JONATHAN STROUD

DAS GRAUENVOLLE
GRAB
Aus dem Englischen von
Katharina Orgaß und Gerald Jung

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1. Auflage 2017
© 2017 der deutschsprachigen Ausgabe
cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
© 2017 Jonathan Stroud
Die englische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel
»Lockwood & Co. – The Empty Grave«
bei Doubleday, einem Imprint Random House Children’s Books, London
Übersetzung: Katharina Orgaß und Gerald Jung
Innenillustrationen: © 2017 Kate Adams
Umschlaggestaltung: bürosüd, München
Umschlagmotive: Grabstein: Arcangel/Paul Gooney Rest: bürosüd
MP · Herstellung: UK
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-20874-5
V003
www.cbj-verlag.de
www.lockwood-und-co.de
Für meine Familie –
Gina, Isabelle, Arthur und Louis –
die besten Geistergeschichtenerzähler überhaupt
Inhalt
Einleitung
I. Die Gruft
II. La Belle Dame Sans Merci
III. Ein schrecklicher Fund
IV. Die Belagerung der Portland Row
V. Im Fittes-Haus
VI. Der Neuanfang
Glossar
Ganz Großbritannien befindet sich in den Fängen einer Geisterepidemie.
Seit nunmehr fünfzig Jahren suchen die ruhelosen Seelen der Toten in ständig wachsender Zahl die Insel und ihre Bewohner heim – keiner weiß, wie oder warum. Bei Einbruch der Dunkelheit verbarrikadieren sich daher die Londoner in ihren Häusern, deren Anwesen mit einer Vielzahl an Geisterabwehrmechanismen bewehrt sind. Dann liegen die Straßen verlassen da – bis die Schatten sich rühren. Nun ist es an den Schemen, Alben und Wiedergängern, die Stadt für die Nacht zu der ihren zu machen.
Manche der Phantome gieren danach, mit den Lebenden in Kontakt zu treten, doch die Folgen sind fatal für die Menschen. Die für das Übernatürliche blinden und tauben Erwachsenen sind besonders wehrlos gegenüber der damit einhergehenden tödlichen Geistersieche. Sie müssen deshalb ganz auf die Jugendlichen der Stadt vertrauen – denn einige von diesen verfügen über eine angeborene übernatürliche Gabe, kraft derer sie die Geister in Schach halten können. Deshalb beschäftigen die zahlreichen zur Abwehr der Plage entstandenen Geisteragenturen Teams jugendlicher Agenten, die mit Degen bewaffnet ausziehen, die tödliche Gefahr zu bekämpfen. Die Begabten unter ihnen kehren heim. Viele andere nicht.
Zwischen diesen zahllosen, von Erwachsenen geführten Agenturen ist Lockwood & Co. die kleinste und außergewöhnlichste. Sie besteht aus genau drei Agenten: ihrem dynamischen Anführer Anthony Lockwood, der so charmant wie genial ist; seinem Stellvertreter George, akribischer Rechercheur und unerschütterlich treuer Freund, wenn es an der Front brenzlig wird; und dem neuesten Mitglied Lucy Carlyle – mutig, gewitzt und mit einem beachtlichen übernatürlichen Talent gesegnet.
Gemeinsam haben die drei Agenten von Lockwood & Co. trotzdem alle Hände voll damit zu tun, dem Horror von London die Stirn zu bieten und dabei zu überleben.



Kapitel 1
Geistergeschichte gefällig? Aber gern. Ich kenne da ein paar.
Wie wär’s mit der Geschichte von dem augenlosen blauen Gesicht, das sich an ein Kellerfenster drückte? Oder mit der von dem Geist des Blinden, der mit einem Taststock aus Kinderknochen vorantappte? Wollt ihr die Geschichte von dem angriffslustigen Schwan hören, der mich durch den menschenleeren, verregneten Park bis nach Hause verfolgte, oder lieber die von dem riesigen körperlosen Maul, das sich plötzlich mitten in einem Betonfußboden auftat? Wie wär’s mit dem Milchkrug, aus dem Blut geflossen kam, oder dem leeren Badezimmer, in dem nach Anbruch der Dunkelheit ein unheimliches Gurgeln zu hören war? Ich hätte auch noch das kreiselnde Bett des Waisenkindes anzubieten oder das Skelett im Kamin oder das bösartige Phantomschwein mit den gelben Hauern und den stachligen Borsten, das plötzlich hinter der schmuddeligen Tür zu einem Duschraum herumschnoberte.
Sucht euch eine aus. Ich habe sie alle erlebt. So oder so ähnlich verlief in jenem langen, schrecklichen Sommer fast jeder Monat bei Lockwood & Co. Die meisten dieser Geschichten notierte George am Morgen nach dem betreffenden Einsatz zwischen kleinen Schlucken kochend heißen Tees in unser Auftragsbuch. Und zwar nur mit Boxershorts bekleidet im Schneidersitz auf dem Wohnzimmerfußboden – ein Anblick, der verstörender war als sämtliche noch so gruseligen Geistererscheinungen zusammen.
Unser Schwarzes Auftragsbuch befindet sich mittlerweile längst als Kopie im Nationalarchiv, in der neuen Anthony-Lockwood-Galerie. Die Kopie hat den Vorteil, dass keine zerbröselten Chips rausfallen, wenn man etwas nachschlagen will. Der Nachteil? Die Kopie ist nicht vollständig. Denn ein bestimmter Einsatz war schlicht zu grauenvoll, um ihn schriftlich festzuhalten.
Wie dieser Einsatz letztendlich ausging, ist inzwischen allgemein bekannt. Es sprach sich schon an jenem entsetzlichen Morgen herum, als sich der Rauch über den mit Toten übersäten Trümmern des Fittes-Hauses noch nicht verzogen hatte. Doch wie das alles seinen Anfang nahm? Nein, das gehört bis jetzt noch nicht zum Allgemeinwissen. Denn diese geheime Geschichte von Mord, Verschwörung und Verrat – und ja, Geister kommen auch darin vor! – kann nur jemand erzählen, der das Ganze überlebt hat. Jemand wie ich zum Beispiel.
Ich heiße Lucy Joan Carlyle. Ich kann sowohl mit den Lebenden als auch mit den Toten sprechen und manchmal merke ich den Unterschied schon selbst nicht mehr.
* * *
Also bitte sehr: der Anfang vom Ende. Da wäre ich also, vor zwei Monaten. Ich bin von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet, in Rock, Leggings und Jacke, dazu die schweren Arbeitsschuhe, mit denen man Sargdeckel eintreten und aus Gräbern herausklettern kann. In meinem Waffengürtel, den ich diagonal über der Brust trage, sind Leucht- und Salzbomben verstaut. Der Degen baumelt an meiner Hüfte, auf meiner Jacke zeichnet sich der versengte Umriss einer Geisterhand ab. Das Haar trage ich kinnlang und damit kürzer als früher, aber man sieht trotzdem, dass in letzter Zeit ein paar Strähnen weiß geworden sind. Sonst sehe ich aus wie immer. Gerüstet für übersinnliche Ermittlungen. Denn das ist mein Beruf.
Draußen schienen die Sterne, die Wärme des Tages war verflogen. Es war kurz nach Mitternacht – jene Stunde, in der die Geister auf Wanderschaft gehen und jeder vernünftige Mensch im Bett liegt.
Ich nicht. Meine Wenigkeit krabbelte auf allen vieren, den Hintern in die Luft gereckt, durch ein muffiges Mausoleum.
Zu meiner Verteidigung muss gesagt werden, dass ich nicht die Einzige war. Meine Kollegen Lockwood, George und Holly hatten die gleiche Haltung eingenommen. Wir hielten die Köpfe so tief gesenkt, dass unsere Nasen beinahe die Steinfliesen streiften, und leuchteten mit unseren Kerzen systematisch Wände und Boden ab. Wir sprachen nicht, hielten nur ab und zu inne und bohrten prüfend den Finger in einen verdächtigen Spalt oder Winkel. Wir suchten nach dem Eingang zu einer Gruft.
»Müsst ihr euch so weit vorbeugen?«, fragte jemand. »Mir tränen schon die Augen!«
Auf einem Granitblock in der Mitte des Raumes thronte ein schmächtiger junger Mann mit rotem Haarschopf. Genau wie wir trug er schwarze Kleidung – in seinem Fall klobige Schuhe, knallenge Jeans und einen Rollkragenpulli. Im Gegensatz zu uns jedoch hatte er eine riesige Brille mit dicken, gewölbten Gläsern vor die Augen geschnallt, mit der er wie ein verschreckter Grashüpfer aussah. Er hieß Quill Kipps und sortierte gerade unsere Gruftknackerausrüstung, indem er Brecheisen und Seilrollen auf dem Steinblock ausbreitete. Außerdem hielt er uns den Rücken frei, denn die Brille gestattete es ihm, im Halbdunkel Geister auszumachen, falls sich welche zeigen sollten.
»Siehst du denn was, Quill?« Lockwood pulte mit seinem Taschenmesser in einer Ritze zwischen den Steinfliesen herum. Dabei hing ihm das dunkle Haar ins Gesicht.
Kipps zündete eine Petroleumlampe an und stellte die Blenden so, dass ihr Licht gedämpft wurde. »Mehr, als mir lieb ist«, gab er zurück. »Vor allem, wenn Cubbins in mein Blickfeld gerät. Das ist wie Wale beobachten.«
»Ich meinte, ob du Geister siehst.«
»Noch nicht. Außer unseren zahmen Freund hier.« Er klopfte an den großen Glasbehälter, der neben ihm stand. Sogleich leuchtete es darin giftgrün auf. Ein durchscheinendes, äußerst abstoßendes Gesicht materialisierte sich und glitt von Ektoplasma umstrudelt an die Glaswand heran.
»Zahm?« Die körperlose Stimme, die nur ich hören konnte, klang entrüstet. »Zahm?! Lasst mich hier raus, und ich zeige diesem dürren Wicht, wie zahm ich bin!«
Ich hockte mich auf die Fersen und strich mir den Pony aus den Augen. »Nenn den Schädel nicht zahm, Kipps«, sagte ich. »Er mag das nicht.«
Das Gesicht im Glas bleckte die spitzen Zähne. »Richte diesem glotzäugigen Gnom aus, dass ich ihm das Fleisch von den Knochen reiße und mit seiner abgenagten Haut ein Tänzchen aufführe, wenn ich erst mal aus diesem Kerker befreit bin! Los, sag’s ihm, Lucy!«
»Ist er beleidigt?«, fragte Kipps. »Ich sehe, dass er sein scheußliches Maul bewegt.«
»Sag’s ihm!«
Ich zögerte. »Keine Sorge«, erwiderte ich dann. »Er hat sich schon wieder beruhigt.«
»Wie bitte? Von wegen! Und wieso klopft er eigentlich dauernd an mein Glas, als wäre ich ein Goldfisch? Ich schwör’s – wenn ich hier rauskomme, schnappe ich ihn mir und ziehe ihm die …«
Ich schaltete auf Durchzug. »Bist du sicher, dass es hier eine Falltür gibt, Lockwood?«, fragte ich. »Wir haben nicht mehr viel Zeit.«
Anthony Lockwood richtete sich auf. In der einen Hand hatte er das Taschenmesser, mit der anderen fuhr er sich geistesabwesend durchs Haar. Wie üblich war unser Anführer wie aus dem Ei gepellt. Statt seines langen Mantels trug er heute allerdings einen schwarzen Pullover und statt seiner üblichen Halbschuhe Turnschuhe mit weichen Sohlen. Das waren aber auch schon die einzigen Zugeständnisse an die Erfordernisse dieses Einsatzes, bei dem wir gerade in ein Nationaldenkmal einbrachen.
»Hast ja recht, Luce.« Sein blasses, schmales Gesicht war so gleichmütig wie immer, doch der elegante Knick in seiner Augenbraue verriet mir, dass auch er angespannt war. »Wir suchen schon ewig und haben immer noch nichts entdeckt. Was meinst du, George?«
George Cubbins kam ächzend hinter dem Granitblock zum Vorschein. Sein schwarzes T-Shirt war schmutzig, die Brille saß ihm schief auf der Nase, und sein rotblondes Haar war zerzaust und schweißverklebt. Seit einer Stunde tat er genau das Gleiche wie Lockwood und ich, hatte es aber geschafft, sich dabei von oben bis unten mit Staubflocken, Mäuseköteln und Spinnweben einzusauen. Typisch. »In allen Unterlagen zum Mausoleum wird eine Falltür erwähnt«, sagte er. »Wir suchen einfach nicht intensiv genug. Besonders Kipps, der sucht nämlich überhaupt nicht.«
»Ich mache, was ich machen soll!«, konterte Kipps. »Und was ist mit dir? Wir setzen heute Nacht unser Leben aufs Spiel, bloß weil du behauptet hast, dass man in die Gruft reinkommt!«
George zupfte sich eine Spinnwebe von der Brille. »Kommt man ja auch. Der Sarg wurde damals durch diesen Fußboden in die Krypta hinuntergelassen. Ein Silbersarg übrigens. Für sie war natürlich nur das Beste gut genug.«
Mir fiel auf, dass er es vermied, den Namen jener Person auszusprechen, für die das Mausoleum errichtet worden war. Außerdem fiel mir auf, dass mir beim bloßen Gedanken an den bewussten Silbersarg flau im Magen wurde. So wie mir jedes Mal flau wurde, wenn mein Blick auf das Sims an der hinteren Wand des Raumes fiel – und auf das, was darauf stand.
Es handelte sich um die gusseiserne Büste einer älteren Frau. Ihre Züge waren streng und herrisch, das Haar war aus der hohen Stirn frisiert. Sie hatte eine schmale Adlernase, einen ebenso schmalen Mund und einen durchdringenden Blick. Es war kein schönes Gesicht, aber ein eindrucksvolles, und meine Freunde und ich kannten es nur zu gut. Es schaute uns von allen Briefmarken und vom Einband unseres Auftragsbuches an, es begleitete uns seit frühester Kindheit und verfolgte uns bis in unsere Träume.
Man erzählte sich viele ungewöhnliche Geschichten über Marissa Fittes, die erste und bedeutendste übersinnliche Ermittlerin des Landes. Wie sie zusammen mit ihrem Partner Tom Rotwell die meisten Methoden zur Austreibung von Geistern entwickelt hatte, die wir Agenten heute noch anwandten. Wie sie die abgebrochene Stange eines Eisengeländers zu ihrem ersten improvisierten Degen umfunktioniert hatte, und wie sie so selbstverständlich mit Geistern geplaudert hatte, als wären sie Geschöpfe aus Fleisch und Blut. Wie sie die erste Agentur für übersinnliche Ermittlungen gegründet und wie nach ihrem Tod halb London Spalier gestanden hatte, als ihr Sarg von der Westminster Abbey durch die mit Lavendelblüten bestreuten Straßen zur Strand hinuntergetragen wurde, gefolgt von einer Prozession sämtlicher Agenten der Stadt. Wie alle Kirchenglocken von London geläutet hatten, als sie unter ihrem Mausoleum beigesetzt wurde, das noch heute von der Agentur Fittes wie ein geheiligter Schrein gehegt und gepflegt wurde.
Ungewöhnliche Geschichten …
Und die letzte dieser ungewöhnlichen Geschichten war die, dass sie unserer Meinung nach überhaupt nicht hier beigesetzt worden war.
Das Fittes-Mausoleum lag in der Londoner Innenstadt, am östlichen Ende der Strand. Es hatte einen ovalen Grundriss und bestand aus einem einzigen, hohen, dunklen Raum. Von dem sarkophagähnlichen Granitblock in der Mitte abgesehen (auf dessen Oberseite nur der Nachname FITTES eingemeißelt war), war der Raum leer. Es gab keine Fenster und die eiserne Flügeltür zur Straße war stets verschlossen und verriegelt.
Auf der anderen Seite der Tür waren zwei Wachen postiert. Sie waren zwar noch Kinder, aber mit Pistolen bewaffnet. Wenn sie uns hörten, würden sie vermutlich schießen, darum mussten wir leise sein. Wenigstens war es hier drinnen sauber und trocken, es duftete nach Lavendel, und es lagen keine sichtbaren Leichenteile herum, weshalb es wesentlich angenehmer war, sich hier aufzuhalten als an den meisten anderen Orten, an die es uns im Lauf dieser Woche schon verschlagen hatte.
Andererseits war beim besten Willen keine Falltür zu entdecken.
Die Petroleumlampen flackerten. Finsternis hing über unseren Köpfen wie der Umhang einer Hexe.
»Wir können nur Ruhe bewahren und weitersuchen«, sagte Lockwood. »Oder hat jemand eine bessere Idee?«
»Ich.« Holly Munro hatte den Fußboden im hinteren Teil des Raumes akribisch abgesucht. Jetzt stand sie auf und kam so leichtfüßig und geräuschlos wie eine Katze zu uns herüber. Auch sie trug Tarnkleidung. Ihr langes dunkles Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden, unter einer eng anliegenden Sweatshirtjacke hatte sie Rock und Leggings an. Ich könnte mich jetzt darüber auslassen, wie gut ihr Schwarz stand, aber die Mühe spare ich mir. Holly stand alles gut. Sie hätte sich auch eine von gepunkteten Hosenträgern gehaltene Mülltonne umhängen können und hätte darin gertenschlank und graziös ausgesehen.
»Ich glaube, so kommen wir nicht weiter«, sagte sie. »Kannst du den Schädel nicht um Hilfe bitten, Lucy?«
Ich zuckte die Achseln. »Mal sehen. Aber du weißt ja, wie pampig er immer drauf ist.«
Das Gesicht im Glas bewegte immer noch aufgebracht die Wulstlippen. Darunter war verschwommen der bräunliche Totenkopf zu erkennen, der mit Metallklammern am Boden des Behälters befestigt war.
Ich stellte meine Ohren wieder auf Empfang.
»… und fressen. Ich frier ihm die Zehennägel ab. Das wird ihm eine Lehre sein.«
»Also ehrlich, redest du immer noch von Kipps?«, sagte ich. »Ich dachte, du hättest dich inzwischen wieder eingekriegt.«
Das Gesicht glotzte mich böse an. »Hast du etwa überhaupt nicht zugehört?«
»Nein.«
»Das ist wieder mal typisch! Und ich hab mir so schöne gruselige Foltern ausgedacht – extra für dich!«
»Egal. Wir finden den Eingang nicht. Kannst du uns einen Tipp geben?«
»Warum sollte ich? Ihr glaubt mir doch sowieso kein Wort.«
»Gar nicht wahr! Wenn wir dir nicht glauben würden – irgendwie –, dann wären wir jetzt nicht hier.«
Der Schädel schnaubte verächtlich. »Wenn ihr mir nicht nur irgendwie glauben würdet, sondern richtig, dann könntet ihr jetzt zu Hause die Beine hochlegen und euch mit Tee und Schokokeksen den Magen verderben. Aber nein … ihr müsst natürlich unbedingt überprüfen, was ich euch erzähle.«
»Wundert dich das? Schließlich behauptest du, dass Marissa Fittes nicht tot ist, sondern quicklebendig und in Gestalt ihrer vermeintlichen Enkelin Penelope Fittes unter uns weilt. In Gestalt ebenjener Penelope Fittes, die Inhaberin der gleichnamigen Agentur und wahrscheinlich die mächtigste Frau Londons ist. Das wäre ein ziemlicher Hammer! Da musst du schon entschuldigen, dass wir den Wunsch haben, diese Behauptung zu überprüfen.«
Der Schädel verdrehte die Augen. »Quatsch mit Soße. Weißt du, was das ist? Schädelismus!«
»Was soll das jetzt wieder sein?«
»Du weißt doch, was Rassismus ist, oder? Und Sexismus? Tja, und euer Verhalten ist schlicht und einfach Schädelismus. Ihr beurteilt mich nach meiner äußeren Erscheinung. Ihr zweifelt das, was ich sage, nur an, weil ich ein Schädel in einem Glas mit schleimgrünem Ektoplasma bin. Gib’s doch zu!«
Ich holte tief Luft. Der Schädel war für seine dreisten Lügen und sein meisterhaftes Geflunker berühmt und berüchtigt. Wer behauptete, er würde es manchmal mit der Wahrheit nicht so genau nehmen, könnte genauso gut behaupten, dass sich Georges Hosenboden manchmal ein bisschen spannte, wenn er seine Schuhe zuband. Andererseits hatte mir der Schädel tatsächlich schon mehr als einmal das Leben gerettet, und wenn es drauf ankam, log er nicht immer. Deshalb entgegnete ich: »Hochinteressant. Darüber können wir uns gern ein andermal unterhalten. Aber jetzt sei so gut und gib uns einen Hinweis. Wir suchen den Eingang zu einer Krypta. Siehst du irgendwo einen Ring oder einen Griff?«
»Nein.«
»Oder einen Hebel?«
»Nö.«
»Dann vielleicht einen Flaschenzug, eine Winde oder irgendeine andere Vorrichtung, mit der man eine verborgene Klappe öffnen könnte?«
»Jetzt plapperst du dummes Zeug, weil du nicht weiterweißt.«
»Na schön«, seufzte ich. »Hab’s kapiert. Es gibt also keine Falltür, oder wie?«
»Ach, du suchst eine Falltür?«, konterte der Schädel. »Sag das doch gleich! Von hier oben sehe ich die klar und deutlich.«
Ich gab den anderen weiter, was er gesagt hatte. Holly und Lockwood kletterten sofort auf den Granitblock und hockten sich neben Kipps. Lockwood ließ den Lichtkegel einer Petroleumlampe über den Boden wandern, und Holly und er drehten sich mit angestrengt zusammengekniffenen Augen synchron herum. Das Licht rann wie Wasser über die Steinfliesen und schwappte gegen die Wände.
»Was für ein jämmerliches Schauspiel«, bemerkte der Schädel. »Ich habe die Falltür sofort gesehen und dabei habe ich noch nicht mal Augen! Tja, mehr kann ich euch leider nicht …«
»Da!« Holly packte Lockwood am Arm. Er hielt die Lampe still. »Da drüben!«, wiederholte sie. »Siehst du die kleine Steinplatte, die in die große eingelassen ist? Die große Platte muss die Falltür sein! Wenn wir die kleine hochheben, ist bestimmt ein Griff oder Ring drunter.«
George und ich gingen hin und beugten uns über die Platte, auf die sie zeigte, aber ich hatte schon bei Hollys ersten Worten gewusst, dass sie recht hatte.
»Genial, Holly«, sagte Lockwood anerkennend. »Das muss der Eingang sein. Werkzeug raus!«
In Augenblicken wie diesen lief Lockwood & Co. zu Hochform auf. Mit unseren Messern kratzten wir den Zement um die kleinere Platte herum weg. Dann hebelten wir sie mit unseren Stemmeisen hoch und Lockwood zerrte sie beiseite. Tatsächlich kam ein Bronzering zum Vorschein, der in die größere Platte eingelassen war. George, Holly und ich machten uns sofort über die Fugen der Falltürplatte her, während Lockwood und Kipps Seile an dem Ring befestigten und die Knoten mehrmals auf ihre Zugfestigkeit überprüften. Lockwood war überall zugleich, erteilte mit gedämpfter Stimme Anweisungen und fasste mal hier, mal da mit an. Sein Tatendrang brachte die Luft förmlich zum Knistern und spornte uns alle an.
»Wollt ihr euch nicht mal bei mir bedanken?« Der Schädel schaute uns naserümpfend zu. »Anscheinend nicht. Bloß gut, dass ich beim Draufwarten nicht die Luft angehalten habe.«
Im Handumdrehen hatten wir unsere Positionen eingenommen. Lockwood und Kipps packten das Seil, das die Platte anheben sollte. George und ich hatten das Seil gegenüber gefasst – wir sollten die Platte erst oben halten und dann geräuschlos neben dem Loch wieder herunterlassen. Holly kniete am Rand und hielt die Stemmeisen griffbereit.
Alles war ruhig. Das Licht der Petroleumlampe, die noch auf dem Steinquader stand, spielte flackernd über Marissa Fittes’ Büste. Sie schien uns mit hämisch funkelnden Augen zu beobachten.
Es war Lockwoods Spezialität, in Momenten höchster Anspannung die Ruhe selbst zu sein. Er lächelte uns an. »Sind alle so weit?«, fragte er. »Gut. Also … Hau ruck!«
Kipps und er zogen. Die Platte ließ sich so geräuschlos anheben wie an frisch geölten Scharnieren. Aus der Öffnung, die sich darunter auftat, schlug uns ein Schwall kalter Luft entgegen.
Holly schob vorsichtshalber die Stemmeisen unter die Platte, aber Lockwood und Kipps gelang es mühelos, sie in die Senkrechte zu bringen. Jetzt waren George und ich an der Reihe. Unser Seil straffte sich, als wir die Last übernahmen.
Die Platte war längst nicht so schwer, wie ich angenommen hatte. Vielleicht war sie aus einem besonders leichten Stein gefertigt. Wir ließen sie vorsichtig auf der anderen Seite wieder herunter.
»Langsam!«, zischelte Lockwood. »Wir dürfen keinen Krach machen!«
Die Platte senkte sich mit einem kaum hörbaren Seufzer wie von einer Maus auf den Boden.
Vor uns gähnte ein rechteckiges Loch.
Als Holly mit der Taschenlampe hineinleuchtete, konnten wir Treppenstufen ausmachen, die steil in pechschwarze Finsternis hinabführten. Jenseits der Stufen wurde der Lichtschein einfach verschluckt.
Ein dumpfer, erdiger Geruch drang unsichtbar zu uns herauf.
»Ganz schön tief«, sagte Kipps im Flüsterton.
»Kann jemand irgendwas erkennen?«
»Nein.«
Kurze Stille. Jetzt, wo uns der Zugang zur Krypta offen stand, wurde uns erst richtig bewusst, wie ungeheuerlich unser Vorhaben war. Es kam uns vor, als hätte sich die über uns lastende Dunkelheit schlagartig ein gutes Stück gesenkt. Marissa schaute uns von ihrem Sims aus zu.
Wir standen alle fünf schweigend da und öffneten unsere Sinne. Keiner von uns nahm etwas Bedenkliches wahr. Die Thermometer an unseren Gürteln zeigten übereinstimmend zwölf Grad Raumtemperatur und wir spürten weder eine übernatürliche Kälte noch Miasma, Maladigkeit oder Kriechendes Grauen. Demnach war es unwahrscheinlich, dass sich ein Geist in der Nähe aufhielt.
»Schön«, sagte Lockwood schließlich. »Sammelt eure Sachen ein. Wir gehen wie besprochen vor. Ich steige als Erster hinunter, dann George, Holly und Luce, und als Letzter Quill. Die Taschenlampen knipsen wir aus und beschränken uns auf Kerzen. Ich zücke den Degen und ihr anderen haltet ebenfalls eure Waffen bereit. Auch wenn wir sie nicht brauchen werden.« Er schenkte uns sein breitestes Grinsen. »Wir gehen ja nicht davon aus, dass sie dort unten ist.«
Trotzdem hatte uns eine namenlose Angst befallen. Das lag an der unheimlichen Ausstrahlung der Büste und zum Teil an dem Namen, der in den Granitblock gemeißelt war – aber auch an der feuchtkalten Luft, die aus der Öffnung drang und sofort ein gewisses Unbehagen auslöste. Wir mussten uns richtig überwinden, die Ausrüstung einzusammeln. George ging vom einen zum anderen und zündete mit seinem Feuerzeug die Kerzen an. Dann stellten wir uns in einer Reihe vor der Öffnung auf, legten die Hände auf die Degenknäufe, räusperten uns leise und rückten unsere Waffengürtel zurecht.
Kipps sprach aus, was ihm durch den Kopf ging: »Wollen wir wirklich da runter?«
»Willst du etwa kneifen?«, entgegnete Lockwood. »Nachdem wir die Falltür endlich gefunden haben?«
Ich nickte zustimmend. »Wir ziehen die Sache durch.«
Kipps sah mich an. »Du hast ja recht, Lucy«, sagte er. »Vielleicht bin ich ein bisschen übervorsichtig. Vielleicht kommt das daher, dass den Anstoß zu dieser Unternehmung ein sprechender Schädel gegeben hat, der uns am liebsten alle tot sähe.«
Alle drehten sich nach meinem offenen Rucksack um. Ich hatte den Glasbehälter eben erst hineingestellt, aber die Geisterfratze war verschwunden. Nur der Totenschädel war noch zu sehen. Sogar ich musste zugeben, dass seine grabesschwarzen Augenhöhlen und sein zahnlückiges Grinsen nicht eben vertrauenerweckend wirkten.
»Ich weiß, dass du große Stücke auf den Schädel hältst«, fuhr Kipps fort. »Dass er unser bester Freund ist und so weiter … aber was ist, wenn er sich diesmal schlicht geirrt hat?« Sein Blick wanderte an der Wand mit der Büste empor und er fuhr mit gedämpfter Stimme fort. »Wenn sie dort unten auf uns lauert?«
Noch ein paar Sekunden, und die Stimmung wäre unwiderruflich umgeschlagen, doch Lockwood griff rechtzeitig ein. »Niemand hat irgendetwas zu befürchten«, sagte er mit Nachdruck. »Erklär’s ihnen noch mal, George.«
»Mach ich.« George rückte seine Brille zurecht. »Alle Geschichten über Marissa Fittes stimmen in dem Punkt überein, dass sie nach ihrem Tod in einem Spezialsarg beigesetzt werden wollte. Die Rede ist von einer Innenverkleidung aus Eisenblech und einem Außengehäuse aus Silber. Sollte sich der Schädel also irren, und ihre Leiche liegt tatsächlich dort unten, dann kann uns ihr Geist nichts anhaben, weil er den Sarg nicht verlassen kann.«
»Und was ist, wenn wir den Sarg öffnen?«, wandte Kipps ein.
»Wir schauen ja nur ganz kurz rein. Außerdem sind wir bewaffnet.«
»Es geht doch erst mal darum«, ergriff Lockwood wieder das Wort, »dass uns auf dem Weg nach unten kein Geist anfallen kann, stimmt’s, George?«
»Stimmt.«
»Na also. Dann wollen wir mal.« Lockwood wandte sich wieder der Öffnung zu.
»Mit ein paar Fallen sollten wir allerdings schon rechnen«, setzte George hinzu.
Lockwoods Fuß verharrte über der obersten Stufe. »Was für Fallen denn?«
»Ich sage nicht, dass welche da sind, ich sage nur, wir sollten damit rechnen.« George schob seine Brille ein Stück höher und vollführte eine schwungvolle Handbewegung. »Na los, Lockwood, worauf wartest du? Runter mit dir!«
Lockwood vollführte eine Rückwärtspirouette und stand George von Angesicht zu Angesicht gegenüber. »Moment mal«, sagte er. »Von was für Fallen sprichst du?«
»Das wüsste ich auch gern«, schloss sich Holly ihm an.
Kipps und mir ging es nicht anders. Wir scharten uns um George, der daraufhin irgendetwas mit seinen Schultern anstellte, das vermutlich ein lässiges Achselzucken darstellen sollte. »Ach, bestimmt sind das nur alberne Gerüchte. Ehrlich gesagt, wundere ich mich, dass ihr sie überhaupt hören wollt. Angeblich soll Marissa gewisse Vorsichtsmaßnahmen getroffen haben, weil sie Angst vor Grabräubern hatte.« Er machte eine Kunstpause. »Angeblich sind diese Vorsichtsmaßnahmen … übernatürlicher Art.«
»Raus mit der Sprache!«, sagte Holly.
»Wann gedachtest du denn mit diesen albernen Gerüchten rauszurücken?«, fragte ich ärgerlich. »Wenn mir ein Wiedergänger die Luft abdrückt oder was?«
George winkte ab. »Wahrscheinlich ist überhaupt nichts dran. Außerdem wollte ich niemanden beunruhigen, sonst hätte ich es euch schon früher erzählt. Schließlich gehört es zu meinen Aufgaben, zwischen soliden Fakten und bloßen Gerüchten zu unterscheiden.«
»Nein, das ist meine Aufgabe«, widersprach ihm Lockwood. »Deine Aufgabe besteht darin, mir alles zu erzählen, was du hörst und herausfindest, damit ich entsprechende Entscheidungen treffen kann.«
Unsere Nerven waren jetzt zum Zerreißen gespannt.
»Streitet ihr euch immer so?«, fragte Kipps.
Lockwood lächelte gezwungen. »Meistens. Manchmal glaube ich schon fast, dass unser ständiger Hickhack das Schmieröl ist, das unsere hocheffiziente Maschinerie am Laufen hält.«
George blickte auf. »Ach ja?«
»Herrgott noch mal, fängst du schon wieder an?«
»Ich dachte, du findest es gut, wenn wir uns zanken! Du hast doch gerade gesagt …«
»Du weißt genau, wie ich das gemeint habe! Können jetzt bitte alle mal die Klappe halten?« Lockwood blickte uns mit seinen dunklen Augen einen nach dem anderen durchdringend an, bis er sicher sein konnte, dass er unsere Aufmerksamkeit wiedergewonnen hatte und wir uns auf den eigentlichen Zweck unseres Hierseins besonnen hatten. »Übernatürliche Fallen hin oder her«, sagte er dann, »damit kommen wir schon klar. Bis zur Wachablösung haben wir noch zwei Stunden, um den Sarg zu öffnen, reinzuschauen, ihn wieder zu schließen und zu verschwinden. Wollen wir die Wahrheit über Penelope Fittes und Marissa erfahren? Selbstverständlich! Nachdem wir es schon geschafft haben, hier einzubrechen, werden wir doch jetzt nicht in Panik geraten! Wenn wir richtigliegen, haben wir nichts zu befürchten. Sollten wir danebenliegen, dann können wir auch damit umgehen – wie mit allem anderen auch.« Er lächelte in die Runde. »Aber wir liegen nicht daneben. Wir stehen kurz vor einer großartigen Entdeckung! Ihr werdet sehen – das wird toll!«
Kipps rückte skeptisch seine Froschaugenbrille gerade. »Wann hat sich in einer Gruft schon mal was Tolles ereignet? Es ist doch wohl klar, dass die Sache hier ziemlich happig wird.«
Doch Lockwood stieg bereits die Treppe hinunter. Hinter ihm flackerte der Lichtschein über das eiserne Gesicht der Büste. Als wir einer nach dem anderen in die Finsternis abtauchten, schienen sich die schmalen Lippen zu einem Lächeln zu verziehen.