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Alle deutschen Rechte bei CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2016

Originalcopyright © 2015 by Natasha Farrant

Originalverlag: Faber and Faber Ltd.

Originaltitel: All About Pumpkin

Umschlagfotografien: shutterstock: NSC Photography (Zaun); Sukpaiboonwat (Baum); jakkapan (Fahrrad); M. Unal Ozmen (Stuhl); Butterfly Hunter (Schmetterlinge)

Umschlaggestaltung und -typografie: formlabor

Aus dem Englischen von Annette von der Weppen

Lektorat: Franziska Leuchtenberger

Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN: 978-3-646-92852-5

Für Alice, Elfie und Holly

Bestehend aus einer Kombination von herkömmlichen Tagebucheinträgen und den Transkriptionen von Kurzfilmen; aufgenommen von der Verfasserin mit der Kamera, die sie zum dreizehnten Geburtstag bekommen hat, beginnend am Ende des Sommers.

Die Filmtagebücher der Bluebell Gadsby

1. Szene (Transkript)
Ankunft

Der Bahnhof von Plumpton. Ein einzelnes Gleis, ein alter steinerner Bahnsteig, eine Bank, ein flaches weißes Gebäude, das einen Fahrkartenschalter (leer), Toiletten (geschlossen) und einen Kaffee-/Zeitungs-/Süßwarenladen (ebenfalls geschlossen) beherbergt. Auf der Schienen-Seite: von wildem Kerbel und Brombeergestrüpp überwucherte Hecken. Auf der Plumpton-Seite: eine Straße, die in einer Richtung in die Stadt hinein- und in der anderen in die Landschaft von Devon hinausführt. Der Parkplatz, der hauptsächlich aus Schlaglöchern besteht, ist leer. Die ganze Szene brütet in der Nachmittagssonne.

Zwei Kinder sitzen im Schatten des Bahnhofsgebäudes. JASMINE (zehn Jahre alt, lange, verfilzte, schwarze Haare, glitzernde Flipflops, nicht sehr sauberes Kleid) hockt auf ihrem Koffer, isst Schokoladenkekse und schaut finster drein. TWIG (zwölf Jahre alt, mager, braunes Haar, das ihm in die Augen fällt) sitzt auf dem Boden und liest Victor Hugos eintausenddreihundertsechsundsiebzigseitigen Roman Les Misérables. Er formt die Worte mit den Lippen, während sein Blick ihnen über die Seiten folgt. Ihre Schwester BLUEBELL (alias KAMERAMANN, vierzehn) steht außerhalb des Bildes, hinter der Kamera, mit der sie ihre Geschwister filmt. Sie trägt abgeschnittene Jeansshorts, ein lila T-Shirt, verblichene grüne Turnschuhe und eine Hornbrille. Das lange braune Haar ist zu zwei ordentlichen Zöpfen geflochten, die ihr bis über die Schultern hängen.

Sie warten auf ihre Großmutter.

JASMINE, zum KAMERAMANN

Versuch noch mal sie anzurufen.

KAMERAMANN (BLUEBELL)

Ich habe doch gesagt, hier gibt es kein Netz.
Hier gibt es nie Netz. Sie steht bestimmt nur irgendwo im Stau.

TWIG

Seit über einer Stunde?

JASMINE

Und wenn sie gar nicht mehr kommt?
Wenn sie einen Unfall hatte und gestorben ist?

TWIG

Dann fahren wir mit dem nächsten Zug nach
Hause.

JASMINE

(ohne auf ihn zu achten)

Was würden wir bloß machen, wenn wir kein Handy hätten? Dann säßen wir hier für alle Zeiten fest!

KAMERAMANN

(in leicht tadelndem Ton)

Wenn Grandma sterben würde, wäre das auch sehr,
sehr traurig.

TWIG

Und ein bisschen unsere Schuld, weil sie ja nur losgefahren ist, um uns hier abzuholen.

JASMINE

Dabei will ich doch noch nicht mal hier sein!

Ihr Gezeter wird von dem Geräusch eines herannahenden Motors unterbrochen. Ein Landrover (so ein richtig alter, wie man sie manchmal noch in Filmen sieht) hoppelt durch die Schlaglöcher auf die Kinder zu und wird kurz vor ihnen abgewürgt. Grandma winkt fröhlich durchs offene Fenster.

Samstag, 19. Juli

Eigentlich sollten wir zu viert mit Mum und im Auto nach Devon fahren, aber dann hat Twig das Baby auf den Kopf fallen lassen.

Er hat bloß versucht Pumpkin aus seinem Gitterbett zu nehmen, weil er geweint hat, aber Pumpkin kann ganz schön zappelig sein. Es war kein schlimmer Sturz. Er ist nur einmal kurz auf die Matratze getitscht, aber dann hat er ewig gebrüllt, und es war fünf Uhr morgens, und Mum war noch müder als sonst, weil Zoran noch mal mit Gloria zum Abendessen da gewesen war, bevor er nach Bosnien gefahren ist, um seine Schwester zu besuchen, und sie sind ewig lange geblieben.

»Ich wollte dir helfen«, erklärte Twig, als Mum in Pumpkins Zimmer gewankt kam, um nachzusehen, was all der Lärm zu bedeuten hatte, aber sie sagte nur, er soll wieder ins Bett gehen.

»Ich habe eine fürchterliche Nacht hinter mir«, hat sie heute Morgen am Telefon zu Grandma gesagt. »Ich bin völlig am Ende und in dem Zustand sollte ich lieber kein Auto fahren. Ich fürchte, wir kommen hier erst weg, wenn ich noch mal eine Runde geschlafen habe.«

Grandma, die ziemlich taktlos sein kann und immer dermaßen laut ins Telefon schreit, dass alle mithören können, brüllte: »ALSO WIRKLICH, CASSIE, ICH HÄTTE GEDACHT, DASS DU DIE SACHE BEIM SECHSTEN BABY ALLMÄHLICH IM GRIFF HAST!«, und Mum legte auf und rief Dad an seinem Filmset in Neuseeland an.

»Wir fangen jeden Moment an zu drehen«, sagte er.

»Ist mir egal«, sagte sie.

Sie wedelte uns aus dem Zimmer. Wir lauschten an der Tür, konnten aber nichts verstehen, außer als Mum irgendwann schrie: »Was glaubst du wohl, warum ich müde bin, David? Ich muss mich hier ganz allein um vier Kinder kümmern, von denen eines nie länger als zwei Stunden am Stück schläft, während die anderen ständig versuchen es umzubringen!«

Jas und ich schauten Twig an.

»Ich wollte doch nur helfen«, wiederholte er.

»Es ist mir egal, ob das deiner Mutter seit ihrem Sturz zu viel wird«, brüllte Mum jetzt gerade. »Wenn sie nicht mit drei verantwortungsvollen Kindern fertig wird, ohne dass ich dabei bin, dann bleiben sie eben hier. Ich kann mich jedenfalls nicht um drei Kinder, ein Baby und eine alte Dame kümmern.«

»Ist Grandma die alte Dame?«, flüsterte Twig.

»Ich glaub schon«, sagte ich.

»Und wir sind die verantwortungsvollen Kinder?«

»Du nicht«, sagte Jas. »Du bist ein Baby-Fallenlasser.«

»Schsch«, sagte ich. »Ich glaube, Mum weint.«

Und dann sprangen wir alle auf und taten so, als hätten wir gerade etwas sehr Wichtiges im Flur zu tun, weil Mum plötzlich aus ihrem Zimmer kam. Sie schniefte ein bisschen und sagte, wenn wir uns beeilten, könnten wir noch den 10.46 ab Paddington erwischen.

»Ich dachte, wir fahren mit dem Auto«, sagte Twig.

»Ich komme nicht mit nach Devon.« Mum konnte uns nicht richtig anschauen, als sie das sagte, aber ich sah trotzdem, dass ihre Augen gerötet waren. »Tut mir leid. Ist nur für kurze Zeit.«

»Und was ist mit Pumpkin?«, rief Jas.

»Der bleibt auch mit mir in London.« Mum lächelte wie jemand, der inständig hofft, dass es kein Theater geben wird.

»Wie lange denn?«, fragte Twig.

»Ein, zwei Wochen.« Sie konnte uns immer noch nicht ansehen. »Vielleicht auch drei. Tut mir leid, meine Süßen. Stellt euch einfach vor, es wäre wie all die anderen Jahre. Da seid ihr auch immer allein zu Grandma gefahren.«

»Das sind meine ersten Sommerferien mit einem kleinen Bruder«, verkündete Jas. »Wenn Pumpkin hierbleibt, bleibe ich auch.«

Mum schloss die Augen und sagte sehr ruhig, »Ihr fahrt alle drei nach Devon.«

Jas jammerte auf dem ganzen Weg bis zum Bahnhof Paddington, aber das änderte nichts, nicht mal, als sie anfing zu weinen.

»Seid lieb zu eurer Großmutter«, sagte Mum. »Ich komme euch bald besuchen.«

Es stimmt nicht, dass wir immer schon allein nach Devon gefahren sind. Bevor Iris gestorben ist, waren Mum und Dad auch immer mit dabei. Dieses Jahr sollte das erste sein, in dem Mum endlich mal wieder mitkommt, und eigentlich wollte sie auch den ganzen Sommer bleiben, weil sie noch bis September Mutterschaftsurlaub hat.

Sie schien erleichtert, als der Zug den Bahnhof verließ. Wir haben es alle gesehen. Die Zugtüren schlossen sich, sie hielt Pumpkin hoch, winkte uns mit seiner kleinen Hand zu, und dann entspannte sich ihr ganzer Körper und sie vergrub ihr Gesicht in seinem Nacken.

»Das ist alles deine Schuld«, fuhr Jas Twig an.

»DAS WAR DOCH KEINE ABSICHT!«, röhrte er.

»Seid jetzt mal still«, sagte ich.

»Du kannst uns gar nichts befehlen«, ließ Jas mich wissen.

»Kann ich wohl, ich bin schließlich die Älteste.«

»Bist du nicht«, hielt Twig mir entgegen.

»Doch, jedenfalls so lange, wie Flora noch mit Dad in Neuseeland ist«, sagte ich und dann schwiegen alle beleidigt.

Grandmas Landrover hat vorne Platz für drei und hinten zwei gegenüberliegende Bänke. Früher war er mal blau, aber über die Jahre ist das zu einem dunklen Grau verblichen. Der Motor macht so ein schepperndes Geräusch, als würde er jeden Moment den Geist aufgeben, die Türen kann man nicht mehr abschließen und das Dach hat ein Loch, aber Grandma hängt an ihm. Vor vielen Jahren, als sie und Grandpa noch Hunde und manchmal auch Schafe hatten, haben sie ein Hundegitter eingebaut, das den vorderen vom hinteren Teil trennt, und das haben sie dann einfach dringelassen. Mit dem Ergebnis, dass jeder, der hinten einsteigt, sich fast wie ein Tier vorkommt, erst recht, weil Grandma sich nie die Mühe gemacht hat, da hinten mal aufzuräumen. Bis heute fliegen da noch mehrere Hundedecken, ein Trinknapf aus Edelstahl, mindestens vier Hundeleinen und ziemlich viel Stroh herum.

Als wir klein waren, haben wir uns immer auf dem Boden zusammengerollt und gespielt, dass wir Welpen sind.

»Steigt ein, steigt ein!«, rief Grandma. »Die Sonne scheint und der Garten wartet!«

»Du bist zu spät«, verkündete Jas, während sie auf die Rückbank kletterte.

»Nur ein paar Minuten!«, trällerte Grandma.

Ȇber eine Stunde

»SOLLEN WIR QUERFELDEIN FAHREN?« Grandma wartete keine Antwort ab, sondern bog mit einem plötzlichen Ruck von der Landstraße in einen Feldweg ein.

Während wir so durch die Landschaft holperten, mit weit geöffneten Fenstern, blühenden Hecken am Wegrand, dem strahlend blauen Himmel über uns und dem Wind, der durch mein Haar peitschte, habe ich einen Moment lang fast alles vergessen: Mum, die nicht mitgekommen war, und Pumpkin, und Iris. Dann war der Weg zu Ende und wir kamen auf die einspurige Straße zurück, die durch die Heidelandschaft von Dartmoor führt. Die Gegend wurde flacher, zu beiden Seiten erstreckte sich das Moor, so weit man sehen konnte, und trotz allem stieg eine Blase der Freude in mir darüber auf, wieder hier zu sein. Ich spähte durch das Hundegitter nach hinten. Jas schmollte immer noch. Twig klammerte sich an einen Haltegriff, die Augen geschlossen, und hielt das Gesicht in den Wind.

»Wuff«, sagte ich. Twig öffnete die Augen und lächelte.

»Wuff, wuff«, erwiderte er.

Und dann bogen wir von der Straße in den Privatweg ein, der zur Horsehill Farm hinunterführt. Als wir die Hochebene verließen, wurden die Bäume dichter und der Weg bestand immer weniger aus Asphalt und immer mehr aus Gras und Moos; wir fuhren durch ein altes weißes Tor auf einen kiesbestreuten Hof und da stand das Haus, viel grauer Stein und große Fenster, und wir waren da.

»Zu Hause!« Grandma würgte wieder den Motor ab und zog die Handbremse. Sie kletterte aus der Fahrerkabine und zog einen Gehstock unter dem Sitz hervor.

»Seit wann brauchst du den denn?«, fragte ich.

»Bringt erst mal eure Sachen ins Haus«, sagte sie und humpelte vom Auto weg.

»Warum läuft sie so komisch?«, fragte Jas.

»Sie hatte doch diesen Sturz.« Ich runzelte die Stirn und versuchte mich zu erinnern. »Kurz nach Pumpkins Geburt. Es hatte geregnet und sie ist ausgerutscht. Mum war ziemlich genervt, weil Dad die ganzen Osterferien zwischen London und hier hin- und hergefahren ist.«

»Aber das ist doch schon ewig her«, sagte Jas.

»Jetzt sieht sie wieder normal aus«, bemerkte Twig.

Grandma stand vor der Haustür und winkte mit ihrem Stock.

»ICH HAB SCHOKOLADENKUCHEN GEBACKEN«, bellte sie. »Und der isst sich nicht von allein!«

Mum hat früher immer gesagt, in Horsehill wäre Iris am meisten sie selbst, weil sie hier alles machen konnte, was sie am liebsten tat – klettern und rennen und durch die Gegend streifen. An jedem ersten Abend in den Ferien lag sie neben mir im Bett und plante ganz genau, was wir hier alles machen würden. Und nachdem sie gestorben war, lag ich immer noch an jedem ersten Abend hier im Bett und dachte an all die Sachen, die ich machen wollte – das Gleiche, das ich auch immer mit ihr gemacht hatte: unsere Lieblingsstreifzüge unternehmen, Himbeeren direkt vom Strauch essen und im Bach liegen, den Kopf unter Wasser. So ist das, wenn man eine Zwillingsschwester hat. Vier Jahre ist es nun schon her, dass sie von einem Lieferwagen überfahren wurde, aber in meinem Kopf ist sie immer noch ständig bei mir.

Eigentlich wollte ich in diesem Jahr gar nicht herkommen. Dodi hatte mich eingeladen mit ihrer Familie nach Spanien zu fahren, in das Haus ihrer Eltern im Süden, wo sie jeden Sommer verbringen. »Da sind wir von morgens bis abends am Strand«, sagte sie. »Wir sorgen dafür, dass du schön braun wirst und einen neuen Haarschnitt kriegst und schicke Klamotten, und dann suchen wir dir einen Freund. Wo ich jetzt mit Jake zusammen bin, musst du auch einen haben.«

Obwohl ich ihr schon tausend Mal gesagt habe, dass ich mich wirklich für sie freue und sie trotzdem meine beste Freundin ist, hat Dodi immer noch ein schlechtes Gewissen, weil sie jetzt mit Jake zusammen ist, wo ich doch schließlich als Erste mit ihm zusammen war. Sie glaubt mir nicht, wenn ich sage, dass ich eigentlich gar keinen Freund haben will, aber es stimmt – jedenfalls keinen wie Jake, der zwar ganz lieb ist, aber auch ein bisschen schluffig. Eines Tages will ich mich so verlieben, wie Flora sich in Zach verliebt hat – restlos, bedingungslos, mit Haut und Haaren. Ich wünsche mir einen Seelenverwandten – so wie Iris, aber natürlich auch anders. Ansonsten bin ich nicht interessiert.

Ich wollte trotzdem gern nach Spanien, weil ich die Vorstellung schön fand, mal irgendwohin zu fahren, wo es keine traurigen Erinnerungen gibt, und es wäre bestimmt auch lustig, mit Dodi zusammen zu sein und im Mittelmeer zu baden und mich als attraktive, sonnengebräunte und kultivierte Person neu zu erfinden. Aber Dad hat Nein gesagt, weil Grandma sonst enttäuscht wäre.

»Grandma würde das total verstehen«, widersprach ich. »Sie verreist doch auch so gern. Sie fährt ständig durch die Weltgeschichte und macht irgendwelche aufregenden Sachen.«

»Sie wäre enttäuscht«, wiederholte er. »Und außerdem …«

»Was außerdem?«

Aber das wollte er nicht sagen.

Und so liege ich jetzt hier im Bett und versuche an der Freude festzuhalten, die ich im Auto gespürt habe. Die Nacht ist warm und das Fenster weit geöffnet und von draußen sind die typischen Nachtgeräusche auf dem Land zu hören – jagende Tiere, ein Auto in der Ferne, der Bach, der unter der Brücke hindurchrauscht. Horsehill ist ganz genauso wie jeden Sommer. Das Haus ist groß und freundlich und riecht nach Holzfeuer und nach dem, was Grandma gekocht hat. Äpfel und Pflaumen reifen an den Bäumen, der Gemüsegarten ist voller Möhren, Salat und Tomaten. Marigold und Hester, die beiden fetten alten Ponys, dösen auf der Koppel, Rosen klettern überall an den Mauern empor und gleich hinter den Feldern liegt die lila-grüne Moorlandschaft und wartet auf uns. Vorm Insbettgehen habe ich Jas und Twig Gute Nacht gesagt, in demselben Zimmer, in dem sie immer schon geschlafen haben und wo auch immer noch dasselbe Nachtlicht brennt, weil Twig die Dunkelheit nicht mag. Und bei mir liegt immer noch die gleiche weiße Tagesdecke über derselben grün-rosa geblümten Bettwäsche.

Wäre Zoran unser Kindermädchen geblieben und kein aufstrebender Musiker mit einer atemberaubenden Reitlehrerin als Freundin geworden, wäre Mum vielleicht nicht ganz so müde. Vielleicht wäre er dann hier bei uns und Mum wäre auch mitgekommen, zusammen mit Pumpkin. Und wenn Flora hier wäre, sähe dieses Zimmer aus wie ein Schlachtfeld. Der Boden läge voller Klamotten und der Tisch wäre mit leeren Gläsern, Tassen und Schokopapier übersät. Sie würde auf ihrem Bett sitzen, Musik hören und sich darüber beschweren, dass es hier kein WLAN und kein Mobilfunknetz gibt und dass sie nicht weiß, wie sie überleben soll, ohne alle fünf Minuten von Zach zu hören, und dass niemand versteht, wie es sich anfühlt, verliebt zu sein.

Aber Flora ist nicht hier. Sie ist mit Dad in Neuseeland und spielt eine winzige Rolle in dem Film, den er über König Artus geschrieben hat. Wir sind zum ersten Mal ohne sie hier, Zoran ist in Sarajevo, Grandma braucht einen Stock und Mum ist mit unserem vier Monate alten Brüderchen in London geblieben.

Dieses Jahr ist alles anders.

Die Filmtagebücher der Bluebell Gadsby

2. Szene (Transkript)
Das mysteriöse Erscheinen zweier Jung auf der Koppel

Morgen. KAMERAMANN (BLUEBELL) steht am offenen Fenster ihres Zimmers in der oberen Etage der Horsehill Farm und filmt. Es ist erst acht Uhr, aber die Luft ist schon dunstig vor Hitze. Vögel singen. Der Bach plätschert. Alles wirkt sehr, sehr idyllisch, aber die Kamera ist auf etwas anderes gerichtet.

Unten im Hof steht ein seltsames Auto. Seltsam aus mehreren Gründen. Erstens gehört es nicht Grandma. Zweitens ist es ein Cabrio, alt aussehend, mit dunkelgrauer Karosserie, riesigen Scheinwerfern, ausgebleichten roten Ledersitzen und einer ziemlich großen Delle in der Seite. Und drittens hat es das Lenkrad links, was bedeutet, dass es kein englisches Auto ist.

Außerhalb des Bildes öffnet sich knarrend die Zimmertür. TWIG und JAS stellen sich neben den Kameramann, Twig in einem viel zu kurzen Schlafanzug, Jas in einem zerrissenen, bodenlangen Spitzennachthemd.

TWIG

(mit der verblüffenden Sachkenntnis vieler Jungs)

Wow! Ein alter Citroën DS Cabrio
mit französischem Nummernschild!

JAS

(kommt sofort auf den Punkt)

Wem gehört der?

Eine FRAU biegt um die Hausecke. Sie trägt eine leere Einkaufskiste vor sich her und an ihrem Unterarm hängt eine Einkaufstasche aus geflochtenem Stroh. Kinder (und Kamera) lehnen sich neugierig aus dem Fenster. Die Frau wirkt ungefähr so alt wie die Mutter der Kinder (Anfang vierzig), ist aber angezogen wie ein sehr viel jüngeres Hippie-Mädchen (findet der Kameramann): königsblaue Haremshose, Flipflops aus Leder und ein weites lilafarbenes Trägertop. Sie ist klein und zierlich, mit dunklen, von grauen Strähnen durchzogenen Locken, die ihr bis zur Taille reichen und von einem knallgrünen Tuch zusammengehalten werden. An ihren Handgelenken hängen schwere silberne Armreifen.

JAS

(verwirrt)

Wer ist das denn?

Die namenlose Frau wirft die Kiste und die Einkaufstasche ins Auto und schaut dann mit einer Hand über den Augen in Richtung Pferdekoppel. Sie ruft etwas und winkt. Die Kamera folgt ihrem Blick.

Zwei Gestalten sitzen auf dem Zaun der Koppel, etwa hundert Meter vom Haus entfernt. Die Kamera zoomt näher heran. Es sind zwei Jungs, einer groß und blond, der andere kleiner und mit dunklerem Haar. Ein kleiner schwarz-weißer Hund liegt zu ihren Füßen. Der kleinere Junge ruft nach den Ponys (MARIGOLD und FAT HESTER), die beide angetrottet kommen, als sei er ihr bester Freund. Er streckt die Hand aus. Sie schnuppern daran, auf der Suche nach Futter. Er tätschelt ihnen den Hals und küsst sie auf die Nase. Dann greift er nach dem Halfter des größeren Ponys (Marigold) und lässt sich vom Zaun auf seinen ungesattelten Rücken gleiten. Der blonde Junge ruft ihm etwas nach, aber er antwortet nicht. Er und Marigold sind schon unterwegs und galoppieren um die Koppel herum.

JAS

(voller Ehrfurcht)

Und wer ist das?

Sonntag, 20. Juli

Die namenlose Frau stand in der Küche, als wir nach unten kamen, kochte Porridge und stellte sich uns auch gleich vor. Sie heißt Lizzie Hanratty und ist Grandmas nächste Nachbarin, seit sie und ihr Sohn Skye (der kleinere der Jungs) kurz vor Ostern in das alte Cottage gezogen sind, ungefähr einen Kilometer von hier entfernt. Vorher haben sie in Frankreich gelebt (daher das Auto), Skyes Vater ist Künstler und unterrichtet dort noch bei einer Art Sommercamp für Künstler, und du meine Güte, so ein Umzug macht ja ganz schön viel Arbeit.

»Skye ist gerade draußen bei den Ponys«, erklärte sie uns. »Er kommt jeden Tag vorbei und sieht nach ihnen. Den lernt ihr später noch kennen. Ollie ist sein Cousin, er verbringt die Ferien bei uns, was für Skye natürlich ganz toll ist und außerdem eine große Hilfe, wo wir doch noch so viel machen müssen, streichen und renovieren und reparieren und alles. Die Jungs sind beide in deinem Alter, Bluebell. Ich hoffe, dass ihr alle ganz, ganz tolle Freunde werdet.«

Lizzie Hanratty redet sehr viel.

»Sonst kommen sie immer mit dem Rad«, fuhr sie fort. »Aber heute habe ich sie im Auto mitgenommen, weil ich sowieso noch ein paar Einkäufe vorbeibringen wollte, und da dachte ich, wo ich schon mal hier bin, kann ich auch gleich noch Frühstück machen. Nehmt euch schon mal einen Toast, bis der Porridge fertig ist. Auf dem Tisch steht ein Glas selbst gemachte Marmelade von mir. Ich gehe Granny ein bisschen zur Hand, wisst ihr, seit ihrem kleinen Sturz. Wirklich schade, dass eure Mum und der Kleine nicht kommen konnten, aber wie schön für eure Granny, euch jetzt für die ganzen, langen Ferien hier zu haben.«

Jas sagte, »Twig hat das Baby auf den Kopf fallen lassen.«

Lizzie sagte, was für ein Pech, aber dem Baby sei doch hoffentlich nichts passiert und es sei sicher keine Absicht gewesen.

»Natürlich nicht«, murmelte Twig.

»Mum ist bloß müde«, sagte ich. »Und dem Baby geht’s gut.«

Lizzie meinte, da hätten meine Eltern aber Glück, eine so nette, vernünftige Tochter wie mich zu haben.

»Blue kann es überhaupt nicht leiden, wenn man sie vernünftig nennt«, sagte Jas. Sie spähte über den Rand von Lizzies Topf. »Und es ist viel zu heiß für Porridge.«

Dann kam Grandma herein, mit genervter Miene.

»Also wirklich, Lizzie, ich bin durchaus noch in der Lage, meinen Enkeln das Frühstück zu machen. Ich bin schließlich kein Pflegefall.« Jas schob sich an sie heran und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Grandma flüsterte deutlich hörbar zurück, dass sie PORRIDGE AUCH ÜBERHAUPT NICHT MAG.

Lizzie Hanratty tat mir ziemlich leid.

Das Gartentor sprang auf und der Hund schoss herein, gefolgt von den Jungen.

Ich glaube, ich habe noch nie einen Menschen gesehen, der so unordentlich aussieht wie Skye Hanratty. Sein Haar hat die Farbe von nassem Sand und steht überall in so kleinen Büscheln vom Kopf ab, als hätte er versucht, es sich selbst zu schneiden, aber mittendrin aufgegeben. Seine Augen sind irgendwie schlammfarben und er trägt eine kleine Brille mit Drahtgestell, die nur noch von Pflasterstreifen zusammengehalten wird, er hat eine Lücke zwischen den Schneidezähnen und ganz viele Sommersprossen. Auf seiner Reithose klebte getrockneter Schlamm, sein zerrissenes T-Shirt war mit Grasflecken übersät und die Schnürsenkel an seinen Turnschuhen waren offen. Als er uns bemerkte, bremste er so scharf ab, dass sein Cousin, der gleich hinter ihm war, voll in ihn hineinkrachte.

»’tschuldigung«, sagte Skye. »Der Hund …«

Der Hund ist eine Hündin und heißt Elsie, sie gehört Skye und ist zum Großteil, aber nicht ganz ein Border Collie. Sie ist noch sehr jung, fast ein Welpe, und macht überhaupt nichts von dem, was man ihr sagt. Als er ihr befahl, ›Sitz‹ zu machen, ist sie stattdessen dreimal um den Küchentisch gerannt, hat allen ihre Nase zwischen die Beine gesteckt, gebellt und versucht, ihren eigenen Schwanz zu fangen. Dann ist sie an Grandma hochgesprungen, die ihr einen Kuss auf die Nase gab, was Elsie dann offenbar so glücklich machte, dass sie endlich Ruhe gab und sich auf den Rücken rollte, wobei ihr die rosa Zunge aus dem Maul hing, als würde sie lächeln.

»Achte ein bisschen auf sie, Skye«, murmelte Lizzie.

Skye tauchte ab, um Elsie am Halsband zu packen, stolperte über seine Schnürsenkel und knallte gegen die Tischkante, so dass Lizzies selbst gemachte Marmelade vom Tisch flog. Ollie, der goldenes Haar und blaue Augen, saubere Klamotten und sehr gerade Zähne hat, konnte sie gerade noch auffangen, bevor sie auf dem Boden aufschlug, und stellte sie auf den Tisch zurück.

»Setz dich einfach hin«, sagte er. »Und rühr dich nicht.«

Skye ließ sich auf einen Stuhl fallen. Elsie legte ihm das Kinn auf den Oberschenkel und blickte zu ihm hinauf. Mit einer Hand kraulte er sie hinter den Ohren, während er sich mit der anderen das Gesicht rieb und dabei einen Schmutzstreifen auf seiner Nase hinterließ.

»Ich versuche gerade, sie zu erziehen«, sagte er und sah zu uns auf.

»Ein Hund bleibt immer ein Hund«, sagte Grandma.

»Eure Granny ist immer noch total fit«, sagte Lizzie und Grandma zuckte zusammen. Sie hasst es, wenn man sie Granny nennt.

Skye widmete sich der Aufgabe, Elsie beizubringen, wie man ›Sitz‹ macht, indem er ihren Hintern nach unten drückte und ihr mit dem Zeigefinger vor der Nase herumwedelte. Lizzie stupste ihn an und nickte in unsere Richtung.

»Was denn?«, fragte er.

»Ihr habt euch noch nicht vorgestellt«, flüsterte sie. Ollie seufzte, trat vor und machte eine tiefe, theatralische Verbeugung.

»Meine Damen?«, sagte er, lüpfte vor mir und Jas einen nicht vorhandenen Hut und wandte sich dann an Twig. »Mein Herr? Oliver Blackerry, stets zu Ihren Diensten.«

Flora hätte bestimmt gleich zurückgeknickst und so was wie »Zu freundlich, mein Herr« gelispelt.

Aber Twig, Jas und ich starrten ihn bloß an.

Von nahem und lächelnd sieht Oliver Blackerry wirklich sensationell gut aus.

»Jetzt müsst ihr mir eure Namen sagen«, erinnerte er uns freundlich.

»Bluebell«, stieß ich hervor. »Und das hier ist Twig, und das Jas.«

»Skye?«, sagte Lizzie auffordernd.

Er machte eine wegwerfende Handbewegung, wie zur Entschuldigung dafür, dass er nicht so einfallsreich war wie sein Cousin.

»Ich bin Skye«, sagte er.

»Skye mit einem ›e‹ am Ende«, erklärte Lizzie. »Also nicht wie der Himmel auf Englisch, sondern wie die schottische Insel. Da wurde er nämlich gezeugt.«

Ollie prustete los. Von den anderen wusste keiner so recht, was er sagen sollte. Skye verdrehte die Augen, als hätte er die Geschichte schon so oft gehört, dass sie ihm nicht mehr peinlich war, aber dann platzte Jas, die bisher noch gar nichts gesagt hatte, plötzlich heraus: »Wir haben gesehen, wie du geritten bist, und das sah echt toll aus!«, und er wurde rot.

»Ich reite auch gern«, erzählte ihm Jas. »Wir haben ein Ex-Kindermädchen, das Zoran heißt, und seine Freundin, die Gloria heißt, hat einen Reitstall in London und da gehe ich immer hin. Der liegt direkt unter der Autobahn, nicht so wie hier, aber ich bin schon ziemlich gut. Bringst du mir bei, wie man ohne Sattel reitet?«

»Klar.« Skye grinste und zeigte dabei die Lücke zwischen seinen Zähnen. Lizzie strahlte.

»Aber nur, wenn Granny einverstanden ist!«, sagte sie warnend. »Skye ist ein guter Lehrer, stimmt’s, Skye? Er weiß so gut wie alles über Pferde. In Frankreich haben wir in der Nähe einer Pferdepension gewohnt, da hat er sich ständig rumgetrieben. Die Besitzer haben gesagt, ein solches Naturtalent hätten sie noch nicht gesehen.«

Skye war jetzt so rot, dass seine Sommersprossen kaum noch zu sehen waren. Ollie zog ihn auf die Füße und schob ihn in Richtung Tür.

»Komm, wir gehen«, sagte er. »Bevor Skye uns hier noch verglüht.«

Lizzie nahm Grandma das Versprechen ab, sie jederzeit anzurufen, wenn sie irgendetwas brauchte. »Und sei es auch nur die kleinste Kleinigkeit«, sagte sie und rauschte hinaus zu ihrem Auto. Ollie verbeugte sich wieder. Es kam mir vor, als würde er uns ein bisschen auf den Arm nehmen. Skye pfiff nach Elsie, rannte gegen den Türrahmen, murmelte »Autsch!«, und stolperte in den Sonnenschein hinaus.

»Mannomann«, sagte ich.

»Meine neuen Nachbarn«, bestätigte Grandma.

»Die sind ja ziemlich …«

»Was?«

Aber ich wusste nicht, wofür ich mich entscheiden sollte. Umwerfend? Tollpatschig? Übertrieben freundlich?

»Nett«, sagte ich.

Grandma schnaubte und sagte, wenn wir mit dem Frühstück fertig seien, könne sie unsere Hilfe im Garten gebrauchen.

Mum hat angerufen. Ihre alte Schulfreundin Gaia, die seit letztem Jahr geschieden ist und in einem großen, ruhigen Landhaus in der Nähe von Basingstoke lebt, hat sie und Pumpkin eingeladen, sich bei ihr mal eine Weile »so richtig auszuruhen«.

»Aber sie kann sich doch hier ausruhen«, sagte Twig, während Jas im Hintergrund mit Mum telefonierte und ihr befahl stattdessen gefälligst nach Horsehill zu kommen.

»Eher nicht«, widersprach Grandma in ihrer üblichen taktvollen Art. »Wenn du mal genauer drüber nachdenkst. Nicht mit euch dreien dabei.«

Später rief dann Dad auch noch an, als wir alle, bis auf Jas, im Garten waren. Ich lief rein, um dranzugehen, aber Jas war mir zuvorgekommen.

»Ich finde es ja gar nicht mehr so schlimm, hier zu sein«, sagte sie gerade. »Wegen diesem Jungen und den Ponys. Ich möchte einfach nur, dass Mummy und Pumpkin auch hier sind.« Sie trat mit dem Fuß gegen die Scheuerleiste, während Dad antwortete. »Aber ich kann mich doch um Pumpkin kümmern, wenn Mummy sich ausruhen will«, protestierte sie, und dann: »Warum sind Erwachsene eigentlich immer müde?«

Mit einem Knall legte sie den Hörer hin und rief, dass Dad mich auch noch sprechen wollte. Während ich mit ihm redete, blieb sie einfach stehen und drückte ihren Kopf an meinen. Ich versuchte sie wegzuschieben, aber sie wollte unbedingt hören, was er zu sagen hatte.

»Wie geht es ihr?«, fragte er.

»Wem, Jas?«

»Deiner Großmutter. Ich möchte nicht, dass ihr ihr zur Last fallt.«

Jas verdrehte die Augen. Grandma kam aus dem Garten herein, in der einen Hand ihren Stock, in der anderen eine Zucchini schwenkend.

»Ist das euer Vater?«

Ich reichte ihr den Hörer.

»Machst du schon wieder Theater?«, fragte sie ihn.

Dad erwiderte etwas, das ich nicht verstand. Grandma sagte zu ihm, er solle keinen Blödsinn reden, und legte auf.

Das alte Kinderbett, in dem wir alle mal geschlafen haben, steht jetzt wieder in der kleinen Kammer, neben dem Zimmer, wo Mum und Dad immer schlafen. Das helle Holz hat sich inzwischen gelb verfärbt und einige der alten aufgemalten Zeichentrickfiguren an den Seitenbrettern sind schon ganz abgerubbelt, aber irgendwer hat es abgestaubt und sauber gemacht, ein frisch gebügeltes Laken und eine Babydecke bereitgelegt und Dads alten Teddy auf die Kommode gesetzt.

Jas hat geweint, als sie das Zimmer sah, und selbst ich hatte plötzlich einen Kloß im Hals.

Ich weiß, dass Grandma sich heute Abend die größte Mühe gegeben hat, es uns so nett wie möglich zu machen. Sie hat Jas erlaubt, nur Nudeln und Käse zu essen, obwohl sie das für keine richtige Mahlzeit hält, und sie hat eine ganze Packung belgische Pralinen eingeschmolzen, die ihr jemand geschenkt hatte, damit wir sie über unser Eis gießen konnten, und nach dem Abendessen sind wir zum Bach runtergegangen und haben Stöckchen ins Wasser geworfen, um zu sehen, welches am schnellsten unter der Brücke durchschwimmt, wie früher, als wir noch klein waren.

Aber das konnte uns auch nur ein bisschen aufmuntern.

Die Filmtagebücher der Bluebell Gadsby

3. Szene (Transkript)
Die Welt der Pflanzen

TAG. DRAUSSEN.

Der Gemüsegarten von Horsehill (von Grandma gern als ›le potager‹ bezeichnet) ist genau sechs mal vier Meter groß und direkt nach Süden ausgerichtet und er ist auf der einen Seite von der Gartenmauer, auf der anderen von der Hauswand geschützt.

In diesem ungewöhnlich heißen Sommer, der auf einen feuchten Frühling folgt (ideale Wachstumsbedingungen, laut Grandma), quillt der Garten fast über vor Obst und Gemüse. Stangenbohnen ranken sich um Bambus-Tipis. Ihre rosafarbenen Blüten wiegen sich im Wind, genauso wie die fedrigen Büschel endloser Reihen von Möhren. Die Zweige der schwarzen und roten Johannisbeeren hängen schwer von Früchten herab. Zucchini blühen gelb und orange und ihre schlängelnden Triebe dringen schon bedrohlich weit in die von Unkraut überwucherten Zwiebelbeete vor. Die Kamera zoomt eine Zucchini heran, auf Kürbisgröße angeschwollen und halb aufgeplatzt. Bienen summen zwischen den ausgewachsenen Salatköpfen.

Grandma, winzig und aufrecht, das lange graue Haar zu ihrem üblichen Dutt aufgesteckt, Perlenohrringe an Ort und Stelle, trägt uralte Gartenklamotten von unbestimmbarer Farbe, einen breitkrempigen Strohhut und knallviolette Crocs. Sie läuft zwischen den Gemüsereihen auf und ab, gefolgt von TWIG und JASMINE, auf deren Gesichtern sich wachsender Unmut abzeichnet, während Grandma die Anweisungen für heute herunterrattert und mit ihrem Stock in den Beeten stochert.

GRANDMA

Alle Bohnen pflücken, die länger als 12 Zentimeter sind. Das Zwiebelbeet jäten. Zucchini pflücken. Dieses Kürbisteil kann auf den Kompost. Die Möhrenenden kontrollieren. Alle, die groß genug sind, rausziehen.

TWIG

Woher sollen wir denn wissen, ob sie groß genug sind?

Grandma formt mit Daumen und Zeigefinger einen kleinen Kreis, der den optimalen Umfang eines Möhrenendes anzeigt.

GRANDMA

Johannisbeeren: wenn sie reif sind, pflücken. Am besten gleich in die Kühltruhe damit, dann können wir bei Gelegenheit Marmelade kochen. Das Gleiche gilt für die Himbeeren – das ist eine neue Sorte, da sollten noch ein paar Wochen lang welche nachkommen. Die packt ihr aber nicht in die Kühltruhe, die essen wir heute zu Mittag.

JASMINE

Ich verstehe nicht, warum du dein Gemüse nicht
einfach im Laden kaufst.

GRANDMA

(mit entsetzter Miene)

Warum in aller Welt sollte ich das tun?
Und jetzt los, hopp, hopp! Eine Pflanze kann sich nicht um sich selber kümmern.

TWIG

Also, genau genommen ist die Natur voller Pflanzen, die sich um sich selber kümmern.

GRANDMA

(leicht gekränkt)

Früher habt ihr immer gern
im Garten geholfen.

KAMERAMANN

(die Kamera auf Twig gerichtet)

Tun wir auch heute noch. Stimmt’s, Twig?

TWIG

(brummelt)

Ja, klar.

JASMINE

(zu Grandma)

Und was machst du die ganze Zeit,
während wir hier arbeiten?

GRANDMA

(mit beleidigter Miene)

Ich kümmere mich um euch.