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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74094-302-8
Dr. Max Brinkmeier, der Landarzt von Wildenberg, hatte eben das Haus verlassen und wollte in seinen Wagen steigen, als jemand seinen Namen rief. Er drehte sich um und lächelte.
Anna Stadler, die junge Apothekerin, winkte ihm zu und eilte dann über die Straße. Die Rosenapotheke befand sich ganz in der Nähe des Doktorhauses am Marktplatz des idyllisch gelegenen Dorfes mitten im schönen Berchtesgadener Land.
»Hallo, Max, gut, daß ich dich noch erwische. Hier, das neue Homöopatikum, auf das du so lange gewartet hast. Es war heute in der ersten Lieferung.«
»Danke, das ist aber nett, daß du es mir gleich bringst. Da wird sich die Milli Reiter freuen. Sie kommt nachher zu mir in die Sprechstunde wegen ihrem Rheuma.«
»Meinst, du erreichst damit etwas? Ich bin ein wenig skeptisch was diese Mittel angeht.«
»Zusammen mit der konservativen Behandlung kann man schon einen Effekt erzielen. Weißt, Anna, ich gehe bei meinen Chronikern darauf aus, die Gabe von Schmerzmitteln zurückzufahren. Und
da habe ich mit pflanzlichen Mitteln schon einiges bewegen können«, erklärte der hochgewachsene fesche Mediziner mit dem sandblonden Haar. »Die Hauserin von Hochwürden leidet ja nun schon seit vielen Jahren an Rheuma.«
»Ich finde es gut, daß du immer noch was Neues ausprobierst«, lobte die hübsche Blondine ihn. »Aber jetzt will ich dich net länger aufhalten. Ich muß auch wieder in den Laden.«
»Komm doch heut abend zum Essen zu uns herüber, wenn du magst. Der Lukas wird auch dasein mit seiner Liebsten. Und Peter Brosius hat sich angesagt. In Begleitung.«
Anna zeigte sich überrascht. Dr. Peter Brosius war ein alter Studienfreund von Max Brinkmeier. Er arbeitete in Berchtesgaden im Spital, wo die beiden sich vor einiger Zeit wieder begegnet waren. Max und Peter verstanden sich gut. Sie waren gemeinsam auf einem Kongreß in Stuttgart gewesen, das lag nun erst ein paar Wochen zurück. Auf dem Rückweg hatte sich ein folgenschwerer Unfall ereignet, bei dem Peter erheblich verletzt worden war.
»Ist er denn wiederhergestellt? Er war doch lange im Spital in München, oder?« fragte sie interessiert.
Dr. Brinkmeier nickte. »Ja, und er mußte eine Reha machen. Aber jetzt geht es ihm wieder gut. Und zwischen ihm und Anni Kaiser hat es zudem gefunkt.«
»Er hat sich in eure Pilotin verliebt? Das begreife ich nicht!« Die hübsche Apothekerin schüttelte leicht den Kopf. »Die beiden passen doch gar nicht zusammen. Peter ist ein ruhiger und besonnener Mensch. Und die Anni... Na, ich weiß nicht.«
Max mußte lachen. »Du hast schon recht, Anni ist ein kleiner Wirbelwind. Sie hat einen festen Willen. Aber ich denke, ohne diese Eigenschaft hätte sie nicht durchgehalten, als wir uns von der Absturzstelle im Nationalpark bis zum nächsten Dorf durchschlagen mußten. Sie ist schon eine besondere Frau, da kann ich Peter fast verstehen.«
»So, so.« Anna Stadler bedachte ihr Gegenüber mit einem vielsagenden Blick. »Na, ich denke, dieses Thema sollten wir vielleicht nicht weiter vertiefen. Aber ich komme heute abend gern zu euch. Ich freue mich schon. Machst du jetzt Hausbesuche?«
»Nein, ich muß ins Kinderheim. Es hat da einen kleinen Unfall gegeben. Sag mal, Anna, magst du mich nicht begleiten? Du kannst doch so gut mit Kindern umgehen. Und ich denke, es wird auch nicht sehr lange dauern. Na, was sagst du? Bist du dabei?«
»Wenn du mich so nett fragst, kann ich nicht nein sagen. Aber ich muß noch rasch Susi Bescheid sagen, daß ich mal eben verschwinde. Wartest du auf mich?«
Er lächelte ihr freundlich zu. »Natürlich.«
Anna erwiderte sein Lächeln, dann eilte sie beschwingt zurück zur Rosenapotheke. Susi Angerer, ihre junge Mitarbeiterin, hatte schon den wissenden Blick, noch ehe Anna etwas sagen konnte.
»Sie haben wohl eine Verabredung und ich soll die Stellung halten, was? Kein Problem, Chefin, lassen Sie sich nur net aufhalten. Ich hab eh alles im Griff.«
»Nur dein vorlautes Mundwerk nicht«, mahnte die Apothekerin mit nachsichtiger Strenge. »Der Doktor hat mich gebeten, ihn nach St. Bartholomä zu begleiten. Es wird nicht lange dauern.«
»Ist schon recht. Und viel Vergnügen«, wünschte Susi keck.
Anna Stadler griff nach ihrer Jacke und maß das junge Mädchen noch mit einem vielsagenden Blick, dann hatte sie die Apotheke auch schon wieder verlassen.
»Heut ist ein herrliches Wetter, net wahr?« sinnierte Max, als sie wenig später die Landstraße befuhren. Sie hatten Wildenberg hinter sich gelassen, zu beiden Seiten breiteten sich Wiesen, Weiden und Felder aus, wurden von Mischwald und dunklem Tann unterbrochen. Der Himmel wölbte sich wolkenlos und hellblau über das liebliche Tal, im Süden erhob sich der Untersberg mit seinen schroffen Karen, während weit im Norden das grüne Wasser des Königssees schimmerte. Ein grünlicher Hauch lag bereits über der Natur, der Vorfrühling ließ eine Ahnung auf die wärmere Jahreszeit zu, der Winter schien seine Macht allmählich zu verlieren.
»Was hältst davon, wenn wir am Wochenende mal wieder zusammen wandern gehen?« schlug Anna dem Landarzt da vor. Sie kannten sich von Kindesbeinen an und verstanden sich auch jetzt noch außerordentlich gut. Seit Max Brinkmeier die Landarztpraxis von seinem Vater übernommen hatte, pflegten sie ihre Freundschaft. Daß Anna heimlich in den feschen Mediziner verliebt war, ahnte dieser zwar, doch das Thema war tabu zwischen ihnen. Schließlich wußte sie, daß sein Herz einer anderen gehörte. Auch wenn diese viele Tausend Kilometer weit fort war...
»Eine gute Idee«, fand Max und bog auf das Gelände des Kinderheims ab. St. Bartholomä war ein Nonnenkloster, auf einer Anhöhe unweit von Wildenberg gelegen. Seit etwa hundert Jahren gab es hier auch eine Grundschule und ein Kinderheim, beides kirchlich geprägt. Die Oberin hatte den jungen Landarzt vor einer Weile dazu bewegen können, die medizinische Versorgung der kleinen Waisen zu übernehmen. Und Max kam dieser Aufgabe mit Herzblut nach.
Sie stiegen aus, eine junge Nonne öffnete ihnen die Tür und brachte sie zur Krankenstation. Da saß ein kleines Mädchen von etwa fünf Jahren und hielt sich das rechte Handgelenk. Man sah der Kleinen an, daß sie geweint hatte. Ganz verloren wirkte das Kind, Anna Stadler empfand sofort Mitleid.
»Das ist die Melanie Krause, sie ist fünf«, stellte die Schwester das Kind vor. »Und sie sagt, sie hat sich beim Spielen verletzt. Sieht wie verstaucht aus.«
Max warf der Nonne einen fragenden Blick zu, weil sie ihre Worte ein wenig seltsam betont hatte. »Stimmt was nicht?«
»Na ja, kommen Sie doch mal einen Moment mit, Herr Doktor«, bat sie ihn da. Anna Stadler hatte sich zu dem Kind gesetzt und redete behutsam mit der Kleinen, die gleich ein wenig zutraulich wurde. Da der Landarzt das Mädchen in guten Händen wußte, folgte er der Schwester auf den Gang, wo diese erzählte: »Melanie ist ein schwieriger Fall. Ihre Mutter hat sich vor einer Weile das Leben genommen. Es gibt keine Verwandten, die das Kind hätten aufnehmen können. Als sie herkam, war sie völlig verschüchtert und voller Angst. Wir haben uns bemüht, ihr zu helfen, aber natürlich wird aus einem sensiblen Kind kein Raufbold. Sie hat Schwierigkeiten, sich einzuleben und Freunde zu finden.«
»Wollen Sie damit sagen, daß die anderen Kinder sie hänseln?«
»Ich glaube schon. Melanie sagt mir nichts, sie ist sehr verschlossen. Vielleicht traut sie sich auch nicht. Aber sie hatte in letzter Zeit öfter blaue Flecken. Und ich glaube, ihre Verletzung jetzt stammt sozusagen aus der gleichen Quelle. Vielleicht gelingt es Ihnen oder Frau Stadler ja, etwas zu erfahren. Ich würde Melanie gerne helfen, verstehen Sie?«
»Sicher. Ich will versuchen, mit ihr darüber zu reden.«
Als Max wieder ins Behandlungszimmer kam, saß Melanie auf Anna Stadlers Schoß und ließ sich eine Geschichte vorlesen. Der junge Arzt betrachtete das schöne Bild einen Moment lang fasziniert, dann untersuchte er behutsam Melanies Handgelenk.
»Es ist nur leicht gezerrt, das heilt bald wieder«, stellte er freundlich fest. »Wir machen dir einen elastischen Verband. Aber du mußt deine Hand eine Weile schonen. Versprichst du mir das?«
»Ja, mache ich«, kam es leise von der Kleinen.
»Melanie hat mir erzählt, daß der Bösbär sie festhalten wollte. Da hat sie sich die Hand verletzt«, merkte Anna an. »Nicht wahr, Schätzchen, so ist es doch gewesen?«
Das Kind nickte. »Der Bösbär ist immer gemein zu mir. Er hält mich fest oder schubst mich. Einmal bin ich fast die Treppe runtergefallen. Der ist richtig gemein!«
»Und wie sieht dieser Bösbär aus?« wollte Dr. Brinkmeier wissen. »Ist er größer als du und älter?«
»Ja, er ist riesengroß und ganz gemein!« Melanies Augen füllten sich mit Tränen. »Er kann mich nicht leiden, aber ich habe ihm nie was getan. Das ist unfair, nicht wahr?«
»Ja, das ist es.« Max legte den Verband an, den Melanie mit einem gewissen Stolz betrachtete. Er versprach, in ein paar Tagen wieder nach ihr zu sehen, und verabschiedete sich dann bald. Auf dem Rückweg nach Wildenberg sagte er zu Anna: »Die anderen Kinder mobben die Kleine. Ich glaube, dieser ›Bösbär‹, das ist ein älteres Mädchen, das es besonders auf Melanie abgesehen hat. Die Schwester hat so etwas angedeutet.«
»Die Kleine tut mir leid«, bekannte Anna spontan.
»Willst du mich das nächste Mal wieder begleiten? Ich glaube, Melanie würde sich freuen. Sie hat sofort Zutrauen zu dir gefaßt«, stellte der Mediziner wohlwollend fest.
Anna Stadler schenkte ihm ein Lächeln. »Ich komme gerne mit.«
*
»Der Kaffee ist viel zu dünn. Wie soll man denn da munter werden? Kannst nicht einmal einen gescheiten Kaffee kochen?« Christian Farber musterte seine Frau Monika verärgert. »Es kommt noch soweit, daß ich den Haushalt führen muß. Auf keinen ist Verlaß. Wenn man nicht alles selber macht...«
Die junge Frau seufzte leise. Sie mahnte ihre beiden Kinder, sich zu beeilen. »Der Schulbus kommt bald, trödelt nicht so.«
Der kleine Paul, der in die zweite Klasse ging, erzählte: »Herr
Taschner hat gesagt, nächste Woche machen wir einen Ausflug. Und wir sollen...«
»Ruhe! Wie soll man denn da seine Zeitung lesen?« Christian versetzte dem Jungen eine Backpfeife, der sofort verschüchtert schwieg. Birgit, seine Schwester, warf dem Vater einen trotzigen Blick zu. Monika schüttelte leicht den Kopf, das Mädchen stand auf und rannte aus dem Zimmer. »Du mußt auch gehen, Paul. Sonst kommst du zu spät.«
Monika folgte den Kindern in die Diele und achtete darauf, daß sie ihre Brote mitnahmen. Als sie die neunjährige Birgit drückte, murmelte das Mädchen: »Papa ist immer nur gemein zu uns. Dabei haben wir nix gemacht.« Sie biß sich auf die Lippen und eilte davon. Monika drückte Paul einen Kuß auf die runde Wange. Es brach ihr das Herz, wie der kleine Kerl mit hängenden Schultern aus dem Haus schlich. Die hübsche junge Frau mit dem langen blonden Haar empfand unvermittelt eine schreckliche Wut. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, wie es so weit hatte kommen können. Ihr Leben war ein einziges Martyrium. Dabei hatte alles so hoffnungsvoll begonnen...
Gut zehn Jahre war es nun her, daß Monika den strebsamen Bankangestellten Christian Farber geheiratet hatte. Sie stammte aus Berchtesgaden, er war in Wildenberg geboren. Die erste Zeit ihrer Ehe war sehr glücklich gewesen. Christian hatte Monika geliebt und alles getan, um sie zufrieden und froh zu machen. Aber schon damals hatte sich die dunkle Seite seines Charakters manchmal gezeigt. Sein Jähzorn, seine ungerechtfertigten Vorwürfe, Anfälle von grundloser Eifersucht. Nach Birgits Geburt war er wie ausgewechselt gewesen. Und als sie das kleine Haus neben dem Farberhof gekauft hatten, da war Monika für eine kurze Zeit wieder unbeschwert glücklich gewesen.
Die junge Frau hatte sich auf Anhieb mit Christians Bruder Benjamin verstanden, der nun ihr Nachbar war. Der Bauer hatte den elterlichen Hof übernommen. Er war ein warmherziger und offener Mensch. Doch er hatte Monika schon auf der Hochzeit vor seinem Bruder gewarnt. Damals hatte sie seine Worte nicht ernstgenommen. »Christian ist kein schlechter Kerl, aber er kann manchmal wie ausgewechselt sein, das war schon früher so. Wenn er Streit sucht, gehst du ihm am besten aus dem Weg«, hatte er gesagt. Und dann hatte er ihr Dinge erzählt, die sie bis zum heutigen Tag nicht hatte vergessen können.
Zum Beispiel die Geschichte, wie Christian die kleine Katze seines Bruders ertränkt hatte, weil sie mit ihm nichts zu tun haben wollte. Oder der Brand in einem Heuschober, den er gelegt hatte. Und das nur, weil sein Bruder zur Kirchweih mit einem Mädchen getanzt hatte, das auch Christian gut gefiel...
Monika hatte versucht, sich mit den Fehlern ihres Mannes zu arrangieren. Im Grunde ihres Herzens aber wußte sie, daß all ihre Liebe und ihr Verständnis Christian nicht ändern würden. Er hatte Probleme, über die er nicht sprechen wollte. Und sie hatte sich abgewöhnt, daran zu rühren. Als der kleine Paul auf die Welt gekommen war, schien es Christian plötzlich besserzugehen. Er war eine ganze Weile ausgeglichen und liebenswert. Doch auch dieser Zustand war nicht von Dauer gewesen. Und seit die Kinder ein wenig größer waren, konnten sie ihrem Vater nichts mehr recht machen. Ständig hatte Christian schlechte Laune. Dann rutschte ihm die Hand aus. Und es waren nicht nur die Kinder, die das zu spüren bekamen...
»Morgen, Monika, wie geht’s?«
Sie hatte Benjamin gar nicht bemerkt, der eben über den Wirtschaftshof zum Haus ging. Ein wenig entspannte sich ihr blasses Gesicht, sie lächelte und rief: »Alles in Ordnung. Bei dir auch?« Und als er nickte, schloß sie die Haustür.
»Da schau her, flirtest wieder mit meinem Bruder, was?« Ohne daß sie es bemerkt hatte, war Christian in die Diele gekommen. Er griff nach seinem Aktenkoffer und starrte seine Frau drohend an. »Treib es net zu weit. Oder meinst, ich weiß nicht, was da hinter meinem Rücken vorgeht, wenn ich arbeiten muß?«
»Da geht gar nix vor«, erwiderte Monika leise. »Und du bist net der Einzige, der arbeitet. Ich muß hier genauso meine Aufgaben erledigen.«
»Daß ich net lach! Du hockst doch den ganzen Tag nur drüben beim Ben. Erzähl mir nix, ich weiß Bescheid. Aber ich warne dich; wenn ich euch beide mal zusammen erwisch’, dann ist Schluß. Das überlebt keiner von uns!«
»Christian, ich bitte dich, red’ net so!« Sie war noch eine Spur blasser geworden, sprach nun eindringlich zu ihm: »Zwischen deinem Bruder und mir ist nie was gewesen. Ich hab doch dich lieb. Aber du machst es mir auch nicht leicht...«
»Red’ keinen Schmarrn.« Er wandte sich zum Gehen. »Du weißt Bescheid, also halte dich gefälligst dran!«
Nachdem ihr Mann abgefahren war, kehrte Monika in die Küche zurück und räumte den Tisch ab. Plötzlich überkam sie eine große Verzweiflung. Sie biß sich auf die Lippen, konnte aber die Tränen nicht zurückhalten. Mit einem leisen Schluchzen sank sie auf die Eckbank und vergrub das Gesicht in den Händen.
Monika wußte nicht, wie lange sie so da gesessen und geweint hatte, als sich plötzlich behutsam eine Hand auf ihre Schulter senkte. Sie schrak zusammen, blickte auf und in das vertraute Gesicht ihres Schwagers. Benjamin setzte sich neben sie und fragte: »Was ist passiert? Habt’s wieder gestritten? Du hast eben schon so blaß und unglücklich ausgeschaut.«
»Ach, Ben, ich will mich net beschweren.« Sie schneuzte sich verlegen, stand auf und füllte zwei Tassen mit Kaffee. »Es ist ja auch net nur dem Christian seine Schuld. Er hat halt viel um die Ohren, ist oft im Streß. Da kann es schon mal vorkommen...«
»Andere Männer schaffen auch ihre Arbeit und terrorisieren am Feierabend net ihre Familien.« Der Bauer schüttelte leicht den Kopf. »Na, Monika, du machst dir was vor. Ich glaube, es wäre das Beste, wenn ich dem Christian mal fest ins Gewissen fahre.«
»Das hat doch keinen Sinn. Nachher werdet ihr euch noch raufen. Und darauf lege ich wirklich keinen Wert.«
»Manchmal ist so eine Rauferei gar net das Schlechteste.« Benjamin Farber lächelte, als seine Schwägerin ihm einen verständnislosen Blick zuwarf. »War nur ein Witzerl. Weißt, es fällt mir nicht leicht, immer weiter zuzuschauen, wie mein Bruder dich unglücklich macht. Mußt net widersprechen, ich weiß, daß es so ist. Der Christian ist halt ein Mensch, der kein Talent zum Glück hat. So was kommt vor. Er muß immer alles zerstören, was in seiner Nähe ist.«
»Ich weiß, du hast mich ja schon auf der Hochzeit gewarnt. Damals habe ich dir nicht glauben wollen. Und jetzt ist es zu spät. Der Christian ändert sich doch nimmer. Wenn er nur die Kinder in Ruhe lassen tät. Ich kann es nicht ertragen, wie unglücklich die beiden sind.«
Benjamin schaute Monika aufmerksam an.
»Denkst du daran, deinen Mann zu verlassen?«
»Nein, das kann ich net. Wo soll ich denn hin? Und ich hoffe doch immer noch, daß es wieder so wie früher zwischen uns wird. Am Anfang, da war er ganz anders, so könnte es doch wieder werden. Die Hoffnung kannst mir net nehmen.«
»Ich wünschte, ich könnte daran glauben, dann wäre mir das Herz ein wenig leichter. Aber ich fürchte, du machst dir was vor, Monika. Der Christian war schon immer so, der kann sich gar net ändern.« Er bemerkte den kummervollen Ausdruck in ihren klaren Augen, und empfand tiefes Mitleid. »Gräm dich net zu sehr. Im Notfall kannst auf mich zählen. Ich bin ja gleich nebenan. Und wenn dein Mann es wieder mal zu weit treibt, dann gib mir Bescheid, dann werde ich versuchen, ihm den Schädel zurecht zu rücken. Das hab ich schon früher gemacht.«
»Ich dank dir, Ben.« Sie seufzte leise und unglücklich. »Aber helfen kannst uns im Grunde genommen net. Das kann keiner...«
Wenig später verließ der Bauer das Nachbarhaus und ging hinüber in den Stall. Während er seine Arbeit erledigte, fragte Benjamin sich nicht zum ersten Mal, wieso das Schicksal stets taub und blind zu sein schien. Warum hatte es Monika, diese wunderbare Frau, und ihn nicht zusammengeführt? Was hätte er dafür gegeben, eine solche Familie zu haben! Doch leider hatte es nicht sollen sein...
*
»Herr Farber, Sie sollen zum Chef kommen. Sofort!«
Christian warf der Sekretärin einen abschätzigen Blick zu und riet ihr: »Behalten Sie Ihre Schadenfreude lieber für sich, Frau Bendig. Sonst kläre ich den Chef mal über Ihre Schwatzsucht auf. Dann können Sie sich bald einen neuen Job suchen...«
»Passen Sie lieber auf, daß Sie nicht auf der Straße landen«, riet sie ihm beleidigt. Nachdem er im Chefzimmer verschwunden war, sagte die Sekretärin zu ihrer Kollegin: »Der Farber steht auf der Abschußliste. Kein Wunder, wie der sich immer benimmt.«
»Ich werde ihm keine Träne nachweinen«, meinte die andere ungerührt. »Hoffentlich feuert der Chef ihn auf der Stelle!«
So weit war es zwar noch nicht, aber Christian Farber war tatsächlich alles andere als gut angeschrieben beim Filialleiter seiner Bank. Dieser bot ihm weder Platz an, noch erwiderte er seinen Gruß. Statt dessen kam er sofort zum Thema.
»Einige Kunden haben sich über Sie beschwert, Farber. Und das ist nicht das erste Mal. Ich dachte, Sie sind Schalterdienst gewöhnt.«
»Ich bin Sachbearbeiter, dieses blöde Getue am Schalter ist mir zuwider«, erklärte er und setzte sich einfach. »Sie haben mich an den Schalter versetzt, obwohl ich das nicht wollte.«
»Nun, nicht ohne Grund. Sie haben bei der Kreditvergabe Fehler gemacht, die sich unser Haus nicht leisten kann. Und nun versagen Sie auch am Schalter. Wohin soll ich Sie denn noch stecken?« Der Filialleiter musterte sein Gegenüber nachsichtig. »Herr Farber, reißen Sie sich halt mal am Riemen. Sie sind immer ein guter Mitarbeiter gewesen. Was ist in letzter Zeit bloß mit Ihnen los? Können Sie mir das erklären?«
Christian hatte eine hochmütige Miene aufgesetzt. Er verschränkte die Arme vor der Brust und behauptete dreist: »Mit mir ist alles in Ordnung. Was kann ich dafür, wenn die Kollegen sich gegen mich zusammenrotten? Ich werde gemobbt, Herr Dirlinger. Und ich finde es beschämend, daß Sie dabei mitmachen. Das muß ich mir nicht gefallen lassen!«
Der Filialleiter zog die Stirn kraus. »Ich kann Ihnen nicht ganz folgen. Von Ihren Kollegen kommen keine Beschwerden, es waren immerhin Kunden, die...«
»Aufgehetzt, gegen mich aufgehetzt!« fiel er seinem Vorgesetzten einfach ins Wort. »Ich durchschaue diese miesen Spielchen, so dumm bin ich nicht. Und ich werde mir das nicht ewig gefallen lassen. Wenn das nicht aufhört, dann muß ich mir einen neuen Wirkungskreis suchen. Und zwar in einem anderen Bankhaus, wo man mich und meine Fähigkeiten schätzt.«
Josef Dirlinger war ratlos. Was mochte nur in seinen Mitarbeiter gefahren sein? War das nun Dummheit oder Dreistigkeit? Und was wollte Christian Farber mit diesem unpassenden Verhalten erreichen? So etwas hatte der erfahrene Banker noch nie erlebt. Aber er konnte diese Sache auch nicht einfach ignorieren. Er war schon mehr als großzügig gewesen. Nun schien es an der Zeit, Christian Farber mal seine Grenzen aufzuzeigen.
»Nun, Herr Farber, es steht Ihnen jederzeit frei, zu kündigen, wenn es Ihnen hier nicht mehr paßt. Das ist Ihre Entscheidung.«
Da wurde Christian doch blaß. »Soll das heißen, Sie werfen mich raus? Aber mit welcher Begründung?« stotterte er.
»Ich werfe Sie nicht raus. Aber ich muß sie abmahnen. Wenn weiterhin solche Beschwerden kommen, dann wird das Konsequenzen haben, das sollten Sie sich vor Augen halten. Das war alles.«
Wie benommen verließ der junge Mann das Chefzimmer. Plötzlich war er ernüchtert, bereute seine großspurigen Bemerkungen. Und er nahm sich vor, es in Zukunft besser zu machen. Allerdings hielten solche Vorsätze bei ihm nie lange an. Und nachdem er sich bald wieder über einen Kunden geärgert hatte, der meinte, nicht schnell genug bedient worden zu sein, verschlechterte sich Christians Laune beständig. Bis er schließlich nach Feierabend wütend die Bank verließ...
Dr. Max Brinkmeier hatte am späten Nachmittag seine Sprechstunde beendet und unterhielt sich noch kurz mit Christel Brenner, der langjährigen Mitarbeiterin, die bereits für seinen Vater tätig gewesen war.
»Die Milli ist ganz stolz wegen dem neuen Medikament«, ließ sie den Doktor wissen. »Sie meint, es sei extra für ihr Leiden entwickelt worden. Oh, mei, da wird Hochwürden was zu hören kriegen. Wenn die Milli schlechte Laune hat, ist’s arg. Aber der umgekehrte Fall kann auch auf die Nerven fallen...«
Max mußte lachen. Als am Klingelstrang gezogen wurde, meinte er: »Kommt wohl doch noch ein Patient. Ich schau rasch nach.«
Doch vor der Haustür stand kein Kranker, sondern Lukas Brinkmeier, Max’ Bruder, mit seiner Verlobten Tina Bader. Man begrüßte sich herzlich, Christel kam eben aus der Praxis und fing gleich ein Gespräch mit Tina an, die Krankenschwester war. Lukas stellte fest: »Ich freu mich, daß wir mal wieder alle zusammen einen Abend verbringen. Die Tina hat sich in letzter Zeit ja recht rar gemacht bei mir. Aber jetzt ist wieder alles im Lot, wennst verstehst, was ich meine...«
Max nickte. Er wußte, daß sein Bruder die hübsche Tina von Herzen lieb hatte und gerne vom Fleck weg geheiratet hätte. Doch der junge Mann, der den Brinkmeierhof führte, war kein einfacher Mensch. In der Jugend hatte er den älteren Bruder stets beneidet, geglaubt, in dessen Schatten zu stehen. Als Max nach dem Studium in die Entwicklungshilfe gegangen war und zehn Jahre lang in Afrika gelebt hatte, war es ganz aus gewesen. Da hatte Lukas ihn nur noch als »Wunderdoktor« verspottet, da waren sie nicht mehr in der Lage gewesen, auch nur ein vernünftiges Wort miteinander zu wechseln.
In der Zwischenzeit hatte sich ihr Verhältnis zueinander einigermaßen normalisiert. Doch Lukas war noch immer unsicher und fiel manchmal in alte Verhaltensweisen zurück. Er konnte sehr eifersüchtig reagieren, es fiel ihm schwer, Vertrauen zu entwickeln. Und daß er über ein ausgeprägtes Selbstbewußtsein verfügte, würde wohl niemand behaupten wollen. All dies trug dazu bei, daß Tina ein wenig auf Distanz gegangen war. Sie hatte Lukas lieb. Und die Vorstellung, als seine Bäuerin auf den Erbhof zu ziehen, die reizte das patente Madel sehr. Aber sie wollte zunächst sicher sein können, daß ihre Beziehung auch hielt. Denn wenn Tina Lukas ihr Jawort gab, denn sollte es auch wirklich fürs ganze Leben sein...
»Du hast dich also am Riemen gerissen«, vermutete Max und legte seinem Bruder eine Hand auf die Schulter. »Recht so. Denn eins ist dir doch wohl klar: Hier in diesem Haus rechnet bereits jeder fest damit, daß aus dir und der Tina bald ein richtiges Paar wird, mit Trauschein und Hochwürdens Segen...«
Tina, die das gehört hatte, scherzte: »Dann bleibt uns wohl nix anderes übrig, als uns dem Wunsch der Mehrheit zu beugen, gelt, Lukas?«
Der legte einen Arm um ihre Schultern, drückte ihr ein Busserl auf die Schläfe und versicherte: »Wennst ja sagst, bin ich sofort dabei. Von mir aus kann es auf der Stelle losgehen!«
Sie lachte und schmiegte sich an ihn. »Gar so rasch muß es nun auch wieder net sein. Heiraten mag ich nämlich net mit leerem Magen. Und die Afra kocht ausgezeichnet...«
Christel Brenner verabschiedete sich, ließ noch Anna Stadler ins Haus, die gerade hatte klingeln wollen. Und wenig später trudelten auch noch Dr. Peter Brosius und Anni Kaiser ein. Afra, die schon betagte Hauserin im Doktorhaus, wieselte flink herum und freute sich an der vollen Tafel. Max erkundigte sich gleich bei seinem Studienfreund nach dessen Zustand. Dr. Brosius war bei dem Absturz der kleinen Privatmaschine am Rücken verletzt worden. Doch nun schien es ihm tatsächlich wieder gut zu gehen.
»Manchmal melden sich noch ein paar Schmerzen, aber es läßt sich aushalten«, versicherte er. »Und die Anni kann prima massieren.«
Die quirlige kleine Person lächelte ihm strahlend zu. »Wir sind eben kein schlechtes Team, wir beide. Wie sagt man so schön: Gegensätze ziehen sich an!«
»Und für wen fliegen Sie jetzt, Anni?« wollte Max interessiert wissen. »Hat der Chefarzt sich denn wieder eine Maschine angeschafft?«
»Nein, er muß sparen. Ich arbeite jetzt bei den Krankentransporten mit. Dem Spital bleibe ich treu. Aber in die Luft gehe ich immer noch.«
Alle lachten, Josef Brinkmeier, der Senior im Haus, fragte seinen Sohn Lukas: »Wir steht es eigentlich bei euch beiden? Hast der Tina denn schon einen gescheiten Antrag gemacht?«
Der Bauer verzog leicht den Mund, man sah ihm an, daß ihm dieses Thema ein wenig peinlich war. Doch seine Liebste hatte damit kein Problem. Sie hob die Rechte, deutete auf einen blitzenden Ring und erklärte geradeheraus: »Ring und Antrag habe ich schon vor einer Weile angenommen. Aber wir lassen uns trotzdem noch ein bißchen Zeit. Bei einer so wichtigen Entscheidung, da soll man doch nichts überstürzen, gelt?«
»Der Meinung bin ich auch«, verkündete Anni Kaiser. »Und wenn ihr mich fragt, würde ich lieber einen Langstreckenflug antreten, als mich in so ein riskantes Abenteuer zu stürzen.«
»Mit dem Richtigen kann es aber klappen«, gab Anna Stadler zu bedenken. »Ich meine, mit dem richtigen Flugzeug oder dem richtigen Mann, je nachdem...« Sie ärgerte sich, als ihre Bemerkung allgemeine Heiterkeit auslöste.
Afra, die gerade den Nachtisch auftrug, stellte kategorisch fest: »Heiraten ist was Schönes. Aber man sollte sich nur drauf einlassen, wenn man sehr mutig ist. Oder recht verzweifelt.«
Josef Brinkmeier lachte herzlich. »Wie kommst denn jetzt darauf, Afra? Du hast doch vom Heiraten nie was gehalten.«
Die alte Hauserin hob die Schultern. »Eben drum. Mir hat’s halt am Mut gefehlt. Oder an der Verzweiflung...«
Das wollte Lukas nicht unwidersprochen lassen, und so entstand eine lebhafte Unterhaltung über die Vor- und Nachteile der Ehe, die allerdings nicht ganz ernst geführt wurde. Mitten in die entspannte Stimmung hinein wurde unten an der Haustür geläutet.
Max erhob sich gleich, Anna Stadler folgte ihm. Tina schaute Lukas fragend an. »Was ist eigentlich los mit den beiden? Ich glaube, da wäre eine klärende Aussprache fällig, oder?«
Der Bauer hob die breiten Schultern. »So einfach ist das net. Ich erzähle dir später, was dahinter steckt...«
Der Landarzt hatte derweil die Haustür geöffnet und war beiseite getreten. Monika Farber kam herein, blaß und mit verstörtem Gesicht. Sie trug ihren Sohn auf dem Arm, der leise weinte. Anna Stadler, die die Frau kannte, trat gleich auf sie zu. »Was ist denn passiert? Hattet ihr einen Unfall?«
»Paul ist die Kellertreppe runtergefallen. Ich weiß selbst net, wie das passieren konnte. Bitte, Herr Doktor, verzeihen Sie die späte Störung, aber ich war zu aufgeregt, um ins Spital nach Berchtesgaden zu fahren...«
»Ist schon recht, Frau Farber. Kommen Sie bitt’ schön ins Sprechzimmer.« Max machte Anna ein Zeichen, ihn zu begleiten. Er bat die verstörte Frau, den Jungen auf die Untersuchungsliege zu setzen, ließ sie dann kurz allein. Im Vorzimmer fragte er Anna: »Kennst du die Farbers näher? Ich hatte noch nie mit der Familie zu tun. Sie wohnen doch noch net lange hier, oder?«
»Seit ein paar Jahren. Die Monika ist eine nette Frau, wir haben mal zusammen einen Kurs an der Volkshochschule besucht. Aber ich glaube, in der Ehe stimmt es net so. Der Mann ist ein ziemlicher Tyrann. Sie traut sich jetzt nimmer, allein was zu unternehmen.«
»Ist er mit dem Farberbauern verwandt?«
Anna nickte. »Der Benjamin ist sein Bruder. Die zwei sind wie Feuer und Wasser. Ich will nix gesagt haben, aber ich glaube, mit dem Ben wäre die Monika besser bedient gewesen...«
Dr. Brinkmeier bat Anna, wieder zu den anderen zu gehen, während er den kleinen Paul untersuchte. Seine Mutter blieb bei der Untersuchung im Sprechzimmer, denn der Junge war sehr verschüchtert und ängstlich. Wenn Monika sich ein wenig entfernte, fing er sofort an, leise zu weinen. Nachdem Max durch gezielte Fragen eine Gehirnerschütterung ausgeschlossen hatte, versorgte er zwei Schürfwunden an Pauls Knien und schrieb der Mutter noch ein Rezept für ein leichtes Schmerzmittel aus.
»Wie es scheint, ist die Sache noch einmal glimpflich abgegangen«, stellte er fest. Monika wollte sofort gehen, aber Dr. Brinkmeier hatte noch ein paar Fragen an sie.
»Fällt Paul öfter hin? Ich muß Sie das fragen, Frau Farber, denn nicht all seine Hämatome sind neu. Einige sind schon abgeheilt. Und da ist eine häßliche Prellung im Nacken. Die kann eigentlich nicht von einem Sturz herrühren.«
Die junge Frau reagierte sofort ablehnend. Ihre Miene verschloß sich, als sie wissen wollte: »Sind Sie darauf aus, mir etwas zu unterstellen? Ich kümmere mich um meine Kinder, ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen.«
»Das wollte ich auch nicht behaupten. Aber wenn ein Kind solche Verletzungen aufweist, muß ich dem nachgehen. Vielleicht haben Sie schon davon gehört, daß häusliche Gewalt ein leider sehr verbreitetes Phänomen ist.«
»Paul ist hingefallen. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen. Wenn ich das gewußt hätte, wäre ich ins Spital gefahren.«
»Bitte, Frau Farber, nehmen Sie es doch nicht persönlich. Es liegt mir fern, Ihnen etwas unterstellen zu wollen.«
Monika ging nicht weiter auf die Worte des Landarztes ein. Sie nahm Pauls Hand und verabschiedete sich knapp. Kaum eine Minute später hatte sie das Doktorhaus bereits verlassen. Max Brinkmeier blieb nachdenklich zurück. Er hatte das ungute Gefühl, daß mehr hinter dieser Sache steckte. Und er nahm sich vor, die Farbers bald mal zu besuchen, um sich selbst ein Bild machen zu können...
*
Als Monika Farber kurze Zeit später heimkam, erwartete ihr Mann sie bereits. Sie beachtete ihn nicht, brachte Paul ins Bett und blieb noch bei ihm, bis er eingeschlafen war. Als sie dann das Kinderzimmer verließ, bat Christian sie versöhnlich: »Sei mir nicht böse, Moni, ich hatte einen schlimmen Tag in der Bank. Der Dirlinger hat mich auf dem Kieker, der will mich loswerden. Und keiner steht mir bei.«
Sie warf ihm nur einen vielsagenden Blick zu und ging dann hinüber ins Schlafzimmer. Er folgte ihr und fragte: »Interessiert dich das denn gar nicht? Immerhin betrifft es dich ja auch, wenn ich meine Stelle verliere.«
»Ich glaube, das hast du dir selbst zuzuschreiben«, erwiderte sie kühl. »Daß man sich keine Freunde macht, wenn man sich so wie du benimmt, ist doch wohl klar. Aber es ist noch lange kein Grund, die Kinder zu schlagen.«
»Mir ist nur die Hand ausgerutscht, ich...«
»Der Doktor hat nach Pauls alten Wunden gefragt. Ich glaube, er ahnt was.«
»Und du hast ihm natürlich gleich auf die Nase gebunden, was ich für ein brutaler Kerl bin, was? Hätte ich mir ja denken können, daß du mir in den Rücken fällst«, giftete er.
»Ich habe nichts gesagt, weil... Ach, das ist ja sowieso egal. Vielleicht hätte ich Doktor Brinkmeier aber die Wahrheit sagen sollen, vielleicht hätte ich dich anzeigen sollen.«
»Das kannst du nicht machen! Außerdem geht es keinen was an.«
»Ach ja? Das glaubst auch nur du. Kindesmißhandlung ist eine Straftat. Und diesmal bist du wirklich zu weit gegangen, Christian. Siehst du denn nicht ein, daß man so nicht leben kann? Du brauchst unbedingt Hilfe!«
»Hilfe? Was meinst du? Willst du mir vielleicht wieder einreden, ich wäre verrückt? Damit wirst du kein Glück haben. Ich weiß es nämlich besser. Du gehst nur darauf aus, mich los zu werden, um mit Ben zu leben. Stimmt’s? Na los, gib es zu!«
Sie schaute in sein zorniges Gesicht und verspürte nur noch Widerwillen. »Wenn ich deinen Bruder lieb hätte, dann wäre ich seine Frau geworden und nicht deine. Außerdem steht das gar nicht zur Debatte. Du machst uns allen das Leben zur Hölle, Christian. So kann es auf die Dauer nicht weitergehen. Und wenn du ein Gewissen hast und nur einmal nicht an dich denkst, sondern an uns, dann gehst du in Behandlung, bevor es zu spät ist. Bevor du etwas tust, das man nicht mehr ändern kann.«
»Ich habe mich im Griff«, behauptete er da und verließ das Schlafzimmer. Die Tür knallte hinter ihm ins Schloß. Monika legte sich ins Bett, schlafen konnte sie aber nicht. All die schweren Sorgen und Probleme, die ihr so sehr zu schaffen machten, verhinderten, daß sie etwas Ruhe fand...
Am nächsten Morgen verließ Christian mürrisch und wortkarg das Haus. Birgit ging gerade zur Bushaltestelle, als Max Brinkmeier das Haus der Farbers ansteuerte. Der kleine Paul saß noch am Frühstückstisch. Monika war sehr überrascht, den Arzt zu sehen. Als er sie freundlich grüßte, erklärte sie verlegen: »Es tut mir leid, daß ich gestern abend so ablehnend war. Aber ich habe mir große Sorgen um Paul gemacht und war ziemlich aufgeregt. Außerdem war das, was Sie da angedeutet haben, schockierend für mich. Ich möchte nicht, daß Sie uns für asozial halten.«
»Das tue ich ganz bestimmt nicht«, versicherte der junge Landarzt begütigend. Er untersuchte seinen kleinen Patienten, der unbedingt zur Schule wollte.
»Du darfst gehen, aus medizinischer Sicht spricht nichts dagegen«, ließ er Paul wissen. »Gehst du denn so gerne zur Schule, daß du keinen Tag versäumen willst?«
»Eigentlich nicht. Aber ich bin auch nicht gern daheim«, kam es zögernd von den Jungen. »Jetzt muß ich mich beeilen!« Weg war er. Max Brinkmeier warf der jungen Frau einen etwas irritierten Blick zu, diese senkte die Lider und murmelte: »Trinken Sie doch noch einen Kaffee mit mir, bevor Sie gehen, Herr Doktor.«
Da sagte Max nicht nein. Sie unterhielten sich noch eine Weile über Belangloses, der sensible Arzt hatte das deutliche Gefühl, daß Monika Farber ihm noch etwas anvertrauen wollte. Doch sie schien sich einfach nicht zu trauen. Als Max Brinkmeier sich schließlich verabschiedete, begegnete ihm Benjamin Farber vor dem Haus. Die beiden begrüßten sich per Handschlag; Benjamin war früher mit Lukas in einer Klasse gewesen, daher kannte auch Max ihn. Er merkte, daß der Bauer, der den elterlichen Hof vor ein paar Jahren übernommen hatte, sehr bedrückt wirkte. Und sein Eindruck schien ihn nicht zu täuschen, denn Benjamin fragte gleich: »Was machst du hier, Max? Es wird doch nix Schlimmes passiert sein? Hat der Christian wieder Mist gebaut?«
»Wie kommst darauf? Dein kleiner Neffe ist gestern auf d’ Nacht die Kellertreppe runtergefallen. Die Monika war bei mir in der Praxis. Und ich hab heut morgen nur kurz nach dem Paul geschaut.« Er wunderte sich, als der Bauer knurrte: »Wer’s glaubt, wird selig. Ich werde mir den Christian später mal zur Brust nehmen. So kann es doch net weitergehen!«
»Was meinst? Stimmt drüben was net?«
Benjamin zögerte kurz, dann erklärte er: »Mein Bruder ist ein arg unbeherrschter Mensch, dem auch schon mal die Hand ausrutscht, wenns’t verstehst, was ich meine. Ich seh mir das jetzt schon eine Weile an. Und ich kann nicht behaupten, daß es mir leichtfällt, mich nicht einzumischen. Die Monika hält trotz allem zu ihm, sie hat wirklich ein goldenes Herz. Aber die Kinder tun mir leid, die haben viel auszuhalten.«
»Soll das heißen, dein Bruder schlägt seine Kinder? Wenn das wirklich stimmt, dann können wir nicht schweigen, Ben. Dem muß ein Ende gemacht werden«, rief der Landarzt energisch. »Die schlimmsten Verbrechen passieren in der eigenen Familie. Und viele hätten verhindert werden können, wenn nicht einfach alle weggesehen hätten, verstehst?«
»Ich kann dir nix Konkretes sagen. Ich weiß nur, daß mein Bruder seine schlechte Laune an seiner Familie ausläßt. Aber wenn er die Kinder wirklich schlägt, dann werde ich net schweigen. Ich rede heut abend mit dem Christian.«
Dr. Brinkmeier gab sich damit zufrieden, mehr konnte er momentan wohl nicht tun. Er hatte leider keine konkreten Beweise, um aktiv zu werden. Doch er war fest entschlossen, Christian Farber das Handwerk zu legen, falls dieser seine Kinder tatsächlich mißhandelte...
Wenig später fuhr Max zum Kinderheim, um nach der kleinen Melanie zu sehen. Anna Stadler begleitete ihn wieder. Das Kind freute sich, die Erwachsenen zu sehen, es gab sich ihnen gegenüber sehr zutraulich. Aber als Anna versuchte, etwas mehr über den »Bösbären« zu erfahren, schaltete das Kind auf stur. Die neue Freundschaft mit der netten Apothekerin schien noch nicht so schwer zu wiegen wie Melanies Angst vor ihrer Peinigerin.
»Ich glaube, Melanie wird mir bald alles sagen. Wir müssen nur noch ein wenig Geduld haben«, meinte Anna auf der Heimfahrt aber optimistisch. »Das Kind ist sehr allein, es braucht eine Bezugsperson. Und die Rolle würde ich gerne übernehmen.«
Max nickte nur, sagte aber nichts. Er schien mit den Gedanken ganz woanders zu sein. Als Anna ihn danach fragte, ließ er sie zögernd wissen: »Der Fall Farber geht mir nicht aus dem Kopf. Ich war heute schon bei den Leuten und habe mich um Paul gekümmert. Frau Farber sorgt sich sehr um ihre Kinder. Und ich hatte auch das Gefühl, daß sie mir etwas sagen wollte. Aber dann hat sie doch geschwiegen. Wohl aus Angst oder Scham...«
»Du denkst also, der Junge hatte keinen normalen Unfall?«
»Es spricht zuviel dagegen. Seine Mutter ist sehr darauf bedacht, keinen schlechten Eindruck zu machen. Sie scheint etwas verbergen zu wollen. Dann die alten Wunden, die auf massive Mißhandlungen hinweisen. Und nicht zuletzt das, was Ben Farber mir gesagt hat...«
»Du hast mit ihm gesprochen?«
»Ja, es war eher ein Zufall. Wir sind uns vor dem Haus über den Weg gelaufen. Ich kenne ihn von früher, er war mit Lukas in der gleichen Klasse. Er sagte, sein Bruder sei sehr jähzornig und würde seinen Frust an der Familie auslassen.«
Anna Stadler nickte. »Ja, das paßt zu dem Bild, das ich mir von ihm gemacht habe. Deshalb traut Monika sich ja auch nichts mehr. Sie hat ständig Angst, es könnte Streit geben. Ich dachte, das ist ein bißchen übertrieben. Aber offenbar doch nicht...«
»Die Frau tut mir leid. Und die Kinder sind die Opfer, denen unbedingt geholfen werden muß.«
»Du willst dich also einmischen. Da kann ich dich aber nur warnen, Max. Du hast dich schnell in die Nesseln gesetzt. Und wenn dieser Farber wirklich so ein Fiesling ist, dann wird er den Spieß umdrehen und versuchen, dir zu schaden.«
»Ja, vielleicht. Aber das Risiko nehme ich auf mich. Ich kann nicht einfach zusehen, wenn jemand leidet. Da hätte ich ja keine ruhige Minute mehr.«
Anna warf Max einen vielsagenden Blick zu und lächelte leicht, als sie bekannte: »Eigentlich habe ich nichts anderes erwartet.«
*