Analysen zum politischen Kapital der Schweiz

Das Milizprinzip gilt als unverzichtbares Wesensmerkmal der Schweizer Beteiligungsdemokratie. Allerdings wird seit geraumer Zeit landauf landab die schleichende Abkehr der Bürgerinnen und Bürger von den öffentlichen Ämtern und Aufgaben beklagt. Immer mehr Gemeinden bekunden offensichtlich Mühe, Laien davon zu überzeugen, ihre beruflichen Erfahrungen und Kompetenzen ins Staatswesen einzubringen. Es droht die Erosion des politischen Kapitals der Schweiz. Dieses Buch liefert wichtige Informationen und Hintergründe zu den Rahmenbedingungen des Milizamts aus Sicht der Beteiligten in den lokalen Exekutiven, Legislativen und Kommissionen. Neben Analysen zu den Profilen Miliztätiger werden deren Beweggründe und Überzeugungen erforscht. Zudem präsentiert die Studie Einsichten in die Wirkung von Professionalisierungsbemühungen der Milizarbeit und diskutiert das Milizamt der Zukunft. Grundlage der Untersuchung ist eine Befragung von rund 1800 Miliztätigen in 75 Gemeinden der Schweiz.

In der Reihe «Politik und Gesellschaft in der Schweiz», herausgegeben von Markus Freitag und Adrian Vatter, analysieren namhafte Schweizer Politikwissenschaftlerinnen und Politikwissenschaftler in mehreren Bänden die Entwicklungen der Schweizer Politik und Gesellschaft. Politisches Verhalten, Einstellungen gegenüber der Politik, Beschreibung politischer Zustände, Veränderungsprozesse von Institutionen und Aspekte des sozialen Zusammenlebens der Schweizer geraten dabei ins Blickfeld.

Markus Freitag und Adrian Vatter (Hg.)

Politik und Gesellschaft in der Schweiz

Band 1:
Markus Freitag (Hg.)
Das soziale Kapital der Schweiz

Band 2:
Thomas Milic, Bianca Rousselot,
Adrian Vatter
Handbuch der Abstimmungsforschung

Band 3:
Markus Freitag und
Adrian Vatter (Hg.)
Wahlen und Wählerschaft in der Schweiz

Band 4:
Fritz Sager, Karin Ingold,
Andreas Balthasar
Policy-Analyse in der Schweiz

Band 5:
Fritz Sager, Thomas Widmer,
Andreas Balthasar (Hg.)
Evaluation im politischen System der Schweiz

Band 6:
Markus Freitag
Die Psyche des Politischen

Band 7:
Adrian Vatter (Hg.)
Das Parlament in der Schweiz

Band 8:
Markus Freitag, Pirmin Bundi, Martina Flick Witzig
Milizarbeit in der Schweiz

Band 9:
Adrian Ritz, Theo Haldemann,
Fritz Sager (Hg.)
Blackbox Exekutive

Weitere Bände in Vorbereitung

NZZ Libro

Markus Freitag, Pirmin Bundi, Martina Flick Witzig

Milizarbeit
in der Schweiz

Zahlen und Fakten zum politischen Leben in der Gemeinde

NZZ Libro

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2019 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG

Der Text des E-Books folgt der gedruckten 1. Auflage 2019 (ISBN 978-3-03810-400-1)

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.

ISBN E-Book 978-3-03810-448-3

www.nzz-libro.ch

Vorwort

Nehmen wir an, das politische System der Schweiz wäre ein Stuhl. Lange Zeit liess es sich dort bequem Platz nehmen. Politische Stabilität, wirtschaftlicher Erfolg und gesellschaftlicher Zusammenhalt wurden nicht zuletzt durch die den Stuhl tragenden Beine der direkten Demokratie, des Föderalismus, der Konkordanz und des Milizsystems garantiert. Inzwischen sitzt es sich nicht mehr so bequem wie auch schon. Das liegt weder an der Volksmitsprache noch an der staatlichen Architektur. Während diese beiden Institutionen die Schweizer Demokratie nach wie vor als unverrückbare Säulen tragen, bringt eine zunehmende Polarisierung das gütliche Einvernehmen unterschiedlicher Interessen ins Wanken. Weit mehr noch schränkt die ausbleibende Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an den öffentlichen Aufgaben und Ämtern den Komfort in der Eidgenossenschaft ein.

Die landauf, landab feststellbaren Ermüdungsanzeichen in der Beteiligungsbereitschaft der Schweizerinnen und Schweizer und die beklagten Rekrutierungsschwierigkeiten, Aufgabenlasten und Motivationsdefizite animierten uns zur vorliegenden Studie. Wir untersuchten die Rahmenbedingungen der Miliztätigkeit in 75 ausgewählten Gemeinden der Schweiz zwischen 2000 und 30 000 Einwohnerinnen und Einwohnern und interessierten uns für die soziodemografischen und charakterlichen Profile der Behördenmitglieder ebenso wie für ihre Motive, (Un-)Zufriedenheit und Verbesserungsvorschläge im Spannungsfeld zwischen Ehrenamtlichkeit und Professionalisierung.

Zahlreiche Personen haben dieses Forschungsvorhaben fortlaufend begleitet und trugen massgeblich zur Realisierung der vorliegenden Studie bei. Allen voran sind Nathalie Hofstetter und Alina Zumbrunn zu nennen, denen der ganz besondere Dank für eine exzellente Forschungsassistenz gilt. Zudem unterstützten Mila Bühler, Facia Marta Gamez und Eros Zampieri das Projekt in unterschiedlichen Stadien wirkungsvoll. Wir danken darüber hinaus Kathrin Ackermann, Martin Beglinger, Marcel Kaeslin, Simon Lanz sowie Fabienne und Michael Strebel insbesondere für ihre wertvollen Rückmeldungen zum Fragebogen. Dank der Hilfe von Maya Ackermann fand das angewandte experimentelle Verfahren einen reibungslosen Eingang in unsere Befragung. Stefan Güntert gewährte uns unbürokratisch und sehr kollegial Einblick in seine Erhebungen, was unsere Befragung bereicherte. Christoph Niederberger und Reto Lindegger haben dankenswerterweise ihre Expertise aus praktischer Warte in unser Vorhaben einfliessen lassen. Andreas Müller hat uns mit seinem Fundus an Wissen über das Milizwesen in der Schweiz immer wieder beeindruckt und damit Unzulänglichkeiten in unserer Analyse verhindert. Adrian Vatter hat mit seinem unvergleichlichen Auge für die Zusammenhänge der Schweizer Politik viele Gedankengänge systematisiert. Tamara Angele danken wir für die reibungslose und unbürokratische Abwicklung der französischen und italienischen Übersetzung des Fragebogens. Nicht zuletzt ist all den Miliztätigen zu danken, die an der Befragung teilgenommen haben. Ohne ihr Engagement und ihre Auskunftsbereitschaft wäre die vorliegende Studie nicht entstanden.

Finanziell wurde das Projekt in grosszügiger Weise vom Schweizerischen Gemeindeverband, vom Institut de hautes études en administration publique (IDHEAP) und von der IMG Stiftung gefördert. Dank ihrer Unterstützung konnte das Vorhaben in nützlicher Frist umgesetzt werden. Herzlichen Dank dafür.

Bern, im März 2019

Kellers Erben – eine kurze Geschichte über das lokale Milizsystem

von Markus Freitag

I

Stellen wir uns einmal vor, es gäbe den Milizpolitiker Benno. Sein Dorf liegt auf einer Anhöhe und zählt rund 2000 Seelen. Vergangenes Jahr wurden etwa 350 Arbeitsplätze registriert. Im Ort gibt es noch einen Volg, zwei Beizen, eine Coiffeuse und einen Bäcker. Die letzte Metzgerei wurde vor fünf Jahren geschlossen. Besonders stolz sind die Einwohnerinnen und Einwohner auf das frisch renovierte Schulhaus, in dem noch immer genügend grosse Primarschulklassen unterrichtet werden. 22 Vereine kümmern sich um den gesellschaftlichen Austausch in der Gemeinde, von den Platzgern über den Landfrauenverein und die Schützengesellschaft bis hin zur Umweltgruppe und zum Fussballverein. Vor 20 Jahren waren es noch über 30. Nachwuchsprobleme und fehlendes Engagement führten aber beispielsweise bei der Männerriege oder beim Jodelklub zur Vereinsauflösung. Nichtsdestotrotz prägen die Vereine mit ihren Festen und Aktivitäten nach wie vor das soziale Miteinander im Dorf. Bereits seit einiger Zeit leiden auch die lokalen Parteien unter Personalmangel. Niemand mehr möchte politische Knochenarbeit an der Basis leisten.

Neben den gerupften Parteien bestimmen der fünfköpfige Gemeinderat, die Gemeindeversammlung und die sieben Kommissionen (Bau, Finanzen, Jugend, Sport und Kultur, Rechnungsprüfung, Schule, Soziales) das politische Leben in der Gemeinde. Verkehrstechnisch ist Bennos Heimat mit Bahn, Bus und der nahe gelegenen Autobahn sehr gut erschlossen. Diese vorteilhafte Infrastruktur ist Fluch und Segen zugleich. Zwar lässt sich damit eine Landflucht im grossen Stil vermeiden. Allerdings lockt die nahe Stadt mit ihren attraktiven Freizeitangeboten Jung und Alt und fordert das Miteinander im Dorf zunehmend heraus.

II

Die Legislaturperiode neigt sich dem Ende entgegen, und in rund einem halben Jahr stehen Gesamterneuerungswahlen für den Gemeinderat an. Vier von fünf verdienten Mitgliedern beenden ihre Milizkarriere und treten nach zwölf gemeinsamen und teilweise intensiven Jahren aus dem lokalen Entscheidungsgremium zurück. Sie wollen Platz für frische Kräfte schaffen und die letzten Jahre auf dem Weg zur Pensionierung stärker dem Beruf und der Familie widmen. Aber die Rekrutierung neuen Personals für die Exekutive verläuft harzig. Dieses Schicksal teilt Bennos Gemeinde mit gut der Hälfte der Schweizer Kommunen.

Am einzig verbliebenen Stammtisch der Gemeinde werden Abend für Abend die Namen valabler Nachfolgekandidatinnen und -kandidaten in den Ring geworfen. Führungserfahrung sollten die Personen mitbringen, im Beruf schon etwas erreicht haben, am besten noch unternehmerisch tätig sein. Wirtschaft und Politik sollten Hand in Hand gehen und sich nicht voneinander entfremden, so des Volkes Meinungskanon. Die Parteizugehörigkeit spielt nur eine nachrangige, bisweilen sogar vernachlässigbare Rolle, eine Verwurzelung im Dorf sollte allerdings gegeben sein. Auch Frauenkandidaturen im bislang von Männern dominierten Gremium würden sich viele wünschen. Für die einen sollten die neu zu Wählenden ferner die Fusion mit der Nachbargemeinde vorantreiben, andere bevorzugen Kandidierende, die aus ihrer Ablehnung der Zusammenlegung keinen Hehl machen.

Benno ist gegen die anvisierte Gemeindefusion. Was würde denn dann noch von der lokalen Identität übrig bleiben? Und wohin mit all den örtlichen Brauchtümern wie dem Speckbrotessen bei der jährlichen Holzgant am Berchtoldstag? Benno möchte im Gemeinderat als dessen Präsident verbleiben. Seine Wiederwahl im kommenden Herbst ist so gut wie sicher, nicht nur in Ermangelung anderer geeigneter Personen. Auf seine langjährige Miliztätigkeit angesprochen, leugnet er nicht, dass seine Familie zurückstecken musste. Dabei kommt er auf die Rahmenbedingungen seiner Laientätigkeit zu sprechen. Wie der Grossteil seiner Kolleginnen und Kollegen der lokalen Milizpolitik übt er seine Tätigkeit seit je ehrenamtlich aus. Hauptberuflich ist er vollzeitlich als Finanzchef bei einer Versicherungsfirma in der nahe gelegenen Stadt beschäftigt. Sein Arbeitgeber unterstützt ihn immer mit den nötigen Freiräumen, die es für die Ausübung der Milizarbeit braucht. Benno weiss aber von seinen Kollegen, dass nicht alle Unternehmen der Ausübung eines politischen Milizamts derart wohlwollend gegenüberstehen. Für seine Milizarbeit erhält er eine einkommenssteuerpflichtige, aber sozialversicherungsbefreite Entschädigung und ist im personalrechtlichen Sinn kein Angestellter seiner Gemeinde. Alle zwei Wochen trifft Benno seine Gemeinderäte, sein Pensum als Gemeindepräsident beläuft sich auf etwa zwölf Stunden in der Woche. Spasseshalber hat er einmal seinen durchschnittlichen «Stundenlohn» auf der Grundlage aller Bezüge (Jahrespauschale, Sitzungsgelder, Spesen, Honorare usw.) errechnet und kam dabei auf rund 27 Franken.

Benno hat gehört, dass seine Amtskolleginnen und Amtskollegen aus der Gemeindeexekutive im Kanton Luzern teilzeitlich von der Gemeinde angestellt sind, mit einem Beschäftigungsgrad zwischen 20 und 50 Prozent. Ein solches Teilamt wird mit einem regulären Arbeitslohn vergütet, ist einkommensteuerpflichtig und untersteht der Sozialversicherungspflicht. Eine anderweitige Tätigkeit im angestammten Beruf ist dort in der Regel nur im verbliebenen Teilzeitpensum möglich. Sachkundige vermuten in dieser Amtsstruktur mithin einen Grund für den im Vergleich zur Restschweiz höheren Frauenanteil in den lokalen Exekutivämtern des Kantons Luzern.

Noch einen Schritt weiter gehen manche Gemeinden in der Ostschweiz, wie Benno bei einer Tagung des Schweizerischen Gemeindeverbands vernommen hat. Im Kanton St. Gallen werden beispielsweise rund drei Viertel aller politischen Gemeinden von Präsidentinnen und Präsidenten im Vollamt geführt. Diese Kolleginnen und Kollegen müssen ihre berufliche Tätigkeit für das fix bezahlte Politisieren in der Gemeinde aufgeben. Ungeachtet der Anstellungsart und der Höhe der Vergütung ist für Benno ohnehin sonnenklar: «Jemand zahlt immer für die Milizarbeit. Sei es der Partner, die Familie oder das Auskommen, wenn man wegen eines zeitintensiven Ehrenamts nur Teilzeit arbeitet.»

III

Benno ist 61 Jahre alt, verheiratet und Vater zweier erwachsener Töchter. Die beiden interessieren sich zwar durchaus für die lokale Politik, haben ihre Lebensplanung aber erst einmal auf Studium und Beruf ausgerichtet, Auslandsaufenthalte eingeschlossen. Schon sein Vater war Gemeindepräsident des Orts und Benno damit quasi von Haus aus in die Miliz hineingeboren. Er ist im Dorf angesehen und dazu Präsident des lokalen Platzgervereins, der wiederum ein hohes Renommee weit über die lokalen Grenzen hinaus geniesst und die vergangene Wettspielmeisterschaft für sich entscheiden konnte. Benno hat eine langjährige Führungserfahrung vorzuweisen, gilt als entscheidungsfreudig und stressresistent und ist im Dorf sehr gut vernetzt. Noch mehr als die Diskussionen um den möglichen Zusammenschluss mit der Nachbargemeinde machen ihm die ausbleibenden Kandidaturen für die anstehende Gemeinderatswahl zu schaffen.

Benno weiss, welchem Profil der typische Gemeinderat entspricht. Zumeist männlich, um die 50, gut gebildet, seit Längerem in der Gemeinde verwurzelt und sozial eher bessergestellt. In der Vergangenheit nahmen noch vergleichsweise viele Bauern Einsitz in das Gremium. Der letzte dieser Spezies, kinderlos, scheidet zum Ende der Legislaturperiode ohne Aussicht auf eine Nachfolge gleicher Berufsgattung aus. Auch schon, weil es gar keinen bewirtschafteten Hof mehr in der Gemeinde gibt. Benno ahnt, dass Aufrufe und Inserate im Gemeindeblatt (neudeutsch: Newsletter) die Malaise des Kandidatenmangels nicht werden beheben können. Die Rekrutierung über die örtlichen Parteien und Vereine wird angesichts deren verblassenden Bedeutung wohl ebenso erfolglos verlaufen. Stattdessen möchte Benno mögliche Kandidatinnen und Kandidaten direkt ansprechen und persönlich überzeugen. Das Amt wie einen Staubsauger an der Tür verkaufen. Canvassing für Milizionäre. Zumindest versucht er es einmal bei dreien, die er vom Leben in der Gemeinde kennt und mit deren Familien er seit Jahren gut bekannt ist.

Da wäre zunächst Karin. Sie ist 45 Jahre alt und Mutter zweier Buben (zehn und zwölf). Seit der Geburt ihres ersten Kindes arbeitet sie Teilzeit und steht zudem dem Frauenchor des Orts vor. Ihr Vater war zusammen mit Benno im Gemeinderat aktiv, als dieser noch nicht Gemeindepräsident war. Im örtlichen Gemeinderat selbst waren die Frauen nie stark vertreten. Benno mag sich gerade einmal an zwei Frauen erinnern, die in den letzten Jahrzehnten im Gremium waren. Ein Abbild der lokalen Schweiz. Vor 30 Jahren lag der Frauenanteil in den Schweizer Gemeinderäten noch deutlich unter 10 Prozent. Über 60 Prozent der Kommunen hatten damals überhaupt keine Frau in der Exekutive. In den 1990er-Jahren stieg der Frauenanteil, vor zehn Jahren lag er dann bei gut 23 Prozent. Dennoch berichteten immer noch 15 Prozent der Gemeinden, keine weibliche Vertretung im Gemeinderat zu haben. Frauen seien zu harmoniebedürftig, heisst es hie und da.

Der zweite Kandidat ist Marcel. Er ist zwar erst 28 Jahre jung, in den Augen von Benno aber ein politisches Talent. Nach der Berufsmaturität hat er Betriebswirtschaft studiert und arbeitet nun seit knapp zwei Jahren im selben Unternehmen wie Benno. Seit Kindsbeinen spielt Marcel im lokalen FC. Dort trainiert er auch die Junioren, die kurz vor dem Aufstieg in die Coca-Cola Junior League stehen. Der Götti von Marcel, der jetzt als Gemeinderat abtritt, hat seinem Patenkind das Einmaleins der lokalen Politik beigebracht. Sein extrovertiertes Agieren und Argumentieren in den Gemeindeversammlungen legt hierfür ein eindrückliches Zeugnis ab. Benno ist sich bewusst, dass er grosse Überzeugungskünste an den Tag legen muss. Die Statistiken sprechen gegen ein Engagement von Marcel: Exekutivmitglieder unter 35 Jahren kommen in den Schweizer Gemeinden beinahe ebenso selten vor wie Gemeinderätinnen und Gemeinderäte im Pensionsalter.

Nichtdestotrotz wird Benno auch seinen langjährigen Freund Erich aufsuchen, mit dem er seit je durch dick und dünn gegangen ist. Erich wurde vor drei Jahren pensioniert. In früheren Jahren war er ein gewissenhaftes Mitglied der ortsansässigen Rechnungsprüfungskommission und amtet noch als Kassier des Platzgervereins. Vor eineinhalb Jahren hat das Schicksal Erichs Ruhestandspläne durchkreuzt, als seine Frau Hannelore plötzlich und unerwartet verstorben ist. Könnte Benno wenigsten zwei dieser drei von einer Kandidatur überzeugen, blieben sie zumindest beschlussfähig und das Damoklesschwert des kantonalen Sachverwalters verkäme zur Pflugschar. Umstrittene Wahlen sind ohnehin Wunschdenken.

IV

Benno hat den Eindruck, dass die Verantwortungsbereiche auf Gemeindeebene in den letzten Jahren immer mehr abgenommen haben. Bund und Kantone weisen in vielen Bereichen den Weg, und Kooperationen mit anderen Gemeinden engen den Spielraum zusätzlich ein. Obschon die Lokalpolitikerinnen und Lokalpolitiker eigentlich gar nicht mehr so viel zu entscheiden haben, nimmt die Vielschichtigkeit ihrer Aufgaben und damit der Ruf nach einer Professionalisierung der Miliztätigkeit zu. Das alles macht es nicht einfacher, mögliche Kandidatinnen und Kandidaten von einer Übernahme eines politischen Amts zu überzeugen. Aber es gibt auch einige Vorteile, die das Milizamt mit sich bringt. Viele Beteiligte schwärmen von ihren vielfältigen und spannenden Tätigkeiten und berichten von einem durch ihre Milizarbeit vertieften Politikverständnis. Von manchen Amtsinhaberinnen und Amtsinhabern hört Benno gar, dass die Miliztätigkeit zu ihrer Lebenszufriedenheit beiträgt, zumindest aber das Leben in der Gemeinde angenehmer macht.

Für Benno war es schon immer eine Ehre, weitgehend unbezahlt ein politisches Amt auszuführen. Vor seiner Tätigkeit im Gemeinderat und als Gemeindepräsident amtete Benno bereits acht Jahre in der Schulkommission der Gemeinde. Es war die Zeit, als seine Töchter noch die Schulbank drückten. Mit seiner Miliztätigkeit möchte er der Gemeinde, in der er aufgewachsen ist, etwas zurückgeben. Doch nicht alle ticken so wie Benno. Aus Gesprächen mit seinen Kolleginnen und Kollegen vernimmt er, wie vielfältig die Beweggründe zur Milizarbeit ausfallen können.

Marlies aus der Schulkommission übt ihre Tätigkeit beispielsweise schlichtweg aus, weil sie gerne zusammen mit anderen etwas bewegt. Hans-Ruedi aus der Baukommission hat Benno einmal gesagt, die Hilfe für andere Menschen sei ein zentraler Aspekt seines politischen Engagements. Wieder andere betonen, dass sie sich in die Gemeinde integrieren und dort aber auch mitbestimmen möchten. Bei zwei «jüngeren» Miliztätigen (45 und 47) aus der Sport- und Kulturkommission stellt Benno wiederum fest, dass sie ihre eigenen Kenntnisse und Erfahrungen erweitern möchten. Und manch einer mit höheren Ambitionen hofft insgeheim auch darauf, dass die lokale Miliztätigkeit als Sprungbrett für eine politische Karriere auf höheren Staatsebenen dient. Benno ist es einerlei, Hauptsache er findet überhaupt jemanden für den Gemeinderat.

V

Benno ist immer gerne zu seinen Sitzungen gegangen, die Zusammenkünfte waren für ihn jeweils weit mehr als ein distanzierter und rein sachbezogener Austausch. Der Gemeinderat ist für Benno beinahe zur Zweitfamilie geworden. Dabei ging es ihm immer auch um die Gemeinschaft, nicht nur um die Gesellschaft mit den Kolleginnen und Kollegen, mehr um ein natürliches und nicht nur kalkuliertes Zusammenleben in der Institution. Vielleicht lag in dieser Verbundenheit mit dem Amt aber gerade die Krux, schleichende Probleme im Milizwesen und seinem Umfeld nicht mehr erkannt zu haben.

Seit die Mitarbeit in der Gemeinde nicht mehr als selbstverständlich und Ehrensache deklariert wird, schätzen und unterstützen beispielsweise die Arbeitgeber das zeitintensive Engagement im lokalen politischen Leben nicht mehr so wie auch schon. Früher sei es für einen Betrieb eine Ehre gewesen, Milizler in den eigenen Reihen zu haben. Entsprechend gerne wurde für das Amt auch Arbeitszeit zur Verfügung gestellt. Heute hingegen wird von milizwilligen Mitarbeitenden erwartet, dass sie ihr Pensum auf eigene Kosten reduzieren. Benno gelangt je länger, je mehr zur Einsicht, dass der Zeitgeist der Individualisierung nicht recht zu einem längerfristig gebundenen Engagement mit vielen fixen Terminen passt. Die Menschen im Dorf suchen vermehrt nach Engagementformen, die zu ihrer Biografie passen, absehbar sind und mitunter spektakuläre Erlebnisse oder die Lösung aktueller gesellschaftlicher Probleme versprechen. Aber auch der wachsende Wohlstand und die Mobilität fordern die Zivilgesellschaft heraus, indem sie Freizeitangebote bezahlbarer, erreichbarer und verlockender machen. Die Identifikation mit der Wohngemeinde leidet zusätzlich darunter. Dazu werden vermehrt Ruhepausen von der als stresshaft wahrgenommenen Erwerbsarbeit verlangt. Arbeitsprozesse verlagern sich in die Abendstunden und ins Heimbüro und treten dort in Konkurrenz zu abendlichen Sitzungen der Milizbehörde und zur Familie. Die Grenzen zwischen Erwerbsarbeit und Freizeitleben verschwimmen zunehmend. Zeit ist in unserer 24-Stunden-Gesellschaft insgesamt zum Luxusgut avanciert, und man überlegt sich sehr genau, wofür man sie einsetzt. Erst recht, wenn es dabei um regelmässige Verpflichtungen geht.

Aber natürlich waren da auch die Klagen einzelner Exekutivmitglieder über die zu grosse zeitliche Belastung und die Konflikte im privaten Umfeld wegen etwaiger Entscheidungen im Gemeinderat. Vereinzelt wurde auch über Probleme innerhalb des Kollegiums geraunzt. Schon öfter, gerade in jüngster Vergangenheit wahrnehmbarer als auch schon, wurden Stimmen laut, die sich über die geringen Entscheidungsspielräume auf der lokalen Ebene und die allzu kritische Öffentlichkeit mokierten. Benno zuckte daraufhin meistens mit den Schultern, die seinem breiten Rücken aufsitzen: «Ein Gemeinderat tut gut daran, sich als Laternenpfahl zu verstehen, der oben leuchtet und unten angepinkelt wird.»

VI

Es wird Herbst. Wer jetzt kein Gremium mehr zusammenbringt, hat keines mehr. Benno ist es unwohl. Es bleiben nur noch wenige Tage bis zum Nominationsschluss der Kandidatinnen und Kandidaten für die anstehenden Wahlen. Von den lokalen Parteien und Vereinen hat er bislang keine konkreten Namen vernommen. Informationsveranstaltungen liefen ins Leere. Benno gibt ungern zu, dass er womöglich Entwicklungen verschlafen hat, das Milizamt interessanter zu machen. Der Widerstand gegen die Fusion mit der Nachbargemeinde ist das eine. Immer wieder hat er in den letzten Jahren aber auch von möglichen Organisationsformen zur stärkeren Trennung von operativen und strategischen Tätigkeiten gehört, die den Gemeinderat von Ersteren entlasten und das Exekutivamt überschaubarer machen können. Um ein adäquates und zeitgemässes Führungsmodell zu erörtern, haben manche Gemeinden gar eine dafür spezialisierte Beratungsfirma aufgesucht. Im Angebot werden diverse Organisationsstrukturen geführt: vom CEO-Modell mit einer bezahlten Geschäftsführerin oder einem bezahlten Geschäftsführer der Verwaltung über vollamtliche Gemeindepräsidentinnen und -präsidenten, die als Delegierte der Exekutive walten, bis hin zu Geschäftsleitungsmodellen, in denen den Gemeinderatsmitgliedern Verwaltungsangestellte zur Seite gestellt werden. Benno kennt Gemeinden, die bei Einführung des Letzteren, einer Art Tandemmodell, die Zahl der Gemeinderatssitzungen halbieren konnten. Aber es müssen ja nicht immer gross angelegte Reformen sein, um dem wachsenden Unbehagen im Milizwesen Herr zu werden.

Benno sitzt im Gemeindehaus und blättert in einem Magazin, das Empfehlungen zur Attraktivitätssteigerung der Milizarbeit in den lokalen Behörden präsentiert. Natürlich wird davon gesprochen, die Entschädigungen anzuheben. Bennos Gemeinde hat die Vergütungen in den letzten Jahren auch zweimal angehoben, allerdings ohne nachhaltigen Erfolg beim Bewerberkarussell. Eine Reduktion der Gemeinderatssitze ist auch kein Thema. Damit würde die Aufgabenlast für die einzelnen Mitglieder nur noch grösser. Diskutiert wird auch die Überführung der ehrenamtlichen Milizarbeit in ein Angestelltenverhältnis mit Teilpensum und einem fixen Jahressalär. Benno zieht es den Bauch zusammen. Höhere Entschädigungen? Festanstellungen? Wen würde das denn anziehen? Wäre das nicht ein ganz anderer Typ Mensch als seine bisherigen Kolleginnen und Kollegen?

Viele der aufgeführten Empfehlungen liegen auch gar nicht im Einflussbereich der Gemeinde, etwa wenn es um die Anrechnung der Miliztätigkeit als zertifizierte Weiterbildung geht, die beim Arbeitgeber vorgelegt werden kann und einer alternativen betriebsnahen Fortbildung gleichgestellt wäre. Oder wenn die Förderung der politischen Bildung auf den Plan gerufen wird, um Fertigkeiten zur Fällung politischer Urteile einzuüben. Denkbar wäre allenfalls die Einführung von Schulungen für Einsteigerinnen und Einsteiger. Diese könnten von der Gemeinde angeboten werden, nicht zuletzt um den Sachverstand vor den ersten Entscheidungen sicherzustellen und der zunehmenden Komplexität der Aufgaben Rechnung zu tragen.

In Bennos Augen kratzen viele dieser Massnahmen am Ideal seines Milizprinzips. Höhere Entschädigungen überführen die Milizarbeit mehr und mehr in die Erwerbsarbeit. Die Entlastung von Aufgaben bringt eine gewisse Sinnentleerung der Tätigkeit mit sich und lässt das Engagement zur Folklore verkommen. Qualifizierungserfordernisse und anspruchsvoller Aufgabenzuwachs wiederum entwerten das hochgelobte Laienwissen und schmälern das Rekrutierungspotenzial.

Benno nimmt sich vor, mit den Kolleginnen und Kollegen der neuen Legislaturperiode fürs Erste einmal einen anderen Weg einzuschlagen. Damit ist für ihn keinesfalls die Aufhebung der Wohnsitzpflicht gemeint. Auswärts wohnen und in seiner Gemeinde mitbestimmen? Das ist für Benno unvorstellbar. Was für die Verwaltung noch praktizierbar sein mag, geht für das Milizamt nicht. Hier braucht es die Bindung zum Ort. Auch der in der Öffentlichkeit immer wieder geforderte Amtszwang ist für ihn keine Lösung, selbst wenn dessen Anwendung der Gemeinde theoretisch offenstehen würde. Was in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in beinahe allen Kantonen gang und gäbe war, ist für Benno deswegen noch lange kein Rezept für das Hier und Heute. Soll denn jemand zur Milizarbeit gezwungen werden, wenn er partout nicht will? Leidet dann nicht die Qualität der Arbeit darunter? Erledigen wir nicht alle unsere Aufgaben besser, wenn wir sie freiwillig statt unter der Knute der Verpflichtung ausführen?

Benno denkt fortschrittlicher. Seit einigen Jahren steht es den Gemeinden des Kantons nämlich frei, Ausländerinnen und Ausländern das passive Wahlrecht in Gemeindeangelegenheiten zu erteilen. Das wäre gewiss eine Stellschraube, um das Rekrutierungsproblem zu bewältigen. Benno kennt viele Zugewanderte, die seit Jahren, wenn nicht seit Jahrzehnten im Ort wohnen, in den Vereinen mitwirken und geschätzt werden. Manche von ihnen würden sich gerne im Milizwesen engagieren, das haben sie Benno immer wieder einmal zugetragen. Und das nicht nur, weil sie das Gemeinwohl mitfinanzieren, sondern weil ihnen etwas an ihrer neuen Heimat liegt.

Ob sich die Gelegenheit zu einer solchen Debatte überhaupt ergibt, steht aber noch in den Sternen, noch gibt es kein Gremium. Am Wochenende steht für Benno ein Treffen mit seinen drei Auserwählten an, bei dem er sie von seinen Visionen überzeugen möchte. Das wird nicht einfach. Doch Benno ist optimistisch. Seit je sieht er in einem Problem eine Aufgabe. Nicht so wie der Pessimist, der in jeder Aufgabe ein Problem erkennt.

VII

Wir sitzen im Gemeindehaus. An der Wand hängt Gottfried Keller in Öl. Mit Ingrimm blickt Benno aus seinem Arbeitszimmer zum Fenster hinaus auf den schmucken Dorfplatz, dessen Kopfsteinpflaster erst kürzlich restauriert wurde. Der Brunnen soll nächstes Jahr folgen. Doch wer soll das beaufsichtigen? Karin, Marcel und sogar der alte Kumpan Erich haben abgesagt. Keiner von ihnen steht für ein Exekutivamt zur Verfügung. Benno hat alles versucht, sie zu überzeugen. Hat ihnen geschmeichelt und an ihr Verantwortungsbewusstsein appelliert. Ohne Erfolg. Zu schwer wiegen die individuellen Prioritäten.

Karin möchte sich um ihre Familie und die zwei Buben kümmern und kann sich sehr gut vorstellen, in die Schulpflege einzutreten. Als Gemeinderätin sieht sie sich freilich nicht. Marcel fühlte sich wegen der Anfrage geschmeichelt, plant aber nicht zuletzt seiner Karrierechancen wegen einen längeren Aufenthalt im Ausland. Zu einem späteren Zeitpunkt würde er aber gerne einmal zur Wahl antreten. Erich hätte Benno eigentlich nicht im Stich gelassen. Allerdings hat er vor knapp zwei Monaten eine Frau aus der Ostschweiz kennengelernt, die ein ähnliches Schicksal mit ihrem langjährigen Ehemann durchlebte wie Erich mit seiner Hannelore. Zusammen mit seiner neuen Partnerin möchte Erich jetzt erst einmal Abstand vom Gewesenen gewinnen und zumindest die Hälfte der Woche bei ihr am Bodensee verbringen. Da bleibt keine Zeit mehr, die Gemeinde zu führen. Alternative Kandidaturen zu Bennos sind bis gestern 17 Uhr nicht eingegangen. Den Notnagel, geeignete Personen per Amtszwang einzusetzen, möchte Benno nicht schlagen. Der Gemeinderat kann nicht besetzt werden. Es lässt sich kein beschlussfähiges Gremium mehr aufstellen.

«Wer an den Dingen der Stadt keinen Anteil nimmt, ist kein stiller, sondern ein schlechter Bürger, ein idiótes», bemüht Benno in seinem Verdruss die Worte des Atheners Perikles. Ich weise Benno darauf hin, dass der uns geläufige «Idiot» sich zwar vom altgriechischen «idiótes» («Privatmensch») ableitet, ursprünglich aber nicht negativ behaftet war. Benno zuckt ein letztes Mal mit den Schultern.

Das Telefon klingelt. Der kantonale Sachverwalter erkundigt sich, wann er antreten soll.

1  Einleitende Bemerkungen

Das Milizwesen gilt neben der direkten Demokratie, dem Föderalismus und der Konkordanz als zentrale Säule der Schweizer Beteiligungsdemokratie. Während die Volksmitsprache, die staatliche Architektur und das Verhandlungssystem in der einen oder anderen Ausprägung auch in anderen politischen Systemen anzutreffen sind, fungiert das weit verzweigte bürgerstaatliche Prinzip als identitätsstiftentendes Alleinstellungsmerkmal der Schweizer Demokratie. In nahezu unvergleichlicher Weise bieten sich den Bürgerinnen und Bürgern hierzulande zahlreiche Gelegenheiten, sich in politischen Entscheidungsgremien und Kommissionen bei der Ausführung der Politik einzubringen. Geht man beispielsweise von rund 100 000 Personen in den kommunalen Exekutiv-, Legislativ- und Kommissionsämtern aus, dürfte jeder 50. Schweizer Stimmberechtigte lokalpolitisch engagiert sein.

Das Milizsystem beschreibt ein im öffentlichen Leben der Schweiz verbreitetes Organisationsprinzip, das auf der republikanischen Vorstellung beruht, dass befähigte Bürgerinnen und Bürger öffentliche Rollen zu übernehmen haben (Kley 2009). Es «ist die nur in der Schweiz übliche Bezeichnung für die freiwillige, nebenberufliche und ehrenamtliche Übernahme von öffentlichen Aufgaben und Ämtern. Zumeist nicht oder nur teilweise entschädigt, gehört Miliztätigkeit zum weiteren Bereich von Arbeit, die nicht auf Erwerbsziele gerichtet ist» (Linder und Mueller 2017: 90). Die vorliegende Studie widmet sich den Miliztätigen der Exekutive, Legislative und der Kommissionen in ausgewählten Schweizer Gemeinden und analysiert deren Profile, Motive und Meinungen.1 Dabei kommen neben Bewertungen lokaler Rahmenbedingungen auch Beurteilungen öffentlich diskutierter Reformideen zur Sprache. Die Analysen liefern Einblicke in Leben, Charakter und Denkweise von Miliztätigen, vermitteln Wissenswertes zum Milizamt der Zukunft und erarbeiten praktische Hintergrundinformationen für Politikerinnen, Politiker und Gemeinden.

Mit dem Milizprinzip soll die Beteiligung der Schweizer Bürgerinnen und Bürger an der Gestaltung der Öffentlichkeit garantiert werden, indem der beruflichen Qualifikation zur politischen Mitsprache bewusst Schranken gesetzt werden (Ketterer et al. 2015a: 223).2 Insbesondere die lokale Milizdemokratie lebt vom Zusammenspiel zwischen hauptamtlichen Angestellten und ehrenamtlich besetzten Politikbehörden, die gemeinsam die Dienstleistungsversorgung in der Gemeinde sicherstellen.

Die in dieser Studie im Vordergrund stehende politische Milizarbeit ist heute auf allen Ebenen des politischen Systems der Schweiz anzutreffen, von Parlamentsmandaten in Bund, Kantonen und Gemeinden über einen erheblichen Teil der lokalen Exekutivämter bis hin zu den Kommissionen in den Gemeinden, Kantonen und auf Bundesebene.3 Richterämter auf Stufe Bezirk und Kanton und ein grosser Teil der leitenden Positionen und Ämter in politischen Parteien und Verbänden können ebenso dazugerechnet werden (Linder und Mueller 2017: 91).

1.1 Milizarbeit als Goldstandard der politischen Beteiligung

Nach republikanischem Verständnis setzt das Funktionieren des Gemeinwesens das öffentliche Engagement der Bevölkerung voraus. Im Sinn eines Beteiligungsimperativs können und müssen die Bürgerinnen und Bürger «administrative Dienstleistungen selbst produzieren und dürfen sich nicht auf eine passive Publikumsrolle zurückziehen. Das Milizsystem schafft für die Bürgerinnen und Bürger Beteiligungsgelegenheiten, -rechte und -pflichten, die durch Teilnahmebereitschaft und -fähigkeit ausgefüllt werden müssen» (Kussau et al. 2007: 6).4 Obschon nicht in der Strenge Gottfried Kellers, findet das republikanische Ideal der Beteiligungspflicht seinen Niederschlag als politisches Signal in Artikel 6 der Bundesverfassung, in dem der milizförmigen Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger in den Behörden und Gremien normativer Richtschnurcharakter zukommt (Häberle 2014: Rz 13, Rz 16; Rhinow 2000: 175–177): «Jede Person nimmt Verantwortung für sich selber wahr und trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft bei.»5

Zu den politikwissenschaftlichen Minimalkriterien der politischen Beteiligung gehören nach van Deth (2014) deren Handlungscharakter, die Freiwilligkeit der Aktivität, deren Ausführung in der Rolle einer Bürgerin oder eines Bürgers und die Verortung der Tätigkeit in der politischen Arena. Führt man sich diese vier Kriterien vor Augen, kann das Engagement in den Milizbehörden durchaus als Form politischer Beteiligung verrechnet werden. Zunächst einmal ist die politische Milizarbeit eindeutig in der staatspolitischen Sphäre angesiedelt. Im Gegensatz zu politischen Meinungen oder Werthaltungen ohne hinreichenden Handlungscharakter ist die Ausübung eines politischen Milizamts mit der Teilnahme an Versammlungen, dem Studium von Akten, dem Gespräch mit Bürgerinnen und Bürgern und vielen anderen Tätigkeiten auch als politische Aktivität zu verstehen. Darüber hinaus sind gemäss Kriterienkatalog Verhaltensweisen auszuschliessen, die äusserem Zwang unterliegen. Dabei kann es sich um rechtliche Verpflichtungen, Zwangsaufgaben oder auch soziale beziehungsweise ökonomische Zwänge handeln (van Deth 2014: 354). Milizarbeit wird in der Schweiz überwiegend als eine freiwillige Tätigkeit ausgeübt. In der Regel geht der Übernahme des Amts (beispielsweise als Exekutivmitglied in einer Gemeinde oder als Mitglied einer Schulpflege) eine freiwillige Kandidatur voraus. Ausnahmen vom Grundsatz der freiwilligen Amtsausübung können in acht Kantonen aufgrund des dort mehr oder weniger stark geltenden Amtszwangs auftreten. Lehnt eine gewählte Person hier die Übernahme eines Amts ab, droht eine Busse, die sich auf bis zu 5000 Franken belaufen kann (Leuzinger 2017).6