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Alfred Komarek

Polt.

Kriminalroman

Der Sonntagswirt

Still war es. Doch in der Stille lag der Nachhall von Worten, von Gelächter und Geräuschen, im Geruch des geölten Bretterbodens war die Erinnerung an Küchendunst und Zigarettenrauch.

Simon Polt, Gendarm im selbst gewählten Ruhestand, nahm einen gläsernen Bierkrug aus dem Regal und spülte ihn mit frischem kaltem Wasser aus. Dann hielt er bedächtig inne. Ein Wirt nach seinem Geschmack hatte mit beflissener Eile nichts im Sinn. Dieser löblichen Einstellung widersprach allerdings der Umstand, dass Polt nicht nur Wirt, sondern auch Gast im eigenen Hause war, ein durstiger Gast zudem. Also hielt er den Krug schräg unter den Zapfhahn und ließ das Bier sachte fließen. Polt achtete darauf, dass die richtige Menge Schaum entstand, wartete, bis sich das weiße Gewölk verdichtet hatte, fügte eine weitere Lage hinzu, wartete abermals und setzte seinem Werk endlich die ihm gebührende weiße Krone auf. Er widerstand der Versuchung, gleich einmal zu trinken, verließ die Schank und nahm im Gastzimmer Platz. Er hob den Bierkrug, prostete einem unsichtbaren Gegenüber zu und nahm einen Schluck, der nicht enden wollte, dann aber doch endete, weil Polt sich vorgenommen hatte, gehörig zu trinken, aber nicht zu saufen.

„Mit Knaben, die an der Quelle sitzen, ist es noch nie gut gegangen, egal, wie alt sie sind“, hatte ihm die verehrte, längst auch geliebte Lehrerin Karin Walter erklärt, als er gemeinsam mit zwei Freunden – Friedrich Kurzbacher und Sepp Räuschl – den Kirchenwirt pachtete. „Du wirst dich zu Tode saufen, Simon, langsam, aber zielstrebig.“

Polt dachte daran, bewegte verneinend den Kopf und schob das Glas von sich weg.

Klar, dass Franz Greisinger, der Kirchenwirt, eines Tages nicht mehr wollte. Er war an die siebzig geworden, als er ohne erkennbares Bedauern beschloss, sich von seinen Gästen zu verabschieden. Nachfolger hatte er keinen gefunden, auch nicht richtig gesucht. Viel war ja nicht zu holen in diesem Wirtshaus. Gähnende Leere zumeist, von ein paar Stammtrinkern abgesehen. An den Wochenenden die Männerrunde nach dem Kirchgang, ein paar Mittagessen, hin und wieder Vereine, eine Hochzeit dann und wann, Taufe, Begräbnis. Spät nachts dann jene, die nicht aufhören wollten oder nicht aufhören konnten. Einer, der den anderen die Welt erklärte, einer, der sich mit den Weibern auskannte, aber wie, und einer, der wusste, wer schuld war: die Juden, die Tschechen, die Europäische Union, oder alle gemeinsam, längst auch schon verbündet mit den Kommunisten, den Freimaurern und den übrigen sattsam bekannten Weltverschwörern. Jedes Mal dieselbe Wichtigtuerei, die uralten Witze, der besoffene Tiefsinn. War es Gleichmut oder Gleichgültigkeit, die Franz Greisinger alles ruhig hatte ertragen lassen? Gleichviel: Irgendwann war eben Schluss gewesen, Sperrstunde für immer.

Aber, zum Teufel noch einmal, ein Dorf ohne Wirtshaus war doch so gut wie tot. Eines Abends war dann in Friedrich Kurzbachers Weinkeller der Plan gereift, den Kirchenwirt weiterzuführen, wenigstens Samstag und Sonntag.

Seither war über ein Jahr vergangen und es lief ganz gut so. Die geringe Pacht konnte pünktlich bezahlt werden, die drei Wirte und ihre Gäste hatten weniger Langeweile, und manchmal ging es sogar richtig hoch her, wenn etwas zu feiern war. Dann sorgten Frau Kurzbacher und ihre Freundinnen dafür, dass wieder Leben in die Wirtshausküche kam, es roch nach Schweinsbraten und nach den in Butterschmalz gebackenen Schnitzeln.

Diesmal verbrachte Polt einen ruhigen Sonntag. Die letzten Gäste waren gegen Mittag gegangen. So hatte er Zeit für sich, seine Gedanken und sein Bier.

Er trank, setzte ab, trank aber gleich noch einmal, weil ihm die Gespräche an der Schank in den Sinn kamen. Das vergangene Jahr hatte für das Wiesbachtal wenig Gutes gebracht. Dieses Unwetter im August – blauschwarze Wolken am frühen Nachmittag, ein paar grelle Löcher darin, rostrotes Licht. Und plötzlich Regen, eine wütende Masse Wasser, schwere, vom Wind gepeitschte Tropfen, die sich übergangslos in glasharte Geschosse verwandelten, Weinlaub zerfetzten und Trauben platzen ließen. Hitze und Feuchtigkeit dann, über Wochen hinweg. Langsam, erst viel zu spät bemerkt, kam neues Unheil dazu: Rebstöcke wurden krank. Erst waren die Unterseiten der Blätter von einer hellen Pilzschicht bedeckt, dann drangen Sporen ein, das Laub welkte, Weinbeeren vertrockneten. Peronospora, der Falsche Mehltau …, und diesmal war ausgerechnet der Grüne Veltliner betroffen, die wichtigste Rebsorte im Wiesbachtal. Im Herbst gab es eine deprimierend karge Lese, viele Fässer blieben leer. Zum Leben wird es diesmal nicht reichen, so viel stand fest. Und vor allem jüngere Weinbauern hatten in den vergangenen Jahren mit Hilfe der Raiffeisenbank kräftig investiert.

Keiner redete im Wirtshaus über Schulden oder ernsthafte Sorgen, über Verzweiflung schon gar nicht. Aber so mancher wusste nicht recht, wie es weiter gehen sollte. Immerhin war die Qualität des neuen Jahrganges ein erfreuliches Thema, besonders die der Rotweine: Blauer Portugieser, Zweigelt, Blauburger, Sankt Laurent, aber auch Cabernet Sauvignon. „Wir haben einen Dreck“, hatte ein Weinbauer an diesem Vormittag gesagt, „aber darauf können wir stolz sein.“ Das traf leider den Kern.

Einen unbehaglichen Augenblick lang sah Polt ein Wiesbachtal vor sich, in dem alles vor die Hunde ging: ausgeblutete Dörfer, tote Kellergassen. Unsinn! Der Winter war ohne Frostschäden vorbeigegangen und es konnte nur besser werden im neuen Jahr. Und es war Frühling, noch nicht wirklich Frühling, aber doch ein wenig. Das Halbdunkel in der Wirtsstube war merklich heller geworden, in den Farben von altem Holz und altem Lack konnte, wer wollte, sanftes Feuer erahnen, trägen Leichtsinn. Viel Licht ließen die kleinen Fenster nicht herein, und das war schon gut so. Nach der Arbeit im Weingarten unter einem Himmel, der den Rest der Welt nach seinen Gesetzen leben ließ, oder nach seinen Launen, kam eine dämmrige Höhle gerade recht, eine enge Zuflucht mit vertrauten Umständen, in der Platz für alles blieb, aber begrenzt, eingezäunt, ummauert, abgemessen.

Polt bemerkte, dass er doch nicht allein war. „Früh dran im Jahr, wie?“, murmelte er und schaute einer Fliege zu, wie sie matt über die Fensterscheibe kroch und dann auf dem weiß gestrichenen Holz im kühlen Sonnenlicht verharrte.

„Ruhig, was, Simon?“

Friedrich Kurzbachers Stimme klang von der Tür her. Gefolgt von Sepp Räuschl trat er näher und stellte zwei in den Bauernbündler eingewickelte Flaschen auf den Tisch. „Noch kellerfrisch, der Grüne. Vor vier Tagen hab ich filtriert.“

Polt stand auf, holte drei Gläser und einen Korkenzieher. „Und? Genug da, fürs Wirtshaus?“

„Wird sich grad noch ausgehen. Aber jetzt kosten wir erst einmal.“

In den folgenden paar Minuten schwiegen die drei Männer, prüften die Farbe des Weines, senkten ihre Nasen in die Gläser, kosteten und schluckten. „Also, mir schmeckt er“, sagte Polt in die gedankenvolle Stille hinein.

„Ja, dir.“ Friedrich Kurzbacher warf ihm einen fast schon feindseligen Blick zu. „Was meinst du, Sepp? Also, ich glaub, der hat was …, muffig irgendwie.“

Räuschl schüttelte langsam den Kopf. „Alles Einbildung, Friedrich. Du darfst nicht daran denken, wie die Trauben diesmal ausgeschaut haben. War ja wirklich zum Fürchten. Also, wenn du mich fragst: Sauber ist er, dein Veltliner. Und dass die Säure so spitz daherkommt …, na ja, unreife Trauben kann keiner reif machen.“

„Wem sagst du das, Sepp. Es war weiß Gott genug Arbeit, die vertrockneten Beeren wegzubekommen. Hat aber sein müssen.“

„Hast dann Aktivkohle zur Maische gegeben?“

„Klar. So weit kenn ich mich schon noch aus. Nur was die Jungen heutzutage so lernen in der Weinbauschule …, da will ich nicht mehr mit. Also was ist? Schenken wir ihn aus, meinen Grünen?“

Grinsend hoben Räuschl und Polt ihre Gläser, stießen sie aneinander, und zögernd folgte Kurzbacher ihrem Beispiel. Er nahm noch einen Schluck. „Komisch. Schon schmeckt er mir irgendwie besser.“ Er schaute zum Fenster hin. „Und jetzt geh ich. Du gehst auch, Sepp.“

„Warum?“

„Weil wir zwei bald einmal zwei zu viel sind. Die Karin Walter kommt.“

Polt war der Lehrerin entgegengegangen und nahm sie in die Arme. „Schön, dass du da bist, Karin.“

„Aber ich hab deine Freunde vertrieben.“

„Die kommen schon wieder. Magst was trinken? Wir haben gerade den jungen Grünen vom Kurzbacher gekostet.“

„Hab ich auch gerade, Simon.“

„Wie versteh ich das?“

„Du schmeckst danach.“

Er nahm ihr Gesicht zwischen die Hände. „Was ist? Kosten wir weiter?“

„Du bist mir einer! Aber, ehrlich gesagt, am besten schmeckt mir der Simon Polt pur, ohne Veltliner, und ohne Wirtshaus. Ganz privat und nur für mich, weißt du?“

„Gut, dann eben Sperrstunde. Wohin magst gehen?“

„Jetzt bleib ich erst einmal da. Hast schon gelüftet, heute?“

„Ja, gleich in der Früh. Warum?“

„Es stinkt.“

„Riecht nach Wirtshaus.“

„Nenn es, wie du willst. Mir wird schlecht davon.“

„Da kenn ich dich aber anders. Magst vielleicht einen Kräuterschnaps?“

„Nein, danke. Was hat der Herr eigentlich heute schon in sich hineingeschüttet?“

„Drei Bier, nicht einmal ein Achtel Wein.“

„Das geht ja noch. Aber könntest du bitte, bitte versuchen, einmal einen Satz zu sagen, in dem kein Alkohol vorkommt?“

„Lieb hab ich dich.“

„Danke, das hat gut getan. Du, ich glaub, ich bin eifersüchtig auf dein Wirtshaus.“

„Ist doch nur am Wochenende, Karin. Und der Sepp und der Friedrich sind ja auch noch da.“

„Aber wenn du einmal dran bist, ist es wichtiger für dich als alles andere.“

„Blödsinn! Entschuldige bitte.“

Sie lachte. „Wirst schon recht haben, Simon. Machst mir einen Tee?“

„Mit Rum?“

„Ohne.“

Als die Tassen auf dem Tisch standen, nahm Karin Walter einen kleinen Schluck und verzog das Gesicht. „Tut mir leid, du. Das war’s auch nicht.“

„Hat der Tee was?“

„Nein, ich hab was.“ Sie lächelte Polt unsicher zu. „Schwanger, Simon, im zweiten Monat! Ich war selbst ganz überrascht, aber der Frauenarzt …“

„Karin!“ Polt hatte Mühe, die Fassung zu bewahren. „Ein Kind! Von mir!“

„Der Briefträger war es jedenfalls nicht.“

Polt stand auf, versperrte die Wirtshaustür und zog die Vorhänge zu.

„Was jetzt, Simon?“

„Keine Ahnung. Ich weiß nur eines: Zuschauen lass ich mir dabei nicht.“

Der Montagsvater

Was für ein schöner Morgen! Der graue Himmel hing so tief über dem Wiesbachtal, als wäre er mit ausgestreckten Händen zu berühren. Der Regen tat ein Übriges und legte einen dichten Schleier über das Hügelland. Wind war aufgekommen und wehte Polt die Tropfen ins Gesicht. Frisch fühlte sich das an und aufmunternd. Aber ein Rest Müdigkeit sollte schon bleiben, als Erinnerung an einen langen Abend, tief in die Nacht hinein. Seltsam, wenn zwei, die seit Jahren miteinander vertraut sind, unvermutet am Anfang stehen.

Ein paar Monate noch … Polt war verwirrt und ratlos, aber eindeutig glücklich.

Um fünf Uhr früh hatte der Wecker geläutet. Das musste so sein, denn Frau Habesam legte hartnäckig Wert drauf, ihr kleines Kaufhaus schon im Morgengrauen zu öffnen. Das betraf auch Simon Polt, der seit einigen Wochen in ihren Diensten stand. Das war so gekommen:

An einem Mittwoch im Sommer des vergangenen Jahres hatte Frau Habesam soeben gemeinsam mit Sepp Räuschl eine ausführliche und detailreiche Betrachtung über den unaufhaltsamen Verfall der Sitten im Wiesbachtal vorläufig beendet und einen halben Schwarzbrotwecken über den Ladentisch geschoben, als sie in jähem Schmerz das Gesicht verzog, sich an die Stirn griff und energisch nach Hilfe verlangte, bevor ihr die Zunge versagte. Die rasche Behandlung im nahen Bezirkskrankenhaus verhinderte die ärgsten Folgen des Schlaganfalls. Frau Habesams Sprechwerkzeuge, in Jahrzehnten unermüdlich geübt, funktionierten bald wieder, aber die Beine wollten nicht mehr so recht. Immerhin konnte sie mit Hilfe einer Krücke für kurze Zeit aufrecht stehen und ein paar Schritte tun, aber am Rollstuhl führte kein Weg vorbei. Die Kauffrau nahm das zur Kenntnis, übte sich unwirsch in neuen Fertigkeiten und war bald schneller unterwegs, als sie es zu Fuß je geschafft hätte. Aber einiges blieb ihr doch verwehrt. Daher wurde Simon Polt gegen geringes Salär zu ihrem kaufmännischen Gehilfen bestimmt. Es sprach ja auch nichts dagegen, wenn er sich nützlich machte, statt seine Zeit mit Müßiggang zu vergeuden. Außerdem hatte Frau Habesams Geschick, mit ihrem Kaufhaus, einem Brennpunkt dörflicher Kommunikation, stets den entscheidenden Informationsvorsprung zu wahren, angesichts vordergründiger Hinfälligkeit noch an hintergründiger Wirksamkeit gewonnen. Demnach wusste auch Polt neuerdings über so ziemlich alles Bescheid. Heute war ihm aber das köstliche Privileg vergönnt, eine Neuigkeit zu verkünden, die sogar für Frau Habesam neu war. Unwillkürlich trat er kräftiger in die Pedale.

Polt war mit seinem alten Steyr-Waffenrad unterwegs. Er hatte noch nie darüber nachgedacht, warum er diesem schweren und schwerfälligen Fahrzeug treu blieb. Jedenfalls gab es Gemeinsamkeiten: Die geraume Zeit, welche vonnöten war, um gemächlich zu beschleunigen, dann aber stetes und verlässliches Vorwärtskommen, das sich nur mit einigem Kraftaufwand bremsen ließ.

Polt stutzte, als er im Halbdunkel ein wohlbekanntes Gebäude erblickte: Hier, im Haus Burgheim 56, hatte er fast zwei Jahrzehnte als Gendarm gearbeitet. Diese Dienststelle gab es nicht mehr, das Wiesbachtal wurde vom gut dreißig Kilometer entfernten Breitenfeld aus betreut. Ja, und die Gendarmerie hieß jetzt Polizei. Polt war, ganz in Gedanken, an Frau Habesams Kaufhaus vorbei zur vertrauten Adresse gefahren. Ach was, nicht mehr seine Welt. Er wendete und beeilte sich, ans richtige Ziel zu kommen. Seine Arbeitgeberin erwartete ihn vor der geöffneten Tür. Schweigend schaute sie auf die nahe Kirchturmuhr.

Polt lehnte das Fahrrad an die Mauer. „Ja, ja, ich weiß schon. Aber doch nur ein paar Minuten!“

„Zu spät ist zu spät, mein lieber Herr. Und wie schaun S’ denn drein?“

„Wie jeden Tag, nicht wahr?“

„Aber gehn S’. Diesen Blick kenn ich doch von irgendwo. Jetzt hab ich’s: Der heilige Stephanus aus dem Bauernkalender, wie er mir steht der Himmel offen! ruft. Nachher haben s’ ihn gesteinigt. Kaffee?“

„Ja, gern!“ Polt griff nach dem Rollstuhl.

„Lassen S’ die Finger davon! Wer weiß, wohin Sie mich heute schieben, in Ihrer merkwürdigen Verfassung.“

Dann saßen die beiden zwischen dem Verkaufsraum und dem Lager im kleinen Büro, das auch als Küche diente. Frau Habesam goss Kaffee ein und legte zwei Semmeln auf den Tisch. Polt griff prüfend zu. „Die sind aber von gestern.“

„Darum müssen s’ ja weg. Eintunken, dann sind s’ butterweich. Also, was ist los mit Ihnen?“

„Vater werd ich! Die Karin Walter …“

„Wer sonst?“ Jetzt erst begriff Frau Habesam die Tragweite dieser Mitteilung. „Ja, sind Sie denn noch zu retten? In Ihrem Alter! Und unsere verehrte Lehrerin ist auch grad kein junges Mädchen mehr. Außerdem stimmt die Reihenfolge nicht. Als ob das so schwer zum Merken wär: erstens heiraten, zweitens Kinder machen. Andererseits: Der Simon Polt als Ehemann und Familienvater …, also ich weiß nicht …“

Polt schaute verblüfft auf. „Heiraten! Über alles Mögliche haben wir gestern geredet, die Karin und ich, nur nicht darüber.“

„Dann wird’s Zeit. Alles muss seine Ordnung haben vor Gott und der Welt, irgendwie halt. Der Meinige war ja auch nicht grad ein Haupttreffer. Kein Wunder, hat ja bei uns nichts G’scheites gegeben in den Sechzigern. Aber es war auszuhalten mit dem Ferdl. Nur wenn er was getrunken hat, ist er frech geworden. Stellen Sie sich vor, Herr Polt, sagt der Lackel spät abends im Wirtshaus zu mir: ‚Wennst ein Esel wärst, Loisi, könnt ich jetzt auf dir heimreiten.‘ Darauf ich: ‚Der Esel bist selber und reiten kannst nicht.‘ “

„Frau Habesam!“

„Tun S’ nicht so unschuldig, Herr Kindesvater. Werd ich also auch noch Trauzeugin auf meine alten Tage!“

„Danke fürs Angebot …“

„Das war eine Feststellung. Ja, und noch was. Ich bin für dich ab sofort die Aloisia. Verstanden?“

„Ja …, also das freut mich …, äh … Aloisia.“

„Frau Aloisia, wenn ich bitten darf. Und jetzt nimmst den Besen und kehrst auf. Ein reines Herz und ein sauberer Fußboden gehören zusammen, sag ich immer.“

„Ja, Frau Aloisia.“

Früher als sonst endete Polts Arbeitstag im Kaufhaus. Frau Habesam stellte fest, dass ohnehin nichts Rechtes mit ihm anzufangen sei, und entließ ihn mit einem Klaps auf den Hintern. „Nichts für ungut, Simon“, hatte sie feixend angemerkt, „ich hätt dir ja gern auf die Schulter geklopft, aber der verdammte Rollstuhl …“

Karin Walter hatte an diesem Tag viel Arbeit und wollte ungestört sein. Polt blieb also Zeit. Zeit für sich.

Noch immer war ihm irgendwie feierlich zu Mute. Und dann dieser Geruch in der kühlen, feuchten Luft … Ein wenig Rauch, in den Häusern wurde ja noch geheizt, aber da war auch nasse Erde drin und frisches Gras, Frühling, na klar. Ob der Nussbaum vor seinem Presshaus in der Burgheimer Kellergasse schon aufgewacht war, mit winzigen Blattspitzen an den kahlen Zweigen? Ein guter Grund jedenfalls, Nachschau zu halten, vielleicht Wein aus dem Keller zu holen und im Presshaus eine kleine Feierstunde zu begehen, eine, die nur dem werdenden Vater Polt gehörte. Natürlich würde er Karin Walter in seine Gedanken einpacken, ganz fest auch noch. Schade, dass sie ihn nicht begleiten konnte, aber Polt kam auch ganz gut mit sich allein zurecht, sehr gut eigentlich, er hatte ja viele Jahre Übung darin. Die Rückkehr ins Dorf durfte warten. Für die Ernährung seines gefräßigen Katers Czernohorsky war gesorgt, das Ehepaar Höllenbauer, in dessen Hof Simon Polt das Ausgedinge bewohnte, war verreist – eine Exkursion ins Weststeirische Weinland –, und die drei Töchter, längst recht eindrucksvoll ins Kraut geschossen, waren zu ihrer unverhohlenen Freude bei Freundinnen untergekommen.

Eine ungemessene Spanne Zeit verbrachte Polt in seinem Presshaus, sah vor der geöffneten Tür den Tag sachte vergehen, das Grau dunkel und dann schwarz werden, fühlte sich geborgen in der beginnenden Nacht und war froh darüber, dass es hier nur Kerzenlicht gab und nicht diese aufdringliche, alles entblößende Helligkeit. Er war eben ein altmodischer Mensch, so wie er auch ein altmodischer Gendarm gewesen war, ganz gerne zwischendurch, oft genug aber in kaum erträglichem Widerspruch zwischen dem, was er verpflichtet war zu tun, und dem, was er glaubte, tun zu müssen. Das war gottlob vorbei. Mit der neuen Dienststelle in Breitenfeld suchte er keinen Kontakt. Seine Kollegen von damals waren aus irgendwelchen Gründen, die Polt nicht nachvollziehen konnte oder wollte, versetzt worden. Eine Ausnahme gab es allerdings, Norbert Sailer. Als er ganz jung in die Burgheimer Dienststelle gekommen war, hatten ihn die älteren, erfahrenen Kollegen nicht weiter beachtet. Doch in den folgenden Jahren erwies sich Sailer als sehr respektabler Gendarm, viel besser und moderner ausgebildet als die Generation vor ihm, aber bodenständig geblieben, mitten im Leben, mit feinem Gespür für die Menschen im Wiesbachtal. Das lag natürlich nicht zuletzt daran, dass er hier in Burgheim zu Hause war und Weinbauer im Nebenberuf. Darum hatte Sailer alles darangesetzt, auch als Polizist in der Gegend zu bleiben. Polt war längst mit ihm und seiner Frau befreundet. Davon abgesehen hatte er schon recht früh erkannt, dass Sailer ein Ordnungshüter nach seinem Geschmack war, mehr noch, einer, den er neidlos bewunderte.

Polt dachte an einen Herbsttag irgendwann Mitte der Neunzigerjahre, Föhnwetter, ein grellblauer Himmel mit pastellfarbenen Wolkenfetzen, unwirklich hell die Landschaft darunter. Er und Sailer waren mit Blaulicht zum Hof des Klaus Gantenberger unterwegs gewesen. Eines seiner Kinder hatte in panischer Angst angerufen, der Vater drehe durch, mit dem Gewehr in der Hand. „Nicht das erste Mal“, hatte Polt gesagt und Halt gesucht, weil Sailer den biederen Dienstwagen gekonnt durch eine Kurve driften ließ, „am Anfang spielt er den Bruder Lustig im Presshaus, dann packt ihn der Leichtsinn und zu Hause die Wut.“ Sailer nickte. „Und dann ist er unberechenbar und gefährlich.“ Er bremste. „Lass mich voran, Simon.“ Er öffnete leise das Hoftor, warf einen Blick in die leere Küche und fand dann Klaus Gantenberger im Schlafzimmer mit dem Gewehr im Anschlag vor. Die Kinder im Ehebett unter der Steppdecke, als wäre das irgendein Schutz, und davor Frau Gantenberger, seltsam ruhig, die Augen wie Löcher im weißen Gesicht.

Sailer zog unglaublich rasch seine Dienstwaffe und zerschoss rechter Hand einen Spiegel. Gantenberger fuhr herum, ließ verwirrt das Gewehr sinken, hob es aber gleich wieder. Sailer grinste. „Manchmal springt einem das Schießzeug nur so in die Hand, nicht wahr? Erst macht er dich lustig, der Rausch, dann allmächtig, dann ohnmächtig. Und wenn du einmal so weit bist, müssen die Schwachen herhalten, um dich stark zu machen. Hab ich recht? Na? Schieß doch auf mich, Arschloch, feiges.“ Mit einer raschen Bewegung nahm Sailer dem Gantenberger das Gewehr aus der Hand. „Komm mit mir. Du brauchst endlich Hilfe, sonst zielst am Schluss noch auf dich selbst. Und du, Simon, bleib bei der Familie. Red mit ihr. Das kannst du besser.“

Ein paar Wochen später kehrte Klaus Gantenberger ganz friedlich in sein Haus zurück, klaubte ein paar Äpfel auf, legte sie ordentlich in einen Korb, stieg hinauf in den Dachboden und erhängte sich.

Abendruh

Polt wischte die alten Bilder in die Nacht, wartete, bis die Kerze von selbst erlosch, und saß noch eine Weile im Dunkeln. Er trank den Rest Wein im Glas, verschloss die halbleere Flasche und klemmte sie auf den Gepäckträger seines Fahrrades. Dann rollte er langsam talwärts.

Er war allein in der Kellergasse. Noch vor einigen Jahren, gar nicht lange her, standen hier im Frühjahr bis spät in die Nacht hinein viele Presshaustüren offen, weil es galt, gemeinsam den jungen Wein zu verkosten, ihn zu beurteilen, sich Ratschläge zu holen. Und natürlich konnte sich daraus auch eine behäbige Sauferei ergeben, ein Ritual von sanfter Zügellosigkeit. Gestritten oder gerauft wurde in den Kellern so gut wie nie, das passte nicht zur erdigen Würde dieser unterirdischen Schatzkammern. Doch Jahr für Jahr war es stiller geworden in der Kellergasse. Viele Weinbauern – der Höllenbauer übrigens auch – wollten sich nicht mehr der Natur ihrer Keller und Holzfässer ausliefern und setzten auf kontrollierten Ausbau im Stahltank. Das mochte den neuesten Erkenntnissen entsprechen, doch für Polt schwand ein dunkles Zauberreich dahin.

Noch weniger konnte er jene Bauern verstehen, die sich neuerdings dafür genierten, mit Kunden und Freunden den Wein im Presshaus oder im Keller zu verkosten. Einer, der Zöbinger Willi, hatte sich sogar einen Architekten geholt, der dann mit Beton, Glas und Chrom eine Art Schneise ins alte Bauernhaus schlug, ein önologisches Erlebnis-Labor sozusagen. Das sei modern und hygienisch, hatte der Zöbinger argumentiert. Die Gläser seien doch früher auch sauber gewesen, hatte Polt dagegengehalten, und heute Modernes sei morgen unmodern, während die Kellergasse seit über zweihundert Jahren sehr überzeugend Nützlichkeit und Genuss verband. Aber die langen Reihen der schlichten, weiß gekalkten Gebäude erinnerten auch an ein armes, ja armseliges Leben, in dem noch bis in die jüngste Vergangenheit die Herrschaft, die Kirche, die Großgrundbesitzer das Sagen hatten. Kein Wunder, dass etwas Neues hermusste, wenn man es sich endlich leisten konnte, und sei es auf Kredit.

Auf halbem Weg sah Polt dann doch einen Menschen. Ein sehr alter Mann, dürr und kleinwüchsig, trat aus einem der Presshäuser, hantierte umständlich an der Tür, wandte sich zum Gehen und verharrte, als er Geräusche hörte. Polt erkannte Hans Hornung. Letztes Jahr im September war er neunzig geworden. Es hatte eine große Geburtstagsfeier gegeben mit Kindern, Enkeln und Urenkeln. Der Pfarrer kam und brachte eine Flasche Messwein mit, und der Bürgermeister stellte sogar einen opulent gefüllten Geschenkkorb auf den Tisch. Das nächste Mal würde Hans Hornung wohl erst wieder bei seinem Begräbnis öffentliches Aufsehen erregen. Polt bremste, grüßte. „Wir zwei bringen Leben in die Kellergasse. Nicht wahr, Hans?“

Der Alte hob müde den Kopf. „Zum Leben langt’s nicht mehr, Simon. Aber das Sterben freut mich auch nicht, so lang ich noch jeden Tag in den Keller kann. Alles schon auf die Jungen geschrieben, aber sie lassen mich halt gewähren. Hast Dienst morgen?“

„Ich bin schon lang kein Gendarm mehr.“

„Ist mir noch gar nicht aufgefallen.“

„Siehst! So ein fauler Hund war ich.“ Polt grinste, hob grüßend die Hand und setzte seinen Weg fort. Kein Gendarm mehr …, aber Vater, bald einmal! Schön, wenn er mit jemandem darüber reden könnte, der mehr Verständnis für ihn aufbrachte als diese Krämerseele von Habesam. Und wieder kam ihm Norbert Sailer in den Sinn. Er wohnte mit seiner Birgit ja ganz in der Nähe, dort, wo die Presshäuser der Kellergasse an den Ort Burgheim grenzten.

Polt versuchte es einfach und traf die beiden in der Küche an. Norbert Sailer stand am Herd, seine Frau saß am Tisch und legte das Illustrierte Heimatblatt zur Seite, als sie den Besucher erblickte. „Simon! Herein mit dir! Du kommst grad recht zum Abendessen! Es gibt Kürbiscremesuppe aus der Tiefkühltruhe und dann Weintraubenstrudel – auch aus der Tiefkühltruhe.“

Polt setzte sich zu ihr. „Es kann nur besser werden nach dem Mittagsmenü bei der Frau Habesam, richtig gesagt bei der Frau Aloisia. Neuerdings sind wir sehr vertraut miteinander.“

„Da schau her. Was hat’s denn gegeben?“

„Erbswurstsuppe aus dem Stanniol und Hering in Senfsauce aus der Dose. Seit drei Monaten abgelaufen. Aber ich verdien halt nichts Besseres als Gemischtwarenhandelsgehilfe in Ausbildung. Und du, Norbert? Hab gar nicht gewusst, dass du kochen kannst!“

„Ich kann’s nicht, aber ich tu’s gern.“

„Ah ja. Gilt das auch für deine Mitwirkung im Kirchenchor?“

„Frechdachs. Mein Gesang wird allseits gerühmt, sogar von deiner neuen Freundin Aloisia, die ist ja auch dabei. Aber wenn wir schon bei anrüchigen Nebenbeschäftigungen sind: Wie geht’s dir denn so als Wirt?“

„Ganz gut. Nur die Karin Walter hat keine rechte Freude damit. Wie war doch gleich ihre Red? Wart, ich bring’s schon zusammen: Mit Knaben, gleich welchen Alters, die an der Quelle sitzen, ist es noch nie gut gegangen … Sie hat halt Angst, dass ich zu meinem besten Gast werde.“

„Nicht nur, Simon, nicht nur. Ich kenn das Gedicht nämlich, aus dem sie zitiert. Hat ein gewisser Friedrich Schiller geschrieben. Und ich kenn auch die letzten zwei Zeilen: Platz ist in der kleinsten Hütte für ein glücklich liebend Paar. Was sagst jetzt?“

„Kein Wort. Oder doch. Es ist nämlich so … Sie bekommt ein Kind von mir, die Karin. Zweiter Monat!“

Norbert Sailer zeigte verblüfft mit dem tropfenden Kochlöffel auf den werdenden Vater. „Noch ein Polt! Als ob nicht einer mehr als genug wär.“

Im Gesicht von Birgit Sailer war die Sonne aufgegangen. „Simon! Ich freu mich so sehr mit euch beiden! Wie geht’s denn der Karin?“

„Sie kann das Wirtshaus nicht mehr riechen und mich nur noch bedingt.“

„Normal. Das legt sich. Aber glücklich seid ihr alle zwei, nicht wahr?“

„Ja, schon. Die Frau Habesam meint, dass es höchste Zeit fürs Heiraten wäre. Mit ihr als Trauzeugin.“

„Ja und was meint die Karin?“

„War noch kein Thema, bisher.“

„Willst du damit sagen, Simon, dass du sie noch nie gefragt hast?“

„Also ich hab immer gedacht, dass sie sich’s ja denken kann.“

„Simon, Simon!“ Birgit Sailer hatte sich weit über den Tisch gebeugt und ergriff Polts Hände. „Ein Kind bringt er zusammen, aber was Wichtiges fragen traut er sich nicht.“

„Ich war lange mit mir allein. Da kommt man aus der Übung bei solchen Sachen.“

Jetzt stellte Norbert Sailer die gefüllten Suppenteller auf den Tisch. „Bring einen wackeren Junggesellen nicht in Verlegenheit, liebe Frau. Jetzt wird erst einmal gegessen. Werdende Väter brauchen Kraft für den Daseinskampf.“

„Und die werdenden Mütter, Norbert?“

„Die auch. Mahlzeit.“