Annick Cojean arbeitet als Korrespondentin für die französische Tageszeitung Le Monde und ist eine der bekanntesten Journalistinnen Frankreichs. Sie hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht und wurde u.a. mit dem Prix Albert Londres ausgezeichnet.
»Gaddafi hat mein Leben zerstört. Niemand wird jemals erfahren, was ich erlebt habe. Niemand wird sich davon auch nur eine Vorstellung machen können. Niemand.«
Muammar al-Gaddafi propagierte einen aufgeklärten Islamismus und die Gleichberechtigung der Frau, offiziell existierte unter Gaddafi keine Gewalt gegen Frauen – dabei, so wird nun bekannt, hielt der Diktator über Jahrzehnte unzählige Mädchen und Frauen im Keller seines Palastes gefangen, misshandelte und missbrauchte sie.
Die Journalistin Annick Cojean stößt auf dieses größte Tabu in der libyschen Gesellschaft nach Gaddafis Tod: In Tripolis trifft sie die junge Soraya, die den Mut hat, das Schweigen zu brechen. Sie erzählt der Journalistin ihre Lebensgeschichte. Als Fünfzehnjährige von Gaddafi ausgewählt und von seinen Schergen entführt, wurde sie jahrelang von dem Tyrannen gedemütigt und vergewaltigt. Doch auch Gaddafis Tod bedeutet für Soraya und ihre Leidensgenossinnen nicht das Ende ihrer Qualen – sie müssen weiterhin um ihr Leben fürchten, denn ihre Familien betrachten sie als entehrt. Und auch die libysche Gesellschaft verschließt noch immer die Augen vor dem wahren Ausmaß von Gaddafis Verbrechen und ist nicht bereit, die jungen Frauen als seine Opfer anzuerkennen und ihnen Rückhalt zu bieten.
Annick Cojean ist die erschütternde und zugleich hochpolitische Schilderung eines von Gewalt und emotionaler Zerstörung geprägten Lebens gelungen. Sie wurde für diese mutige journalistische Recherche mit dem Grand Prix de la Presse Internationale 2012 ausgezeichnet.
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Niemand hört mein Schreien
Gefangen im Palast Gaddafis
Aus dem Französischen
von Waltraud Schwarze
und Claudia Puls
Für meine Mutter, für sie immer
Für Marie-Gabrielle, Anne, Pipole,
die Unentbehrlichen
Für S.
Inhaltsübersicht
Über Annick Cojean
Informationen zum Buch
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Prolog
Erster Teil. Sorayas Bericht
1 Kindheit
2 Gefangen
3 Bab al-Aziziya
4 Ramadan
5 Harem
6 Afrika
7 Hicham
8 Flucht
9 Paris
10 Im Räderwerk
11 Befreiung
Zweiter Teil. Die Recherche
1 Auf Sorayas Spuren
2 Libya, Hadija, Laila ... und viele andere
3 Die Amazonen
4 Beutejäger
5 Herr des Universums
6 Mansur Dao
7 Komplizen und Treiber
8 Mabruka
9 Kriegswaffe
Epilog
Kurze Chronologie
Danksagung
Impressum
»Wir in der Jamahiriya und der großen Revolution versichern den Frauen unsere Achtung und halten ihr Banner hoch. Wir haben beschlossen, die Frauen in Libyen vollkommen zu befreien, sie einer Welt der Unterdrückung und Unterwerfung zu entreißen, damit sie ihr Schicksal selbst bestimmen können in einem demokratischen Umfeld, in dem sie die gleichen Möglichkeiten haben werden wie alle anderen Mitglieder der Gesellschaft (...).
Wir rufen zu einer Revolution für die Befreiung der Frauen des arabischen Volkes auf, und das ist eine Bombe, die die gesamte arabische Welt erschüttern und die Gefangenen in den Palästen und die auf Märkten Gehandelten ermutigen wird, sich gegen ihre Kerkermeister, ihre Ausbeuter und Unterdrücker zu erheben. Unser Appell wird mit Sicherheit ein nachhaltiges Echo finden und Auswirkungen in der gesamten arabischen Nation wie in der Welt haben. Heute ist kein gewöhnlicher Tag, sondern der Anfang vom Ende des Zeitalters des Harems und der Sklaven (...).«
Muammar al-Gaddafi am 1. September 1981, dem Jahrestag der Revolution, als er der Welt die ersten Absolventinnen seiner Militärakademie der Frauen vorstellte.
Ganz am Anfang war Soraya.
Soraya mit ihren nachtüberschatteten Augen, ihren vollen Lippen und ihrem schallenden, klangvollen Lachen. Soraya, die blitzartig vom Lachen zum Weinen wechselt, von Ausgelassenheit zu Schwermut, von anrührender Zartheit zur brutalen Härte der Geschundenen. Soraya mit ihrem Geheimnis, ihrem Schmerz, ihrer Rebellion. Soraya und ihre unfassbare Geschichte eines fröhlichen kleinen Mädchens, das einem Ungeheuer zum Fraß vorgeworfen wird.
Sie war es, die dieses Buch ausgelöst hat.
Ich traf sie an einem jener Tage des Freudentaumels und des Chaos im Oktober 2011, die auf die Gefangennahme und den Tod des Diktators Muammar al-Gaddafi folgten. Ich war für die Zeitung Le Monde in Tripolis und recherchierte über die Rolle der Frauen in der Revolution. Die Zeiten waren unruhig, und das Thema interessierte mich brennend.
Ich war keine Spezialistin für Libyen. Ich war sogar zum ersten Mal in das Land gereist, fasziniert vom unerhörten Mut, den die Kämpfer bewiesen hatten, um den seit zweiundvierzig Jahren herrschenden Tyrannen zu stürzen, aber zugleich auch verwundert darüber, dass in all den Filmen, auf den Fotos und in den Reportagen dieser letzten Monate nirgendwo Frauen zu sehen waren. Die anderen Aufstände des Arabischen Frühlings und der Sturm der Hoffnung, der über diese Region der Welt gefegt war, hatten die Tatkraft der Tunesierinnen offenbart, die im öffentlichen Diskurs nicht zu übersehen waren, ebenso die Entschlossenheit der Ägypterinnen, die jedes Risiko eingegangen waren, um auf dem Tahrir-Platz in Kairo zu demonstrieren. Aber wo waren die Libyerinnen? Was hatten sie während der Revolution gemacht? Hatten sie sie erhofft, ausgelöst, unterstützt? Warum versteckten sie sich? Oder, was wahrscheinlicher war, warum wurden sie versteckt, in diesem so verkannten Land, dessen Bild ausschließlich von seinem exzentrischen Diktator beherrscht wurde, der seine Frauengarde – die berühmten Amazonen – zum Banner seiner eigenen Revolution gemacht hatte?
Einige männliche Kollegen, die die Rebellion von Bengasi bis Sirte vor Ort miterlebt hatten, gaben zu, hin und wieder nur einem in schwarze Schleier gehüllten Schatten begegnet zu sein, denn den Zugang zu ihren Müttern, Frauen oder Schwestern hatten die libyschen Kämpfer ihnen systematisch verwehrt. »Vielleicht hast du mehr Glück!«, sagten sie mit leicht spöttischem Unterton, überzeugt, dass die Geschichte in diesem Land ja ohnehin nie von Frauen geschrieben wird. Im ersten Punkt irrten sie sich nicht. Frau und Journalistin zu sein bietet in sehr abgeschotteten Ländern den wunderbaren Vorteil, dass man Zugang zur gesamten Gesellschaft hat, nicht nur zu ihrem männlichen Teil. So brauchte ich nur wenige Tage und viele Begegnungen, um zu begreifen, dass die Rolle der Frauen in der libyschen Revolution nicht nur bedeutend gewesen war, sondern entscheidend. Die Frauen, so sagte mir ein Rebellenführer, waren »die Geheimwaffe der Rebellion« gewesen. Sie hatten den Kämpfern Mut zugesprochen, sie ernährt, versteckt, transportiert, gepflegt, ausgerüstet und ihnen Informationen zukommen lassen. Sie hatten Geld für Waffenkäufe aufgetrieben, Gaddafi-Militärs zum Nutzen der NATO ausspioniert, tonnenweise Medikamente entwendet, darunter auch aus dem von Muammar Gaddafis Adoptivtochter geleiteten Krankenhaus (jener Tochter, die er nach der Bombardierung seiner Residenz durch die Amerikaner im Jahr 1986 – fälschlicherweise – hatte für tot erklären lassen). Sie waren ungeheure Risiken eingegangen: die Gefahr, verhaftet, gefoltert, vergewaltigt zu werden. Denn die Vergewaltigung – sie gilt in Libyen als das schlimmste aller Verbrechen – war gängige Praxis und zur Kriegswaffe erklärt worden. Sie hatten sich dieser Revolution mit Leib und Seele verschrieben. Fanatisch, verblüffend, heroisch. »Allerdings hatten die Frauen«, sagte mir eine von ihnen, »auch eine persönliche Rechnung mit dem Oberst zu begleichen.«
Eine persönliche Rechnung ... Ich verstand die Bedeutung dieses Satzes nicht gleich. Hatte nicht das libysche Volk in seiner Gesamtheit nach den vier Jahrzehnten Diktatur eine gemeinsame Rechnung mit dem Despoten offen? Aufhebung der individuellen Rechte und Freiheiten, blutige Unterdrückung der Oppositionellen, Verfall des Gesundheitswesens und der Bildungseinrichtungen, katastrophaler Zustand der Infrastruktur, Verarmung der Bevölkerung, Zusammenbruch des kulturellen Lebens, Unterschlagung der Einnahmen aus der Ölförderung, Isolierung des Landes auf internationaler Ebene ... Warum diese »persönliche Rechnung« der Frauen? Hatte der Autor des Grünen Buches nicht unentwegt die Gleichheit von Mann und Frau proklamiert? Hatte er sich nicht systematisch als ihr konsequenter Verteidiger präsentiert? Das gesetzlich erlaubte Heiratsalter auf zwanzig Jahre erhöht, Polygamie und Missbräuche der patriarchalischen Gesellschaft verurteilt, einer geschiedenen Frau weit mehr Rechte zuerkannt als in vielen anderen muslimischen Ländern üblich, für interessierte Bewerberinnen aus der ganzen Welt eine Militärakademie für Frauen gegründet? »Nichts als Geschwätz, Heuchelei, Mummenschanz«, sagte mir eine namhafte Juristin später. »Wir alle waren potentiell seine Beute.«
Zu dieser Zeit begegnete ich Soraya. Unsere Wege kreuzten sich am Morgen des 29. Oktober. Ich war im Begriff, meine Recherche abzuschließen, wollte Tripolis tags darauf verlassen und via Tunesien nach Paris zurückfliegen. Ich tat es mit Bedauern. Sicher, meine erste Frage über die Beteiligung der Frauen an der Revolution war beantwortet, ich kehrte mit einer Fülle von Geschichten und ausführlichen Berichten zurück, die ein anschauliches Bild ihres Kampfes ergeben würden. Aber so viele Rätsel waren ungelöst geblieben! Die massenweise von Gaddafis Söldnern und hohen Militärs begangenen Vergewaltigungen waren ein unüberwindliches Tabu, über das Behörden, Familien und Frauenverbände feindselig schwiegen. Selbst der Internationale Strafgerichtshof stieß bei einer von ihm eingeleiteten Ermittlung auf die allergrößten Schwierigkeiten, mit Opfern zusammenzutreffen. Und was das in der Zeit vor der Revolution von den Frauen erfahrene Leid anging, davon sprach man, unter zahlreichen Seufzern und ausweichenden Blicken, nur in Form von Gerüchten. »Was bringt es, sich an so demütigende Praktiken und so unverzeihliche Verbrechen immer und immer wieder zu erinnern?«, sollte ich oft zu hören kriegen. Nie eine Aussage in der ersten Person. Nicht ein einziger Opferbericht, der den Führer in Frage stellte.
Und dann kam Soraya. Sie trug ein schwarzes Tuch, das eine zu einem Knoten geschlungene Masse dicker Haare umhüllte, eine große Sonnenbrille, eine locker ihre Gestalt umfließende weite Hose. Ihre vollen Lippen verliehen ihr eine gewisse Ähnlichkeit mit Angelina Jolie, und wenn sie lächelte, blitzte plötzlich ein Funken Kindheit in ihren Augen auf und erhellte ihr schon vom Leben gezeichnetes schönes Gesicht. »Wie alt schätzen Sie mich?«, fragte sie und nahm ihre Brille ab. Angstvoll wartete sie auf die Antwort, dann aber kam sie mir zuvor: »Ich fühle mich wie vierzig!« Was ihr sehr alt erschien. Sie war zweiundzwanzig.
Es war ein strahlend heller Tag im aufgewühlten Tripolis. Muammar Gaddafi war seit über einer Woche tot. Der Nationale Übergangsrat hatte offiziell die Befreiung des Landes verkündet. Und auf dem Grünen Platz, der nun wieder seinen ursprünglichen Namen Platz der Märtyrer trug, hatte sich am Abend zuvor erneut eine euphorische Menschenmenge versammelt, die in einem Konzert von Revolutionsgesängen und Salven aus Kalaschnikows immer wieder »Allah!« und »Libyen!« skandierte. Jedes Stadtviertel hatte ein Dromedar gekauft und vor einer Moschee geschlachtet, um es mit Flüchtlingen aus den vom Krieg verwüsteten Städten zu teilen. Man fühlte sich »eins« und miteinander »solidarisch« und »glücklich wie seit Menschengedenken nicht«. Auch sehr erschöpft, natürlich. Unfähig, am nächsten Tag zur Arbeit und zu einem normalen Lebensrhythmus zurückzukehren. Libyen ohne Gaddafi ... unvorstellbar.
Buntgeschmückte Autos mit wehenden Fahnen fuhren noch immer kreuz und quer durch die Stadt, über und über beladen mit Rebellen: auf der Motorhaube sitzend, dem Dach, in den Wagentüren stehend. Sie hupten, reckten jeder seine Waffe hoch wie eine treue Gefährtin, die man mitnimmt zum Fest, die es verdient, geehrt zu werden. »Allah Akbar!«, brüllten sie, hielten sich umschlungen, machten das V-Zeichen des Sieges, ein rot-schwarz-grünes Tuch in Piratenmanier um den Kopf gewunden oder als Binde um den Arm, und was machte es schon, dass nicht alle von ihnen von der ersten Stunde an oder mit dem gleichen Mut gekämpft hatten. Seit dem Fall von Sirte, der letzten Bastion des Führers, und seiner atemberaubend schnellen Hinrichtung erklärte jeder sich zum Rebellen.
Soraya beobachtete sie von weitem, und in ihrem Blick lag Trauer.
War es diese Atmosphäre lärmender Fröhlichkeit, die ihr Unbehagen, das sie seit dem Tod des Führers empfand, noch bitterer machte? War es die Glorifizierung der »Märtyrer« und der »Helden« der Revolution, die sie selbst auf ihren traurigen Status des geheimen, unerwünschten, schmachvollen Opfers verwies? Wurde ihr die Katastrophe ihres Lebens mit einem Mal in ihrem vollen Ausmaß bewusst? Sie hatte keine Worte dafür, sie konnte es nicht erklären. Sie spürte nur den brennenden Schmerz des Gefühls absoluter Ungerechtigkeit. Die Verzweiflung darüber, dass sie ihr Leid nicht ausdrücken, ihre Empörung nicht herausschreien konnte. Die panische Angst, dass ihr Unglück in Libyen unhörbar und folglich unerzählbar bleiben würde. Das durfte nicht sein. Das war unmoralisch.
Sie biss in ihren Schal und zog ihn nervös vor die untere Hälfte ihres Gesichts. Tränen schossen ihr in die Augen, die sie rasch wegwischte. »Muammar Gaddafi hat mein Leben zerstört.« Sie musste sprechen. Erinnerungen, zu schwer, um sie ertragen zu können, lasteten auf ihrem Gedächtnis. »Die Beschmutzung«, sagte sie, bereite ihr immer wieder Alpträume. »Was sollte ich auch erzählen, niemand wird jemals erfahren, woher ich komme, noch was ich erlebt habe. Niemand wird sich davon auch nur eine Vorstellung machen können. Niemand.« Sie schüttelte verzweifelt den Kopf. »Als ich Gaddafis Leichnam in der Öffentlichkeit ausgestellt sah, empfand ich eine kurze Freude. Dann aber spürte ich im Mund einen scheußlichen Geschmack. Ich hätte gewollt, dass er lebt. Dass er festgenommen und vor ein internationales Gericht gestellt worden wäre. Ich wollte Rechenschaft von ihm fordern.«
Denn Soraya war Opfer. Eines jener Opfer, von denen die libysche Gesellschaft nichts hören will. Jener Opfer, deren Schmach und Demütigung auf der ganzen Familie und darüber hinaus auf der gesamten Nation lastet. Jener so unliebsamen, störenden Opfer, die man einfacherweise gern zu Schuldigen erklären würde. Schuldig, Opfer geworden zu sein ... Das aber lehnte Soraya von der Höhe ihrer zweiundzwanzig Jahre mit aller Entschiedenheit ab. Sie träumte von Gerechtigkeit. Sie wollte als Zeugin aussagen. Was man ihr angetan hatte, ihr und all den anderen, erschien ihr weder harmlos noch verzeihlich. Ihre Geschichte? Sie wird sie selbst erzählen: die Geschichte einer gerade erst Fünfzehnjährigen, die Muammar Gaddafi bei einem Besuch ihrer Schule entdeckt und die schon tags darauf entführt wird, um mit einigen anderen die Sexsklavin des Diktators zu werden. Für mehrere Jahre in der befestigten Residenz von Bab al-Aziziya eingeschlossen, war sie dort geschlagen, vergewaltigt, allen Perversionen eines sexbesessenen Despoten ausgeliefert gewesen. Er hatte ihr ihre Jungfräulichkeit und ihre Jugend geraubt und ihr damit jede Möglichkeit auf eine achtbare Zukunft in der libyschen Gesellschaft genommen. Sie sollte es bald schmerzhaft erfahren. Nachdem ihre Familie sie anfänglich beweint und beklagt hatte, betrachtet sie sie heute als Schlampe. Als unrettbar verloren. Sie rauchte. Passte in keinen Rahmen mehr. Wusste nicht, wohin sie gehen sollte. Ich war entsetzt.
Erschüttert von Sorayas Schicksal bin ich nach Frankreich zurückgekehrt. Und auf einer Seite von Le Monde habe ich ihre Geschichte erzählt, ohne ihr Gesicht zu zeigen oder ihre Identität zu enthüllen. Viel zu gefährlich. Man hatte ihr ohnehin schon genug Leid angetan. Aber der Beitrag wurde übernommen und in der ganzen Welt übersetzt. Zum ersten Mal gelangte der Zeugenbericht einer der jungen Frauen aus Bab al-Aziziya, diesem geheimnisumgebenen Ort, an die Öffentlichkeit. Auf gaddafistischen Websites wurde ihm heftig widersprochen, voller Empörung darüber, dass er das Bild ihres Helden beschmutzte, von dem es doch hieß, dass er so viel getan hatte, um die Frauen zu »befreien«. Andere Stimmen, die sich gleichwohl keine Illusionen über die Sitten des Führers machten, fanden den Bericht so ungeheuerlich, dass sie ihn kaum glauben wollten. Die internationalen Medien versuchten Soraya ausfindig zu machen. Vergeblich.
Ich zweifelte keinen Augenblick an dem, was sie mir erzählt hatte. Denn bald kamen mir ganz ähnliche Geschichten zu Ohren, die mir bewiesen, dass es noch viele andere Sorayas gab. So erfuhr ich, dass Hunderte junger Frauen für eine Stunde, eine Nacht, eine Woche, ein Jahr oder länger entführt und, gewaltsam oder durch Erpressung, gezwungen worden waren, sich den sexuellen Phantasien und Begierden Gaddafis zu unterwerfen. Dass er über ein Netzwerk von Diplomaten, Militärs, Leibwächtern, Verwaltungsangestellten und Mitarbeitern seiner Protokollabteilung verfügte, deren wesentliche Aufgabe darin bestand, ihrem Herrn junge Frauen – oder auch junge Männer – für seinen täglichen Bedarf zuzuführen. Dass Familienväter und Ehemänner ihre Töchter und Frauen zu Hause einschlossen, um sie dem Blick und der Begehrlichkeit des Führers zu entziehen. Ich entdeckte, dass der in einer Familie armer Beduinen geborene Diktator mit dem Sex regierte, besessen von der Vorstellung, eines Tages auch die Frauen oder Töchter der Reichen und Mächtigen, seiner Minister und Generäle, die von Staatschefs und Souveränen zu beschlafen. Den Preis dafür wollte er bezahlen. Jedweden Preis. Da kannte er keine Grenze.
Aber darüber zu reden ist das neue Libyen nicht bereit. Tabu! Dabei zögert man keineswegs, Gaddafi zu belasten und zu fordern, dass die zweiundvierzig Jahre seiner absoluten Macht mit all ihren Schändlichkeiten ans Licht kommen. Man spricht von den Misshandlungen der politischen Gefangenen, den Ausschreitungen gegen Oppositionelle, der Folterung und Ermordung von Rebellen. Man wird nicht müde, seine Tyrannei und seine Korruption anzuklagen, seine Doppelzüngigkeit und seinen Wahnsinn, seine Manipulationen und seine Perversität. Und man fordert Entschädigung für alle seine Opfer. Aber von den Hunderten junger Mädchen, die er sich unterworfen und die er vergewaltigt hat, will man nichts hören. Sie sollten sich verkriechen oder, unter einem Schleier verborgen, ihren Schmerz zu einem Bündel geschnürt, ins Ausland gehen. Das Einfachste wäre, sie würden sterben. Manch einer der Männer in ihren Familien wäre schon bereit, das zu übernehmen.
Ich bin nach Libyen zurückgekehrt, um Soraya wiederzusehen. Ich habe noch weitere Schicksale zusammengetragen und versucht, das Netzwerk der dem Diktator hörigen Mittäter freizulegen. Eine Recherche unter Hochdruck. Noch haben Opfer und Zeugen Angst, das Thema überhaupt anzuschneiden. Manche haben Drohungen erhalten, es gab Einschüchterungsversuche. »In Ihrem eigenen Interesse und dem Libyens, lassen Sie diese Untersuchung sein!«, so haben mir viele Gesprächspartner geraten und sehr plötzlich aufgelegt. Und aus seinem Gefängnis in Misrata, wo er heute seine Tage mit Koranlektüre verbringt, schreit mir ein junger Bärtiger – der an dem Mädchenhandel beteiligt war – wütend entgegen: »Gaddafi ist tot! Tot! Warum wollt ihr seine skandalösen Geheimnisse noch ausgraben?« Der Minister für Verteidigung, Ussama al-Juili, ist auch nicht weit von dieser Auffassung entfernt: »Es ist eine Schande und eine nationale Demütigung. Wenn ich an die Schmach denke, die so vielen jungen Leuten, darunter auch Soldaten, angetan wurde, empfinde ich einen derartigen Ekel! Ich versichere Ihnen, am besten schweigt man darüber. Die Libyer fühlen sich kollektiv beschmutzt und wollen einen Schlussstrich unter dieses Kapitel ziehen.«
Ach ja? Es gibt also Verbrechen, die man anprangern, und andere, die man wie schmutzige kleine Geheimnisse unter den Teppich kehren sollte? Es gibt schöne und edle Opfer und andere, die schändlich sind? Solche, die man ehren, mit Gratifikationen versehen, entschädigen muss, und solche, unter deren Geschichte man schnellstens »einen Schlussstrich ziehen« sollte? Nein. Das ist inakzeptabel. Sorayas Geschichte ist kein anekdotisches Detail. Verbrechen gegenüber Frauen – leider begegnet man ihnen weltweit mit ziemlicher Großzügigkeit, ja Nachsicht – sind kein lässliches Thema. Sorayas Bericht ist mutig und sollte wie ein Dokument gelesen werden. Ich habe ihn unter ihrem Diktat geschrieben. Sie kann gut erzählen, und sie hat ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Und die Vorstellung, dass das, was sie erleben musste, in einer Verschwörung des Schweigens untergehen sollte, ist ihr unerträglich. Es wird vermutlich keinen Strafgerichtshof geben, der ihr eines Tages Gerechtigkeit widerfahren lässt. Vielleicht wird selbst Libyen niemals bereit sein, das Leid von Muammar Gaddafis »geraubten Mädchen« anzuerkennen. Aber wenigstens wird es ihr Zeugnis geben, um zu beweisen, dass, während Gaddafi in weltherrlicher Pose vor der UNO paradierte, während die anderen Nationen ihm den roten Teppich ausrollten und ihn mit Fanfarenklängen empfingen, während seine Amazonen mit Neugier, Faszination oder auch Heiterkeit beäugt wurden, derselbe Muammar Gaddafi in seiner weitläufigen Residenz von Bab al-Aziziya – vielmehr in deren feuchten Kellern – junge Mädchen gefangen hielt, die, als sie dort ankamen, noch Kinder waren.
Sorayas Bericht
Ich bin in Marag geboren, einer Ortschaft in der Region des Djabal Akhdar, des Grünen Berges, nicht weit von der ägyptischen Grenze. Am 17. Februar 1989. Ja, genau am 17. Februar! Welcher Libyer kennt heute nicht dieses Datum: An diesem Tag im Jahr 2011 begann die Revolution, die Gaddafi gestürzt hat. Ein Tag also, dazu bestimmt, unser Nationalfeiertag zu werden, und dieser Gedanke gefällt mir.
Drei Brüder waren vor mir geboren, zwei weitere und eine kleine Schwester sollten nach mir kommen. Aber ich war das erste Mädchen, und mein Vater war verrückt vor Freude. Er wollte eine Tochter. Er wollte eine Soraya. Schon lange vor seiner Heirat stellte er sich diesen Namen vor. Und er hat mir oft erzählt, wie gerührt er in dem Augenblick war, als er mich zum ersten Mal sah. »Du warst hübsch! So hübsch!«, sagte er immer wieder. Und so glücklich war er, dass er die Feier, die traditionell am siebten Tag nach der Geburt stattfindet, groß wie ein Hochzeitsfest aufzog. Das Haus war voller Gäste, von Musik erfüllt, es gab ein riesiges Buffet ... Er wollte alles für seine Tochter, die gleichen Chancen, die gleichen Rechte wie meine Brüder. Selbst heute noch sagt er, er habe davon geträumt, dass ich Ärztin werde. Und er hat mich auch gedrängt, mich an einem naturwissenschaftlich ausgerichteten Gymnasium anzumelden. Wenn mein Leben einen normalen Verlauf genommen hätte, hätte ich in der Tat vielleicht Medizin studiert. Wer weiß? Aber man erzähle mir nichts von Gleichberechtigung gegenüber meinen Brüdern. Das nun wieder auch nicht! Keine Frau in Libyen kann an dieses Märchen glauben. Man braucht sich bloß anzusehen, wie meine immerhin sehr moderne Mutter am Ende auf die meisten ihrer Träume hat verzichten müssen.
Und sie hatte sehr große Träume. Alle sind sie zerbrochen. Sie wurde in Marokko geboren, bei ihrer Großmutter, die sie über alles liebte. Aber ihre Eltern waren Tunesier. So wuchs sie mit vielen Freiheiten auf und durfte als junges Mädchen sogar für ein Praktikum in einem Frisiersalon nach Paris gehen. Ein Traum, nicht wahr? Dort hat sie auch Papa kennengelernt, bei einem großen Diner an einem Abend des Ramadan. Er war damals Angestellter der libyschen Botschaft, und auch er liebte Paris. Wie leicht, wie fröhlich war hier die Atmosphäre im Vergleich zum bedrückenden Klima in Libyen. Er hätte Sprachkurse bei der Alliance française belegen können, wie man ihm anbot, aber er war viel zu sorglos und ging lieber aus, bummelte durch die Stadt, kostete jede Minute Freiheit aus, sog sie in vollen Zügen ein. Heute bedauert er, nicht Französisch sprechen zu können. Das hätte unser Leben ganz gewiss verändert. Auf jeden Fall aber hat er sich, als er Mama kennenlernte, sehr bald entschieden. Er hat um ihre Hand angehalten, die Hochzeit fand in Fez statt, wo die Großmutter immer noch lebte, und dann kehrte er mit seiner jungen Frau stolz nach Libyen zurück.
Was für ein Schock für meine Mutter! Sie hätte es nie für möglich gehalten, eines Tages im Mittelalter leben zu müssen. Sie war so hübsch, so sehr darauf bedacht, immer modisch gekleidet zu sein, gut frisiert, sorgfältig geschminkt, und dann musste sie sich plötzlich in den traditionellen weißen Schleier hüllen und ihre Wege außer Haus auf ein Minimum reduzieren. Sie war wie ein Löwe im Käfig. Sie fühlte sich reingelegt, sie saß in der Falle. Das war nicht das Leben, das Papa ihr in Aussicht gestellt hatte. Er hatte von Reisen zwischen Frankreich und Libyen gesprochen, davon, dass sie ihre Arbeit mal in dem einen, mal im anderen Land würde ausüben können ... Und dann sah sie sich innerhalb weniger Tage in ein Beduinenland versetzt. Sie verfiel in eine Depression. Da hat Papa alles getan, damit die Familie nach Bengasi umziehen konnte, in die zweitgrößte Stadt Libyens, die im Osten des Landes gelegen ist. Eine Provinzstadt zwar, die aber immer als rebellisch im Verhältnis zur Machtmetropole Tripolis angesehen wurde. Nach Paris, wohin er noch häufig reiste, konnte er sie nicht mitnehmen, doch zumindest würde sie in einer großen Stadt leben, könnte den Schleier ablegen und sogar, in einem von der Familie betriebenen Frisiersalon, ihren Beruf ausüben. Als ob das ein Trost für sie gewesen wäre!
So war sie weiter sehr bedrückt und träumte von Paris. Uns Kindern erzählte sie von ihren Spaziergängen auf den Champs-Élysées und wie sie sich mit ihren Freundinnen auf den Caféterrassen zum Tee getroffen hatte, von den Freiheiten, die die Französinnen genossen, der sozialen Absicherung, den gewerkschaftlichen Rechten, den Kühnheiten der Presse. Paris, Paris, Paris ... Am Ende ging sie uns auf den Wecker damit. Mein Vater aber fühlte sich schuldig. So plante er, ein kleines Geschäft in Paris aufzuziehen, ein Restaurant im 15. Arrondissement, das Mama hätte führen können. Aber leider überwarf er sich bald mit seinem Kompagnon, und der Plan fiel ins Wasser. Beinahe hätte er auch eine Wohnung an der Défense gekauft, die kostete 25 000 Dollar. Er hat es damals nicht gewagt, und heute bedauert er es. Meine ersten Erinnerungen an die Schulzeit sind also mit Bengasi verbunden. Sie sind schon ein bisschen verschwommen, aber ich weiß noch, dass es sehr lustig war. Die Schule nannte sich »Die kleinen Löwen der Revolution«, und wir waren dort fünf unzertrennliche Freundinnen. Ich galt als der Clown in der Gruppe, und meine Spezialität war es, die Lehrer nachzuäffen, sobald sie die Klasse verlassen hatten, oder auch den Schuldirektor. Ich glaube, ich habe ein gewisses Talent, die besonderen Allüren und die Mimik eines Menschen zu erfassen. Wir lachten jedenfalls alle Tränen. Ich war schlecht in Mathe, aber in Arabisch die Beste.
Papa verdiente nicht viel. Und so wurde Mamas Arbeit unerlässlich. Auf ihren Schultern ruhte sogar bald das gesamte Einkommen der Familie. Sie ackerte Tag und Nacht und hoffte noch immer, irgendetwas möchte geschehen, das uns aus Libyen herausbrächte. Ich wusste, dass sie anders war als die anderen Mütter, und manchmal nannte man mich verächtlich die »Tochter der Tunesierin«. Das kränkte mich. Die Tunesierinnen galten als modern, emanzipiert, und in Bengasi, glauben Sie mir, waren das nicht gerade Vorzüge. Dumm, wie ich war, hat mich das sehr geärgert. Fast habe ich es meinem Vater verübelt, dass er kein Mädchen aus unserem Land zur Frau genommen hatte. Wozu musste er eine Ausländerin heiraten? Hatte er nicht an seine Kinder gedacht? ... Mein Gott, war ich blöd!
In dem Jahr, als ich elf wurde, verkündete Papa, dass wir nach Sirte ziehen würden, eine Stadt zwischen Bengasi und Tripolis, ebenfalls an der Mittelmeerküste gelegen. Er wollte zurück in die Heimat seiner Familie, seines Vaters – eines sehr traditionsbewussten Mannes, der vier Frauen hatte –, seiner Brüder und Cousins. So ist das in Libyen. Alle Familien versuchen, sich um einen festen Kern herum zu scharen, der ihnen, so meinen sie, Kraft und bedingungslose Unterstützung gibt. In Bengasi waren wir ohne Wurzeln, ohne Verbindungen, wir waren wie Waisen. Jedenfalls hat Papa uns das so erklärt. Aber für mich war diese Nachricht die reinste Katastrophe. Ich sollte meine Schule verlassen? Meine Freundinnen? Was für ein Drama! Ich wurde krank darüber. Richtig krank. Lag zwei Wochen im Bett, unfähig aufzustehen und in die neue Schule zu gehen.
Und schließlich bin ich doch gegangen. Mit bleischweren Füßen. Ich begriff sehr bald, dass ich hier nicht glücklich werden würde. Man muss dazu wissen, dass wir ja in die Geburtsstadt von Gaddafi kamen. Von seiner Person habe ich noch gar nicht gesprochen, er war überhaupt kein Thema bei uns zu Hause. Mama hasste ihn ganz entschieden. Sobald er auf dem Bildschirm erschien, schaltete sie um. Sie nannte ihn »Zottelbirne« und wiederholte kopfschüttelnd: »Also wirklich, kann ein Kerl, der so aussieht, Präsident sein?« Papa hatte, glaube ich, Angst vor ihm und hielt sich zurück. Wir spürten alle, je weniger wir von ihm sprachen, desto besser war es, die geringste Äußerung außerhalb der Familie konnte aufgeschnappt und weitergetragen werden und uns großen Ärger einbringen. Kein Porträt von ihm im Haus, und schon gar keine politische Betätigung. Sagen wir, wir waren instinktiv alle auf der Hut.
In der Schule dagegen herrschte die reinste Anbetung. Sein Bild war allgegenwärtig. Jeden Morgen sangen wir die Nationalhymne vor seinem an die grüne Fahne gehefteten Riesenposter, wir riefen: »Du bist unser Führer, wir folgen dir, blablabla«; im Klassenzimmer oder in der Pause amüsierten wir Schüler uns mit »mein Cousin Muammar«, »mein Onkelchen Muammar«, aber die Lehrer sprachen von ihm wie von einem Halbgott. Nein, einem Gott. Er war gütig, er wachte über seine Kinder, er hatte jede Macht. Wir mussten ihn alle »Papa Muammar« nennen. Er erschien uns von riesiger Statur.
Aber der Umzug nach Sirte, um näher an der Familie dran zu sein und stärker integriert in eine Gemeinschaft, hat uns nichts gebracht. Die Leute in Sirte bildeten sich dermaßen viel auf ihre Verwandtschaft oder doch die Nähe zu Gaddafi ein, dass sie sich als die Herren der Welt fühlten. Aristokraten sozusagen, die bei Hofe verkehrten, im Unterschied zum Pöbel und den Provinzeiern aus den anderen Städten. Ihr seid aus Zliten? Grotesk! Aus Bengasi? Lächerlich. Aus Tunesien? O Schande! Und besonders Mama – was auch immer sie tat, war ein Grund, sie zu schmähen. Und als sie im Stadtzentrum, nicht weit von unserem Wohnhaus in der Dubai-Straße, einen schicken Salon eröffnete, in dem sich bald die feinen Damen von Sirte drängten, verachtete man sie erst recht. Talent allerdings gestand man ihr zu. Alle Welt anerkannte ihr Geschick, die schönsten Frisuren der Stadt zu machen sowie traumhafte Make-ups. Ich bin sogar sicher, dass man sie beneidete. Aber Sie ahnen ja nicht, wie sehr Sirte von der Tradition und der Prüderie geprägt ist. Eine nicht verschleierte Frau kann auf offener Straße beschimpft werden. Und selbst mit Schleier macht sie sich verdächtig. Was, zum Teufel, hat sie draußen zu suchen? Ist sie vielleicht auf Abenteuer aus? Oder hat sie etwa ein Verhältnis? Die Leute spionieren sich gegenseitig hinterher, Nachbarn beobachten, wer im Haus gegenüber ein und aus geht, die Familien beargwöhnen sich untereinander, die eigenen Töchter beschützt man, über die anderen tratscht man. Die Gerüchteküche ruht nie.
In der Schule hatte ich doppelt zu leiden. Nicht nur war ich »die Tochter der Tunesierin«, sondern außerdem noch »das Mädchen aus dem Frisiersalon«. Ich musste ganz allein auf einer Bank sitzen, immer abseits von den anderen. Ich habe nie wieder eine libysche Freundin gefunden. Ein wenig später habe ich mich zum Glück mit der Tochter eines Libyers und einer Palästinenserin angefreundet. Dann mit einer Marokkanerin. Danach mit der Tochter eines Libyers und einer Ägypterin. Aber nie mit Mädchen aus der Gegend. Einmal habe ich gelogen und gesagt, meine Mutter sei Marokkanerin, weil mir das weniger schlimm erschien als Tunesierin. Aber es war viel schlimmer. Also spielte sich mein Leben im Wesentlichen im Frisiersalon ab. Der wurde zu meinem Reich.
Gleich nach Schulschluss lief ich hin. Und dort lebte ich auf. Was für einen Spaß ich hatte! Einmal, weil ich Mama helfen konnte, und das war ein wunderschönes Gefühl. Und dann, weil diese Arbeit mir gefiel. Meine Mutter hatte alle Hände voll zu tun und rannte von einer Kundin zur anderen, selbst bei den vier Angestellten, die sie hatte. Wir machten Frisuren, Gesichtspflege und Make-up. Und ich sage Ihnen, mögen die Frauen in Sirte sich noch so sehr mit ihren Schleiern verhüllen, sie sind trotzdem unglaublich anspruchsvoll und kokett. Meine Aufgabe war das Epilieren des Gesichts und der Augenbrauen mit einem Seidenfaden, ja, einem einfachen Faden, den ich durch meine Fingern schlang und sehr schnell spannte, um jedes einzelne Haar zu erwischen. Viel besser als Pinzette oder Wachs. Ich bereitete auch die Gesichtshaut für das Schminken vor, trug das Makeup auf, dann übernahm meine Mutter und machte sich an die Augen, bis sie schließlich rief: »Soraya! Den Schlussstrich!« Dann kam ich und legte Lippenstift auf, kontrollierte alles noch einmal und fügte einen Hauch Parfum hinzu.
Der Salon wurde sehr bald der Treffpunkt der weiblichen Schickeria der Stadt. Und damit auch des Gaddafi-Clans. Wenn in Sirte große internationale Gipfeltreffen stattfanden, kamen die Frauen der einzelnen Delegationen und ließen sich hübsch machen, die afrikanischen Präsidentengattinnen, die Ehefrauen der europäischen und der amerikanischen Staatsoberhäupter. Komisch, ich erinnere mich ausgerechnet an den Staatschef von Nikaragua, der wünschte, wir sollten ihm die Augen riesengroß schminken ... Eines Tages kam Judia, die Protokollchefin der Gattin des Führers, um Mama im Auto abzuholen, sie sollte ihre Herrin frisieren und schminken. Der Beweis, welchen Ruf sich Mama erworben hatte! Also ist sie mitgegangen, hat sich mehrere Stunden mit Safia Farkash beschäftigt, wurde aber mit einer lächerlichen Summe abgespeist, weit unterhalb des üblichen Honorars. Sie war wütend darüber und fühlte sich gedemütigt. Als Judia später noch einmal kam, um sie abzuholen, hat sie unter dem Vorwand, dass sie zu viel Arbeit habe, rundweg abgelehnt. Und wieder andere Male hat sie sich sogar versteckt und mich vorgeschickt, die ihr erklären sollte, sie sei nicht da. Ja, meine Mutter hat Charakter. Sie hat immer Rückgrat bewiesen.
Die Frauen der Gaddafi-Sippe waren meist sehr unsympathisch. Wenn ich auf eine von ihnen zuging und sie fragte, ob sie einen Haarschnitt oder eine Koloration wünschte, entgegnete sie mir verächtlich: »Wer bist du eigentlich, dass du mich ansprichst?« An einem Morgen kam eine dieser Frauen in den Salon, sehr elegant, einfach prachtvoll anzuschauen. Ich war ganz fasziniert von ihrem Gesicht. »Wie schön Sie sind!«, sagte ich unwillkürlich. Da hat sie mich geohrfeigt. Wie erstarrt lief ich zu Mama, die zwischen den Zähnen murmelte: »Halt den Mund. Die Kundin hat immer recht.« Drei Monate später sah ich voller Angst dieselbe Dame wieder den Salon betreten. Sie kam auf mich zu, sagte mir, dass ihre Tochter, die in meinem Alter gewesen sei, vor kurzem an Krebs gestorben sei, und bat mich um Verzeihung. Das war noch unerhörter als ihre Ohrfeige.
Ein andermal hatte eine angehende Braut den ganzen Salon reservieren lassen für eine Schönheitsbehandlung am Tag ihrer Hochzeit. Sie hatte eine kleine Anzahlung geleistet, dann aber hat sie abgesagt. Als Mama es ablehnte, ihr die Summe wieder auszuzahlen, wurde sie zur Furie. Sie schrie herum, zerschlug alles, was sie in die Finger bekam, informierte dann den Gaddafi-Clan, der mit einem Großaufgebot anrückte und den Salon verwüstete. Einer meiner Brüder eilte zu Hilfe und wurde zusammengeschlagen. Als die Polizei eintraf, war es mein Bruder, der verhaftet und ins Gefängnis geworfen wurde. Die Gaddafis haben alles getan, damit er dort so lange wie möglich blieb, und es brauchte lange Verhandlungen unter den einzelnen Stämmen, bis eine Übereinkunft zustande kam, gefolgt von einer Art Begnadigung. Nach sechs Monaten kam er heraus, mit geschorenem Schädel und den Körper voller blauer Male. Man hatte ihn gefoltert. Und trotz dieser Stammesübereinkunft haben die Gaddafis, die in allen Institutionen von Sirte saßen, einschließlich dem Rathaus, auch noch durchgesetzt, dass der Salon für einen weiteren Monat geschlossen blieb. Ich war empört.
Mein ältester Bruder, Nasser, machte mir immer ein wenig Angst, und er benahm sich mir gegenüber sehr autoritär. Aber Aziz, der im Jahr vor mir geboren wurde, war wie mein Zwilling, ein echter Kumpel. Da wir in dieselbe Schule gingen, war er wie ein Beschützer für mich, allerdings ein eifersüchtiger Beschützer. Und ich diente ihm als Botengängerin, wenn er einen Schwarm hatte. Ich selbst dachte nicht an Liebe, wirklich überhaupt nicht. Ich war total ahnungslos. Ein unbeschriebenes Blatt. Vielleicht habe ich mir da sogar selber ein Verbot auferlegt, denn ich wusste ja, wie streng meine Mutter war. Keine Ahnung. Ich hatte nicht einen einzigen Verehrer. Ich kannte keine Schmetterlinge im Bauch. Ich habe nicht mal von Liebe geträumt. Ich glaube, ich werde mein Leben lang bedauern, dass ich nie eine Jugendliebe hatte. Ich wusste, dass ich eines Tages heiraten würde, das war das Schicksal der Frauen, und dass ich mich dann schminken und schön machen müsste für meinen Mann. Aber etwas anderes wusste ich nicht. Weder über meinen Körper noch über Sexualität. Ich bin in Panik geraten, als ich meine Regel bekam! Ich bin zu meiner Mutter gerannt, die mir nie etwas erklärt hatte. Und wie habe ich mich geschämt, wenn im Fernsehen eine Werbung für Damenbinden kam! Wie verlegen war ich plötzlich, wenn ich solche Bilder in Gegenwart der Jungen der Familie sah ... Ich erinnere mich, dass Mama und meine Tanten zu mir sagten: »Wenn du achtzehn bist, werden wir dir einiges erzählen.« Was, einiges? »Das Leben.« Sie haben keine Zeit mehr dazu gehabt. Muammar al-Gaddafi kam ihnen zuvor. Und hat mich zerbrochen.
*
An einem Aprilmorgen im Jahr 2004 – ich war gerade fünfzehn geworden – wandte sich der Direktor des Gymnasiums an alle im Hof versammelten Schülerinnen: »Der Führer erweist uns die große Ehre, uns morgen zu besuchen. Das ist eine Freude für die ganze Schule. Ich zähle also auf euch, dass ihr pünktlich seid, diszipliniert und tadellos gekleidet. Ihr sollt ihm das Bild einer wundervollen Schule geben, wie er sie liebt und verdient!« Was für eine Nachricht! Was für eine großartige Neuigkeit! Sie können sich unsere Aufregung nicht vorstellen. Gaddafi leibhaftig vor uns zu sehen ... Sein Bild begleitete mich, seit ich auf der Welt bin. Seine Fotos waren überall, auf den Mauern der Stadt, den Wänden der Verwaltungsgebäude, der öffentlichen Säle, der Geschäfte. Auf T-Shirts, Halsketten, Schulheften. Von den Geldscheinen gar nicht zu reden. Wir lebten pausenlos unter seinem Blick. In seinem Kult. Und trotz Mamas bitterböser Bemerkungen empfand ich für ihn eine furchtsame Verehrung. Sein Leben konnte ich mir nicht vorstellen, denn ich ordnete ihn gar nicht unter die Menschenwesen ein. Er stand über allen Dingen, er lebte auf einem unerreichbaren Olymp, in der absoluten Reinheit.
Am nächsten Morgen rannte ich in frisch gewaschener und gebügelter Schulkleidung – schwarze Hose und Tunika, weißer Schal, der das Gesicht fest umschloss – zur Schule und wartete ungeduldig darauf, dass man uns den Tagesablauf erklären würde. Aber kaum hatte die erste Stunde begonnen, als ein Lehrer mich holen kam und mir sagte, ich sei auserwählt worden, dem Führer Blumen und Geschenke zu überreichen. Ich! Das Mädchen aus dem »Salon«! Die Schülerin, die man immer abseits setzte! Ein Schock, sage ich Ihnen! Erst mal habe ich ungläubig die Augen aufgerissen, dann bin ich strahlend aufgestanden in dem Bewusstsein, dass ich sehr viele Neider in der Klasse zurückließ. Man führte mich in einen großen Raum, wo ich noch andere, gleichfalls ausgewählte Schülerinnen traf, man wies uns an, uns sehr schnell umzuziehen und das traditionelle libysche Gewand überzustreifen. Die Sachen hingen schon auf Kleiderbügeln für uns parat. In Rot. Tunika, Hose, Schleier und ein kleines Hütchen, das man aufs Haar setzte. Wie aufregend das alles war! Wir drängelten uns lachend, unterstützt von Lehrerinnen, die uns die Schleier richteten, hier und da eine Nadel reinsteckten, einen Fön zur Hand nahmen, um widerspenstige Haare zu glätten. Ich fragte: »Sagen Sie mir bloß, ich flehe Sie an, wie soll ich ihn begrüßen? Was muss ich tun? Muss ich niederknien? Ihm die Hand küssen? Etwas aufsagen?« Mein Herz schlug wie wild, während alle um uns herum damit beschäftigt waren, uns wunderschön aussehen zu lassen. Wenn ich heute an diese Szene zurückdenke, sehe ich in ihr die Vorbereitung der Lämmer, die man zum Opferaltar führt.
Der Festsaal der Schule war bis auf den letzten Platz gefüllt. Lehrer, Schüler, Verwaltungspersonal, alles war in nervöser Erwartung. Die kleine Gruppe der Mädchen, die für seinen Empfang ausgewählt waren, hatte man vor der Eingangstür postiert, und wir warfen uns komplizenhafte Blicke zu, die besagen wollten: ›Mensch, haben wir ein Glück! Unser ganzes Leben werden wir uns an diesen Augenblick erinnern!‹ Ich klammerte mich an meinen Blumenstrauß und zitterte wie Espenlaub. Meine Beine erschienen mir wie aus Watte. Ein Lehrer warf mir einen strengen Blick zu: »Reiß dich zusammen, Soraya!«
Und plötzlich erschien er. In einem Blitzlichtgewitter und umgeben von einem Schwarm von Leuten und den Frauen seiner Leibgarde. Er trug ein weißes Gewand, die Brust voller Orden und Ehrenzeichen, über den Schultern einen beigefarbenen Schal und in der gleichen Farbe eine Kappe auf seinem Kopf, unter der tiefschwarze Haare hervorquollen. Es ging alles sehr schnell. Ich reichte ihm mein Bukett, dann nahm ich seine freie Hand in meine Hände und küsste sie, mich verneigend. Ich spürte, wie er meine Handfläche merkwürdig fest zusammendrückte. Dann maß er mich mit kaltem Blick von oben bis unten. Er presste meine Schulter, legte mir eine Hand auf den Kopf und streichelte mir das Haar. In dem Moment ging mein Leben zu Ende. Denn diese Geste, so erfuhr ich später, war das Zeichen, das seiner Leibgarde bedeutete: »Die will ich.«
Doch für den Augenblick schwebte ich auf einer kleinen Wolke. Und kaum war der Besuch vorbei, flog ich mehr als ich lief zum Frisiersalon, um meiner Mutter von dem Ereignis zu erzählen. »Papa Muammar hat mich angelächelt, Mama. Ich schwör’s dir! Er hat mir den Kopf gestreichelt!« In Wahrheit erinnerte ich mich eher an ein eisiges Grinsen, aber mein Herz jubelte, und ich wollte, dass alle Welt es erfuhr. »Mach doch nicht solchen Wind darum!«, gab Mama nur von sich und zog weiter die Wickler aus den Haaren einer Kundin.
»Aber Mama! Er ist das Oberhaupt von Libyen! Das ist doch nicht irgendwer!«
»Ach, wirklich? Er hat dieses Land ins Mittelalter zurückgeworfen, er reißt sein Volk in den Abgrund! Und du nennst ihn Oberhaupt!«
Ich war enttäuscht und lief nach Hause, um meine Freude ganz allein für mich zu genießen. Papa war in Tripolis, aber meine Brüder schienen mir schon ein bisschen beeindruckt. Außer Aziz, dem Gaddafis Gesicht nicht gefiel.
Als ich am nächsten Morgen zur Schule kam, bemerkte ich eine radikale Veränderung im Verhalten der Lehrer mir gegenüber. Für gewöhnlich waren sie sehr schroff, ja verächtlich zu mir. Und auf einmal waren sie beinahe zartfühlend, oder sagen wir: aufmerksam. Schon als einer mich »Kleine Soraya« nannte, hob ich verwundert eine Augenbraue. Und als ein anderer mich fragte: »Und, kommst du weiter zum Unterricht?«, als ob ich das entscheiden könnte, habe ich mir gesagt, das ist doch wohl nicht normal. Aber immerhin, es war der Tag nach einem Fest, und ich habe nicht weiter darüber nachgedacht. Nach Unterrichtsschluss, um 13 Uhr, bin ich nach Hause geflitzt, um mich umzuziehen, und um 13 Uhr 30 war ich im Salon, um Mama zu helfen.
Um 15 Uhr ging die Tür auf, und die Frauen von Gaddafi kamen herein. Faiza als Erste, danach Salma und schließlich Mabruka. Salma war in ihrer Leibwächteruniform gekommen, einen Revolver am Gürtel. Die beiden anderen trugen klassische Gewänder. Sie sahen sich um – es war ein Tag mit viel Kundschaft –, fragten eine der Angestellten: »Wer von Ihnen ist Sorayas Mutter?« und gingen geradewegs auf sie zu.
»Wir gehören zum Revolutionskomitee und waren dabei, als Muammar gestern Morgen die Schule besucht hat. Soraya fiel auf, sie sah bezaubernd aus in ihrem traditionellen Gewand und hat ihre Aufgabe sehr gut gemacht. Wir möchten, dass sie Muammar erneut einen Strauß überreicht. Dazu müsste sie jetzt gleich mitkommen.«
»Der Augenblick ist nicht sehr günstig! Sie sehen, der Salon ist voll. Ich brauche meine Tochter hier!«
»Es wird nicht länger als eine Stunde dauern.«
»Und sie soll nur Blumen überreichen?«
»Es könnte sein, dass sie auch noch einigen Frauen ein Make-up machen muss.«
»Das ist was anderes. Aber dann gehe ich!«