Nicola Förg ist im Oberallgäu aufgewachsen und studierte in München Germanistik und Geographie. Sie lebt mit vielen Tieren in einem vierhundert Jahre alten denkmalgeschützten Bauernhaus im Ammertal. Als Reise-, Berg-, Ski- und Pferdejournalistin ist ihr das Basis und Heimat, als Autorin Inspiration, denn hinter der Geranienpracht gibt es viele Gründe zu morden – zumindest literarisch. Im Emons Verlag erschienen ihre Kriminalromane »Schussfahrt«, »Funkensonntag«, »Kuhhandel«, »Gottesfurcht«, »Eisenherz«, »Nachtpfade«, »Hundsleben«, »Markttreiben« sowie die Katzengeschichten »Frau Mümmelmeier von Atzenhuber erzählt«.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlung, Personen und manche Orte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.
© 2004 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagzeichnung: Heribert Stragholz
eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-86358-035-3
Allgäu Krimi 3
Originalausgabe
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Für Grit und Heide
Wenn ich dich einmal lieb gewonnen habe,
kannst du ohne Anklopfen zu mir kommen,
aber bedenke, es täte mir weh,
wenn du danach lange nicht mehr kämst.
Attila József
1
Jo schaute auf die Uhr. So unpünktlich war Svenja eigentlich nie. Jo hasste Unpünktlichkeit, Falco wohl auch. Er hatte einem Entfesselungskünstler gleich bereits zum dritten Mal den Knoten seines Führstricks aufgebissen. Die eifrigen Autoren von Pferderatgebern sollten ihn mal kennen lernen. Falco öffnete jeden auch noch so unlösbaren, angeblich absolut pferdesicheren Knoten. Fenja hingegen verbiss sich gerade in ihre Anbindestange, sie empfand sich wohl als die Reinkarnation eines kanadischen Bibers, und Fjölla, Fenjas zweijährige, halbstarke Tochter, grub um. Sie hackte und harkte mit dem rechten Vorderhuf und würde es wohl heute noch bis zum Mittelpunkt der Erde schaffen – falls Svenja nicht bald auftauchen würde.
Jo rief in der Praxis an, der AB verwies auf eine Mobilnummer. Nachdem es quälend lange geläutet hatte, sagte Svenjas tiefe Altstimme, man möge in extremen Notfällen doch bitte die Tierklinik in Gessertshausen oder Dießen anrufen oder aber eine Nachricht hinterlassen. Na ja, eine Impfung war ja kein echter Notfall.
»Hi, Viechdokterin, Jo hier, vielleicht hab ich da was durcheinander gebracht, aber ich dachte, wir wären am Donnerstag um 14 Uhr 30 bei mir am Hof verabredet gewesen. Wegen der Impfung. Ja, äh, okay, vielleicht rufst du mal zurück. Du hast vielleicht ‘ne Steißgeburt oder hängst sonst bis zum Hals in ‘ner Kuh. Also nicht du hast die Steißgeburt.« Jo gluckste und brach ab. Svenja war seit vierzig Minuten überfällig, viel zu lang für Lady Überpünktlich.
Jo entließ erst mal Biber-Fenja auf die Weide, dann Zirkus-Falco. Fjölla musste als erzieherische Maßnahme noch drei Minuten stehen bleiben. Da Jo aber befürchtete, dass das Pony demnächst im heißen Erdkern ankommen oder zumindest Jules Vernes Professor und Axel bei ihrer Reise zum Mittelpunkt der Erde treffen würde, schickte sie auch dieses lästige Pferdewimmerl auf die Koppel. Seit sie ihre Pferde direkt hinterm Haus hatte, war die Pferdehaltung für Jo ein pures Vergnügen. Die Nachbarn Gschwendtner hatten schließlich doch ein Einsehen gehabt, Jos Flehen erhört und ihr einen Offenstall auf eine Wiese gebaut. Außerdem konnten sie die Stallmiete ganz gut brauchen. Aber Matthias, »Hias«, Gschwendtner hatte noch immer seine liebe Not mit seiner »g’studierten Rossbäuerin«, wie er Jo scherzhaft nannte. Er fand es ja durchaus lobenswert, dass eine »Frau Doktar« Bulldog fahren konnte, aber dass die Tiere einfach so nutzlos rumgammelten, fraßen und schissen, ohne dafür arbeiten zu müssen, das missfiel ihm.
Und dann war ein wirklich rabenschwarzer Tag gekommen, der Hias’ Weltbild komplett aus allen Verankerungen gerissen hatte. Resi, seine Frau, war über die Wiese gerannt.
»Des Kälble kommt it und em Hias sei Tierarzt au it. Dir sind doch au Viechdoktar?«, hatte sie zu Svenja gewandt gesagt.
Die hatte nicht lange gezögert und war von Hias mit den Worten begrüßt worden: »Ja, kasch du des au? Des isch fei schwer, i versuachs scho a Stund und kriags it naus.«
»Ja, genau deshalb bin ja ich da«, hatte Svenja durchaus lakonisch geantwortet.
»Solla mer it liabr an Ma hole?«, hatte Hias noch einen draufgesetzt. Schließlich hatten sie sich darauf geeinigt, dass Hias Svenja nun endlich seine Kuh präsentieren würde, und wenn sie das Kalb wirklich nicht rauskriegen sollte, dann könnte man ja immer noch Arnold Schwarzenegger rufen. Svenja hatte ihm zehn Minuten später das Kalb in die Arme gedrückt mit den Worten: »Wollen Sie mich noch mal fragen, ob ich des kann, und einen Mann fragen?«
Verlegenes Murmeln war die Antwort. Die Krönung war gewesen, als Svenja sich in der Milchkammer gesäubert hatte und Resi grinsend gemeint hatte: »Der red allat so an Soich! Des goat it in sein Grind nei, dass du des kaasch. Dass a Wieb d Griffl in am Viech hot. Wie lang hosch bruucht?«
»Zehn Minuten?« Svenja hatte verschmitzt gelächelt und ihr verschwiegen, dass die Sache ziemlich kritisch gewesen war. Svenja machte sich nie wichtig.
»An Duusl hots halt ghett!«, hatte Hias noch vor sich hin gemault. Resi hatte dann eine Runde Obstler geholt und noch eine, und beim dritten hatte der Hias durchaus bewundernd gesagt: »Dia Svenja.« Dann war er in den Stall gegangen, und die drei Frauen hatten sich ausgeschüttet vor Lachen. Jo konnte sich kaum mehr beruhigen. Resi hatte noch gemeint: »Du bisch mer so a Kitterfiedla«, und dann war sie ihrem Mann gefolgt.
Svenja war ein Mordsweib und ein Mordskumpel – und inzwischen eine Stunde zu spät. Jo ging vor die Tür. Wind war aufgekommen und der Himmel schwarz geworden. Ganz hinten, am Horizont, lag ein Streifen in einer gallig gelben Farbe. Ein Gewitter würde aufziehen. Jo ging auf die Ostseite ihres Hauses und sandte einen Blick zu den Pferden hinüber, die nicht etwa grasten, sondern säuberlich aufgereiht in ihrem Unterstand standen, wo sie doch gerade erst Freiheit erfleht hatten. Sie waren steif wie Modelle aus Gips und starrten unter dem Dach hervor.
Kater Moebius von Atzenhuber schoss vorbei, seine Mutter Frau Mümmelmaier von Atzenhuber ging gemessenen Schrittes hinterher, ohne Jo auch nur mit dem Arsch anzuschauen. Und dann fielen schon die ersten Hagelkörner. Jo raffte ihre Pferde-Führstricke zusammen, die noch herumlagen, und rannte ins Haus. Als sie dort war, tobte bereits ein Inferno. Der Wind hatte zwei Blumentöpfe von der Fensterbank gefegt, Vorhänge flatterten wie zerrissene Segel eines Schiffchens in akuter Seenot. Jo warf die Fenster zu und sich auf den Küchenstuhl.
»Scheiße, ich hasse den Sommer. Er ist wankelmütig und unberechenbar!«, fluchte sie.
Auf dem Küchentisch saßen die beiden Katzen, und ihr Blick sagte nur eins: Wieso lasst ihr Menschen euch immer so viel Zeit? War doch klar, dass ein Gewitter kommt. Recht hatten sie ja.
Um acht in der Früh hatte das Thermometer schon neunundzwanzig Grad angezeigt. Über Wochen hatte sich dieser Sommer in immer neue Rekordversuche verstiegen. Jeden Tag schlug einem eine Hitze wie Watte ins Gesicht. Das Atmen fiel schwer, Jo sehnte sich nach einem kühlen Morgen mit einer Luft, die man schmecken und riechen konnte. Die Aussichten darauf waren schlecht. Bei brütend schwülen dreiunddreißig Grad hatte der Himmel am späten Vormittag begonnen, Wolken aufzuschichten. Erst weiß, dann grau und dann bedrohlich schwarz.
In Jos Brotkorb schlug ein weiteres Tier gerade die Augen auf: Bianchi von Grabenstätt, Katze Numero drei. Sie blinzelte Jo zu: Wir sind dem Menschen eben überlegen. Dann drehte sie sich, drückte dabei ein verlassenes Croissant endgültig platt, bildete den Katzenkringel erneut und versank in sanfte Träume. Jo hatte Bianchi in einem Straßengraben gefunden, gerade mal sechs Wochen alt. Ausgesetzt, einfach weggeworfen vor den Pfingstferien! Und weil das Tier bis auf einen getigerten Schwanz, der aussah wie eine Ringelsocke, und einen Tigerfleck hinterm Ohr ganz weiß war, hieß es Bianchi. Von Grabenstätt hatte Svenjadazu erfunden – wegen der erdigen Herkunft und weil Svenja gefunden hatte, dass bei zwei »Vons« die dritte Katze auch adlig sein müsse.
»So viel Zeit muss sein«, hatte sie gesagt und Jo ganz kurz die Hand gedrückt.
Einige Wochen vorher hatte sie Jos Katze Fräulein Einstein eingeschläfert. Einstein, Einstinchen, Stinchen – jemand hatte sie angefahren, und sie hatte sich doch noch bis in Jos Keller geschleppt. Svenja war in Rekordzeit da gewesen, hatte alles Nötige getan. Auch einen Karton gefunden, ein Erdloch gegraben und sich Jos ekstatische Weinkrämpfe angehört. »Sie war doch noch so jung. Sie hatte es doch eh so schwer. Sie war ein so armes Tier. Sie hätte doch leben müssen.«
Svenja hatte genickt. »Aber sie hatte ein schönes Jahr bei dir. Das ist viel. Viel mehr, als andere Tiere haben. Tiere denken nicht in Kategorien wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Einstein hat ein gutes Katzenleben gelebt.«
Svenja, die abgeklärte Tierärztin, hatte es in keiner Weise komisch gefunden, dass Einstein als Grabbeigabe ein grünes, zerfleddertes Spielzeug mitbekommen hatte. Sie hatten an Einsteins Grab Grappa gekippt, und dann war Mümmel gekommen. Sie hatte sich vor den Grabhügel gelegt wie eine Sphinx, die Augen halb geschlossen. Jo hatte geheult und Svenja auch. Geredet wurde nichts. Erst als Mümmel aufgestanden war, standen die beiden Frauen auch auf. »Ich will nie mehr ‘ne Katze«, hatte Jo noch gesagt – bis sie Bianchi entdeckt hatte. Nass, die Augen verklebt, zwei riesige Zecken in den Ohren, fiepend vor Angst und Kälte. Svenja war gekommen und hatte wie immer wenig gesagt – nur: »Die kriegen wir wieder hin.«
Jo lächelte an ihrem Küchentisch. Svenja, die Gute. Svenja, die Praktische, die ihre blauen Flecken immer mit Tensolvet für Pferde behandelte. »Wirkt besser als das Zeug aus der Humanmedizin«, hatte sie gegrinst. Svenja war nur auf den ersten Blick so ein burschikoser Kumpel, sie war auch ein einfühlsamer Mensch. Svenja redete nie viel und selten über sich selbst. Als sie da bei Einstein am Grab gesessen hatten und es stockdunkel geworden war, da hatte Svenja mal durchblicken lassen, dass sie für das himmelschreiend teure Pflegeheim ihres Vaters aufkommen musste. Sie hatte sich nicht beklagt. Sie hatten beide ins Schwarz der Nacht gestarrt, als Svenja gesagt hatte: »Hast du nicht auch das Gefühl, dass Worte, die wir im Dunkeln sprechen, ihre Gestalt ändern? Sind sie nicht deutlicher als die im Licht gesprochenen?« Darüber hatte Jo lange nachgedacht und darüber, dass in Svenja ungeahnte Tiefen schlummerten, an die sie wohl kaum jemanden heranließ.
Vor einigen Tagen war Svenja zuletzt da gewesen, einfach so, auf einen Cappuccino, denn Jos Cappuccino war legendär: besser als beim Italiener und stets mit Katzenbegleitung, weil Jos Feinschmecker-Katzen-Truppe den Gästen den Milchschaum von den Tassen klaute. Svenja hatte wenig Zeit gehabt, und wie immer hatte sie was vergessen. Ein Notizbuch, das irgendwie wichtig aussah. Jo hatte angerufen, um den Verlust zu melden. »O ja, Mist, das hab ich vergessen. Stell es halt sicher. Behalt es, bis ich wiederkomme«, hatte Svenja gesagt. Nun war sie heute aber nicht wiedergekommen.
Als um 17 Uhr 30 der Anruf kam, war Hauptkommissar Gerhard Weinzirl gerade damit beschäftigt, einen Berg aus Post, Zetteln, Akten und Protokollen abzubauen. Ein riesiger Müllberg, und irgendwo musste die Notiz stecken, die Gerhard suchte. Er fluchte vor sich hin. Es war heiß. Einige Wetterkundler prognostizierten schon Palmen am Alpsee. Auf eine Periode der trockenen Hitze waren Gewitterfronten gefolgt. Seit Tagen hatte Gerhard das Gefühl, in heißen Wickeln zu liegen, so wie früher bei seiner Oma, die der Grippe immer Wadenwickel entgegengesetzt hatte. Aber das hier waren Ganzkörperwickel! Gerhard schwitzte, ja selbst sein Uli-Stein-Kater und seine Uli-Stein-Maus aus Plastik, die seinen Computer zierten, schienen zu transpirieren. Das Telefon schellte. Jetzt bloß nichts Wichtiges, flehte er innerlich, denn eigentlich hatte er soeben beschlossen, das Müllumgraben zu beenden und zu gehen.
Seine Kollegin Evi Straßgütl war dran. »Kam gerade rein. Eine weibliche Leiche, so um die vierzig. Sie liegt …«, Evi stutzte, »in der Ruine Eisenberg. Wo um Himmels willen ist das?«
»Bei Pfronten. Wer hat denn angerufen?«, fragte Gerhard.
»Kollegen, die sind wohl am Tatort. Wo auch immer der liegt. Sie machten mir den Eindruck, als hätten sie die Sache nicht ganz im Griff.«
»Los, fahren wir. In zwei Minuten unten.«
Als er ins Auto sprang, hätte Gerhard längst wieder duschen wollen. Die Luftfeuchtigkeit war tropisch. Zwar hatte es geknallt und gedonnert, und Hagel war niedergegangen wie beim Jüngsten Gericht, aber Abkühlung hatte es keine gegeben. Die Sonne war wieder draußen, jetzt um halb sechs so penetrant, als sei es Mittag. Gerhard hatte das ungute Gefühl, dass sie an der falschen Stelle hing. Nichts war im Lot in den letzten Tagen.
Er donnerte über die Autobahn – nicht lange, denn seine rasende Fahrt wurde mehr und mehr durch eine winterweiße Fahrbahn abgebremst. Natürlich war das kein Schnee, das waren Hagelkörner, zusammengepappt zu einer Masse, die wie eine Schneedecke aussah und die Wirkung von Schmierseife hatte. Kurz vor der Ausfahrt Nesselwang fuhren Schneepflüge, und ein Polizeiwagen stand quer.
Gerhard bremste scharf ab, rutschte auf die Kollegen zu. Evi sah ihn strafend an, sie hasste es, wenn Gerhard so raste. Sie hielt ihren Kollegen den Ausweis unter die Nase.
»Wir müssen nach Eisenberg.«
»Mmm«, machte der Kollege, »aber ohne Amphibienfahrzeug kommt ihr hier nicht durch. Alles überflutet Richtung Nesselwang. Kennt ihr euch aus?«
Evi sah Gerhard an, der nickte.
»Dann fahrt Richtung Seeg und am Schwaltenweiher vorbei. Viel Glück. Es isch wegen der Leich, oder? Kam über Funk.«
Gerhard nickte wieder und tippte sich an eine imaginäre Mütze und fuhr mit quietschenden Reifen los. Evi sagte nichts, erst ein Hinweisschild mit Namen »Goldhasen« ließ sie ihr Schweigen unterbrechen. »Goldhasen! Wo sind wir hier bloß hingeraten?«
Völlig unvermittelt schnauzte Gerhard sie an: »Das ist doch ein verdammt netter Name.« Jo hätte jetzt wissen wollen, wieso der Ort so heißt, und hinfahren müssen, wahrscheinlich hätte sie das Schild fotografiert und zu allem Überfluss die Hasen gesucht. Verdammt, Jo!
Er schoss viel zu schnell in das Ministräßchen nach Schwalten und Strass. Die Sonne zauberte Silberflitter auf den See. Die Sonne war falsch, eine Verräterin, der ganze Sommer war falsch. Und einmal mehr wusste er, dass das ein Jo-Gedanke war. Die Gedanken einer Winterfrau. In Weizern hatte er sich wieder unter Kontrolle.
»Sorry, cara bella«, sagte er zu Evi, »diese Hitze schafft mich. Hier hat’s übrigens eine gute Sennerei.«
Evi nickte nur.
Sie fuhren durch Eisenberg und weiter hinauf zur Schlossbergalm. Ein Polizeiauto versperrte den Weg, auf der Alm saßen verschreckt aussehende Touristen. Die Schlossbergalm – akkurat auf tausend Metern gelegen – bot einen unverschämt schönen Blick in die Vilser Gruppe hinein. Den Almziegen war der Blick allerdings egal und die ganze Aufregung auch. Die Einzigen, die hier herumzuklettern und herumzumeckern hatten, waren sie. So meckerten sie gegen die Hektik an, der Bock schickte einen gnädigen, ja huldvollen Blick zu Gerhard hinüber. So ein Schlossberg adelt eben!
Gerhard und Evi zeigten ihre Ausweise und krochen unter dem Absperrband durch. Gerhard so, als wolle er einen Limbo-Wettbewerb gewinnen. Rasch und schweigend stiegen sie durch den Wald hinauf. Als Eisenberg in den Blick kam, kam Gerhard in den Sinn, wie sehr der Adel doch damals seine bauliche Großmannssucht ausgelebt hatte. Im Kleinen wie hier und im Großen wie bei den Märchenschlössern des »Kini«. Es war fast immer so, dass Gerhard, wenn er zu einem Ermordeten unterwegs war, ganz abwegige und banale Gedanken durch den Kopf schossen. So, als müsse er den Geist reinigen für das, was kommen würde an Grauenvollem.
Jetzt musste er sogar ein wenig lächeln, lächeln darüber, dass diese Verschwendung die Nachwelt umso mehr freute. Dass des Kinis Tod ja wohl der einträglichste Tod für die Tourismusindustrie war, den es je gegeben hatte. Tourismus – Jos Gesicht huschte vorbei, bevor er den Kopf hob und erneut nach innen hörte. Sie hatten mindestens vier Schulausflüge hierher gemacht, und er erinnerte sich, plötzlich und glasklar, dass Friedrich von Freyberg Hohenfreyberg irgendwann Anfang des 15. Jahrhunderts im Stil einer staufischen Burg errichtet hatte. Das Ganze einen Steinwurf entfernt von der Burg Eisenberg seines Vaters. Sohnemann hatte es nicht wahrhaben wollen, dass die Zeiten des Rittertums vorbei waren. Trotzig ließ er diesen Imponierbau errichten, wollte sich gegen die Zeichen der Zeit stemmen. Und als sei es gestern gewesen, erinnerte sich Gerhard daran, dass kurz vor Ende des Dreißigjährigen Krieges die Tiroler Landesregierung im Zuge der »Politik der verbrannten Erde« die beiden stolzen Schwesterburgen hatte niederbrennen lassen. Das alles fiel ihm jetzt ein, hatte der alte Sack von einem Geschichtslehrer ihm wohl doch etwas beigebracht!
Evi war stehen geblieben und hatte den Kopf in den Nacken gelegt. »Wow, ich war noch nie hier. Das ist ja schon …« Sie suchte nach Worten.
Die ungewöhnlich hohe, zinnenbewehrte Wandscheibe von Eisenberg hatte dem Feuer getrotzt, ihr Skelett hatte jahrhundertelang wie ein Mahnmal des Rittertums ausgeharrt. Jetzt, in der vom Gewitter gereinigten Luft, hob sie sich scharf umrissen gegen das Blau des Himmels ab – fast bedauerte Gerhard es, kein Fotograf zu sein.
Gerhard folgte Evis Blick. »Ja, Burgruinen gibt es viele in Bayern, aber diese beiden? Ungewöhnlich schön.« Er brach ab, es war ihm peinlich, so lyrisch zu werden.
Er scheuchte Evi mit einer kleinen Handbewegung weiter. Sie ging vor ihm her und sah mit den abgezippten Trekkinghosenbeinen und einem engen T-Shirt einfach sexy aus. Er rief sich zur Räson: Sie waren auf dem Weg zu einer Leiche. Er war Evis Vorgesetzter. Es war schlimm genug, dass er seinen Vorsätzen, sich nie am Arbeitsplatz auf so eine Geschichte einzulassen – er konnte es nicht mal für sich selbst aussprechen, dass er mit ihr geschlafen hatte –, untreu geworden war. Sie hatten das beide auch hinterher nicht thematisiert, aber es lag Spannung in der Luft. Gerhard wusste, dass er etwas hätte sagen müssen. Oder nicht!
Sie durchschritten den Burghof. Die Leiche war in der so genannten Kapelle gefunden worden. Sie lag auf dem Rücken, die Augen geschlossen. Ihrer Hand war augenscheinlich eine Spritze entglitten, daneben lag ein Röhrchen. Ein Kollege in Uniform war sichtlich überfordert, sein junger Begleiter kam gerade aus dem Gebüsch. Grünweißlich im Gesicht.
»Weinzirl, meine Kollegin Evi Straßgütl. Konnten Sie schon Personalien feststellen?«, fragte Gerhard, nun absolut bei der Sache.
Die beiden schüttelten den Kopf.
»I hon nix agrührt«, sagte der Ältere schließlich.
Gerhard trat näher heran. Die Frau trug eine abgeschnittene Jeans und ein Top, wenig Platz für Identitätsnachweise. Er musste an diese Visa-Reklame denken, bei der die Badeanzug-Nixe die Visa-Karte hinter der Pobacke rauszaubert. Unpassender Gedanke! Gerhard wandte sich der Leiche zu. Sie war kräftig, keine Modelmaße, aber auch nicht schwammig. Ihre Hände waren alles andere als zart, ihre Oberarme muskulös, und sie hatte über den ganzen Körper verteilt blaue Flecken, in verschiedenen Zustandsformen, die meisten waren schon im Gelb-Braun-Stadium. Ihr langes blondes Haar war ausgebreitet, umgab sie wie ein Stern. Der Regen hatte das Haar zu Strähnen verklebt. Die Sonne, die nach dem Gewitter wieder herausgekommen war, spielte nun auf einigen noch nicht wieder getauten Hagelkörnern. So, als hätte die Frau Diamanten im Haar. An ihrer Jeans war ein Schlüsselbund mit einem Bergsteiger-Karabiner eingehakt. Vorsichtig entfernte Gerhard den Schlüsselbund, und ebenso vorsichtig ließ er Spritze und Röhrchen in eine Plastiktüte gleiten. Sonst war hier erst mal wenig, was es zu sichern gab.
Die Frau sah nun wirklich nicht wie eine Drogenabhängige aus. Keine Einstiche. Sie wirkte so gesund, dachte Gerhard. Wenn man mal davon absah, dass sie tot war. Gerhard hasste diese bange Zeit, die oft allzu lang anhielt, bis die Leiche einen Namen hatte. Namen bedeuteten Identität, namenlose Opfer waren ihm ein Gräuel. Aber vielleicht war er da auch merkwürdig gestrickt. Er erinnerte sich an einen längeren Trip durch Kanada. Auf Partys im Ahornland hatten die Leute immer zuerst gefragt: Wie heißt du? In Deutschland war die erste Frage: Und was machen Sie beruflich? In dieser Frage war meist schon ein leicht aggressives Tremolo enthalten. Und je nachdem, wie die Antworten ausfielen, stand der Sozialneid in den Augen geschrieben: bei Gehirnchirurg etwa oder Lufthansapilot. Bei Polizist lächelten die Leute meist beruhigt. Endlich einer, der einen noch blöderen Job hatte als man selbst.
Und diese nicht mehr ganz junge Frau. Was hatte die wohl beruflich gemacht?
Der uniformierte Kollege deutete auf einen Mann, der an der Mauer lehnte. »Des isch der Notarzt. Den hot ma alarmiert. Ma hot ja it gwisst …«
Gerhard nickte. Er winkte den Notarzt herüber, der angeschlendert kam, als spaziere er auf der Seepromenade unten am Hopfensee. Er war ein kleines Männchen mit Bürstenhaarschnitt, viele Fältchen umspielten seine Augen. Er hatte was von einem Hobbit.
Gerhard grüßte und schwenkte das Röhrchen im Plastikbeutel unter seiner Nase. »Drogen? Sie sieht gar nicht so aus.«
Ein Hobbitgrinsen, dann schaute der Notarzt Gerhard fast strafend an: »Keine Drogen! Die Kollegen von der veterinärmedizinischen Abteilung sind einfach ein bisschen krass, wenn sie sich suizidieren.«
»Wie? Veterinärmedizin?«, fragte Gerhard.
»Nun, ich gehe davon aus, dass diese junge Dame Tierärztin ist oder war.« Er deutete auf das Röhrchen. »Euthanyl Forte, das ist ein Barbiturat in der Großtierkonzentration. Das hätte einen Elefanten umgehauen.«
»Also ein Selbstmord mit einem Medikament für Viecher?« Gerhard klang ungläubig.
»So sieht es für mich aus. Sozusagen hat sich die Kollegin selbst eingeschläfert.« Der Hobbit lachte, und seine Äuglein funkelten.
Gerhard entfuhr ein merkwürdiger Laut.
»Ja, so ist das! Tierärzte verwenden alles, was in der Praxis nicht niet- und nagelfest ist. Ich hab mir allerdings sagen lassen, dass beispielsweise T 61 keine schöne Art ist, aus dem Leben zu scheiden, das haben meist Pferdepraktiker zur Hand. Aber letztlich eignet sich alles, mit dem man Tiere einschläfert. Meist ist das eben eine Überdosis Barbiturat, quasi das Äquivalent zum Röhrchen Schlaftabletten, nur entsprechend gespritzt und damit effektiver. Ganz Perverse haben auch schon zum Bolzenschussgerät gegriffen, was üble Komazustände nach sich ziehen kann. Aber das Bolzenschussgerät ist wahrlich nicht in jeder Großtierpraxis vorhanden. Da sind dann eher die Schlachter gefährdet.«
Gerhard starrte den Mann an. T 61? Bolzenschussgeräte? Hilfe, wenn das Humor sein sollte, war der nachtschwarz.
»Sollte es ein Selbstmord sein, dann haben wir hier wenig verloren. Können Sie Fremdeinwirkung ausschließen? Und was ist mit den blauen Flecken?«, fragte er schließlich.
»Also wegen der Flecken: Veterinäre leben gefährlich! Das ist ein Knochenjob, Tiere treten, beißen, kratzen. Und Frauen kriegen schneller blaue Flecken. Sie wissen schon: schwaches Bindegewebe und so. Äh, ja, und um auf die andere Frage zurückzukommen: Ich kann natürlich gar nichts ausschließen. Das können nur die Freunde aus der Patho. Das ist euer Job. Ihr habt doch ‘ne Spusi. Wobei das mit dem Sichern wahrscheinlich schlecht aussieht?«
Spusi sagte der Kerl zur Spurensicherung! Aber er hatte Recht. Gerhard ließ den Blick schweifen. Pfützen, überall noch kleine Schneeberge. Das Gewitter hatte auch hier ganze Arbeit geleistet. Er wandte sich wieder an den Arzt. »Sie hat sich vor dem Gewitter umgebracht, oder?«
»Ja, davon gehe ich aus. Das nasse Haar, die Hagelkörner, ihr Zustand. Ich würde sagen, das war gegen 14 Uhr.«
»Aber wieso sucht sie sich so einen Platz aus? Da laufen doch Leute rum?«, überlegte Gerhard.
»Tja, Ihr Job, mein Lieber! Theatralik! Also, ich kann mich erinnern, dass schon Männer von der Heini-Klopfer-Schanze in Oberstdorf in den Tod gesprungen sind, ich hatte mal eine Frau, die sich sozusagen selbst auf dem Altar geopfert hatte, weil sie unerwidert in den Pfarrer verliebt war. Tja, vielleicht war das der Platz, wo sie ihren Liebhaber getroffen hat und nun ein Zeichen setzen wollte. Sie glauben gar nicht, wo man überall Selbstmörder findet.« Er lachte erneut mit zwinkernden Äuglein.
Der Mann sprudelte die unglaublichsten Geschichten in einer solchen Hochgeschwindigkeit und ohne jede Pietät heraus, dass Gerhard ganz anders wurde. Aber Liebeskummer? Wieso kam ihm das so abwegig vor?
Der junge Kollege, der immer noch grün wie Slime war, machte sich unbeholfen bemerkbar.
»Da ist einer, der sagt, er kenne die Frau. Soll ich den durchlassen?
Im Burghof, durch ein Band abgetrennt, stand ein Mann mit Schnauzbart, kurzer Lederhose, einem Leinenhemd und gestikulierte. Gerhard ging zu ihm hinüber.
»Griaßdigott«, er nickte artig. »I hon dia Schofla auf der Schlossbergalp. Dia Frau isch dia Svenja, dia hot erscht letschtens meine Schofla behandlat. Maschtitis!«
Gerhard starrte ihn an. Der Notarzt, der hinterhergekommen war, grinste. »Mastitis, Euterentzündung. Soweit ich weiß, bei Ziegen nicht ganz ohne. Wird antibiotisch behandelt.«
»Ja, genau, und dia Svenja hot des guat nakriagt.«
»Und wieso glauben Sie, dass die Frau Svenja ist?«
»Ja, weil der ihr Karra, dia fahrt so an uralta Pick-up, dunda an dr Poscht steht. Und weil dei scheene Kollegaföhl dunda Leit froagt. Dia Tourischta, dia dia Leich gfunda hend, sind doch zerscht auf d Alp. Des war a Duranand. Dia Frau sie groß gwä und blond. Das ka allet bloß d Svenja sei. Auch wegs dem Karra.«
Ein Kollege in spe, dachte Gerhard. Messerscharf gefolgert.
»Sie müssen das nicht tun, aber können Sie sie identifizieren?«, fragte er vorsichtig.
Der Mann nickte ernst.
Sie gingen die paar Schritte in die Kapelle. Der Mann schaute sich die Leiche an. Keinerlei Regung wie Entsetzen oder Ekel war seinem Gesicht zu entnehmen. Nur Konzentration. Dann sah er auf. »Ja, des isch d Svenja.«
»Svenja, und weiter?«
»Ja, do lecksch mi am Fidla. Dia heißt Gudmundsdottir, weil der Vattr isch a Isländer. Und in Island heißet alle Wieber dann dottir.« Er nickte Beifall heischend, weil er so schlaue Sachen wusste.
Gerhard hatte sich Notizen gemacht. »Wo hatte sie denn ihre Praxis?«
»Dia war beim Dr. Oschtheimer in Pfronta agschtellt. Sui hot Großviecher und Kluizuig behandlat. Dr Chef bloß Rinder und Pferd. I hon d Svenja liabr ghett wia dean Oschtheimer. Er war oft amol bruttlig und a Drimslar dazua. Grad bei de Schofla und Ziega pressierts aber, und des sind räacht sensible Viechle. Des hot d Svenja gwisst. Sui war au fachlich bessr, und des hot dem Oschtheimer gstunka. Aber wieso isch sui denn nochhert tot? Mitta in deane Kitzabolla?«
»Selbstmord?« Gerhards Stimme war eine Mischung zwischen Feststellung und Frage.
Sein Gegenüber sah ihn sekundenlang an, dann lachte er laut heraus. »Was? D Svenja? Dia doch it.«
»Sie glauben also nicht, dass sie sich umgebracht hätte?«
»Du bisch ja narret! Nia! So a Wieb doch it!«
Gerhard nickte, bedankte sich und forderte über Handy die Spurensicherung an. So a Wieb. Ja, irgendwie war sein erster Gedanke auch gewesen, dass diese Frau nicht suizidgefährdet ausgesehen hatte. Aber hatten nicht auch die großen starken Mädels Liebeskummer oder finanzielle Schwierigkeiten, waren womöglich unheilbar krank oder hatten andere Gründe, aus dem Leben zu scheiden?
Evi hatte unterdessen auf der Alm das Ehepaar befragt, das die Tote gefunden hatte. Das Paar war um die sechzig, beide trugen Bundhosen und karierte Hemden. Sie waren die Karikatur von Wanderwaden, vor allem, weil am Tisch auch noch eine »Alpenstange« lehnte, über und über voll mit kleinen bunten Stickern. Heldentaten von Gipfelbesteigungen, alle so hochalpin wie der Schlosshügel hier! »Mei, mei, mei«, stammelte die Frau vor sich hin, deren lila getönte Löckchen ziemlich derangiert wirkten. Er hingegen vermittelte, ganz Herr der Sache zu sein, und obgleich er seine Geschichte Evi schon dreimal erzählt hatte, stürzte er sich jetzt geradezu auf Gerhard. Ein so dickflüssiger, zäher Dialekt, dass man ein Messer gebraucht hätte, um durch diese Worte zu schneiden, brach über Gerhard herein.
»Herr Kommissar, jetzt höret Se mol zu …«, sagte er, und es folgte die detailgenaue Schilderung jedes Schritts, den er die letzten vier Stunden getan hatte.
Das Ehepaar hatte eigentlich zu den Ruinen hinaufsteigen wollen, aber angesichts der ersten Blitze auf der Alm Unterschlupf gesucht. Als dann das Gewitter aufgehört hatte und es nur noch leicht nieselte, waren sie sofort losgezogen. »Seller Higl fählt uns no im Allgei, Mutti«, hatte er in Richtung seiner Mei-mei-mei-Gattin gesagt. Und da waren sie dann sozusagen über Svenja gestolpert. »Die Frau han i vorher no nie gsäh«, schloss er. »Schreibet Se des fei auf«, rief er nochmals in Evis Richtung, obwohl sein Stimmvolumen sowieso locker bis zum Weißensee reichte.
Als Gerhard und Evi aufbrachen, grummelte Gerhard: »Hano, wieso ist dieses ganze Volk bloß zwingend so laut und so gescheit?«
»Nun sei nicht so, davon lebt ihr Allgäuer im Tourismus doch auch!« Evi, selbst gebürtige Fränkin, konnte Gerhards Schwabenabneigung nicht so ganz nachvollziehen.
Und zum zweiten Mal heute fegte Gerhard sie an: »Na ja, mit dir brauch ich das ja nicht zu diskutieren. An deiner Begeisterung für Jürgele hatte ja das ganze Präsidium Anteil.«
Evi hatte ein kurze Affäre mit einem Kollegen aus Ulm gehabt. Und als diese Episode vorbei war, hatte der verlassene Liebhaber ständig angerufen. Auch Gerhard musste ihn mehrmals abwimmeln, obgleich er den rotblonden Halbitaliener-Schwaben sehr mochte. Trotz des Adele zum Abschied! Gerhard erschrak: War er eifersüchtig, oder noch schlimmer: Dachte Evi, er wäre eifersüchtig?
Seine Kollegin sah ihn nur missbilligend an. Mit einem »Und was jetzt?« ging sie zur Tagesordnung über.
»Jetzt sehen wir uns mal das Auto an«, schlug Gerhard vor. »Ein Pick-up vor der Post wird ja wohl auffallen.«
Was er tatsächlich tat. Es handelte sich um einen Nissan, von dessen ursprünglicher Farbe wenig übrig war. Er sah so aus, als hätte er etwa sieben Wüstendurchquerungen, diverse UN-Einsätze und mehrere Partisanenkriege mitgemacht. Das Auto war unversperrt, weder die Fahrertür noch der Aufbau waren verriegelt. Im Aufbau standen die typischen Alukisten der Tierärzte, es gab eine Reihe von kleinen Schubladenfächern, alle gefüllt mit Spritzen, Nadeln und Medikamenten.
»Ganz schön unachtsam, das Zeug so offen stehen zu lassen«, bemängelte Evi.
»Na ja, wenn du dich umbringen willst, ist dir das wohl egal«, konterte Gerhard, der inzwischen in einer Ablage in der Fahrerkabine die Brieftasche der Toten gefunden hatte. Zwanzig Euro, ein Personalausweis, eine Visa-Karte und eine Krankenkassenkarte steckten darin, außerdem ein Bündel Visitenkarten, auf der die Arbeitsstelle verzeichnet war und die private Anschrift. Svenja Gudmundsdottir wohnte in Immenstadt, hatte gewohnt …
»Okay, tragen wir mal die Fakten zusammen. Ich lade dich nach Speiden ein«, lautete Gerhards Vorschlag.
Dass er Evi mit dem Kössel-Bräu in Speiden keinen Gefallen tat, war offensichtlich. Gerhard bestellte sich eine gehörige Portion Blut- und Leberwurst aus der Hausmetzgerei. Die Health-Food-und-Low-Fat-Evi wurde blass. »Wie du so einen Scheißdreck fressen kannst!« Gerhard empfand ihren Ton als unangemessen, er sagte ja auch nichts zu ihren Karnickel-Futter-Salaten und ihren ewigen Mineralwässerchen, von denen sie auch noch behauptete, sie würde den Unterschied zwischen den diversen Wässern rausschmecken. Momentan war Valser aus der Schweiz ihr Favorit, das gab es nun leider in Speiden nicht.
»Also, rekapitulieren wir.« Evi zog ihre Unterlagen heraus. »Hier ist das Wetter schon früher umgeschlagen als in Kempten. Es gab einen Mordssturm, etwa ab 14 Uhr, meinten einige. Das Gewitter setzte um circa 15 Uhr ein, um 16 Uhr 30 war es vorbei. Das Ehepaar ist dann hinaufgestiegen und war um 16 Uhr 40 im Innenhof. Sie waren um 16 Uhr 50 wieder auf der Alp herunten, haben alle rebellisch gemacht, und die Pfrontner Kollegen waren um 17 Uhr 15 am Tatort. Sie haben uns dann umgehend angerufen.«
Die Tür zur Wirtschaft ging auf. Es war der Schafbesitzer von der Alp, der wohl ein Bier auf den Schock trinken wollte. Gerhard bat ihn, sich an den Tisch zu setzen. Der Mann bestellte sich ein dunkles Bier und seufzte tief.
»D Svenja war scho eabbas ganz Bsonders. Nia a Gschieß gmacht und nia auf d Goscha gfalla! Dr Peter dienet, mei Nachbar, der heißt iberall ›dr schwer vermittelbare Peter‹, weil der fir sein Hof vor lauter Graffl und Glump nia a Frau find. Und dr sell isch umd Svenja scharwenzlat. Und do hot sui ihm vorgschlaga, sie kunnt dia Spritza mit der Entwurmung au em Peter gäh statt de Schumpa. Und dann hot der neabadett and Wand na gsoicht. Und d Svenja hot gsait: ›Reviermarkierung, gell?‹ Und scho war dr Kittl gflickt! Und jetzt soll sui tot sei?«
Er nahm sein Bierglas auf, prostete Gerhard zu. Der prostete zurück, starrte in seinen Teller. Nur das Kratzen seines Messers war zu hören. Ewigkeiten vergingen.
»Wissen Sie etwas über ihre Familie? War sie verheiratet?«, fragte Gerhard schließlich.
»D Svenja, na! Do hot’s scho amol a Gschpusi gäh, aber kuin für länger, verzehlt ma sich. Dia meischte waret für d Svenja Hosasoicher.«
»Eltern?«
»I wois it. I wois bloß, dass d Svenja kui Ratschkattl war. Drum wois i au nix.«
Das war Allgäuer Logik, dachte Gerhard. Schließlich verabschiedete man sich.
Gerhard klopfte dem Schafbauern noch mitfühlend auf den Rücken. Evi schüttelte kaum merklich den Kopf. Gerhard sah ihm nach und wandte sich dann Evi zu.
»Fahren wir mal zu ihrer Privatadresse in Immenstadt«, sagte er und warf ihr den Autoschlüssel zu.
2
Evi chauffierte gemächlich. Es war bereits dunkel, und sie waren allein auf der Straße. Nach dem heftigen Gewitter schien sich niemand mehr hinauszutrauen. Um 21 Uhr 30 waren sie »Unter den Eichen« angelangt. Eine Wohnlage so nah am Zentrum und doch so still wie ein Grab. Grab?
Gerhard liebte das Städtle. Immenstadt galt Gerhard immer schon und heute mehr als früher als erstrebenswerter Wohnort. Es war putzig, liebenswert, und Gerhards geliebte Mountainbikerouten und Skitourenberge begannen wirklich direkt hinterm Marienplatz. Das war seine Welt – jetzt, wo Kempten zu allem Überfluss mehr und mehr auf Weltstadt machte mit einem Einkaufszentrum, in dem Gerhard bei seinem einzigen samstäglichen Einkaufsversuch von klaustrophobischen Anfällen heimgesucht worden war. Forum Allgäu, was für ein hochtrabender Name dafür, dass sich schwitzende Menschen auf Rolltreppen drängten und in Geschäften ballten, die eh keiner brauchte – fand Gerhard. Und eine Big Box hatte er auch nicht nötig. In Ermangelung von Freizeit musste er sich über Konzerte und Co. wirklich keine Sorgen machen. Wenn Gerhard überhaupt mal auf Kultur machte, dann im Jazzfrühling, und auch dann mied er Konzerthallen. Am liebsten waren ihm Veranstaltungen auf der Höfle-Alp im Bergbauernmuseum, wenn die Musik mit der Umgebung verschmolz. Hätte einer Gerhard gefragt, was seine Lieblingsband sei, dann hätte er immer die Kerberbrothers genannt. Menschen, denen es gelang, einem Alphorn und einem Hackbrett solche jazzigen Klänge zu entlocken, die bewunderte Gerhard aufrichtig. Vor allem, weil sie unaufgeregt und völlig bar aller Starallüren waren. Wenn das nun jemand als Alpenfusion bezeichnete, ging das Gerhard eher am Allerwertesten vorbei. Die Jungs waren gut – Punktum, aus, Äpfel, Amen. Gerhard war keiner für aufgeblähte Begriffe – auch beim Ausdruck »Fusionsküche« zuckte er zusammen. An einem Schweinsbraten gab’s nix zu fusionieren! Nein, Kempten mit Großstadtbrimborium war nicht das seine, dann doch lieber Immenstadt.
Ein Schlüssel – natürlich der letzte, den Gerhard ausprobierte – sperrte auf. Es handelte sich um eine kleine Zweizimmerwohnung, eher spärlich möbliert mit Naturholzmöbeln, die so wirkten, als besitze Svenja dieses Mobiliar seit ihrer Studienzeit und habe sich in Ermangelung von Zeit nie um ein neues Wohnambiente kümmern können. Die Regale quollen über von Fachbüchern, auf dem Schreibtisch lagen einige Ausgaben der Fachzeitschrift »Grüner Heinrich« herum. Die kleine Küche besaß ein typisches Single-IKEA-Tischchen, das man hochklappen konnte. Und natürlich lungerte ein Billy an der Wand herum.
Sie hatten noch nicht mal ganz das Schlafzimmer erreicht, als eine schrille Stimme sie herumfahren ließ.
»Hände hoch! Bleiben Sie stehen! Ich hol die Polizei!«
Eine Frau hatte sich im Gang aufgebaut, umweht von weißen Haarsträhnen, einen Schürhaken in der Hand, in einen Morgenrock gewandet, der bis zum Boden reichte und so aussah, als wären die letzten seiner Art spätestens im Zweiten Weltkrieg zu Decken für die Ostfront umgearbeitet worden.
»Die Hände lass ich lieber unten«, sagte Gerhard unbeeindruckt, »denn nur so kann ich Ihnen meinen Ausweis zeigen.« Er klappte schwungvoll ein Etui auf und bedachte die Frau mit einem reizenden Lächeln, das besonders ältliche Damen völlig in seinen Bann zog. Obwohl er mit dem etwas zu lang geratenen blonden Rauhaardackel-Haar nicht unbedingt dem idealen Schwiegersohn glich, liebten ihn ältere Damen vor allem in der Altersklasse, wo es weniger um Schwiegersöhne als um erwachsene Enkel ging. Durchaus resolut nahm die Frau das Etui, ohne dabei den Schürhaken zu senken, und studierte den Ausweis.
»Und Sie da?«, fragte sie in Evis Richtung.
»Meine Kollegin«, sagte Gerhard – jetzt mit warnendem Unterton in der Stimme. »Und selbst? Was machen Sie in einer fremden Wohnung?«
»Na, hören Sie mal, die Frau Svenja ist oft länger aus. Und wenn dann ein Auto vorfährt, das nicht ihres ist, und die Tür zu hören ist … Na, hören Sie mal, da sorgt man sich doch!«
»Und das stellen Sie alles so binnen Sekunden fest? Respekt!«
Die Ironie in seiner Stimme entging ihr anscheinend gänzlich. Aber deutlich zahmer sagte sie:
»Na, hören Sie mal. Svenjas Auto hören Sie doch schon, wenn sie durch Stein fährt oder von Zaumberg runterkommt. Das ist ein Lastwagen!«
»Da haben Sie Recht! Und Sie sind?«
»Na, hören Sie mal, die Hausfrau natürlich.« Die Betonung lag auf »die«, ein alles umfassendes »die« – das Hausbesitzerin, Hauswartin, Hausmeisterin, Hausdrache und ähnliche Komposita einschloss.
»Namens?«
»Ach so. Bodenmüller, Edeltraut Bodenmüller. Und was wollen Sie hier?«
»Frau Bodenmüller, es tut mir Leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Svenja tot ist. Wahrscheinlich Selbstmord«, sagte Gerhard ohne weitere Vorbereitungsreden.
Frau Bodenmüller japste nach Luft, dann sank sie gegen den Türrahmen. Gerhard konnte sie gerade noch auffangen. Die Frau hatte das Gewicht eines ausgewachsenen Nashornbullen. Mit Evis Hilfe bugsierten sie Frau Bodenmüller in ihre gute Stube, in der Wohnung, die gegenüber von Svenjas lag.
Gute Stube, ja das war ein interessanter Ausdruck für einen Raum, der sozusagen ein Häkelmuseum war. Häkeldeckchen waren über alles gebreitet, was zu bedecken war: Sessel, Kopfteile der Sessel, Tisch, Beistelltischchen. Häkeldeckchen fungierten als Untersatz für Pflanzen, ja sie waren sogar hinter Glas als Bilder gerahmt. Auf dem breiten Fensterbrett lag ein weinrotes Kissen mit Häkeldeckchen in Himmelblau, und darauf thronte eine Perserkatze. Besser ein Kater, wie sie sogleich erfuhren. Ein graues Monstrum namens »Bubele«, das wohl besser Conan oder Diavolo geheißen hätte, angesichts seiner grob geschätzten acht Kilo und des diabolischen Blicks. Ein Zahn ragte aus dem Maul des Katers, und er sabberte.
Evi hatte der Frau ein Glas Wasser aus der aseptisch sauberen Küche geholt, und allmählich kam sie wieder zu sich. Nachdem Gerhard die Umstände von Svenjas Tod mehrfach erklärt hatte, auch den Umstand, dass es wohl ein Suizid sei, sagte Frau Bodenmüller immer wieder gebetsmühlenartig:
»Man kann nicht reinschauen in die Leute. Lieber Himmel!«
Sie schüttelte den Kopf, dass die Haarsträhnen flogen, und schließlich konnten sie ihr einige Informationen entlocken.
Neben dem bereits bekannten Namen des Katers erfuhren sie, dass Svenjas Mutter vor Jahren gestorben war, keine Geschwister hatte und ihr Vater in einem Pflegeheim in Stade im Alten Land lebte, an schwerer Demenz und Parkinson litt und doch »der liebe Herrgott noch nicht willens war, ihn heimzuholen«, wie sich Edeltraut Bodenmüller äußerst pathetisch auszudrücken pflegte. Es sprudelte nur so aus ihr heraus, und Gerhard hatte alle Mühe, ihren Redeschwall in die notwendige Richtung zu lenken.
»Hatte Svenja einen Freund?«
Auch hier folgte eine Abhandlung über die Jugend, die Partner wechselte wie Unterhosen. Von Svenjas Männern wusste sie zu berichten, dass der letzte Übernachtungsgast vor Monaten, also im Frühsommer dieses Jahres, gesehen worden war. Auch nur kurze Zeit sei das gewesen. Sie führte wohl Buch! Der sei öfter da gewesen, »so ein Blutjunger, der hätt ja ihr Sohn sein können, ich bitte Sie.«
Aber sonst ließ Wachhund Edeltraut auf Svenja nichts kommen, hatte die es doch geschafft, das »Bubele« zu behandeln, wo doch »Bubele« schon vier Tierärzte schwer verletzt und damit verschlissen hatte. Das glaubte Gerhard sofort, so, wie der Kater ihn jetzt gerade ansah.
»Mei, die arme Frau Doktor Svenja. Ein Selbstmord. Sich so an Gott zu versündigen. Aber man kann nicht reinschauen in die Leute.« Sie sagte das so, als sei die Tatsache von Svenjas Ableben weniger gravierend, als sich an Gott versündigt zu haben.
Nachdem Gerhard und Evi erfolgreich einen Kaffee und ein dazugehöriges Kaffee-Likörchen – »der Beli ist so teuer, der vom Aldi ist genauso gut« – abgewehrt hatten, machten sie sich erneut an die Untersuchung von Svenjas Wohnung. Da gab’s nichts Spannendes. Vom Kühlschrank war ein Vakuum zu vermelden, ähnlich wie es in Gerhards Kühlschrank herrschte: ein abgelaufener Joghurt, eine angebrochene Milch, eine Flasche Wein, ein Glas Essiggurken, einige asiatische Chutneys. Auch das Schlafzimmer wirkte gesichtslos. An einer Kleiderstange, die von einem bunten Vorhang verborgen war, hingen Jeans, Latzhosen und Wanderjacken. Es gab ein Sommerkleid und ein Dirndl. Gerhard notierte zudem die wenigen weiblichen Kosmetika. Eine Gesichtscreme, gekauft bei Schlecker, ein Deo, Zahnbürste, Zahnpasta – das war’s. Im Schuhschrank im Gang standen bis auf ein Paar schwarze Pumps nur praktische Schuhe wie Turnschuhe, Bergschuhe, Gummistiefel und braune Slipper. Auf dem Schreibtisch lagen alte Zeitungen.
Was er entdeckte, war ein Ordner mit offiziellen Dokumenten. Der war allerdings schon interessant – in zweierlei Hinsicht: Das Pflegeheim für den Vater kostete viertausendeinhundert Euro im Monat, wovon tausend aus einer Rente bestritten wurden. Den Rest bezahlte augenscheinlich Svenja, deren Gehalt ziemlich genau das Heim deckte. Wovon sie die Miete, Auto und sonstige Ausgaben zahlte, war nebulös. Ihr Konto jedenfalls wies dreitausendachthundert Miese aus, ein Sparbuch oder sonstige Geldanlagen gab es auf den ersten Blick keine. Bedenkenswert fand Gerhard zum Zweiten, dass in unregelmäßigen Abständen Geldsummen von zwei- bis dreitausend Euro auf das Konto geflossen waren.
»Frau Bodenmüller, hat Svenja ihre Miete immer pünktlich bezahlt?«, fragte Gerhard an die »Hausfrau« gewandt, die die Durchsuchung natürlich mit scharfem Blick überwacht und mehrfachem »Machen Sie fei nix kaputt!« kommentiert hatte.
»Ja, sicher, und immer bar«, strahlte sie.