Ich lächelte. »Ein Punkt für dich. Hervorragend.«
Ich senkte den Kopf und bemerkte, dass mein Früchteeisbecher irgendwie fast verschwunden war. Wie immer.
Michael blickte sich theatralisch im Restaurant um. »Da sind welche, die errätst du nie«, sagte er.
Er zeigte auf einen Mann und eine Frau nur zwei Tische entfernt.
Ich blickte hinüber.
Die Frau war etwa vierzig Jahre alt, gut gekleidet und atemberaubend hübsch. Man hätte sie für eine Filmschauspielerin halten können. Sie trug ein leuchtend rotes Designerkleid und passende Schuhe zu ihrer großen, schwarzen Handtasche. Alles an ihr sagte: Seht mich an!
Der Mann, mit dem sie am Tisch saß, war jünger, blass und sehr dünn. Er trug einen blauen Blazer, dazu einen gemusterten Seiden-Plastron, den man sich noch nicht einmal früher umgebunden hätte. Beim Sprechen gestikulierte er kräftig mit den Händen.
»Das ist nicht lustig«, beschwerte ich mich, musste aber trotzdem grinsen und die Augen verdrehen.
Weil die beiden meine Mutter, Vivienne Margaux, die berühmte Broadway-Produzentin, und der diesjährige Promi-Friseur, Jason, waren. Jason, die Gewächshauspflanze, die keine Zeit für einen Nachnamen hatte.
Wieder blickte ich zu ihnen hinüber. Eines war sicher: Mama hätte angesichts ihrer Schönheit selbst Schauspielerin sein können. Als ich sie einmal gefragt hatte, warum sie keine geworden war, hatte sie geantwortet: »Schätzchen, ich will nicht nur auf dem Zug mitfahren, ich will ihn lenken.«
Jeden Sonntagnachmittag, wenn Michael und ich im St. Regis beim Dessert saßen, nahmen auch meine Mutter und einer ihrer Freunde ihren Kaffee und ihr Dessert dort ein. Somit konnte sie tratschen oder sich beschweren oder Geschäfte abwickeln, mich aber trotzdem im Auge behalten, ohne direkt bei mir sein zu müssen.
Nach dem St. Regis ließen wir unsere Sonntage bei Tiffany ausklingen.
Meine Mutter liebte Diamanten, trug sie überall, sammelte sie wie andere ihre Kristalleinhörner oder seltsame japanische Katzen aus Keramik mit einer hochgehobenen Pfote.
Natürlich fanden diese Sonntage meine Zustimmung, weil Michael dabei war. Michael, der mein bester Freund auf der Welt war, vielleicht der einzige, den ich als Achtjährige hatte.
Mein imaginärer Freund.
ZWEI
Ich rückte näher zu Michael. »Soll ich dir was sagen?«, fragte ich. »Das ist echt der Hammer.«
»Was?«, wollte er wissen.
»Ich glaube, ich weiß, worüber meine Mutter und Jason reden. Über Howard. Ich glaube, Vivienne hat ihn satt. Aus Alt mach Neu.«
Howard war mein Stiefvater und der dritte Ehemann meiner Mutter. Jedenfalls der dritte, von dem ich wusste.
Ihr erster Mann war Tennisprofi aus Palm Beach. Er hatte ein Jahr lang gehalten.
Dann war Kenneth gekommen, mein Vater. Er hatte sich besser angestellt als der Tennisprofi – und drei Jahre lang ausgehalten. Er war echt süß, und ich liebte ihn, doch er war geschäftlich viel auf Reisen. Manchmal hatte ich das Gefühl, er hatte mich vergessen. Einmal hatte ich gehört, wie meine Mutter zu Jason sagte, Kenneth habe kein Rückgrat. Sie wusste nicht, dass ich gelauscht hatte. Sie hatte gesagt: »Er ist ein gut aussehender Waschlappen, der es nie zu was bringen wird.«
Howard war schon zwei Jahre dabei. Er machte nie Geschäftsreisen, und seine Arbeit schien ausschließlich darin zu bestehen, Vivienne zu helfen. Er massierte ihre Füße, wenn sie müde war, kontrollierte, ob ihr Essen auch wirklich kein Salz enthielt, und stellte sicher, dass unser Fahrer samt Wagen rechtzeitig zur Stelle war.
»Wie kommst du darauf?«, fragte Michael.
»Kleinigkeiten«, antwortete ich. »Vivienne hat ihm immer Sachen gekauft. Schicke Slipper von Paul Stuart und Krawatten von Bergdorf Goodman. Aber jetzt hat sie ihm schon eine Ewigkeit nichts mehr geschenkt. Und gestern Abend hat sie zu Hause gegessen. Allein. Mit mir. Howard war nicht zu Hause.«
»Wo war er?«, bohrte Michael nach, den Blick voller Mitgefühl und Sorge.
»Ich weiß nicht. Als ich Vivienne gefragt habe, hat sie nur gesagt: ›Wer weiß das schon, und wen kümmert das?‹« Ich hatte die Stimme meiner Mutter nachgeahmt und schüttelte den Kopf. »Okay«, fuhr ich fort. »Neues Thema. Rate mal, was Dienstag für ein Tag ist.«
Michael tippte sich ein paar Mal ans Kinn. »Keine Ahnung.«
»Komm schon, du weißt das ganz genau, Michael. Das ist nicht lustig.«
»Valentinstag?«
»Hör auf!«, schimpfte ich und trat ihn vorsichtig unter dem Tisch. Er grinste nur. »Du weißt ganz genau, was am Dienstag ist. Es ist mein Geburtstag.«
»Ach ja. Puh, du wirst alt, Jane.«
Ich nickte. »Ich denke, meine Mutter gibt eine Party für mich.«
»Hm«, machte Michael.
»Na ja, eigentlich ist mir die Party ziemlich egal. Ich hätte viel lieber einen richtigen eigenen Hund.«
Michael nickte.
»Cat hat deine …«, begann ich zu sagen, hielt aber mitten im Satz inne.
Aus dem Augenwinkel heraus sah ich, wie Vivienne den Scheck unterschrieb. Gleich würden sie und Jason an unserem Tisch stehen und mich mit sich fortzerren. Auch dieser für mich und Michael wundervolle Sonntagnachmittag im St. Regis näherte sich dem Ende.
»Da kommt sie, Michael«, flüsterte ich. »Mach dich unsichtbar.«
DREI
Vivienne, Jason im Schlepptau, schlenderte zu unserem Tisch, als wäre sie die Besitzerin des St. Regis. Niemand im Astor Court hätte geglaubt, dass diese wun derschöne Frau mit dem perfekten Make-up, der perfekten Haut und der perfekten Tönung auch nur im Entferntesten mit dieser pummeligen Achtjährigen mit dem krausen Haar und Karamellsoße auf den Wangen verwandt wäre.
Aber das waren wir. Mutter und Tochter.
Vivienne küsste mich auf die Wange und machte sich an die Arbeit. An die Arbeit mit mir.
»Jane-Herzchen …« Fast immer nannte sie mich »Jane-Herzchen«, als hieße ich wirklich so. »Musst du immer zwei Desserts bestellen?«
Jason, der Promi-Friseur, versuchte zu helfen. »Sei doch nicht so, Vivienne. Das zweite Dessert war Melone. Das ist doch nicht schlimm. Klar, ein paar Kohlenhydrate, aber …«
»Jane-Herzchen, wir haben uns über dein Gewicht unterhalten …«, begann meine Mutter.
»Ich bin erst acht Jahre alt«, unterbrach ich sie. »Wie wär’s, wenn ich dir verspreche, dass ich später magersüchtig werde?«
Michael lachte so heftig, dass er beinahe vom Stuhl kippte.
Sogar Jason lächelte.
Vivienne verzog keine Miene. Wie immer versuchte sie, nicht die Stirn zu runzeln, weil sie nicht so schnell Falten bekommen wollte. Jedenfalls nicht vor neunzig oder so.
»Sei nicht so altklug, Jane-Herzchen.« Sie drehte sich zu Jason. »Sie liest viel zu viele Bücher.«
O ja, wie schrecklich, dachte ich.
Vivienne wandte sich wieder mir zu. »Wir werden später über deine Essgewohnheiten weiterreden. Privat.«
»Allerdings ist die Melone gar nicht für mich gewesen«, wandte ich ein. »Die hat Michael bestellt.«
»Ah, ja.« Vivienne klang gelangweilt. »Michael, der wunderbare, allgegenwärtige imaginäre Freund.« Sie sprach zum Stuhl neben mir, der leer war, weil Michael auf der anderen Seite saß. »Hallo, Michael, wie geht’s denn?«
»Hallo, Vivienne«, grüßte Michael, der wusste, dass Vivienne ihn weder sehen noch hören konnte. »Mir geht’s prima, danke.«
Plötzlich zog Jason an meinem Haar.
»Hey!«, beschwerte ich mich.
»Damit müssen wir endlich was machen«, sagte er. »Vivienne, gib mir eine Stunde für dieses Haar. Es gibt keinen Grund, warum jemand so rumlaufen soll. Sie wird hinterher wie ein Vogue-Model aussehen.«
»Toll!«, schwärmte Michael. »Genau darauf hat die Welt gewartet – auf ein achtjähriges Mädchen, das aussieht wie ein Vogue-Model.«
Ich zuckte zusammen und zog mein Haar aus Jasons Finger.
»Komm, Jane-Herzchen«, forderte Vivienne mich auf. »Heute Abend habe ich volles Programm. Ich muss mich um die Proben kümmern.« Ihr neuestes großes Broadway-Musical, Das Problem mit Kansas, hatte in wenigen Tagen Premiere.
»Aber zuerst können wir wie immer bei Tiffany vorbeifahren, meine Liebe. Unsere gemeinsame Zeit.«
»Was ist mit Janes Haar?«, beharrte Jason. »Für welchen Tag soll ich die Verschönerungsaktion einplanen?«
Michael schüttelte den Kopf. »Du bist perfekt, so, wie du bist, Jane. Du brauchst keine Verschönerung. Das darfst du nie vergessen.«
»Werde ich nicht«, versprach ich.
»Was wirst du nicht?«, fragte Vivienne. Sie nahm eine Serviette, tunkte sie ins Wasserglas und putzte mir die Karamellsoße von den Wangen. »Eine Verschönerung ist eine tolle Idee, Jane-Herzchen. Es könnte bald eine gro ße, schicke Party für dich geben.«
Sie hat daran gedacht! Eine Geburtstagsparty! Plötzlich hatte ich ihr alles andere verziehen.
»Jetzt komm schon. Ich höre Tiffany rufen.« Vivienne wirbelte auf ihren Zehn-Zentimeter-Absätzen herum und stakste zum Ausgang, dicht gefolgt von Jason.
Michael und ich erhoben uns. Er beugte sich vor und küsste mich auf den Kopf, direkt auf das krause Haar, das Jason derartige Qualen bereitete.
»Wir sehen uns morgen«, verabschiedete er sich. »Ich vermisse dich jetzt schon.«
»Ich dich auch.«
Ich blickte meiner Mutter nach, die mit ihren schlanken, gebräunten Beinen in der Drehtür des St. Regis verschwand. »Jane-Herzchen«, sagte sie, zu mir gewandt, »komm, Tiffany ruft.«
Ich rannte los, um sie einzuholen.
Das tat ich immer.
VIER
Arme, arme Jane! Armes, armes kleines Mädchen! Am nächsten Morgen wartete Michael wie immer vor dem schicken Hochhaus an der Park Avenue, in dem sie wohnte. Es war gut, dass er unsichtbar war, da seine zerknitterten Hosen, das verwaschene blaue T-Shirt und die schäbigen Turnschuhe nicht gut in diese teure Gegend passen würden.
Er dachte an etwas ziemlich Wunderbares, das Jane gesagt hatte, als sie erst vier Jahre alt gewesen war. Vivienne hatte sich auf eine einmonatige Europareise vorbereitet. Er hatte sich Sorgen gemacht, ob Jane damit zurechtkommen würde. Doch Jane hatte nur mit den Schultern gezuckt und gesagt: »Liebe heißt, nichts kann zwei Menschen trennen.« Michael wusste, diesen Satz würde er nie vergessen – erst recht nicht, weil er dem Mund und dem Hirn einer Vierjährigen entsprungen war. Aber genau das war Jane – ein unglaubliches Mädchen.
Also, was würde er an diesem wunderbaren Tag anfangen, während Jane in der Schule eingesperrt war? Vielleicht frühstücken drüben im Olympia – Pfannkuchen, Würstchen, Eier, Roggentoast am laufenden Band. Er könnte sich auch mit ein paar anderen »imaginären Freunden« treffen, die in der Nachbarschaft arbeiteten.
Was genau hatte ein imaginärer Freund zu tun? Er musste einem Kind helfen, sich in der Welt zurechtzufinden, damit es sich nicht allein fühlte und keine Angst hatte. Arbeitszeit? Nach Bedarf. Nutzen? Die unglaublich reine Liebe zwischen einem Kind und einem imaginären Freund. Etwas Besseres als das gab es nicht. Wie passte er, Michael, in den großen kosmischen Plan? Hm, das hatte ihm noch niemand erzählt.
Michael blickte auf seine Uhr, eine alte Timex, die genauso weitertickte, wie es die Werbung versprochen hatte. Es war 8:29 Uhr. Jane würde um 8:30 Uhr unten sein, genau wie jeden Werktag. Jane ließ nie jemanden warten. Sie war ja so ein Schatz.
Dann sah er sie, tat aber so, als sähe er sie nicht. Wie immer.
»Erwischt!«, sagte sie und legte ihre Arme um seine Taille.
»Boh, jetzt hast du mich aber drangekriegt!«, stöhnte Michael. »Du schleichst dich besser an als jeder Taschendieb in Oliver Twist.«
Janes Grinsen, von dem er nicht genug bekommen konnte, hellte ihr Gesicht auf. Sie hievte ihren Schulranzen auf ihre schmale Schulter, und gemeinsam machten sie sich auf den Weg.
»Eigentlich habe ich mich nicht angeschlichen«, erklärte sie. »Du warst so in deine interessanten Gedanken versunken.« Jane hatte eine nette Art, aus ihrem Mundwinkel heraus zu reden, wenn sie mit ihm zusammen war, damit die Leute nicht dachten, sie wäre verrückt. Manchmal zeigte er sich den Menschen, manchmal nicht. Sie konnte nie sicher sein, was er gerade tat – oder warum. »Das Leben geht geheimnisvolle Wege«, sagte er dann immer.
Sobald sie außer Sichtweite des Portiers war, ergriff sie Michaels Hand. Dies liebte er mehr, als er sagen konnte. Es gab ihm das Gefühl … hm, er wusste nicht recht … ein Vater zu sein?
»Was hat Raoul zum Mittagessen eingepackt?«, fragte er. »Warte, lass mich raten. Eichhörnchen auf Vollkornbrot, verwelkten Eisbergsalat, zusammengehalten von drei Tage alter Mayo?«
Jane zog an seiner Hand. »Du bist ein Trottel«, schalt sie ihn.
»Nö, ich bin Hatschi.«
»Eher der Seppi«, lachte Jane.
Ein paar Minuten später – viel zu schnell – hatten sie das hohe, imposante Schultor erreicht, das nur eineinhalb Straßenblocks von Janes Zuhause entfernt war. Der Bereich vor dem Eingang sah aus wie ein Meer aus dunkelblauen Trägerkleidern und schlichten weißen Blusen, Mary-Jane-Schuhen oder diesen Sportschuhen aus hellem Leder mit andersfarbigem Einsatz und natürlich leger nach unten geschobenen Strümpfen.
»Morgen ist der besondere Tag«, sagte Jane und blickte auf ihre Schuhe hinab, damit ihre Klassenkameradinnen nicht sahen, dass sie mit einem imaginären Freund sprach. »Vielleicht bekomme ich meinen Hund. Mittlerweile ist es mir egal, was für einen. Vielleicht kriege ich ihn auf meiner Party. Wir müssen uns aber erst Das Problem mit Kansas ansehen. Du bist natürlich eingeladen.«
Die Schulglocke ertönte.
»Toll. Ich kann’s kaum abwarten, Kansas zu sehen. Geh jetzt rein, ich hole dich nachher wieder ab. Wie immer.«
»Gut«, sagte sie. »Dann überlegen wir, was wir morgen Abend anziehen.«
»Ja, du kannst mir helfen, mir ein paar schicke Sachen auszusuchen. Damit es dir mit mir nicht peinlich wird.«
Jane blickte ihm direkt in die Augen. Für den Bruchteil einer Sekunde bekam er eine Ahnung davon, wie sie als Erwachsene aussehen würde – mit ihrem ernsten Gesicht, dem warmen Lächeln, dem intelligenten Blick, der direkt bis in seine Seele vordrang.
»Mit dir wird es mir nie peinlich, Michael.«
Sie ließ seine Hand los und rannte aufs Schulgebäude zu. Michael blinzelte erst wieder, als ihre blonden Locken hinter der Tür verschwunden waren. Er wartete. Jane spähte noch einmal um die Ecke, wie sie es immer tat. Sie winkte und lächelte, dann verschwand sie endgültig.
Plötzlich musste Michael wirklich blinzeln. Mehrmals sogar. Er hatte das Gefühl, ein Riese hätte ihm gegen die Brust getreten. Sein Herz tat richtig weh.
Wie würde er Jane sagen, dass er sie am nächsten Tag verlassen musste?
Auch das gehörte zu den Pflichten eines imaginären Freundes und war wahrscheinlich die schlimmste.
FÜNF
Diesen Tag werde ich nie vergessen. Da geht es mir wie einem Menschen, der den Untergang der Titanic überlebt hat und sein Leben lang daran denken wird. Menschen erinnern sich immer an den schlimmsten Tag ihres Lebens. Er wird auf immer ein Teil von ihnen. Genauso erinnere ich mich an meinen neunten Geburtstag mit erschreckender Klarheit.
Nach der Schule machten Michael und ich uns fertig fürs Theater, wo wir uns zur Premiere von Das Problem mit Kansas auf die VIP-Plätze setzten. Ich hatte Vivienne den ganzen Tag nicht gesehen, sodass sie keine Möglichkeit gehabt hatte, mir zum Geburtstag zu gratulieren. Doch Michael hatte mich mit Blumen von der Schule abgeholt. Wie erwachsen ich mich dadurch gefühlt hatte! Diese pfirsichfarbenen Rosen waren das Schönste, was ich je gesehen hatte.
An das Stück erinnere ich mich kaum, aber ich weiß, dass die Zuschauer immer an den richtigen Stellen lachten, weinten oder stöhnten. Michael und ich hielten Händchen, in meiner Brust spürte ich ein aufgeregtes Flattern. An diesem Tag sollte es mir richtig gut gehen – endlich war einmal ich an der Reihe. Eine Geburtstagsparty und hoffentlich ein Hund. Michael war bei mir, meine Mutter würde glücklich sein wegen des Musicals. Alles schien wunderbar, alles möglich zu sein.
Meine Mutter musste nach der Vorstellung mit der Besetzung auf die Bühne. Sie tat so, als wäre sie schüchtern und schockiert darüber, dass allen ihr neues Stück gefallen hatte. Sie verbeugte sich, und die Zuschauer erhoben sich und klatschten. Auch ich erhob mich und klatschte wie wild. Ich liebte sie so sehr, dass ich es kaum aushielt. Irgendwann würde sie mich genauso lieben, dessen war ich mir sicher.
Dann war es Zeit für meine Geburtstagsparty bei uns zu Hause. Endlich.
Die ersten Gäste waren die Tänzer aus dem Musical meiner Mutter. Das hätte ich mir vorher denken können. Tänzer verdienen nicht so viel, und wahrscheinlich starben sie nach der Aufführung beinahe vor Hunger. Im vorderen Flur mit dem weißschwarzen Marmorboden zogen sich gerade ein paar von ihnen die Mäntel von ihren Strichmännchenkörpern. Selbst als Neunjährige wusste ich, dass ich so nie aussehen würde.
»Du musst Viviennes Tochter sein«, sagte eine von ihnen. »Jill, oder?«
»Jane«, korrigierte ich sie, lächelte aber, um zu zeigen, dass ich keine missmutige Göre war.
»Ich wusste nicht, dass Vivienne ein Kind hat«, meldete sich ein anderes Strichmännchen zu Wort. »Hallo, Jane. Du bist ja ein süßer Schlingel.«
Sie schwebten ins Wohnzimmer, während ich überlegte, ob »Schlingel« und »süß« nicht eher ein Gegensatz waren.
»Heiliger Stephen Sondheim!«, sagte einer der Tänzer. »Ich wusste, Vivienne ist reich, aber diese Wohnung ist größer als das Broadhurst-Theater.«
Als ich mich wieder umdrehte, hatte ich den Eindruck, als ob sich hundert Leute im Wohnzimmer aufhielten. Ich blickte mich nach Michael um, den ich schließlich in der Nähe des Pianospielers entdeckte.
Hier ging es zu wie in einer Theaterpause. Das Klavierspiel wurde vom Geplapper übertönt. Neben der Tür zur Bibliothek stand Vivienne, die mittlerweile ebenfalls eingetroffen war. Sie unterhielt sich mit einem großen, grauhaarigen Mann, der eine Smokingjacke und Jeans trug. Ich hatte ihn ein paarmal bei den Proben zu Kansas gesehen und wusste, er war so eine Art Autor. Die beiden standen sehr nahe beieinander, und ich bekam das Gefühl, dass er für die Rolle von Viviennes viertem Ehemann vorsprach. Würg.
Eine kleine alte Dame, die in Das Problem mit Kansas die Großmutter spielte, hakte den Griff ihres Spazierstocks in meinen Kragen ein.
»Du scheinst ein nettes Mädchen zu sein«, sagte sie.
»Danke. Ich versuche es zumindest«, erwiderte ich. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Ja, vielleicht könntest du mir von der Bar dort drüben ein Glas Wasser und einen Jack Daniels holen«, antwortete sie.
»Klar. Pur oder auf Eis?«
»Meine Güte, du bist aber eine ganz Gescheite. Bist du etwa eine Liliputanerin?«
Lachend blickte ich zu Michael, der dem Klavierspieler etwas zuflüsterte. Was hatte er vor?
Als ich auf eine der Bars zuging, meldete sich eine laute Stimme. »Dürfte ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten?« Es war der Klavierspieler. Schweigen legte sich über die Gäste.
»Ich habe soeben erfahren … ich weiß aber nicht sicher, von wem … dass heute ein besonderer Tag für jemanden ist … Sie ist heute neun Jahre alt geworden … Viviennes Tochter.« Viviennes Tochter? Das war ja ich.
Ich lächelte glücklich und gleichzeitig selbstbewusst. Alle drehten sich zu mir. Der Anführer der Show hob mich hoch und stellte mich auf einen Stuhl – plötzlich war ich größer als alle anderen. Ich sah mich nach meiner Mutter um, die, wie ich hoffte, stolz lächelte, konnte sie jedoch nirgends erblicken. Auch der Autor war fort. Dann setzte die Musik ein, und alle sangen »Happy Birthday.« Es geht doch nichts über einen professionellen Broadway-Chor, der »Happy Birthday« singt. Ich glaube, es war das schönste »Happy Birthday«, das ich je gehört habe. Mein ganzer Körper wurde von einem Schauder gepackt, und vielleicht wäre dies der schönste Moment in meinem Leben gewesen, hätte ihn meine Mutter mit mir geteilt.
Als er vorbei war, hob mich der nette Schauspieler wieder vom Stuhl, alle applaudierten, und die Party wurde wieder zur Premierenfeier. Der Geburtstag war vorbei.
Plötzlich rief eine bekannte Stimme meinen Namen. »Jane! Ich glaube, dieses große, hübsche Mädchen kenne ich.« Ich wirbelte herum – vor mir stand mein Vater Kenneth. Er wirkte furchtbar groß, insbesondere für jemanden, der angeblich kein »Rückgrat« hatte.
»Daddy!«, rief ich und rannte in seine Arme.
SECHS
Gott, wie ich es liebte, umarmt zu werden. Besonders von meinem Vater. Er legte seine Arme um mich, kalte Luft und ein schwacher Duft seines Rasierwassers stiegen mir in die Nase. Ich atmete tief ein, glücklich und erleichtert, dass mein Vater gekommen war.
»Hast du etwa geglaubt, ich hätte deinen neunten Geburtstag vergessen?«, fragte mein Vater. Er ließ von mir ab und zog mich an der Hand mit sich fort. »Los, schnell nach draußen in die Halle. Wenn deine Mutter rausbekommt, dass ich auf ihrer Party aufgetaucht bin, dreht sie durch.«
»Die anderen werden sie wieder beruhigen«, sagte ich. »Aber ich bin mir nicht sicher, ob sie überhaupt noch hier ist.«
Wir schoben uns durch die Menge in die Eingangshalle, wo mich zwei Überraschungen erwarteten: eine große Schachtel mit einem gelben Band und die aktuelle Freundin meines Vaters. Ich erinnerte mich, dass Vivienne etwas über Ellies »Balkon« gesagt hatte, und darüber, dass er nicht echt sei, aber ich hatte keine Ahnung gehabt, wovon sie geredet hatte.
»Du erinnerst dich doch bestimmt noch an Ellie«, stellte Dad sie mir vor.
»Hm. Hallo, Ellie. Ich freue mich, dass du gekommen bist.« Jahrelanger Anstandsunterricht machte sich bezahlt.
»Alles Gute zum Geburtstag, Jane«, wünschte mir Ellie. Sie war sehr blond und hübsch und schien sehr viel jünger zu sein als meine Mutter. Ich wusste, meine Mutter nannte sie »das Schulmädchen« und verzog ihr Gesicht, sobald die Sprache auf sie kam.
»Mach dein Geschenk auf«, forderte mich Dad auf. »Ellie hat mir beim Aussuchen geholfen.«
Ich zog am gelben Band, das sich im gleichen Augenblick löste. In der Schachtel befand sich eine Unmenge an Seidenpapier, das ich aufgeregt durchwühlte. Ich berührte etwas Weiches und Samtiges – aber nichts Lebendiges. Ich griff zu und zog den größten, lilasten ausgestopften Pudel heraus, den ich je gesehen hatte. Sein Kopf war mit einem puffigen Dutt geschmückt, um den Hals trug er ein mit Rheinkieseln besetztes Band mit einem goldenen Anhänger, auf dem »Gigi« stand.
Ziemlich genau das Gegenteil von dem Hündchen, das ich mir gewünscht hatte.
»Danke, Daddy.« Ich setzte ein breites Lächeln auf. »Das ist aber eine Freude!« Ich versuchte, alle Gedanken an einen echten, warmen, zappelnden Welpen zu verbannen, der mir, nur mir allein gehört hätte. Es gab keinen echten Hund … dafür einen ausgestopften Pudel.
»Bedank dich auch bei Ellie«, verlangte Daddy.
»Danke, Ellie«, sagte ich höflich, woraufhin sie sich nach unten beugte und mich küsste. Ich erkannte ihr Parfüm: Chanel Nr. 5. Mein Vater hatte es immer meiner Mutter geschenkt. Ob Ellie das wusste?
»Okay.« Dad erhob sich wieder. »Jetzt fahren wir weiter nach Nantucket.«
Mein Herz machte einen Satz. »Wir?«, schrie ich beinahe.
Ellie und mein Vater warfen sich einen seltsamen Blick zu.
»Nein, Schatz«, antwortete Dad. »Ich meinte, Ellie und ich fahren nach Nantucket. Deine Mutter würde mich umbringen, wenn ich dich von deiner Geburtstagsparty wegschleppe.«
Klar, das würde sie sofort merken, dachte ich freudlos. »Ich verstehe«, sagte ich und bemühte mich, nicht gleich loszuheulen. »Es ist nur so, dass mir Nantucket richtig gut gefällt. Echt. Und Michael auch.«
»Wir fahren ein andermal hin, Jane. Versprochen«, tröstete mich mein Vater. »Und dann kommt dein Freund Michael auch mit.«
Ich bin sicher, mein Vater meinte es so, weil er nie etwas sagte, was er nicht meinte. Aber es machte mich traurig, mit anzusehen, wie er Ellie in den Mantel half.
»Kommst du hier zurecht?«, fragte Ellie. Eigentlich mochte ich sie. Sie war immer nett zu mir. Ich hoffte, mein Vater würde sie bald heiraten. Auch sie brauchte Umarmungen. Jeder braucht sie. Vielleicht auch Vivienne.
»Natürlich. Es ist mein Geburtstag. An einem Geburtstag kommt man immer zurecht.«
Wir umarmten uns. Wir küssten uns. Wir verabschiedeten uns. Dann betraten mein Vater und Ellie den Fahrstuhl und verschwanden in die Nacht. Um sich auf die glückselige Fahrt nach Nantucket zu machen.
Die Premierenfeier war wieder in vollem Gang. Nichts erinnerte mehr daran, dass vor ein paar Minuten jemand »Happy Birthday« gesungen hatte. Es gab keinen Grund für mich hierzubleiben.
Ich manövrierte durch die Menge der Erwachsenen und rannte schließlich den langen, mit dickem Teppich ausgelegten, stillen Flur entlang, der zu meinem Zimmer führte. Ich knallte die Tür hinter mir zu, warf mich aufs Bett und vergrub mein Gesicht ins Kissen. Hier, wo mich niemand sah, begann ich zu weinen wie die weltgrößte Heulsuse.
Dann wurde die Tür geöffnet.
Es war Michael. Gott sei Dank war es Michael, der gekommen war, um mich zu retten.
SIEBEN
Jane lag schluchzend auf ihrem Bett, als er eintrat. Sie sah wirklich nicht wie ein glückliches Geburtstagskind aus. Aber wie sollte sie auch, das arme Mädchen?
Michael seufzte, setzte sich neben sie und legte seine Arme um sie. Nein, sie verdiente es nicht, so verletzt zu werden. Kein Kind verdiente das.
»Es ist in Ordnung, Schatz. Lass es raus«, flüsterte er in ihr Haar, das immer nach Babyschampoo roch, ihrem derzeitigen Lieblingsduft.
»Okay. Du hast es so gewollt.«