Adriana Popescu
Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House
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1. Auflage 2015
© 2015 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Alle Rechte vorbehalten
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MP · Herstellung: UK
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-11435-0
V004
www.cbj-verlag.de
Für alle
Abenteurer,
Träumer und
Musikverliebte
ERZÄHL MIR DEINEN TRAUM
Der Cursor blinkt auffordernd vor sich hin. Mit jeder Sekunde wirkt er hektischer, als würde er sich meinem aufgeregten Herzschlag anpassen wollen. Kurz schließe ich die Augen. Ein Versuch, um noch etwas Zeit herauszuschlagen. Es ist nur eine Frage, Paula. Nur eine Frage. Als ich die Augen wieder öffne, hat sich weder der Cursor noch die Frage verändert.
Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?
Es ist die klassische Frage, die man bei allen Aufnahmebögen an internationalen Businessschulen findet. Bei der Art Schule, die man gern mit dem Wort »Elite« verbindet. Die Sorte Schule, auf die ich gehen soll, die mich auf mein Leben und auf meine Karriere vorbereiten soll. Meine Eltern und ich haben eine Liste mit allen potenziellen Schulen aufgeschrieben. Vor Jahren. Als ich noch nicht mal wirklich wusste, welche Lieder oder welche Band ich toll finde. Man kann schließlich nie früh genug anfangen, die Zukunft zu planen. Diese Schule hier hat das Rennen gemacht. Natürlich bewerbe ich mich auch noch bei drei anderen, aber diese hier ist die erklärte Nummer eins.
Während ich überlege, was ich auf die monumentale Frage antworten soll, sehe ich mich in meinem Zimmer um, das sich von dem aller anderen sechzehnjährigen Mädels in meiner Schule wohl nur geringfügig unterscheidet. Poster von all meinen Lieblingsfilmen und -musikern an den Wänden, Fotos von meinen Freunden und mir und Postkarten, jede Menge Postkarten. Ich lasse mir von allen Freunden, die im Urlaub in eine andere Zeitzone oder Hemisphäre verschwinden, jedes Jahr und bei jeder Gelegenheit eine schicken. Inzwischen habe ich eine stattliche Sammlung an meiner Wand. Ein Lächeln huscht über mein Gesicht, während ich die vielen exotischen Orte betrachte: Bari, Sydney, New York, Kapstadt, Dubai, Shanghai, Rom, Lima und – Speyer. Okay, manche Orte sind etwas weniger exotisch als andere, aber zusammen ergeben sie dennoch eine ganz nette Weltkarte in meinem Zimmer. Alles Orte, die ich selbst nicht gesehen habe. Meine Familie ist nicht das, was man abenteuerlustig oder aufregend nennt.
In meinem Kopf hingegen erlebe ich ständig Abenteuer. So gerne würde ich mal nur mit einem Rucksack und ohne großen Plan durch Europa reisen. Oder wenigstens durch Süddeutschland. Egal. Hauptsache, mal ein echtes Abenteuer erleben.
Der blinkende Cursor wirkt urplötzlich wie eine Einladung. Fast meine ich, ihn flüstern zu hören, immer dann, wenn er aufblitzt:
Los, erzähl mir deinen Traum! Es bleibt auch unter uns.
Ich könnte es doch zum Spaß mal aufschreiben. Nur so. Noch nie, nicht mal bei Merle, meiner besten Freundin, habe ich wirklich ausgesprochen, was mein großer Traum ist. Mein Leben in fünf Jahren, so wie ich es mir heimlich ausmale, wenn ich im Bett liege, Musik höre und die Lichterkette, die ich über dem Kopfende aufgehängt habe, meine Zimmerdecke in einen Sternenhimmel verwandelt. Also gut: Kopf aus, Herz an. Ich lasse meine Finger ungefiltert meine Gedanken eintippen …
Abenteuer. Immer wieder hört man, das Leben wäre ein einziges großes Abenteuer. Nur nehmen wir uns viel zu selten die Zeit, um solche Abenteuer zu erleben. In fünf Jahren sehe ich mich auf dem Machu Picchu, während die Sonne gerade aufgeht. Vielleicht bin ich auch gerade am Lion’s Head in Kapstadt, von wo aus ich die Brandung weit unter mir beobachte. Oder ich bin auf einem Roadtrip durch die Wildnis Kanadas und beobachte einen Braunbären dabei, wie er sich Fische aus dem reißenden Fluss schnappt. Vielleicht auch eine Zugfahrt quer durch Amerika. Ich erlebe Abenteuer, von denen ich voller Stolz später meinen Kindern und Enkelkindern erzählen kann. Jeder Mensch sollte dieses eine Abenteuer erleben, das einem auf ewig im Gedächtnis bleibt und einen sich lebendig fühlen lässt – immer dann, wenn man sich klein und unbedeutend vorkommt. Ein Abenteuer, das jenseits von allem Sicherheitsdenken liegt und nicht durch rationale Gedanken gebremst wird. Eines Tages in den kommenden fünf Jahren werde ich keine Vernunftentscheidung treffen, sondern alleine mein Herz sprechen lassen. Während meine Schulfreunde von damals zukünftig in ihrem Unialltag abgetaucht sind oder vielleicht schon die Ausbildung abgeschlossen und einen festen Job mit guter Bezahlung in Aussicht haben, wache ich zu den Geräuschen der Natur in einem Zelt irgendwo in Südafrika auf und beginne ein Abenteuer, von dem ich nicht einmal weiß, dass es vor mir liegt.
Voll großartiger Erinnerungen komme ich nach Hause, packe meinen Rucksack aus und befülle ihn sofort wieder, weil mich die Wander- und Abenteuerlust schon wieder gepackt hat.
Mit einem breiten Lächeln im Gesicht lese ich meine eben geschriebenen Worte noch einmal und lehne mich zufrieden in meinen Schreibtischstuhl. Wenn ich die Zeit doch nur an diesen Punkt meines Lebens vorspulen könnte! Das Kribbeln in meinem Bauch breitet sich aus wie ein innerer Lavastrom.
»Paula!? Das Essen ist bald fertig, kommst du und deckst den Tisch?«
Die Stimme meiner Mutter legt einen Schalter um, der alle imaginäre Vorfreude auf meine ebenso imaginäre Reise mit einem Mal verlöschen lässt.
»Ich komme gleich runter!«
Vorbei das Träumen vom Abenteuer – und ich bin zurück in meinem Zimmer, das ich gefühlt nie wirklich verlassen habe.
Wieder sehe ich auf die Wand voller Postkarten, die meinem Wunsch nach Entdeckungsreisen eine stumme Stimme geben, es ist ein leiser Schrei, den außer mir und meinem Herzen niemand hören kann. Ich kann meinen Eltern nicht sagen, dass ihre Version meiner Zukunft nicht meine ist. Der Cursor blinkt noch immer ganz aufgeregt, fast tänzelnd und zufrieden, weil ich mich habe verleiten lassen. Dummer Cursor! Meine digitale Version vom Hasen, dem Alice ins Wunderland folgt.
Ich markiere den eben geschriebenen Text und lösche ihn, ohne mit der Wimper zu zucken.
DER REISEFÜHRER UND ANDERE KLEINIGKEITEN
Die Sommerferien werden für gewöhnlich von allen erwartet und schon Wochen im Voraus gefeiert. Das letzte Klingeln wird herbeigesehnt und dann gibt es kein Halten mehr. Meine Laune ist am letzten Schultag allerdings nicht gerade die beste. Wenn es nach mir ginge, könnte dieser letzte Tag noch einige Extrastunden länger dauern und das sicher nicht, weil ich noch schnell was zum Ductus Botalli lernen will. Aber dann könnte ich wenigstens noch ein bisschen Zeit mit meiner besten Freundin Merle verbringen, auch wenn wir uns nur kleine Zettel unter der Bank zuschieben und nicht wirklich sprechen können. Egal, Merle in meiner Nähe zu wissen tut gut, und ich weiß jetzt schon ganz genau, dass ich sie schrecklich vermissen werde. Ihre Eltern fahren mit ihr nach Barcelona. Das muss toll sein.
Merle sieht mich stirnrunzelnd an und schiebt mir unauffällig einen zusammengefalteten Zettel zu.
Miese Laune wegen Italien?
Ihre Handschrift ist mir seit der dritten Klasse vertraut, denn so lange kennen wir uns schon. Ich kann mich immer auf sie verlassen, ob im Klassenzimmer oder im echten Leben, wenn’s um das lästige Thema Jungs geht und wieso die Typen, die wir gut finden, immer entweder zu alt oder zu cool sind und lieber auf die Mädels mit den langen Beinen und großen Brüsten stehen. Ich antworte schnell in meiner typischen, viel zu kleinen Handschrift.
Du wirst mir fehlen.
Das ist die Wahrheit. Wenn ich zurückkomme, wird sie nach Barcelona fahren und das bedeutet, dass wir uns in den sechs Wochen Sommerferien so gut wie gar nicht sehen können. Ich schiebe den Zettel zurück und dann passiert es auch schon. Das letzte Klingeln des Schuljahres. Der Lärmpegel nimmt sofort zu und alle jubeln, schieben geräuschvoll ihre Stühle zurück und sind schon zur Tür raus, bevor der Lehrer das letzte Wort gesprochen hat.
»Ach, Paula – wir haben fast zwei Wochen, wenn ich aus Spanien wieder da bin.«
»Ich weiß.«
»Dann machen wir irgendwas Tolles zusammen.«
Wir schleichen als letzte über den polierten Linoleumboden im Schulflur und ich versuche, jeden Schritt noch ein bisschen hinauszuzögern.
»Weißt du schon, ob du jemanden in dem Camp kennst?«
»Da sind Schüler aus dem ganzen Land. Ich denke nicht.«
»Aber hey, Amalfi! Das wird so toll! »
Merle war schon so ziemlich überall in Europa.
»Ein Abitur-Vorbereitungskurs?«
»Aber in der Nähe von Neapel. Das ist doch cool.«
Merle schiebt die Tür auf. Wir verlassen das Schulgebäude, treten in die Sommerwärme Stuttgarts und ich schließe für einen Moment die Augen, spüre die Sonne auf meinem Gesicht und stelle mir Süditalien vor. Wie aufregend könnte das alles sein, wäre es nicht ein Sommercamp für vielversprechende Schüler, die dank dieses Kurses das Abitur mit Leichtigkeit und guten Noten abschließen.
»Ach, Paula. Wer weiß, vielleicht wird das der beste Sommer deines Lebens.«
Ich öffne ein Auge wieder und werfe Merle einen zweifelnden Blick zu, den sie mit einem breiten Lächeln auffängt.
»Heiße Temperaturen, noch heißere Typen, gutes Essen, das Meer …«
Ihre grünen Augen werden ganz verträumt, als sie in die Ferne sieht und eine Haarsträhne ihrer blonden Mähne um den Finger wickelt. Kopfschüttelnd drehe ich mich vollends zu ihr um.
»Sprechen wir noch über meinen Sommer oder schon über deinen?«
Merle erlebt in ihren Ferien immer irgendwelche Geschichten, von denen die meisten Mädels nur träumen können. Tolle Jungs, aufregende Nächte an irgendwelchen Stränden voller Musik und mit einmaligen Sonnenaufgängen. Es sind ihr Charme und das Lächeln, kein Zweifel.
»Es ist natürlich doof, dass wir deinen Geburtstag nicht zusammen feiern können.«
Sie schenkt mir ein aufrichtiges Lächeln und ich nicke tapfer. Mein Geburtstag fällt immer in die Ferien und nie kann ich ihn mit meinen Freunden feiern. Das ist aber schon okay, Merle ruft immer an und vergisst mich nie. Doch irgendwann, das haben wir uns vorgenommen, werden wir zusammen irgendwo an einem exotischen Ort feiern. Merle lächelt mich verschwörerisch an und zieht ein kleines, liebevoll eingepacktes Geschenk aus ihrer Schultasche, das sie mir mit einer feierlichen Geste überreicht.
»Aber erst an deinem Geburtstag aufmachen. Du weißt, wenn du schummelst, wird irgendwo ein Welpe ausgesetzt.«
Sie zwinkert mir zu. Ich nehme das kleine Päckchen an und versuche dabei, dem Kloß in meinem Hals nicht die Beachtung zu schenken, die er verlangt.
»Danke, Merle.«
Ihre Nixenaugen glänzen, weil sie weiß, dass ihr die Überraschung geglückt ist. Beste Freundinnen schenken nie das Falsche, vergessen keine Geburtstage und denken immer zur richtigen Zeit an eine Nachricht oder Postkarte. Ungeschriebenes universelles Freundschaftsgesetz.
»Ich werde ganz artig warten – versprochen.«
Zumindest steht jetzt ein Highlight für den Sommer fest. Egal, was auch passiert, wie öde und langweilig mein Aufenthalt in dem Lern-Sommercamp werden wird, dieses Geschenk wird mir ganz ohne Zweifel ein Lächeln aufs Gesicht zaubern. Merle legt ihre Hände auf meine Schultern und schenkt mir das Lächeln der besten Freundin.
»Versprich mir was, Paula.«
»Was denn?«
»An deinem Geburtstag wirst du dich richtig rausputzen, dich schminken und ausgehen.«
»Aber …«
Merle schüttelt schnell und ernst den Kopf. Wenn sie mich so wie jetzt ansieht, weiß ich genau, dass es keinen Sinn hat, ihr zu widersprechen. Also gebe ich, wie immer, nach und nicke.
»Versprochen.«
Sie lächelt zufrieden und ich lasse mich davon anstecken.
»Paula, ich habe das Gefühl, du wirst einen ganz wunderbaren Sommer verbringen. Glaub mir!«
• • •
»Hast du auch einen Badeanzug eingepackt?«
Meine Mutter lehnt im Türrahmen meines Zimmers und wirft einen kritischen Blick auf die große Auswahl an Kleidungsstücken, die ich vor mir auf dem Bett verteilt habe. Wenn es ums Packen geht, bin ich wohl wirklich typisch Frau. Was nimmt man in ein Lern-Sommercamp so alles mit? Wird sich im Kurs Algebra für Fortgeschrittene wirklich die unerwartete Möglichkeit für Jeans-Hotpants und ein Bikini-Oberteil auftun? Wohl kaum. Deswegen habe ich viele schlichte T-Shirts und kurze Hosen ausgewählt. Ein bisschen trostlos haben sich Sportoberteile und Multifunktionshosen auf einen kleinen Haufen zusammengetan und sich auf die Liste der Must-haves für den Trip geschummelt.
»Ich weiß nicht, wie viel Zeit für Strandausflüge wir haben werden.«
»Die Anlage verfügt über einen Pool, Schatz. Du wirst sicher auch mal ausspannen können.«
Ich werfe ihr einen kurzen Blick zu und ziehe unsicher die Augenbrauen zusammen. So ganz kann ich mir das nicht vorstellen; schon gar nicht, nachdem ich mir den Stundenplan etwas genauer angesehen habe. Tagsüber gibt es gerade mal 45 Minuten Mittagspause und abends dann spaßversprechende Angebote wie Bingo. Selbst mit Merles wilder Fantasie kann man sich dieses Sommercamp nicht so richtig schönreden – es sei denn, sie schenken Alkohol an Minderjährige aus und schleppen eine angesagte One-Direction-Tribute-Band für die Bingoabende an.
»Papa hat dir einen Reiseführer für Italien gekauft, hast du ihn gesehen?«
Sie nickt zum Schreibtisch, der mit Lehrbüchern, die alle auch noch einen Platz in meinem Koffer finden müssen, übersät ist. Ganz oben liegt der Führer mit einem Post-it, auf dem ich die Handschrift meines Vaters erkenne. Ich werde das Gefühl nicht los, dass ihn ein bisschen das schlechte Gewissen plagt und er mir diesen Trip schmackhafter machen will. Irgendwie süß.
»Er hat dir die besten Eisdielen mit diesen Aufklebern markiert.«
Eisdielen? Mein Vater denkt noch immer, ich wäre dreizehn. Das nehme ich ihm nicht mal besonders übel. Er verbringt so wenig Zeit zu Hause, ist immer im Einsatz, dass er die letzten drei Jahre mehr oder weniger verpasst hat.
Woher soll er da denn auch wissen, dass ich nicht mehr sein kleines Mädchen bin?
»Das ist total lieb von ihm.«
»Paula …«
Mütter durchschauen uns Töchter doch immer an einem gewissen Punkt. Die Wahrheit ist: Ich will nicht fahren und weiß nicht mal, ob ich später International Business studieren will.
»Italien wird lustig. Du wirst viele interessante Leute kennenlernen und die Kurse werden dir im nächsten Schuljahr einen großen Vorsprung einbringen.«
Mein Lächeln fühlt sich falsch an, dennoch muss es meine Mutter jetzt überzeugen. »Ich freu mich auch schon total.«
Ihre warmen, braunen Augen, die ich von ihr geerbt habe, mustern mich einen kurzen Moment. Schnell lege ich noch mal alles in mein Lächeln und versuche, einfach glücklich auszusehen. Es scheint zu funktionieren, das Gesicht meiner Mutter hellt sich auf.
»Siehst du, Paula. Das wird ein toller Sommer.«
Natürlich wird er das. Nur vielleicht nicht zwingend für mich. Ich sehe wieder zu den Klamotten auf meinem Bett und beschließe, dass es keinen Sinn hat, sich in Selbstmitleid zu wälzen.
Merle würde das Beste daraus machen und Spaß haben. Diesem Beispiel werde ich folgen! Jawohl, Paula Wichtenberger, reiß dich zusammen und genieß Italien, komme, was da wolle!
Mein Blick fällt auf den dunkelblauen Badeanzug, der sich bedenkenlos in die Kategorie Multifunktionskleidungsstück einordnen lässt. Nein, der muss zu Hause bleiben. Wenn Merle jetzt hier wäre, würde sie mir den Bikini ans Herz legen. Weil sie findet, dass ich ihn tragen kann und sollte. Weil sie sich wünscht, sie hätte meine Figur, so wie ich mir im Gegenzug ihre grünen, kristallklaren Augen wünsche.
Der Bikini ist der Grundstock für einen neuen Stapel, auf dem ich einige Sachen platziere, die bei der ersten Runde durchgefallen sind. Einige Jeans-Hotpants, Spaghettiträgeroberteile und mein Lieblings-T-Shirt mit dem weiten Ausschnitt, das mir über die Schulter rutscht und mich etwas lässiger wirken lässt. Das ist ein Anfang.
Es ist Italien, da wird es warm. Das weiß ich auch ohne Reiseführer, deswegen wandern die Träger-Tops ganz oben auf die Liste. Ich greife nach meinem Lieblingskleid. Ein schlichtes, aber sehr schönes Sommerkleid, in weiß mit Klatschmohnmotiven. Merle hat mir ein Versprechen abgenommen und wenn ich etwas verspreche, dann halte ich es auch. An meinem Geburtstag werde ich dieses Kleid tragen, das habe ich gerade beschlossen. Immerhin soll es dort zumindest ein Abschlussfest geben, und wer weiß, vielleicht werde ich meinen Geburtstag ja in einer netten Trattoria feiern.
AUFTRITT MR COOL
Mein Vater wuchtet den Koffer aus dem Auto und scheint kurz an der Dauer meines Trips zu zweifeln. Zu meiner Verteidigung muss ich erwähnen, dass ich viele Bücher mitnehmen musste und diese den Löwenanteil des Gewichts ausmachen. Auf dem Parkplatz vor dem Busbahnhof in München, wo die Reise startet, spielen sich an fast allen Autos neben uns ähnliche Szenen ab: Jugendliche, die von ihren Eltern abgesetzt werden, zu große Koffer oder Reisetaschen dabei haben, und Mütter, die noch schnell feste Umarmungen verteilen. Meine Mutter mustert den Reisebus hinter uns skeptisch, als hätte sie sich über Nacht in eine TÜV-Prüferin verwandelt.
»Der Bus sieht wenigstens sehr modern aus. Hoffentlich wechseln sich die Fahrer ab. Alleine kann ja keiner die Strecke bis da runter fahren. Ob das Ding über ABS verfügt?«
Mir wäre es lieber, der Bus hätte Fernseher und eine Bordtoilette. Zumindest haben wir eine Klimaanlage, das ist ein Anfang.
»Ganz sicher werden sie das. Mach dir keine Sorgen.«
Mein Vater klingt zuversichtlich und lächelt mich stolz an, als hätte ich allein durch meine Anwesenheit hier schon eine Urkunde gewonnen.
»Na Kleines, freust du dich?«
Auf eine vierundzwanzig Stunden lange Busfahrt mit anderen schwitzenden und lustlosen Jugendlichen? Klar, ich kann mir nichts Schöneres vorstellen!
»Sicher.«
»Denk bitte daran, im Ausland dein Internet auf dem Handy auszuschalten, ja? Und ruf uns nicht damit an. Kauf dir an einer Raststätte eine Telefonkarte.«
»Papa, mein Tarif deckt auch Anrufe ins Ausland …«
»Ach, die ziehen dich da doch immer über den Tisch! Und telefoniere auch nicht stundenlang mit Merle, ja?«
Dass man manchnmal stundenlang mit der besten Freundin quatschen MUSS, wird er als Mann nie verstehen.
»Versprochen.«
Sein Blick wird noch etwas ernster, als er mich an der Hand nimmt und ein Stück vom Auto wegzieht, damit Mama und mein Bruder das Gespräch nicht verfolgen können. Er greift in die Gesäßtasche seiner Hose und zieht den Geldbeutel heraus.
»Ich weiß, dass viele deiner Freunde den Sommer anders verbringen.«
Er öffnet sein Portemonnaie und blättert die unterschiedlichen Fächer durch.
»Deswegen möchte ich, dass du dir in Italien etwas gönnst. Ob es eine Kette, ein Ring oder sonst etwas ist, das dir gefällt.«
Beim Hunderteuroschein hält er inne und reicht ihn mir schließlich. Kurz sehe ich zwischen dem Schein und dem Gesicht meines Vaters hin und her, unsicher was ich sagen oder tun soll. Aber er nickt nur aufmunternd.
»Was immer du dir damit kaufen möchtest …«
Zögernd nehme ich das Geld und überlege nicht etwa, wofür ich es wohl ausgeben könnte, sondern wo ich es am besten verstaue, um potenziellen Dieben keine Gelegenheit für lange Finger zu geben. An irgendeiner Stelle, wo ich es immer bei mir trage, zumindest während der langen Fahrt.
»Danke, Papa.«
In meinem Aushilfsjob in einem Supermarkt verdiene ich reichlich wenig und muss eine ganze Weile schuften, um so viel Geld zu meiner freien Verfügung zu bekommen. Als ich das Geld schließlich in die Hosentasche meiner kurzen Jeans stopfe, lächelt er kurz und sieht sich dann um.
»Es scheinen ja einige Jungs mit in den Süden zu fahren.«
Sein Blick wird kritischer, als er sich die Jungs ansieht und es ihm wohl dämmert, dass ich nicht mit der Belegschaft eines Klosters auf einen Ausflug gehe. Hey, sie haben es sich so ausgesucht. Mir wären auch sechs Wochen auf dem Liegestuhl in unserem Garten recht gewesen. Kurz folge ich seinem Blick und schaue mir die Auswahl an männlichen Mitreisenden etwas genauer an. Einige haben sich bereits zu einer kleinen Gruppe zusammengetan, schütteln Hände, stellen sich einander vor. Merle würde jetzt damit beginnen, sie in verschiedene Kategorien einzuordnen und unwillkürlich beginne ich, sie ebenfalls einzuteilen. Es gibt den Surferboy, ein großer, blonder Jungen, der eine kleine Lederkette mit einem bläulichen Stein als Anhänger trägt, sich die Sonnenbrille lässig ins lockige Haar geschoben hat und ein strahlendes Lächeln offenbart. Nicht übel. Er lehnt neben einem klassischen Nerd, der etwas kleiner, dafür auch breiter gebaut ist. Er trägt schwarze, lange Jeans, obwohl wir fast dreißig Grad haben, ein dunkles T-Shirt mit einem düsteren Brustmotiv und der Ausdruck seines blassen Gesichts lässt ahnen, dass er lieber woanders wäre. Tageslicht scheint er ebenfalls nicht besonders zu mögen.
Etwas abseits, neben einer großen Reisetasche, lehnt Mr Cool, ein dunkelhaariger Junge, der seine Augen hinter einer klassischen Ray-Ban-Sonnenbrille verbirgt und dabei sehr gelangweilt und unbeeindruckt aussieht. Er trägt seinen dunkelblauen Rucksack über einer Schulter, schwarze Jeans, die an den Knien abgeschnitten sind – was er vermutlich selber gemacht hat, denn die Hosenbeine sind minimal unterschiedlich lang –, dazu ein weißes T-Shirt mit einer roten Brusttasche. Unauffällig, keinen Schmuck, bis auf ein Lederarmband an der linken Hand. Vermutlich das Geschenk seiner Freundin. An seinem Kinn zeigen sich die Ansätze eines Dreitagebartes, er muss etwas älter sein als ich. Seine Schultern sind breit, aber nicht so breit wie die von Surferboy. Die Haut seiner Arme ist gebräunt, vermutlich ist er viel an der frischen Luft. Zu gerne würde ich seine Augen sehen, doch sie bleiben hinter den Gläsern der Sonnenbrille verborgen. Wie schade. Ich sehe noch immer zu ihm, weil er, anders als die übrigen, nichts tut, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen – und meine genau deswegen gewonnen hat. Dann, als er meinen Blick bemerkt, verziehen sich seine vollen Lippen zu einem kurzen Lächeln, das den grimmigen Gesichtsausdruck total verändert, wenn auch nur für den Sekundenbruchteil, den es dauert.
Mein Herz stolpert, aber es fällt nicht. Ob ich ebenfalls lächele, das weiß ich nicht, denn ich spüre meinen Körper nicht mehr so recht. Alles fühlt sich etwas schwummrig an, nur mein Herz trommelt wie verrückt weiter.
Dann, fast in Zeitlupe, führt er seine Hand an die Sonnenbrille und zieht sie ein kleines Stück über die Nase nach unten. Strahlend blaue, klare Augen sehen mich über den Rand der Brille an und treffen ein Ziel, von dem ich nicht mal wusste, dass ich es hätte schützen sollen.
Vermutlich ist er gesetzlich dazu verpflichtet, die Sonnenbrille zu tragen, so wie der Mutant Cyclops aus den X-Men-Comics. Nicht, dass er Blitze aus seinen Augen feuert, aber einen Waffenschein für diese Augen braucht der Junge allemal. Die hellen Augen, die so gar nicht zu seinen dunklen Haaren passen wollen, verraten mehr über ihn, als er wohl zulassen will.
Herrgott, Paula, hör auf, so einen Unsinn zu denken! Er hat dich nur für den Bruchteil einer Sekunde angesehen. Ganz sicher hast du ihn deswegen noch nicht durchschaut.
Trotzdem meine ich, im Blau seiner Augen einen traurigen Schimmer wahrgenommen zu haben. Sein Blick wandert von meinem Gesicht weiter und bleibt kurz an dem Brustmotiv auf meinem T-Shirt hängen. Sein Lächeln wird breiter. Ganz kurz steht irgendwie alles still, als hätte jemand die Zeit eingefroren, obwohl es sommerlich warm ist. Die anderen Jungs lachen laut und holen mich durch ihr Gelächter zurück in die Realität. Sie scheinen Spaß zu haben. Oder sie wollen einfach nur die Aufmerksamkeit der anderen Mädchen, die sich in ihrer Nähe tummeln. Doch ich kann meinen Blick noch immer nicht von dem Jungen mit der Sonnenbrille und den traurigen, blauen Augen nehmen. So unscheinbar er auf die anderen auch wirken mag, etwas an ihm ist anders. Starre ich ihn immer noch an? Und was sagt eigentlich mein Vater gerade? Denn ich sehe, wie sich seine Lippen bewegen.
»Versprichst du mir das, Kleines?«
»Hm?«
Was soll ich ihm versprechen? Ich sehe wieder zu meinem Vater und schon vermisse ich den Anblick des namenlosen Sonnenbrillenjungen.
»Dass du mir keinen Ärger machst in Italien.«
»Was? Nein! Das werde ich nicht. Ganz sicher. Versprochen.«
Meine Stimme klingt etwas zu hoch und hektisch, sie scheint sich meinem beschleunigten Herzschlag angepasst zu haben. Ich gebe mir Mühe, nicht so aufgeregt zu klingen, immerhin gibt es dafür wirklich keinen Grund. Ich muss in ein Sommercamp zum Lernen. Mit anderen gelangweilten Teenagern. Und dem Jungen mit der Sonnenbrille. Wieso um alles in der Welt lächele ich dann jetzt meinen Vater an und freue mich plötzlich auf Italien?
DER SOUNDTRACK DES LEBENS
Meine Familie ist schon wieder auf dem Heimweg, nachdem ich sie davon überzeugen konnte, dass sie nicht bleiben müssten, bis sich der Bus auf die lange Reise macht. Das wäre wirklich nicht nötig und vor allem sehr peinlich. Nach festen Umarmungen sind sie zurück auf die Autobahn in Richtung Stuttgart gefahren und jetzt stehe ich hier, etwas verloren, zwischen den anderen und hoffe, dass es bald losgeht. Oder ich ins Gespräch mit dem Sonnenbrillen-Typ komme, aber mir will kein guter Auftakt für eine Unterhaltung einfallen und es soll ja auch kein billiger Anmachspruch werden. Deswegen bin ich nämlich nicht hier.
Die Betreuer des Camps wirken wie Studenten, die sich auf diese Weise etwas Geld dazu verdienen wollen und die ganze Sache eher lässig angehen. Einer lehnt mit einer Zigarette zwischen den Lippen am Bus und telefoniert lautstark mit seiner Freundin, die er immer wieder Baby nennt und die ihn offenbar nervt. Der andere sortiert verschiedene Unterlagen und kämpft gegen den Wind. Die einzige Frau unter ihnen kaut gelangweilt ein Kaugummi und zieht sich ihre Kriegsbemalung mit dem Lippenstift nach. Vielleicht ist es wirklich besser, dass meine Eltern das hier nicht mitkriegen, sie würden ihr Geld zurückverlangen.
»Ziemlich schräg, hm?«
Es gibt Menschen, die sehen umwerfend aus. So lange, bis sie den Mund öffnen und man feststellt, dass die Stimme nicht zum Rest passt. Und es gibt Menschen, da passt es so gut zusammen, dass man sich fragt, ob irgendwo ein Casting-Director für das Leben existiert, der den perfekten Darsteller für die richtigen Rollen aussucht. Der Sonnenbrillen-Typ tritt neben mich, versteckt seine Augen leider immer noch hinter den dunklen Gläsern und schenkt mir ein kurzes Lächeln. Jetzt, da ich direkt neben ihm stehe, bemerke ich, dass ich mit meiner Körpergröße wohl eher für einen der sieben Zwerge gecastet werde, wenn’s drauf ankommt. Wieso trage ich meine flachen, roten Sneaker und nicht irgendwas mit ein bisschen Absatz, um ihm zumindest bis zur Schulter zu reichen? Ich versuche ein ungezwungenes Lächeln und sehe dabei so verkrampft aus, dass er sich vermutlich gleich wieder verkrümelt.
»Ja. Ziemlich.«
Selbst meine Stimme hat heute Zwergenformat – oder klang ich schon immer wie der Fisch Dorie aus Findet Nemo? Der Junge nickt zu den Betreuern und verschränkt die Arme, wobei ich bemerke, dass die Muskeln seiner Unterarme recht ausgeprägt sind. Eine Nebensächlichkeit, die gerade mein Gehirn überfordert.
»Ich zweifle ja, dass die Truppe ausreichend dafür qualifiziert ist, sich um uns zu kümmern.«
»Ich auch.«
Würde ich, wenn mein Gehirn sich endlich mal wieder auf das konzentrieren würde, wofür es ursprünglich konstruiert ist: denken! Momentan surrt es nämlich nur wie ein Computer, der zu lange in der Sonne gestanden hat.
»Ich bin übrigens Lewis. Mit W.«
»Wie bitte?«
»L-E-W-I-S. Nicht Luis.«
Er reicht mir seine Hand, die ich einen kurzen Moment ansehe und sie dann schließlich nehme. Seine Haut fühlt sich warm und weich an, nur die Fingerkuppen sind etwas rauer. Das Surren in meinem Kopf wird durch das laute Trommeln in meiner Brust abgelöst und ich hoffe, dass meine Stimme laut genug ist, um das alles zu übertönen. Jetzt etwas Schlaues und Schlagfertiges sagen.
»Ich bin Paula. Ohne W.«
Super! Das war ja ’ne klasse Pointe.
»Hi, Paula ohne W.«
Anstatt die Flucht zu ergreifen, verziehen sich seine Lippen langsam und ohne Vorwarnung zu einem Lächeln, das diesmal auch nicht sofort wieder verschwindet, sondern in seinem Gesicht für die Dauer verweilt, in der unsere Hände sich berühren. Denn das tun sie noch immer, was mich aus unerklärlichen Gründen freut, und plötzlich ist lächeln ganz einfach.
»Und zu welcher Kategorie gehörst du?«
Erst jetzt lässt er meine Hand wieder los und nimmt die Sonnenbrille ab, die er mit einer lässigen Handbewegung in die Brusttasche stopft. Schnell lasse ich meinen Blick wieder zu den Betreuern wandern, weil ich mir nicht sicher bin, ob ich dem Blau seiner Augen aus der Nähe gewachsen bin.
»Hm?«
Nur ein Seitenblick, das kann nicht wehtun, oder? Also werfe ich ihm einen fragenden Blick zu und das Glitzern seiner Augen ist echt zuviel, denn meine Knie werden schlagartig weich. Wie ist es möglich, dass andere Jungs einen Sixpack und ein Hollywoodlächeln brauchen? Lewis haut mich mit einem Blick aus diesen Augen um.
»Bist du eine von den Superschlauen? Oder eine von den, verzeih mir den Ausdruck, Losern?«
Jetzt nur nichts Falsches sagen.
»Superschlaue.«
Klasse, Paula! So kommt man gut bei Jungs an. Da stehen die drauf.
Lewis mustert mich einen kurzen Moment, er lächelt noch immer und ich hoffe, dass ich nicht so aussehe, wie ich mich gerade fühle: durchgekaut und ausgespuckt.
»Das hätte ich mir denken können.«
Weil ich wie eine Streberin aussehe, die zwar alle Shakespeare-Dramen gelesen, aber null Erfahrungen mit Jungs hat?
»Ist das so?«
»Klar. Du siehst nicht aus wie jemand, der sich ablenken lässt.«
Hast du eine Ahnung. Du lenkst mich nämlich gerade total ab. Von so ziemlich allem. Ein Glück ist das Atmen in unserem Organismus vorprogrammiert, sonst müsste mich spätestens jetzt jemand daran erinnern. Irgendwie finde ich in meinem Kopf aber doch Worte, die eine Frage ergeben.
»Und du?«
Sein Lächeln wird zu einem Grinsen, bevor er sie beantwortet.
»Was soll mit mir sein?«
»Lässt du dich ablenken?«
»Oh, das will ich doch hoffen!«
Als er das sagt, funkeln seine Augen und jede Traurigkeit ist daraus verschwunden. Er sieht sich um, bevor sein Blick wieder meinen trifft.
»Wie sonst sollte ich diesen Horrortrip überleben?«
Eine gute Frage. Obwohl ich ihm gerne sagen würde, dass er ein Grund dafür ist, warum ich diesen Trip nicht mehr als ganz so schrecklich empfinde, bleibe ich stumm und nicke nur.
»Okay, Leute! Hört mal alle zu, ja!?«
Der Betreuer mit den zahllosen Blättern, die er noch immer nicht so ganz unter Kontrolle gebracht hat, wendet sich an uns und die einzelnen Gespräche in unserer Umgebung verstummen langsam.
»Ich bin David. Damit es für uns leichter ist, euch auf dieser irre langen Fahrt unter Kontrolle zu halten, sucht sich jetzt jeder einen Partner für die Reise, auf den ihr aufpassen werdet. Immer zu zweit rein in den Bus, solange noch Plätze frei sind.«
Jeder sieht sich einen kurzen Moment unsicher um, weil das immer eine doofe Situation ist. Wie im Schulsport, wenn man eine Mannschaft wählen muss und keiner der Letzte sein will. Doch bevor ich Augenkontakt mit einem der anderen Mädchen aufnehmen kann, greift Lewis nach meiner Hand und macht einen Schritt nach vorne. Überrascht sehe ich ihn an, aber er zuckt nur frech die Schultern und zwinkert mir zu.
»Komm schon, Paula, zeigen wir denen, wie’s geht.«
Er nickt den Betreuern zu und geht, meine Hand noch immer fest in seiner, auf den Bus zu. Ich spüre die Blicke der anderen in meinem Rücken. Vor allem die Argusaugen der Mädchen, denen Lewis sicher auch aufgefallen ist. Doch bevor sie protestieren können, steige ich schon die Stufen hoch in den Bus und muss an Merles Worte denken: Ich habe das Gefühl, du wirst einen ganz wunderbaren Sommer verbringen
»Ich sitze gerne hinten, da hat man seine Ruhe. Ist das okay für dich?«
Er sieht mich lächelnd über seine Schulter an und ich nicke etwas benommen, weil das nicht so abläuft, wie ich es mir vorgestellt habe. Ganz im Gegenteil, irgendwie ist alles ganz anders. Als wäre ich aus Versehen für einen typischen coolen Teenie-Film gecastet worden, würde aber weder meinen Dialog noch die Story kennen. Klassische Fehlbesetzung.
»Klar.«
Als er schließlich stehen bleibt, deutet er auf die beiden Plätze ganz hinten links. Rechts sind keine Sitze, sondern eine Art Tür, die vermutlich zu Schaltkreisen oder ähnlichem technischen Zeugs führt, von dem ich keine Ahnung habe.
»Hier hat man zumindest ein bisschen Privatsphäre.«
Er dreht sich zu mir und plötzlich stehen wir enger zusammen, als ich zuerst erwartet hatte. Auf dem Flur hier gibt es nicht genug Platz und die unerwartete Nähe überrascht mich.
»Oder … hat dein Freund vielleicht etwas dagegen, wenn du mit einem fremden Kerl eine Sitzreihe teilst?«
Lewis’ Frage ist lässig hingeworfen, aber seine Stimme klingt anders als noch eben. Unsicher? Keine Ahnung, vielleicht bilde ich mir das alles auch nur ein. Fragt mich Lewis hier also gerade recht ungeschickt, ob ich vergeben bin? Vielleicht ist er ja auch in diesem fremden Teenie-Film gefangen und kennt seinen Text ebenfalls nicht? Ein bisschen entspannt mich das.
»Mein Freund findet das okay.«
»Oh.«
Sein Lächeln erstirbt mit einem letzten Zucken auf seinen Lippen. Mein Schmunzeln wird hingegen zu einem Lächeln.
»Weil er irgendwo da draußen in der Zukunft lebt.«
»Ah.«
Lewis’ Lächeln erwacht schlagartig wieder zum Leben, als er mit einer feierlichen Geste auf die beiden Sitzplätze deutet.
Dann weist er auf meinen Rucksack, den ich gnadenlos überpackt habe.
»Soll ich den für dich nach oben wuchten?«
»Das wäre nett.«
Ich reiche ihm das riesige Ding und er zeigt sich ob des Gewichts überrascht.
»Was ist da denn alles drinnen?«
Klar, ich könnte die Wahrheit sagen, dass die Bücher in meiner Reisetasche die meisten Klamotten verdrängt haben und ich still und heimlich einfach alles, was ich nicht zurücklassen wollte, in diesen Rucksack gestopft habe. Aber dann hält er mich womöglich für eine Streberin und das möchte ich vermeiden.
»Nur das Nötigste.«
»Na, da hast du ja ein großes Abenteuer geplant.«
Er packt den Rucksack in das Fach über unseren Köpfen, dabei verrutscht sein T-Shirt etwas und gibt ein bisschen Haut oberhalb des Hosenbundes frei. Und sofort fliegt meine zwischenzeitliche Gefasstheit zum Fenster raus.
»Garantiert nicht.«
Damit rutsche ich auf den Sitz am Fenster und werfe einen letzten Blick durch die getönten Scheiben auf die Gegend da draußen, die so abenteuerfrei wie mein Leben aussieht. Lewis schwingt sich auf den Platz neben mir und betrachtet mich von der Seite.
»Da sagt dein T-Shirt aber was anderes.«
Ich werfe irritiert einen Blick auf mein T-Shirt. Heute morgen hatte ich einfach was Bequemes aus dem Schrank gezogen. Doch jetzt, da ich den Aufdruck betrachte, ergeben Lewis’ Worte einen Sinn. In großen roten Buchstaben, die eine lässige Handschrift imitieren, steht: Enjoy Life & Live the Adventure. Fast muss ich lachen, kopfschüttelnd sehe ich zu Lewis.
»Wenn du mich kennen würdest, dann wüsstest du, dass in meinem Leben nichts Aufregendes passiert.«
Ich schenke ihm ein Lächeln, das locker wirken soll. Wenn Merle nicht als Katalysator für aufregende Momente an meiner Seite ist, kann man mein Leben wirklich nicht als atemberaubend beschreiben.
»Na, ein Glück hast du mich getroffen.«
Ist sein Lächeln eigentlich legal? Dafür müsste er aber nun wirklich eine Art Waffenschein mit sich führen. Irgendwas an Lewis ist unverschämt anziehend. Sicher, es könnte sein gutes Aussehen sein. Das wäre eine plausible Erklärung, aber das ist es nicht. Etwas in seinen hellen Augen lässt darauf schließen, dass er nicht so unbekümmert ist, wie er tut. Das rede ich mir nicht nur ein, denn jetzt aus der Nähe betrachtet, funkelt in seinen Augen eine dritte Dimension – die mich nichts angeht und die ich unbedingt erforschen will.
»Ist das so?«
Er nickt, lehnt sich entspannt in den Sitz zurück, zieht die Kopfhörer seines iPods hervor, steckt sie sich ins Ohr und schließt die Augen. Ohne auch nur ein weiteres Wort zu sagen, schaltet er die Musik ein und driftet in eine andere Welt, wo er mich nicht mehr hören kann. Kurz betrachte ich sein Profil und frage mich, was ich hier eigentlich mache. Auf Partys werde ich selten angesprochen. Als ich mit meinem ersten und gleichzeitig letzten Freund, Dirk, zusammenkam, war das eher einer Panikreaktion geschuldet. Und jetzt sitze ich hier neben einem fremden Jungen in einem Reisebus voll mit gelangweilten Jugendlichen auf dem Weg nach Italien. Was vor einigen Stunden noch unglaublich öde und abschreckend gewirkt hat, schaut plötzlich, nach einem weiteren Blick auf Lewis, der zufrieden grinst, ziemlich gut aus. Merle wäre verdammt stolz auf mich. Lewis’ Lippen verziehen sich zu einem Lächeln, als er noch mal die Augen öffnet und mich dabei erwischt, wie ich sein Gesicht betrachte.
»Und ich gehöre übrigens zu den Losern. Sag also nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«
Doch bevor ich fragen kann, was er damit meint, hat er die Augen auch schon wieder geschlossen und lässt mich mit meinen Gedanken alleine.
Die anderen haben inzwischen auch ihre Plätze eingenommen. Die überforderten Betreuer stehen ganz vorne beim Busfahrer und warten, bis der Tumult etwas nachgelassen hat.
»Okay, wir rufen jetzt eure Namen auf und dann wissen wir, dass auch alle vollzählig sind.«
Es werden Namen genannt, Hände schießen nach oben, Jungs lachen, Mädchen kichern und ich sehe noch immer zu Lewis, der von all dem nichts mitzukriegen scheint. Keine Ahnung, welchen Song er gerade hört oder wohin ihn diese Musik entführt – aber ich wäre gerne mit ihm dort.
»Lewis Ritter?«
Stille im Bus, niemand fühlt sich angesprochen. Ich schubse Lewis sanft mit dem Ellenbogen an, woraufhin er wieder die Augen öffnet und zu mir sieht. Ein Blau wie das eines klaren Bergsees in der Sonne.
»Du bist dran!«
Doch statt zu antworten oder sich zu melden, sieht er mich einfach nur lächelnd an, die Kopfhörer noch immer in den Ohren.
»Ja, Lewis, der ist hier.«
Irgendwo im Bus meldet sich der blonde Lockenkopf mit der Surferhalskette genervt zu Wort. David, der Betreuer, nickt und hakt Lewis’ Namen ab, ohne sich wirklich davon zu überzeugen, dass er auch an Bord ist. Erst jetzt zieht Lewis sich die Kopfhörer ab und sieht mich fragend an.
»Was hast du gesagt?«
»Nicht so wichtig. Was hörst du da?«
Ich nicke auf seinen iPod und sofort hellt sich sein Gesicht auf.
»Kennst du die Band The Electronic Shoes?«
»Nein.«
Er wischt einen der Kopfhörer an seinem T-Shirt ab und reicht ihn mir mit einem stolzen Grinsen.
»Paula. Es ist mir eine Ehre, dich mit der besten Musik der Welt bekannt zu machen!«
So stolz und bestimmend, wie er das sagt, lässt er keinen Zweifel oder Widerspruch aufkommen. Mein Musikgeschmack ist vielleicht nicht besonders berauschend, aber ich kann sehr wohl selbst entscheiden, ob mir ein Song gefällt oder nicht. Als ich den Kopfhörer aufsetze, drückt Lewis auf Play und die ersten Akkorde ertönen.
Nach nur wenigen Sekunden bewege ich meinen Kopf im Takt der Musik und ich spüre ein Lächeln auf meinen Lippen. Lewis lässt mich keinen Moment aus den Augen und ich meine so etwas wie Stolz in seinem Blick zu erkennen.
»Bist du Paula Wichtenberger?«
»Die bin ich.«
»Erst die Musik, dann das Leben.«
»Paula ist hier!«
»Danke.«
Mancher Song ist gut, weil er einen guten Beat oder der Sänger eine gute Stimme hat. Ab und zu gibt es aber dieses eine Lied, das dich berührt und verzaubert, dich alles andere vergessen lässt. Als würde dieser Song noch immer in meinem Kopf gespielt, lächele ich.
»Ich wusste es!«
»Die Paula, die wird die Notwendigkeit dieses Songs verstehen.«
Etwas irritiert betrachte ich Lewis, der sich weiter zu mir dreht und mich so intensiv ansieht, als würde er mir jetzt gleich den Schlüssel zum Universum anvertrauen.
»Wie kommt es, dass ich noch nie etwas von ihnen gehört habe?«
»Wie soll er dann gefunden werden?«
Da! Ganz kurz blitzt es dunkel in seinen sonst so hellen Augen. Schnell stupst er mit dem Finger meine Nasenspitze an. Eine beiläufige Geste, eine flüchtige Berührung, die allerdings mein Herz wie einen Kreisel anschubst.
Die Ernsthaftigkeit, mit der er über Musik und seinen Blick darauf spricht, schlägt die richtige Saite in meinem Inneren an. Er scheint jedoch kurz zu zweifeln, ob er mich damit eher verschreckt hat.
»Ganz und gar nicht. Du hast also schon mal einen guten Musikgeschmack. Das widerspricht deiner These von vorhin.«
»Du wärst ein Loser.«
»Danke. Aber ich meinte auch eher, dass ich im Kurs für Wiederholungstäter gelandet bin. Letztes Schuljahr war nicht so meines.«
»Vielleicht kann ich dir ja helfen. Welche Fächer sind denn nicht so deine?«
»Es ist eher so das Gesamtpaket. Hoffnungsloser Fall und so. Meine Mutter denkt, dieses Camp ist meine letzte Chance.«
»Na, zum Glück hast du mich getroffen.«