Eine ganze Generation von lateinamerikanischen Autoren ist dabei, ihren Kontinent neu zu entdecken, kreuz und quer zu vermessen und zu kartographieren, und zwar in Form von crónicas, literarischen Reportagen. ›Verdammter Süden‹ ist eine kleine Wunderkammer solcher Reportagen, es sind die preisgekrönten Geschichten namhafter Autorinnen und Autoren. Geschichten von bolivianischen Wrestlerinnen und Herzblatt spielenden peruanischen Gefängnisinsassen, vom Leben und Sterben in Ciudad Juárez, von der brasilianischen Welthauptstadt der Zwillinge, transzendentaler Obdachlosigkeit in Patagonien, sechs Monaten mit Mindestlohn in Medellín, einem argentinischen Dorf, das seine eigene Telenovela produziert, von einem larmoyanten Totenwachenkomiker in der Karibik. Es sind seltsame, bewegende, abgründige und komische Geschichten – Geschichten, die die Welt zum Leuchten bringen.
»›Verdammter Süden‹ schließt brillant eine Lücke. Zwischen den schon immer begeisternden Romanen und Erzählungen Lateinamerikas und den viel zu lange ignorierten nicht-fiktionalen Texten. Das ist ›New Journalism‹, der wirklich neu ist!« John Jeremiah Sullivan
Carmen Pinilla lebt in Barcelona und Berlin und arbeitet als literarischer Scout.
Frank Wegner lebt in Berlin, arbeitet als Verlagslektor und hat Literatur aus dem Englischen, Französischen und Spanischen übersetzt.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von
Carmen Pinilla und Frank Wegner
Aus dem Spanischen und dem amerikanischen
Englisch von Frank Wegner
Suhrkamp
Redaktionelle Mitarbeit:
Simon Lörsch, Nina Hübner und Sabine Erbrich
»Im Liebesknast« erschien unter dem Titel
»Gefängnis der Liebe« in der Übersetzung von Nicole Stoll
erstmals in Reportagen (Januar 2013).
© Reportagen, 2013
Die Übersetzung aus dem Spanischen wurde mit Mitteln
des Auswärtigen Amtes unterstützt durch LITPROM – Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2014.
© Suhrkamp Verlag Berlin 2014
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Umschlaggestaltung: Samanta Schweblin
Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn
eISBN 978-3-518-73327-1
www.suhrkamp.de
Josefina Licitra – Silvina rennt
Alberto Salcedo Ramos – Der letzte Totenwachenkomiker
Martín Caparrós – Ein Nichts zwischen den Wellen
Andrés Felipe Solano – Sechs Monate auf Mindestlohn
Fabrizio Mejía Madrid – Das Theater der Gewalt
Alma Guillermoprieto – Die Wrestlerinnen aus dem Hochland
José Alejandro Castaño – Zwei traurige Nilpferde
Juan Pablo Meneses – Amazon Boys
Martín Caparrós – Grenzenlose Möglichkeiten
Guido Bilbao – Das vergiftete Paradies
Juan Pablo Meneses – Im Land der Zwillinge
Leila Guerriero – Die Stimme der Knochen
Héctor Pavón – Südlich von Hollywood
Marcela Turati – Tod in der Wüste
Cristian Valencia – Der kolumbianische Quijote
José Alejandro Castaño – Im Liebesknast
Leila Guerriero – Patagonien
Nachwort
Über die Autoren
Textnachweise
Noch merkte man es ihr nicht an. Das letzte Mal, als sie festgenommen wurde, am 5. Mai, lag Silvina mit ihrem Freund im Bett, schwanger und nackt, aber noch merkte man es ihr nicht an. Das Einsatzkommando überwältigte sie 15 Blocks von Villa Hidalgo entfernt, im Bezirk San Martín, in einem kleinen Haus aus gebleichtem Zement, mit vertrocknetem Garten zur Straße und einem weiteren Anbau nach hinten raus. Silvina hatte sich mit Jorge, einem ihrer Liebhaber, in eins der Zimmer eingeschlossen, und sie vögelten im Wind eines Deckenventilators. In typisch argentinischer Manier stürmte das Kommando das Zimmer und trieb sie unter Fußtritten ins Freie.
»Verfickte Scheiße«, schrie Silvina. Die Männer schlugen härter zu und hinderten sie daran, sich anzuziehen.
»Verdammter Scheißbulle, gib mir die Klamotten, du Penner.«
Sie traten ihr in die Nieren, den Magen, gegen die Beine und in den Hintern. Silvina schrie:
»Nicht in den Bauch! Ich will meinen Anwalt.«
Wenige Tage später titelte Clarín: »Sie ist schwanger, 15 Jahre alt und verdient ihr Geld mit Entführungen.« Sie war im zweiten Monat schwanger. Aber inzwischen – es sind 60 Tage vergangen, als wir uns an einem geheimen Ort irgendwo in Buenos Aires treffen – weiß ich, dass sie das Kind verloren hat.
Denn Silvina, das ist schnell klar, ist einer dieser Fälle, bei denen man die Sicherheit im Urteil komplett verliert.
»Ich wollte ein Kind, um irgendwas zu haben«, wird sie mit ihren kleinen, geschwollenen Augen später sagen. Es ist die Art Entzündung, die von Betäubungsmitteln oder Weinen verursacht wird.
An einem Dienstagabend, es ist der 17. Juni, fahre ich auf der Autobahn in Richtung Treffpunkt. Sie ist auf der Flucht. Gestern ist sie zum vierten Mal aus einer Jugendanstalt ausgebrochen, und ihr Anwalt versichert mir, dass sie irgendwo versteckt gehalten wird. Sie ist krank und hat praktisch niemanden. Ihre Eltern, die Großeltern und die meisten übrigen Verwandten sind alle tot. Sie hat keine Freunde, und ihre drei Liebhaber sitzen im Gefängnis. Das Einzige, was Silvina in diesem Moment hat, sind ein entzündeter Uterus nach einer Fehlgeburt und Angst. Sie ist gerade 15 Jahre alt geworden, und es wird ihr vorgeworfen, Anführerin einer Gang von Expressentführern zu sein, die als »Die Zwerge« bekannt sind – ein Name, den die Polizei sich ausgedacht hat und der sich auf das Alter der Mitglieder bezieht –, ferner der Diebstahl einiger Autos sowie Kidnapping in mindestens 20 Fällen.
Das Ende – vorausgesetzt, die Geschichte ist überhaupt schon vorbei – begann sich im März und April dieses Jahres abzuzeichnen. Innerhalb von nur zwei Monaten entführte die Gang acht Menschen – darunter Cristos Trasivulidis, einen griechischen Unternehmer und Reeder, den sie für 10000 Dollar Lösegeld wieder freiließen – und schleppten sie kreuz und quer durch Villa Hidalgo in San Martín: ein undurchsichtiges, anarchisches Straßengewirr mitten im Zentrum von Buenos Aires. In den Zeugenberichten erwähnt ein Entführungsopfer, dass man ihn gezwungen hätte, Hasch zu rauchen. Ein anderes Opfer beklagt sich darüber, dass ihre Entführer sie allein zurückgelassen hatten, als sie Zigaretten kaufen gingen. Und ein drittes Opfer versichert, dass »das Mädchen vor meinen Augen mehrmals mit verschiedenen Typen Sex hatte«. Sie alle sind sich jedenfalls in einem Punkt einig: Die Gang wurde von einer jungen Frau angeführt, und diese Frau hatte rosafarbenes Haar.
Auf Grund dieser Aussagen wurde Silvina am 5. Mai von der Kriminalpolizei San Isidro gestellt, in dem Haus, das früher einmal ihren Großeltern gehört hatte. Jorgito, ein weiteres Gründungsmitglied der Gang, wurde in die Haftanstalt Belgrano eingeliefert. Silvina landete in einer zwei mal zwei Meter großen Zelle im Frauengefängnis von San Martín. Dort besuchten sie eine Tante – eigentlich die einzige verbliebene Verwandte – und eine Sozialarbeiterin. Kurze Zeit später wurde sie in die Staatliche Pflegeeinrichtung Ursula Llona de Inchausti verlegt, eine der sichersten Jugendanstalten Südamerikas. Dort blieb Silvina einen Monat, dann wurde sie in einigen Anklagepunkten freigesprochen und in die Anstalt Pelletier in La Plata verlegt. Silvina entkam durch die Tür, durch die die Schmutzwäsche abtransportiert wird.
7. Mai, in der Pflegeeinrichtung.
Vor diesem heimlichen Treffen hatte ich Silvina bloß ein einziges Mal sehen können, nur für zehn Minuten. Die Begegnung fand in der Pflegeeinrichtung Inchausti statt: ein vierstöckiges Gebäude mit Gründerzeitfassade, das sich über die Calle Perón erhebt, im Viertel Once. Auf den ersten Blick mag man es für ein Altenpflegeheim oder für ein Stundenhotel halten, mit einer Bronzeplakette am Eingang. Aber auf den zweiten Blick wirkt das Ganze plötzlich unheilvoll: Die Scheiben sind verspiegelt, die Fenster vergittert.
Drinnen merkt man, dass es sich um garantiert kein Stundenhotel handelt. Man betritt eine kleine Lobby mit zwei alten Sesseln aus grünem Leder, in einem liegt schlafend ein orangefarbener Kater, der alle viere von sich streckt. Er kann sich glücklich schätzen, denn er passt hier als Einziger durch die Gitterstäbe.
Neben dem Kater sind drei Aufseherinnen zugegen, die alle etwas benommen wirken. Sie trinken gesüßten Mate und lassen sich von einem Wachmann bedienen. Der Kontrast zwischen seinen freundlichen Gesten und dem bedrohlichen Schimmern seiner frisch polierten, schwarzen Kampfstiefel, ist augenfällig. Er bietet auch mir einen Mate an, und ich kann nicht aufhören, ihm auf die Füße zu starren.
»Wenn ich heute einen Einstellungstest machen müsste, würde ich schlechter abschneiden als damals, als ich hier angefangen habe.«
Eine der Aufseherinnen hat offenbar eine Anwandlung von Aufrichtigkeit. Sie erzählt, dass derzeit 25 Mädchen in der Einrichtung untergebracht sind, alle sehr impulsiv, und jederzeit müsse man damit rechnen, dass eine ausrastet und ein ganzes Stockwerk in Schutt und Asche legt.
»Einmal haben die den Keller auseinandergenommen. Die Jungs betragen sich ganz okay, aber die Mädels sind fürchterlich. Die bedrohen einen die ganze Zeit, die hören kein Stück auf einen. Die bitten dich um eine Zigarette und dann drücken sie sich die Glut so lange auf die Pulsadern, bis sie bluten. Die machen das, damit sie ins Krankenhaus kommen. Und das Packpapier von den Paketen, die sie kriegen, rollen die so fest ein, dass sie sich damit richtig schneiden können. Die Sache mit den Zigaretten ist echt durchgeknallt«, sagt sie mit einem gedankenvollen Stirnrunzeln und nimmt einen tiefen Zug von ihrer Marlboro. Die Luft ist schlecht, und ich will hier raus. Alle Aufseherinnen haben schwarz gefärbte Haare. Ich frage mich, ob Wella nicht eine »Aufseherinnenschwarz«-Linie auf den Markt gebracht hat, weil die Farbe schlicht einzigartig ist.
Die Direktorin hat die gleiche Haarfarbe. Sie ist eine stämmige Frau mit sehr blauen Augen – eine gewisse Ähnlichkeit mit der Schauspielerin Mirta Wons ist unverkennbar – und kommt eine halbe Stunde nach unserer Ankunft in die Lobby, um uns den Weg zu Silvina aufzuschließen. Ich sage ›uns‹, weil ich mit Gustavo Semorile hier bin, einer der beiden Anwälte, die Silvinas Tante engagiert hat. Semorile ist ein großer, hagerer Mann mit offiziösem Auftreten – stets trägt er Krawatte, einen beigen Mantel und Brille –, der wider Erwarten empathisch und besonnen wirkt. Er gehört zu denen, die gern im Scherz reden, aber im Ernst, oder im Ernst, aber im Scherz. Diese ständigen Mehrdeutigkeiten können durchaus irritieren, aber ihn selbst scheinen sie gut zu unterhalten. Er stellt mich Mirta Wons als Mitarbeiterin vor. »Weil Journalisten hier keinen Zutritt haben«, flüstert er mir heiter zu.
Es geht in Mirtas Büro hinauf. Die Fahrstuhlkabine ist mit oxidiertem Metall beschlagen, es ist eng darin, viel zu eng, alles hier ist eng, denke ich, und ich denke an die Zellen, an die Gitter vor den Fenstern, an die Zigarettenstummel, den Mate, die Kampfstiefel, und ich will hier raus.
Ich will hier raus.
Der Weg zu Silvana öffnet sich nie: Um zu ihr zu gelangen, muss man sich einsperren.
Mirta ist sympathisch, proper und mütterlich. Aus ihrem Büro und durch das vergitterte Fenster hindurch blickt man auf eine verdreckte Straße, auf wütende Menschen, den zäh fließenden Verkehr. Diese unerträgliche Welt da draußen ist, aus dem Gefängnis betrachtet, ein einziger Garten Eden. Ich mustere Mirta: Sympathische und mütterliche Frauen arbeiten nicht an so einem Ort. Sie widmet mir erwartungsgemäß ein strahlendes Lächeln. Und sagt, dass ihr Anspruch darin bestehe, die Geschichte jeder Insassin kennenzulernen, jede einzelne für die Gesellschaft zurückzugewinnen, zu jeder ein persönliches Verhältnis aufzubauen.
»Es ist ein Jammer, dass ich zu Silvina fast keinen Zugang habe«, sagt sie lächelnd, »weil sie doch sonst mit jedem redet.«
Silvinas Festnahme gründete sich auf zehn Anklagepunkte, aber seit sie hier ist, wird ihr praktisch jeden Tag eine neue Entführung zugeschrieben. Gut möglich, dass es am Ende über 20 werden. Eine Zahl, die im Falle eines 15-jährigen Mädchens nicht ohne weiteres prozessierbar ist. Bei ihrer Festnahme rief die Kriminalpolizei Victoria Camacho Hidalgo an, die zweite Anwältin Silvinas, damit sie den Personalausweis ihrer Mandantin vorlegt: Sie konnten einfach nicht glauben, dass Silvina so jung ist. Vom Gericht wird sie wie eine »minderjährige Erwachsene« (das sind die 16- bis 18-Jährigen) behandelt, es wird also, anders als bei Minderjährigen, regulär gegen sie ermittelt, Gegenüberstellungen und Verhöre inbegriffen. Heute, am 7. Mai, vergaß der zuständige Vollzugsbeamte (»Ich vergaß«, sagte er wortwörtlich), dass Silvina erst 15 Jahre alt ist, und erließ eine offizielle Verfügung, die ihre weitere Einzelhaft anordnete. Das bedeutet aber auch, dass sie keinen Besuch empfangen, nicht telefonieren und Briefe weder erhalten noch schreiben darf.
Das bedeutet, dass man sie ziemlich bald in den Wahnsinn getrieben haben wird.
Semorile schreit: »Das verletzt die UN-Kinderrechtskonvention.«
Silvina ist noch ein Kind.
Der Besucherraum ist ein Kasten mit weißen Wänden, drei Plastikstühlen und einem Resopalschreibtisch. Bei diesem Gebäude muss es sich um eine Zweigstelle der Hölle handeln: unbehaglich, klaustrophobisch, mit langen Gängen, himmelblau gestrichen, und Sicherheitstüren, die siebenfach zu entriegeln sind. In weiter Ferne fällt eine der Sicherheitstüren ins Schloss (dieser metallische Hall), und Schritte werden lauter: Silvina kommt.
Das Erste sind die Haare. Sie wirkt wie eines dieser Mädchen aus Once, die mit den pinkfarbenen Perücken. Ihr Pony ist gräulich, der Ansatz brünett, zu den Spitzen hin geht die Haarfarbe in Orange über. In den Zeitungen heißt es, dass das Teil ihrer Taktik ist: Nach jeder Entführung färbt sie sich die Haare aufs Neue und anders, damit sie unerkannt bleibt. Aber ihre Tante Betty wird mir ein paar Tage später sagen, dass sie sich einfach deshalb die Haare färbt, weil sie eitel ist. Sie war schon blond, brünett und rothaarig. Das mit dem Pink war offenbar ein Versehen, sie hatte versucht, sich die Haare auf einer pflaumenfarbenen Grundierung schwarz zu färben und sich mit den verwendeten Mengen vertan und versehentlich zu einem Fakeprodukt gegriffen, deshalb sieht sie aus, als singe sie in einer Teenieband.
Das mit der Eitelkeit leuchtet ein. Ihre Haare sind gewaschen, die Brauen getrimmt und gezupft, die Nägel gepflegt. Sie hatte sich bereits darüber beschwert, weder Ringe noch Ohrstecker tragen zu dürfen.
»Kapierst du nicht, dass eine Frau ohne Schmuck keine Frau ist?«, meinte sie zu einer Aufseherin. Aber die Aufseherin verstand das nicht. Sie bot ihr im Gegenzug ein bisschen schwarzes Wella-Haarfärbemittel an. Aus nachvollziehbaren Gründen schlug Silvina das aus.
»Mädchen, färb dir um Gottes willen die Haare.«
Gustavo Semorile umarmt sie und gibt ihr ein Küsschen auf die Wange und zeigt sich auf eine Weise väterlich, die mir aufrichtig scheint. Er muss sie gern haben. Er muss sie gern haben, weil er sieht, wie allein sie ist. Silvinas Reaktion ist kurios: In seinen Armen entspannt sie sich. In den Falten seines beigen Mantels taut sie auf. Aus diesem Refugium an der Brust ihres Anwalts sieht sie mich schief an. Sie misstraut mir auf Anhieb.
»Und wer ist die?«
Sie hat geschwollene Augen, von den Medikamenten, ich weiß nicht mal, ob sie mich deutlich sehen kann. Sie nimmt jeden Abend drei verschiedene Beruhigungsmittel und hat Blutungen und chronische Bauchschmerzen. Niemand glaubt noch recht an ihre Schwangerschaft, wegen der vielen Schläge, die sie in letzter Zeit hat einstecken müssen und wegen der vielen Drogen, die sie vor ihrer Verhaftung eingeworfen hatte. Die Kriegsbeute aus den Entführungen, wird mir Tage später eine ihrer Angehörigen sagen, wurde recht großzügig verjubelt: Clubs, Leihlimousinen, Alkohol, Koks, Pillen, Hasch und Pattex für alle. Silvina hatte sich außerdem jede Menge Turnschuhe gekauft.
Turnschuhe sind ihr Verhängnis.
Wenn ihre Tante sie besucht, hat sie immer ein neues Paar dabei, damit Silvina sie wechseln kann: In der Anstalt darf sie nur ein einziges haben. Ohne ihren Schmuck und ohne ihre Sneaker gerät alles aus dem Gleichgewicht. Jetzt hat sie ein Paar NASA-mäßig versilberter Reeboks an und trägt dazu einen himmelblauen Jogginganzug, der ihre Eins-Fünfzig-Körpergröße gut verpackt. Während sie spricht, verrutscht ihr Outfit, rutscht hoch, rutscht runter. Sie kratzt sich, als wäre das Kratzen selbst eine Art, sich die Zeit zu vertreiben. Ihr Bauch ist weich und braun: unspektakulär im zweiten Monat schwanger.
»Die wollten, dass ich heute aussage, aber ich habe denen gesagt, dass ich nicht reden werde, wenn du nicht da bist. Die meinten, sie hätten dich angerufen, aber nicht erreicht.«
Sie nuschelt ziemlich unverständlich.
Semorile flucht zwischen den Zähnen hindurch: Niemand hat ihn angerufen, keiner hat ihm gesagt, dass Silvina bei Gericht war.
»Dann wollten die, dass ich was unterschreibe, aber ich sage, ich unterschreib nix, was ich nicht gelesen hab. Und dann les ich blablabla und blablabla und plötzlich les ich was von ich weiß nicht wie vielen Expressentführungen und dann hab ich natürlich nicht unterschrieben. Ich hab hingeschrieben, dass ich Berufung einlege.«
Sie lächelt benommen. Zwischen den schweren, zufallenden Lidern blitzt kurz eine Pupille auf.
»Und als der Typ das liest, sagt er, aber wozu denn, warum denn Einspruch einlegen. Und ich so zu ihm: Weil ich nicht verstehe, was da drinsteht, darum.«
Semorile lacht. Er sagt zu ihr, »Du bist echt schlau«, aber hauptsächlich lacht er. Er nimmt sie wieder in den Arm, sagt ihr, dass sie sich schön die Haare färben, dass sie gut auf die Schwangerschaft aufpassen und sich gut betragen soll. Zu alldem nickt sie.
Wir brechen auf.
»Ich liebe das Mädchen einfach, aber die Leute halten sie für eine Bestie«, sagt der Anwalt, als wir uns voneinander verabschieden. »Die Gerichte müssen wir um Verständnis bitten. Mit dem Leben, das sie hatte, hätte sie eigentlich Serienmörderin werden müssen.«
Dieses dumme Leben.
Silvinas Leben verlief ganz normal, bis sie sechs war. Ihr Vater hieß Beto, fuhr in San Martín mit Pferd und Karren Wasser aus, unweit von Villa Hidalgo. Ihre Mutter, Zully, arbeitete bei einem Metzger in Martínez und war, nach eigener Aussage und der aller anderen, untadelig. Glückliche Momente waren es, wenn der Vater Silvina und ihre Schwester Vanessa (drei Jahre älter) badete und kämmte und sie anschließend auf eine Kutschfahrt mitnahm. Sie lebten 15 Blocks von dem Stadtteil entfernt (200 Meter von dem Ort, wo Silvina verhaftet worden ist), und sie führten ein ruhiges, bescheidenes Leben. Betty, ihre Tante, zeigt mir ein Familienfoto: Vater und Mutter heben die Mädchen in die Höhe, alle strahlen. Zully sieht robust aus und hat gerötete Wangen. Den verträumten Blick kenne ich auch von Silvina. Beto ist kantig und mager. Unter dem Hemd schaut eine Tätowierung hervor: »Roberto«. Und auf den Handrücken hat er sich ein Kreuz stechen lassen.
Als dieses Foto gemacht wurde, ging es schon bergab. Noch vor Silvinas Geburt wurde Roberto wegen eines Überfalls verhaftet, den er nicht verübt hatte. Anderthalb Jahre später wurde er begnadigt, aber er verließ das Gefängnis mit HIV und vielen üblen Angewohnheiten. Er fing an, sich Heroin zu spritzen, steckte seine Frau an, ohne dass sie von seinem Zustand wusste. Als Silvina fünf Jahre alt war, starb Beto und Zully wurde vor Hass krank.
»Bleib niemals einem Mann treu, das haben die alle nicht verdient«, sagte sie Silvina. »Guck doch, wie ich dastehe. Der Einzige, mit dem ich geschlafen habe, war dein Vater, und der hat mich mit AIDS angesteckt.«
Zully zog zu ihren Eltern und betäubte ihre Angst, indem sie von morgens bis abends arbeitete. Um Silvina und Vanessa kümmerten sich die Großeltern. Aber es war nicht das Gleiche. Für die Großeltern waren die Kinder ein einziges Ärgernis – sie waren laut und machten alles schmutzig –, und so schickten sie die Kleinen ständig raus auf die Straße. Mit neun Jahren rauchte Silvina ihre ersten Joints, zog mit Banden aus Villa Hidalgo durch die Gegend und spielte mit Handfeuerwaffen herum.
Zully war das alles egal.
»Ich habe mein Leben gelebt«, sagte sie ihrer Tochter. »Unterm Strich stirbt man halt an irgendwas.«
Und Zully starb.
Silvina zog zu den Großeltern väterlicherseits, in das Haus, wo sie dann schließlich festgenommen wurde. Sie bereitete ihnen das Essen zu, sie unterhielt sie, sie wusch ihnen die Füße. Aber als Silvina elf Jahre alt war, folgten die Großeltern Beto und Zully nach und starben ebenfalls. Silvina blieb in der Obhut ihres Onkels und ihrer Tante, die in einer Art Schuppen lebten. Nur hatte der Onkel Krebs, und sein langsames, qualvolles Sterben bildete die Kulisse eines schier unerträglichen Alltagslebens. Silvina pflegte ihn bis zu seinem Tod. In den vorderen Teil des Hauses zog unterdessen ein weiterer Onkel väterlicherseits, zusammen mit seiner Frau. Dieser Onkel war vorbestraft und in die Entführung der Tochter eines Großdealers aus dem Viertel verwickelt. Er hatte sowohl die Polizei als auch die Drogenmafia im Nacken. Er fühlte sich in die Enge getrieben und drehte durch. Eines Tages betrat Silvina die Wohnung, und da baumelte er von der Decke. Er hatte sich erhängt, logisch.
Seither lautet Silvinas erste Frage, wenn sie festgenommen wird: »Und wer ist gekommen?« Sie möchte wissen, wer auf der Plaza Lavalle, gegenüber vom Justizpalast Tribunales, steht und da auf sie wartet. Obwohl es noch ein paar weitere entfernte Verwandte gibt, kommen eigentlich immer nur zwei Personen in Frage: Betty und Vanessa.
Die Familie.
Über Betty ist nicht viel zu sagen: Sie ist eine Tante und die einzige erwachsene Person in der Familie, die nicht vorbestraft ist, und sie stimmt einem Gespräch nur unter der Bedingung zu, dass nichts publik wird, was sie identifizieren könnte. Aber so wie die Dinge stehen, ist ja der Umstand, dass Betty nicht vorbestraft ist, bereits einigermaßen vielsagend.
»Silvina nimmt mich oft in den Arm und sagt: ›Mann, was ist dieses Leben für ein Scheiß, wir haben nichts und niemanden, und wer nicht tot ist, sitzt im Knast.‹ An irgendwas muss man ja sterben, Tante. Das sagt sie mir. Und sie hat mehrmals versucht, sich umzubringen. Schnitt sich die Pulsadern auf. Ich will sie davon überzeugen, dass sie nicht allein auf der Welt ist. Ich bin für sie da, mein Mann ist für sie da, ihre Schwester ist für sie da. Ich sage ihr, dass sie keine Drogen nehmen soll, und sie sagt zu mir: ›Aber wozu soll ich denn leben, Tante? Damit ich abends ins Bett gehe und keiner da ist, der mir einen Kuss gibt? Keiner, mit dem ich den Tisch teilen kann? Keiner, der meine Sachen aus der Schule ansieht?‹ Früher klang das alles ganz anders: ›Ich gehe vor die Tür, was rauchen, Bier trinken und das war's. Wenn ich dann ins Bett gehe, brauche ich nichts von dem, was ich nicht habe.‹«
Betty weint. Betty hat ein Haus, in dem es nach Weihrauch riecht (eine Hexe hatte ihr gesagt, dass sonst ein schlechtes Karma herrscht) und einen Sohn namens Luis, der wegen einer Aussage Silvinas seinerseits in Haft sitzt. Aber Betty ist ihr nicht böse, und Luis ist es auch nicht. Es heißt, dass Silvina ausgesagt habe, weil die Polizei sie schlug und drohte, sie zu vergewaltigen. »Wenn du nicht willst, dass sie dich weiter verprügeln, würdest du irgendwann sogar Gandhi verpfeifen.«
Betty lächelt tapfer, sie ist sichtlich abgespannt. Sie denkt an eines der vielen Male, als Silvina ihrem Sohn zur Hilfe kam.
Es war vor zwei Jahren gewesen, in irgendeiner Provinzdisko. Luis war betrunken und hatte kein Geld mehr für Bier. Aber ihm kam eine Idee. An der Theke stand nämlich ein jüngerer Typ mit einem vollen Pitcher. Luis stellte sich dazu und bat um einen Schluck. Vergiss es. Na komm schon. Vergiss es. Na komm schon. Vergiss es.
»Hör mal zu, ich bin Gangster und verpass dir eine Kugel«, stellte Luis klar.
»Hör mal zu, ich bin Polizist und steck dich in den Knast«, stellte der mit dem Pitcher klar.
Gewisse Schlüsselbegriffe haben eine unmittelbar klärende Wirkung. Luis zog sich also mit einer Verbeugung zurück und empfahl sich dem Dienst habenden Heiligen, um nicht verhaftet zu werden.
Aber Silvina hatte alles mitbekommen.
Sie trat langsam näher, mit einer westernmäßigen Gelassenheit.
»Was ist hier los? Warum kannst du Drecksbulle meinem Cousin nichts abgeben?«
Und in dem Moment zog sie ihm den Pitcher über den Schädel. »Silvina, ich bring dich um, ich komm deinetwegen in den Knast«, schrie Luis, aber sie legte noch mal kräftig nach, und als der Polizist schon Zähne spuckte, verpasste sie ihm einen finalen Kinnhaken.
»Und der war auch für meinen Cousin«, fügte sie erläuternd hinzu.
Luis und Silvina waren unzertrennlich. Viele glauben, dass die zweite einschneidende Katastrophe in Silvinas Leben, nach dem Tod ihrer Eltern, Luis' Verhaftung war. Er wurde am 6. Juli 2002 festgenommen, zusammen mit ihr und Jorgito. Alle drei gehörten sie der Gang an. Luis und Silvina zogen bis zu dem Tag mit den gleichen Leuten durch die Gegend und teilten so gut wie alles, bis auf das Frühstück. Der Familientreffpunkt war das Haus der Großeltern väterlicherseits. Betty holte ihre kleineren Kinder nachmittags aus der Schule ab, damit sie alle gemeinsam essen konnten. Es gab eine Abmachung: Sie durfte ihre kleinen Cousins nur sehen, wenn sie nüchtern war. Und sie hielt sich daran. Sie trank dann brav ihre Milch, und wenn die Kleinen wieder weg waren, zündete sie sich erst mal eine Tüte an.
Da war Silvina 13 Jahre alt und sich überhaupt keiner Gefahren bewusst. Als Elfjährige hatte man sie bereits beim Klauen im Supermarkt erwischt, und sie blieb nur deshalb straffrei, weil die Großmutter vor dem Jugendrichter in Tränen ausgebrochen war. Mit 13 nahm sie dermaßen viele Drogen, dass sie nachts oft nicht mal wusste, mit wem sie gerade schlief. Wenn Luis sie irgendwo fand, schleifte er sie, die sich dann mit Händen und Füßen wehrte, an den Haaren nach Hause.
Luis kümmerte sich auch um Vanessa, Silvinas ältere Schwester. Aber Vanessa bekam ihr Leben in den Griff.
Ich sehe Vanessa auf Fotos: Sie ist brünett, hat ein fülliges Gesicht, gezupfte Augenbrauen und den gleichen rundlichen Körper wie Silvina. Alle sagen, dass sie ein tolles Vorbild ist. Sie fing früh mit den Drogen an, wurde mit 15 dann aber schwanger und krempelte ihr Leben um. Manchmal verströmen Kinder, wie das Evangelium, einfach eine läuternde Aura. Vanessa beschloss, mit dem Vater der Kinder zusammenzuziehen, sie verwandelte sich in eine Vorzeigehausfrau.
»Gestern war sie Silvina besuchen, und sie kam heulend wieder raus«, erzählt Betty.
Gestern war der 18. Mai. Silvina hatte eine Fehlgeburt, und es ist kein Arzt geholt worden, um die Reste des Fötus auszuschaben. Ihre Gebärmutter ist entzündet, und alles, was sie bekommt, sind Spritzen und Medikamente. Silvina zittert, ist völlig außer sich und kraftlos. Als ob sich eine Kugel in ihrem Magen bewegt, so muss sich das anfühlen. Vanessa ist verzweifelt:
»Die werden sie noch umbringen.«
Seit einem Monat lässt man mich nicht zu Silvina. Ihre Gesundheit ist ein ernstes Problem, und vielleicht ist es besser, wenn ich eine Zeitlang nicht nachhake. Am 17. Juni klingelt dann das Telefon. Gustavo Semorile ist dran. Er will wissen, ob ich den Artikel schon abgeliefert habe. Ich erkläre ihm, warum ich das nicht getan habe. Dass ich mit ihr sprechen muss, um überhaupt etwas schreiben zu können. Ich bitte darum, sie sehen zu dürfen. Ich verspreche auch, dass ich ohne Aufnahmegerät komme, ohne Notizheft, ohne Stift …
Semorile fällt mir ins Wort.
»Sie ist ausgebrochen.«
Ich erinnere mich an die Anstalt – sogar die Toilettenfenster sind vergittert – und denke, dass das wieder so einer seiner Witze ist.
»Sie ist ausgebrochen. Wir treffen uns in einer Stunde in der EuroBar in Tribunales.«
Heimlich.
Die EuroBar ist klein, unpersönlich und voller Anwälte mit ständig klingelnden Handys. Im Hintergrund, Empfehlung des Hauses, ein Fernseher, auf dem durchgehend Crónica TV läuft. Semorile kommt herein, nimmt Platz und redet, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen. Er wiederholt, dass das Mädchen ausgerissen ist. Sie wurde in einigen Anklagepunkten freigesprochen und in die Anstalt Pelletier in La Plata verlegt. Dort verteidigte sie eine Mitinsassin vor einem Aufseher, der sie missbrauchen wollte, und daraufhin hat man sie zusammengeschlagen.
»Aber das Problem ist die Kriminalpolizei«, er wendet den Blick nicht vom Bildschirm ab. »Die setzen ihr richtig zu.«
Vor einem Jahr, am 6. Juli 2002, verprügelten sie das Mädchen und drohten ihr, sie zu vergewaltigen und zu töten. In der Situation verriet sie auch ihren Cousin, so Silvina später. Als sie vor einigen Tagen nach La Plata verlegt wurde, geschah das mit dem richterlichen Versprechen, dass sie dort in Ruhe gelassen würde und in Sicherheit sei. Allerdings erwarteten sie dort zwei Überraschungen. Die erste war eine Tracht Prügel. Die zweite: Im Pelletier öffneten sie der Kriminalpolizei die Türen, damit sie Silvina vernehmen können. Sie sah plötzlich die gleichen Beamten hereinkommen, die sie am 6. Juli verprügelt hatten und ihr geschworen hatten, sie umzubringen.
»Dann ist sie abgehauen. Gestern. Verdammte Scheiße, schau mal.«
Ich drehe mich um. Über den Liveticker von Crónica TV läuft eine Sondermeldung: »Mädchen bricht aus Erziehungsanstalt aus / es handelt sich um Silvina, Anführerin der Gang ›Die Zwerge‹ / Drahtzieherin hinter etlichen Entführungen.« Das Handy des Anwalts klingelt sehr laut. Es hört nicht auf. Es wird nie aufhören. Semorile bietet mir an, mich noch an diesem Abend an den Ort zu bringen, wo Silvina sich aufhält: Die Welt soll erfahren, dass man seine Mandantin bedroht und geschlagen hat.
Ich bin dabei.
Es ist acht Uhr abends, und ich sitze mit dem Fotografen im Auto. Ich erzähle ihm dies und das. Anekdoten über Silvina sind eine sonderbare Form, sich die Zeit zu vertreiben. Wir unterhalten uns darüber, ob es Leben ohne Entscheidungsmöglichkeiten gibt. Die Griechen meinten: Wir werden in ein Schicksal hineingeboren, und wir können absolut nichts tun, um es zu verhindern. Der tragische Held ist der, der versucht, sich dagegen aufzulehnen; der, der dieses unerbittliche Geschick – vergebens – zu durchbrechen versucht. Ödipus ist einer von ihnen, aber er scheitert: Er sticht sich die Augen aus und wird in die Verbannung geschickt. Antigone möchte ihren in Ungnade gefallenen Bruder würdig begraben, und sie wird lebendig eingemauert. Man kann sich fragen, welche Male Silvinas Stirn zeichnen. Inwieweit ist ein Lebensweg immer auch die Summe aus freien Entscheidungen?
Die offensichtliche Frage lautet deshalb: Hat Silvina die Wahl?
Am 25. Mai 2003 hielt Néstor Kirchner seine erste Ansprache als Präsident, und das erste Mal seit Jahrzehnten wurde für das Sicherheitsproblem eine soziale Erklärung bemüht. »Die vorherrschende Kriminalität hat nicht nur mit dem Strafgesetzbuch zu tun«, sagte er, »sondern auch mit der Erfüllung der grundlegenden Verfassungsrechte.« Außerdem sprach er von der »sanften Hand«, und vielleicht ist das keine bloß demagogische Frage: Niemand weiß, welche Art von Hand jemandem wie Silvina guttäte (vermutlich die eines Vaters). Aber es ist jedenfalls klar, dass die Hand, die sie bislang geführt hat, in zumindest praktischer Hinsicht überhaupt nichts genützt hat.
Unser Abblendlicht verschmilzt mit dem Heckscheinwerfer eines parkenden Autos. Es ist der Isuzu des Anwalts, der in einer Kurve steht. Wir steigen bei ihm ein. Semorile lässt uns beim Grabe unserer schon Verstorbenen und künftigen Toten schwören, dass wir keine Ortsangaben machen werden.
Gehen wir also einfach davon aus, dass der Weg zu Silvina durch einen Tunnel führt. Am Ende des Tunnels steht ein Haus, es sind Menschen da, es läuft Crónica TV und ein Mädchen sitzt in einem Sessel. Silvina ist aufgedunsen, ihre Bewegungen sind ungelenk und ihre Augen entzündet. Sie kann sie kaum öffnen. Sie trägt ein buntes Haarband, und auf ihrem Kopf zeigen sich einige noch feuchte, graubraune Farbtupfer: Sie hat sich gerade die Haare gefärbt. Kastanienbraun.
Aber das ist jetzt das Unwichtigste.
»Ich bin abgehauen, weil sie mich verprügelt haben. Die haben ein anderes Mädchen geschlagen und ich habe versucht, die zu schützen, und dann hat mich ein Aufseher geschlagen. Er hat mich getreten. Aber ich hab nicht klein beigegeben, wär ja noch schöner. Und dann hab ich ihn noch mal geschlagen. Als ich das letzte Mal da war, hat der mich auch geschlagen. Der wurde schon mehrmals angezeigt. Die Bullen haben mich auch bedroht. Und geschlagen, das alles. Ich hab die auch schon angezeigt. Und dem Richter hab ich gesagt, dass ich nicht wieder an den gleichen Ort will, weil die mir gedroht haben, mich zu verprügeln und zu vergewaltigen. Und der Richter meinte, ich soll mal schön ruhig bleiben, da wird schon nichts passieren. Aber die haben mich wieder an den gleichen Ort gebracht. Und die haben mich wieder misshandelt. Und mich zu schlagen, hat ja wohl nichts mit gut behandeln zu tun!«
»Und wenn du dich prügelst, hast du da gar keine Angst?«
»Wenn ich mich verteidige, dann hab ich keine Angst. Jemand anderen verteidigen, auch nicht. Vor der Polizei hab ich aber Angst, ist ja klar. Aber ich tu, was ich kann.«
Silvina spricht langsam. Monoton. Sie wirkt fast autistisch. Auf dem Tisch liegt ein Ultraschallbild. Von ihrer Gebärmutter: Sie war heute beim Arzt, sie leidet an einer schweren Infektion. Das Problem besteht darin, dass sie zu dem Arzt nicht zurückkann, weil sie justizflüchtig ist. Vor diesem Hintergrund erwägen ihre Anwälte auch, dass sie sich vielleicht besser stellen sollte.
»Ich hab mit der Psychologin da gesprochen. Hab ihr gesagt, dass da ein paar Sachen schieflaufen. Aber sie meinte zu mir, dass die Aufseher dazu da sind, uns Mädchen ruhigzustellen, wenn wir mal durchknallen. Und ich meinte zu ihr, dass die dann ja aber nicht gleich zuschlagen müssen. Und da sagt sie, ja gut, da hat vielleicht jeder seine eigene Art. Und ich meine, ich lass mich aber nicht mehr schlagen. Gestern Morgen haben sie die Schmutzwäsche abgeholt und die Tür offen stehen lassen. Und da bin ich dann weg.«
Es ist das vierte Mal, dass sie ausgebrochen ist. Das erste Mal war mit zwölf. Sie wurde in den Frauentrakt von San Martín verlegt, auf Antrag von Victoria, die damals ihre Anwältin war. Normalerweise weinen die jungen Straftäter, wenn sie inhaftiert werden. Aber Silvina drehte sich in der Tür um, blickte ihre Anwältin an und rief ihr zu:
»Wir sehen uns übermorgen.«
Die Anstalt schickt die Mädchen grundsätzlich in »offene« Schulen: Orte mit Gärten und relativ niedrigen Mauern. Ohne Gitterstäbe. Silvina ist nie länger als einen Monat geblieben. Ein typisches Telefongespräch mit Victoria geht so:
»Ich hau ab.«
»Neeiinnn. Mach das nicht. Du musst bitte, bitte noch ein wenig durchhalten.«
»Nein, mir ist langweilig.«
Jede Flucht ist ein Neubeginn. Ein Zukunftsversprechen. Immer wenn Silvina ausbricht, verspricht sie, dass sie sich bessern wird.
Jetzt verspricht sie es auch.
»Ich will mich ändern. Doch, wirklich. Ich will Schwimmlehrerin werden. Ich hab das zwei Jahre in der Schule gemacht, und ich fand es super.«
»Was bedeutet Glück für dich?«
»Mich gut benehmen. Schwimmen üben. So was. Manchmal bin ich ganz zufrieden. Aber irgendwie schaff ich es dann immer, das bisschen Glück, das ich hab, kaputtzumachen. Und mein größter Traum ist, dass Luciano rauskommt. Es ist so, ich hab drei Liebhaber im Knast: Leandro, Luciano und Jorge. Und alle drei überlegen, was sie später arbeiten können. Die wollen mich heiraten. Und ich glaub ihnen das auch. Und mein Traum ist, dass der rauskommt, den ich am meisten liebe, und das ist Luciano. Und ich will ein Kind haben, weil ich weiß, ein Kind wird mich retten. Ich will ein Kind, und dann nichts wie weg.«
»Mit 15 willst du schon ein Kind?«
»Ja. Ich hab mit zwölf schon versucht, eins zu kriegen. Mit meinem Freund, Leandro. Er wollte auch Vater werden. Aber das geht nicht mehr. Nicht mit mir. Leandro hat mich zu viel geschlagen. Er war ein Frauenschläger.«
»Warum hat er dich geschlagen?«
»Du siehst doch, wie die Männer sind. Du baust Scheiße, und alles ist okay. Du machst deine Sache gut, und dafür kriegst du eine rein. Merk dir das lieber.«
Silvinas erster Freund war Leandro. Da waren sie beide zwölf. Zu der Zeit bot Silvinas Leben schon genug Stoff für mindestens sechs Folgen einer Knastserie. Manchmal wusste sie nicht, wo sie was zu essen herbekommen sollte, so dass ihre Tante Betty irgendwann die Summe bezahlte, die Silvana in einem Kiosk im Viertel anschreiben ließ. Was sie da im Lauf der Zeit am meisten geholt hatte, waren Schwangerschaftstests.
»Silvina, was hast du denn verdammt noch mal mit den Antibabypillen gemacht, die ich dir besorgt habe?«
»Leandro hat sich die ins Shampoo gerieben, damit seine Haare schneller wachsen.«
Leandro war nicht nur eitel, sondern dazu noch gewalttätig. Er liebte sie. Wie sollte er sie auch nicht lieben? Aber das Hasch machte ihn aggressiv. Sie hat zurückgeschlagen, aber das hat auch nicht geholfen: Die Männer schlagen ja doch immer heftiger.
Bis Silvina genug hatte.
»Du schlägst mich nie wieder, sonst bring ich dich um. Weil ich keinen Papa hab, und mich hat nie wer geschlagen, und du wirst es jetzt auch nicht mehr tun.«
Sie liebte ihn, trotzdem schoss sie auf ihn.
»Er hat mich geschlagen«, erklärt sie mit schläfriger Stimme. »Da stand ein Typ in der Nähe mit einer Wumme, und ich hab mir die geschnappt und abgedrückt. Ich bin gerannt. Auf die Straße. Und hab ihn nie wieder gesehen. Ich hab ihn nicht getötet, ich wollte ihm nur in den Fuß schießen. Ich war es leid, aber ich war so saudumm, typisch Mädchen. Kein Wunder, ich bin ja auch ein Mädchen. Aber weil er mein erster Freund war, und das alles, hab ich mich immer wieder in ihn verknallt, und mir war egal, dass er mich schlägt. Und jetzt hat er mir geschrieben, dass er rauskommt und dass er sich ändern will. Aber das ist wie bei den Säufern: Die sagen, dass sie keinen Tropfen mehr anrühren, und dann sehen sie dich mit einem Glas Wein und reißen es dir aus der Hand. Früher meinte er, dass er sich Arbeit sucht, aber dann hat er nur Joints geraucht, und ich hab überhaupt nichts gemacht, und zosch, da hab ich trotzdem eine sitzen gehabt.«
Mit dem Zweiten, Jorgito, fing alles viel liebevoller an. Wenn sie Hunger hatte, begleitete er sie in den Supermarkt. Solche Gesten. Alles andere war allerdings problematisch. Seit sie zwölf Jahre alt war, stromerte Silvina durch eine Stadt, in der erpresserischer Menschenraub an der Tagesordnung war. Im Jahr 2000 gab es ein verstärktes Aufkommen von Entführergangs, die vor allem in Villa Hidalgo, Bajo Corea, Cárcova und Bajo Boulogne – alle in der Provinz Buenos Aires gelegen – aktiv waren. Wenn Silvina in einer anderen Stadt aufgewachsen wäre, wäre sie vielleicht ins Drogengeschäft geraten. Oder in gar nichts. Aber sie wuchs nun mal in Hidalgo auf, wo unter anderem Cristian Riquelme – der Bruder des Fußballers Juan Román Riquelme – versteckt gehalten wurde. Laut Gerichtsregister machte Silvina am 25. Mai 2002 innerhalb des Strafgesetzbuches einen weiten Sprung und landete bei einem ziemlich gravierenden Straftatbestand: erpresserischer Menschenraub eben. Sie tat dies als Mitglied einer zwanzig Mann starken Gang, darunter auch Jorgito.
Am 6. Juni 2002 wurden sie festgenommen. Jorgito kam ins Belgrano und Silvina ins Pelletier. Jorgito sitzt noch immer. Silvina floh nach einer Woche. Drei Monate später begann sie, Jorgito im Belgrano zu besuchen. Dort lernte sie Luciano kennen, ihren dritten Liebhaber. Luciano hatte niemanden, der ihn besuchen kam, und Silvina versprach, dass sie sich um ihn kümmern würde.
Und das tat sie auch.
Seither schreiben sie sich, reden, versprechen einander die Welt.
»Wir wollen zusammen ein Kind. Das mit Leandro war was anderes, er hat einem gesagt: ›Ach, du ziehst dir was rein! Komm, dann ziehen wir uns zusammen was rein!‹ Luciano ist ganz anders. Er sagt mir, du nimmst mit niemandem mehr was, hör auf damit. Er hat mir geholfen, vieles zu verändern. Und mit ihm ein Kind zu haben wär das Allerschönste für mich. Das, was ich hatte, hab ich ja verloren. Es kam und ging ganz für sich allein. Aber wenn es mal klappen würde, wär ich die Allerglücklichste. Ist mir egal, ob ich es allein großziehen muss, ich hab meinen Stolz und werde niemanden um was bitten. Ich weiß, dass ich das allein schaffen kann. Ich stell mir mein Kind als kleinen Jungen vor, wie ich ihn zur Schule bringe, wenn er gerade angefangen hat zu sprechen. Ein Kind zu haben, das ist das Einzige, was mich wirklich verändern kann.«
»Aber warum?«
»Weil ich dann jemanden bei mir habe.«
Ihrer Schwester Vanessa hat ein Kind ebenfalls das Leben gerettet. Es ist ein kleines Mädchen. Ludmila. Am Tag, als die Kleine auf die Welt kam, war Silvina erst sehr eifersüchtig. Aber seither verehrt sie ihre Nichte. Seit drei Jahren besucht Silvina sie jeden Sonntag. Manchmal auf Drogen. Oder wenigstens betrunken. Aber das macht nichts. Viel wichtiger sind die Speckröllchen der Kleinen, Silvina liebt es, ihr da reinzukneifen.
»Ludmila ist mein Ein und Alles. Und ich war schon 13 Jahre alt, ich war schon erwachsen, hab auf der Straße gelebt, zum Kneifen kam ich aber immer vorbei. Damals war ich ziemlich verloren. Aber ich habe sie geliebt. Und ich liebe sie immer noch. Als sie geboren wurde, war das der glücklichste Tag meines Lebens.«
»Und der schlimmste Tag war welcher?«
»Am schlimmsten war, als meine ganze Familie starb. Jedes Jahr stirbt wer. Es fing mit meinem Papa an. Ich schäme mich für das Leben, das ich führe. Ich schäme mich sehr dafür. Aber ich hab keine Schuld, leider. Schuld hat mein Papa, weil er meine Mama mit AIDS angesteckt hat. Und meine Mama ist gestorben. Und wenn mein Papa sie nicht angesteckt hätte, hätte ich meine Mama heute noch. Und dann hätte ich nicht gemacht, was ich gemacht hab, weil meine Mama mich nie irgendwo hat hingehen lassen. Und meiner Mama hätte ich gehorcht.«
»Warum hast du mit alledem angefangen?«
»Na, ich brauchte doch Geld. Ich hab auf der Straße geschlafen, das alles. Ich musste ja was essen. Ich hatte oft nichts zu essen. Ich hatte oft kein Dach überm Kopf. Und alles, was ich gemacht hab, hab ich gemacht, um die Sachen zu kaufen, die ich halt so gebraucht hab. Als Frau muss man sich doch pflegen, und man braucht doch Monatsbinden und so Sachen, die meine Familie mir nicht gegeben hat, obwohl ich sie gefragt hab.«
Vor vier Jahren hatte Silvina ihre Tante gebeten, dass sie sie in einer Privatschule anmeldet. Sie wollte wissen, wie sich das mit der Schuluniform und den Büchern so anfühlt. Normales Leben halt. Von der Einschulungsfeier des sechsten Jahrgangs kam sie entsetzt zurück.
»Die anderen Mädchen sind so was von bescheuert«, meinte sie. »Das ist ja wie Kindergarten.«
Betty gelang es nicht mal, ein Foto von Silvina in Schuluniform zu knipsen. Nach zwei Monaten verkaufte Silvina spontan das Kleid, die Mokassins, die Schulbücher und das Arbeitsbuch für die Schüler von Buenos Aires. Im vergangenen Jahr wollte sie abermals in die Schule, die Tante meldete sie in einer öffentlichen Einrichtung an. Sie schmiss aber bald wieder alles hin, weil sie die weiße Schürze unzumutbar fand, die sie da tragen musste. Babyweiß.
»Sie wollte mit lackierten Nägeln hin. Und ihre neuen Klamotten zeigen.«
Wenn ein Job Geld eingebracht hat, geht Silvina erst mal shoppen.
»Ich kauf mir alles.«
»Und wie fühlt sich das mit so viel Geld an?«
»Ich komm mir vor wie die Größte. Mächtig. Ich kauf mir Sneaker und Trainingsjacken. Ich find Sneaker super, am besten von Nike, Nike Air. Die sind echt teuer.«
»Und jetzt willst du was Normales arbeiten?«
»Warum nicht?«
»Turnschuhe für 400 Ökken wirst du dir nicht mehr leisten können.«
Schweigen.
»Das tut jetzt weh. Das hat mich echt getroffen. Ich sterbe, wenn ich mir nicht das kaufen kann, was ich will. Schuhe und Klamotten sind für mich das Wichtigste.«
Das Telefon klingelt, und Silvina springt auf. Das bisschen Elan, das ihr geblieben ist, scheint mit dieser energischen Geste erschöpft. Sie schlurft zum Telefon. Sie trägt zerrissene Jeans. Einen türkisfarbenen Pulli. Spacige Turnschuhe.
Sie wirkt wie ein ziemlich poppiges Mädchen.
Das Telefon verstummt, bevor sie drangehen kann. Sie erwartet einen Anruf von Luciano. Er kommt in fünf Monaten raus.
»Er hat ein Haus in Gesell, und er will sein Leben verändern, genau wie ich. Und er meinte, ob ich ihn heiraten will. Ich will unbedingt. Ich stell mir vor, wie ich am Strand Schwimmunterricht gebe. Ich glaub, ich hab schon so viel gelitten, seit ich klein war, und eines Tages muss mein Leben einfach besser werden. Irgendwann ist mal genug mit dem ganzen Scheiß. Die Kohle ist mir egal. Es wird schon reichen, früher hatte ich immer genug und jetzt im Moment ja auch. Ich könnte auf einem Bauernhof leben, aber wenn ich mit ihm und meinem Kind zusammen bin, dann brauch ich nichts anderes.«
»Und wenn du eines Tages nicht genug hättest, um dein Kind zu versorgen?«
»Dann weiß ich auch nicht, was ich machen soll. Ich will natürlich auch nicht mehr klauen, weil ich dann ja ein Kind hab, und wenn die Mama nicht da ist … Ich will nicht, dass ihm das Gleiche passiert, wie mir passiert ist, ich hab ja bei allen möglichen Tanten und Onkels gewohnt und versucht, das Beste draus zu machen. Weil meine Onkel und Tanten lieben mich, aber ich bin allein. Ich fühl mich echt allein. Ich fühl mich echt total allein.«
Es gibt Momente, in denen die Welt zum Stillstand kommt, und was bleibt, ist ein Schnappschuss: Silvina mit ihren entzündeten Augen. Schweigend.
Allein.
Sie nimmt eine Philip Morris und hält sie weit unten zwischen den Fingern. Sie raucht komisch. Sie raucht angestrengt. Als wäre die Zigarette ihre Geisel.
Ich frage sie, wie ihr Sohn heißen soll.
»Lucifer«, antwortet sie.
Sie raucht die Zigarette bis zum Filter runter, dann nimmt sie die nächste. Sie raucht auch die runter, bis überhaupt nichts mehr übrig bleibt.