JACK WILLIAMSON
ANTIMATERIE
Roman
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Wir schreiben das Jahr 2190. Die Menschheit ist ins All aufgebrochen und hat auf dem Mond, den Nachbarplaneten der Erde und im Asteroidengürtel Fuß gefasst. Doch die interplanetare Raumfahrt birgt große Gefahren: Ströme kontraterrestrischer Materiebrocken, die Überbleibsel des Zusammenstoßes einer Antimateriewelt mit einem Planeten aus Normalmaterie, durchziehen das Sonnensystem und vernichten jedes Schiff, das mit ihnen kollidiert. Aber die Antimaterie, kurz AM genannt, könnte äußerst nutzbringend sein, sobald es gelingt, die ihr innewohnenden gewaltigen Energien zu zähmen und gezielt einzusetzen. Ein Team von Raumingenieuren beschäftigt sich mit diesem kühnen Projekt. Die Arbeit der Männer ist äußerst gefährlich, und das AM-Problem scheint unlösbar zu sein – bis die Ingenieure ein Schiff aus der Vergangenheit entdecken …
Jack Williamson (geb. 29.04.1908) wuchs auf einer Farm in New Mexico auf. Als Jugendlicher bildete er sich autodidaktisch neben der Schule in öffentlichen Bibliotheken, was ihn zum Außenseiter werden ließ. Als er Mitte der Zwanzigerjahre das Magazin Amazing Stories entdeckte, beschloss er, Science-Fiction-Schriftsteller zu werden. Damit legte er den Grundstein für eine erstaunliche Karriere: Er publizierte bis kurz vor seinem Tod und gewann mit 93 Jahren noch den Hugo und den Nebula Award. Als Professor für Literaturwissenschaft publizierte er seine Handreichungen, woraus die Science Fiction Research Association entstand, die bis heute die akademische Zeitschrift Science Fiction Studies herausgibt. Er half auch mit, eine der größten SF-Sammlungen mit über 30.000 Bänden zusammenzutragen, die den Namen „Jack Williamson Science Fiction Library“ trägt. Er starb am 10.11.2006 in Portales, New Mexico.

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Titel der Originalausgabe: SEETEE SHIP
Aus dem Amerikanischen von Thomas Schlück
Überarbeitete Neuausgabe
Copyright © 1951 by Will Stewart
Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Covergestaltung: Das Illustrat, München
Satz: Thomas Menne
ISBN 978-3-641-17629-7
V002
AM (Abkürzung für ANTIMATERIE, auch adj. ANTIMUNDAN, anti-irdisch) – eine umgekehrte, der Erde fremde Form von Materie, aus der viele Kometen, Meteore und Asteroiden bestehen. AM-Atome sind im eigentlichen Sinne des Wortes ›verkehrt‹ und haben negative Nuklei und positive Elektronen. AM wirkt äußerlich wie gewöhnliche irdische Materie – bis es zu einer Berührung kommt. Dann heben sich die ungleichen Ladungen gegenseitig auf. Ungleiche Partikel explodieren zu freier Energie in einem Maße, das in der berühmten Einsteinschen Gleichung festgelegt ist. Neben dieser unvorstellbaren Reaktion scheint die Uranverschmelzung kaum mehr als das Anzünden eines Streichholzes zu sein, und doch gibt es Männer, die sie zähmen wollen. Raumingenieure, Träumer wie Brand und Drake, sprechen von ferngesteuerten AM-Maschinen, mit deren Hilfe AM-Erze gewonnen, verarbeitet und als Grundmaterial für AM-Energiegewinnungsanlagen verwendet werden sollen. Sie wissen nicht, wie närrisch ihr Vorhaben ist. AM lässt sich nicht bändigen. Ein betriebssicheres AM-Fundament für die Verbindung von AM-Werkzeugen mit irdischer Materie ist einfach undenkbar. Trotz all des unbesonnenen Geredes wird sich die Bedeutung der AM-Strömung also nach wie vor auf die interplanetarische Navigation beschränken, für die sie eine außerordentliche Gefahr darstellt.
RAUMFAHRERHANDBUCH
von Captain Paul Anders HRG
1
Pallasport war eine wilde Pionierstadt auf einem Berggipfel, den die Raumingenieure mit Paraschwerkraft und künstlicher Atmosphäre versehen hatten. Eine neue, schimmernde, brodelnde Stadt voller wurzelloser Abenteurer, war sie zugleich die Hauptstadt der weitverstreuten Asteroiden des Hohen Raum-Mandats.
Von der Erde kommend, traf Rick Drake an einem Märzmorgen des Jahres 2190 an Bord der PLANETANIA in Pallasport ein. Vier Jahre lang hatte er in Solar-City studiert und schließlich sein Diplom als Raumingenieur erworben. Jetzt kehrte er in das Mandat zurück, erfüllt von großen Träumen, außer denen er nicht viel besaß, und wollte ein AM-Fundament konstruieren.
Es dauerte einige Zeit, bis er das Raumschiff verlassen konnte, denn er hatte sich seinen Flug verdient, indem er mit den Kollisionsmannschaften Wache gestanden hatte. Zunächst musste er seine letzten Berichte einreichen und seine Geräte abgeben, ehe er von Bord gehen konnte.
Endlich betrat er die lange Gangway – ein großer, hagerer junger Mann mit hellen Augen und bronzenem Haar. Unruhig folgte er der langen Reihe von Arbeitern, die sich auf die Zoll- und Einwanderungsbeamten zuschob. Dabei ließ er hoffnungsvoll den Blick wandern, sah jedoch niemanden, den er kannte. Seine Heimat, der kleine Asteroid Obania, war noch zwanzig Millionen Kilometer entfernt, und da bei der augenblicklichen angespannten Lage nur wenige Schiffe dort anlegten, hoffte er, dass ihn sein Vater abholte oder zumindest den alten Rob McGee geschickt hatte.
Dichtgedrängt standen die Schiffe wie silberne Nadeln auf dem Berggipfel – aber McGees alter Kahn, die ADIEU-JANE, war nicht darunter. Männer von allen Planeten schwärmten über die Rampen und Stege zwischen den Raumfahrzeugen. Ein venusisch-chinesischer Importeur verfolgte einen jungen Burschen, der eine Orange gestohlen hatte. Ein grimmig aussehender marsianisch-deutscher Offizier der Hohen Raumgarde kanzelte einen jungen Rekruten ab, der offenbar das Grüßen vergessen hatte. Ein Kallistonier mit riesigem, schwarzem Bart beobachtete schweigend, wie schwere Kisten mit der Aufschrift BERGWERKSMASCHINEN von der PLANETANIA in den Frachter IWANOW umgeladen wurden; dabei lächelte er, als enthielte jede der länglichen Kisten ein geschmuggeltes Raumgewehr für die Jupiter-Sowjets. Pallas wimmelte von Männern aller Planeten, die nach den Schätzen des Mandats gierten – aber der hagere alte Jim Drake und sein kleiner Partner waren nirgends zu erblicken.
Besorgt sah sich Rick um. Offiziell duldete es das Mandat nicht, dass auf privater Basis AM-Forschung betrieben wurde, da man sich vor AM-Bomben fürchtete. Obwohl Drake und McGee nicht die Absicht hatten, ihr AM-Fundament für kriegerische Zwecke zu verwenden, begann Rick zu befürchten, dass die beiden in Schwierigkeiten steckten.
Er entschloss sich, das Büro seines Vaters auf Obania anzurufen. Dabei durfte er AM zwar nicht offen erwähnen – es gab zu viele machthungrige Planeten, deren Agenten die Photophon-Strahlen anzapften –, aber er musste zumindest herausbekommen, ob etwas nicht stimmte. Er schulterte seinen Raumsack und spähte ungeduldig über die Menschenmenge auf der Gangway.
»Miss Karen Hood.« Ein Steward stieß ihn in die Seite und starrte mit großen Augen nach unten. »Die Nichte des Hochkommissars. Mit siebenundzwanzig Stück Gepäck. Schauen Sie sich das an! Sie ist schon einen Blick wert, wie? Und ihr Onkel holt sie ab.«
Obwohl sie ebenfalls in der PLANETANIA gekommen war, hatte Rick sie an Bord nicht kennengelernt. Das war eigentlich auch nicht möglich gewesen, da sie völlig verschiedenen Welten angehörten. Karen Hood war Aktionärin der Interplanet-Gesellschaft und galt somit selbst in ihrer Sphäre als etwas Besonderes. Denn Interplanet beherrschte die Erde und hatte einmal sämtliche Asteroiden des Mandats besessen.
Aber anschauen konnte er sie, und ihre schlanke Gestalt gefiel ihm. Sie hatte rotes Haar, wusste sich zu bewegen und konnte gut umgehen mit den eifrigen jungen Männern, die sie unten auf der Rampe umstanden – mit den jungen Gardeoffizieren und Junior-Managern der Interplanet-Gesellschaft.
»Die ist 'ne Schau, wie?« murmelte der Steward.
Rick schüttelte unwillig den Kopf. Sie war zu hübsch für die hässlichen, schmalen Straßen dieser Stadt aus Stahlplatten. Sie gehörte in eine Penthouse-Wohnung hoch über Solar-City, und er fragte sich unwillkürlich, warum sie die Gefahr auf sich genommen hatte, die Erde zu verlassen. Vielleicht langweilte sie sich. Vielleicht hatte sie genug von Jachten und Nachtklubs und Villen am Meer.
Die vier Jahre auf der Erde hatten sich für ihn sehr in die Länge gezogen. Der verhangene Himmel, der nahe Horizont und die dichte Atmosphäre hatten sehr schnell in ihm das Heimweh nach seiner Felsheimat geweckt – nach dem frostigen Glanz der Sterne und der Dunkelheit, nach der Freiheit und der wilden Sonne, nach der Stille und dem endlosen All.
Sie dagegen war ein Erdenwesen, geboren und aufgewachsen in der Sicherheit und den Annehmlichkeiten der Mutterwelt. Er nahm an, dass es ihr hier nicht gefallen würde. Sie würde einen Blick auf Pallasport werfen, ihr entzückendes Näschen rümpfen und wahrscheinlich mit demselben Schiff zurückfliegen.
Rick kämpfte die Eifersucht nieder, die ihn plötzlich beim Anblick der Männer erfüllte, die Karen Hood umschwirrten. Für ihn war sie unerreichbar. Kein Asterit durfte hoffen, in ihre exklusive Welt einzudringen; das war einfach unmöglich. Allerdings wurde Rick schmerzlich daran erinnert, dass er eigentlich kein hundertprozentiger Asterit war.
Obwohl die Familie seines Vaters seit drei Generationen draußen im All in vorderster Front gelebt und sich unter Missachtung von Meteorschwärmen und AM-Strömung darangemacht hatte, Felsen wie Obania zu terraformen und auszubeuten, kam seine Mutter von der Erde. Sie entstammte einer Interplanet-Familie, die ebenso alt und reich und stolz war wie die Hoods, und sie war in den Raum gegangen, um einen Felsläufer namens Jim Drake zu heiraten.
In diesem Augenblick stieg die Rothaarige in den schwarzen Wagen ihres Onkels, winkte ihren Verehrern noch einmal zu und rauschte davon. Erleichtert sah sich Rick um. Die Schiffe bildeten einen silberschimmernden Wald, dessen Stämme auf verrückte Weise auseinanderstrebten; die am Rande des Flugfeldes stehenden Raumschiffe neigten sich in der Tat stark dem Ödland von Pallas zu, den wilden, zerklüfteten Felshängen und schwarzen, luftlosen Abgründen; denn nur dieser eine Berggipfel stand unter dem Einfluss der Paraschwerkraft. Überall sonst auf Pallas herrschte nach wie vor die Leere des Alls.
Die Welt von Karen Hood und Interplanet hatte mit Hilfe der Kernenergie ihre Hände bis hierher ausgestreckt und die Asteroiden ihres Urans und Thoriums beraubt. Jetzt erschöpften sich die Erzvorräte. Noch vor Ricks Geburt hatten die kolonisierten Planeten einen Raumkrieg um die wertvollen Energiemetalle geführt, und die Auseinandersetzung um die schnell schwindenden Reserven schwelte auch jetzt noch weiter. Aber die spaltbaren Metalle waren bald aufgebraucht, und dann war auch Karen Hoods Welt am Ende.
Die öde Landschaft Pallas' störte Rick nicht. In seiner Phantasie war sie bereits durch die neuerstehende Macht der Anti-Materie umgebildet worden. Und seine Vision umfasste nicht nur Pallas – die AM-Energie konnte helfen, sämtliche Asteroiden zu terraformen und für Menschen bewohnbar zu machen – konnte helfen, die toten Felsen mit Luft, Wärme und Leben zu erfüllen. Das war der Lebenstraum, den Rick von seinem Vater übernommen hatte. Er lebte für diese herrliche neue Welt, deren Entstehen von der Entwicklung eines betriebssicheren AM-Fundaments abhängig war.
Wissenschaftler von der Erde hatten eine solche Vorrichtung als unmöglich bezeichnet; aber er war kein Erdbewohner. Seine Heimat waren diese Felsen, und er war endlich wieder daheim. Das Problem der AM-Strömung hatte man zwar noch nicht gelöst, aber es musste einen Weg geben! Die Uranspaltung hatte man vor langer Zeit ebenfalls für unzähmbar gehalten, bis sie mit Hilfe der Paraschwerkraft gemeistert worden war. Die Eroberung des Weltraums hatte dann keine Schwierigkeiten mehr bereitet.
Als die Schlange vor ihm langsam kürzer wurde, erfasste ihn Unruhe. Nachdem sein Gepäck schließlich untersucht und sein Pass abgestempelt war, eilte er in eine Telefonzelle und ließ sich mit Obania verbinden.
Er musste zehn Dollar hinterlegen und drei Minuten warten, bis der modulierte Lichtstrahl den winzigen Felsen gefunden und einen Gegenstrahl ausgelöst hatte. »Ihr Obania-Anruf«, verkündete die Vermittlung schließlich. »Eine Miss Ann O'Banion ist am Apparat. Bitte sprechen.«
Ann O'Banion! Im ersten Augenblick wusste er nicht, was er sagen sollte. Ann war das braunäugige Asterit-Mädchen, mit dem er in verlassenen Grubenschächten Obanias »Raumfahrer und Pirat« gespielt hatte und das ihm später bei seinen Schulaufgaben behilflich gewesen war. Sie hatte bei seinem Abflug zur Erde geweint, und er fragte sich, was in den vier Jahren aus ihr geworden sein mochte.
»Sprechen Sie, Sir.«
»Ann, ich komme nach Hause, um … um zu arbeiten.« Beinahe hatte er vergessen, dass er nicht über AM sprechen wollte. »Ich habe Vater geschrieben und hatte angenommen, dass er oder Rob McGee mich abholen würde. Aber die JANE ist nicht hier. Ich hoffe, dass alles in Ordnung ist …«
Er musste warten, bis der winzige Strahl die unzähligen Millionen Kilometer überbrückt hatte. Dann kam die Antwort: »Hallo, Rick. Ich freue mich ja so, dass du wieder da bist.«
Obwohl die Entfernung ihre Stimme zu einem Flüstern werden ließ, fühlte er sich sofort in die alte Zeit zurückversetzt. Er erinnerte sich an ihr braunes Gesicht und an den jungenhaften Haarschnitt. Natürlich trug sie das Haar jetzt länger, da sie erwachsen war.
»Du scheinst überrascht zu sein«, fuhr sie fort. »Wahrscheinlich weißt du gar nicht, dass ich für die Firma arbeite. Dein Vater hat deinen Brief erhalten und wollte dich auch mit Käpt'n Rob abholen – aber dann ist etwas dazwischengekommen.« Sie zögerte und fuhr dann hastig fort – zu hastig, wie es Rick schien. »Aber mach dir keine Sorgen – es ist nichts passiert. Die beiden arbeiten nur an einem neuen Projekt. Dein Vater hat mit deinem Anruf gerechnet und mir gesagt, dass ich dir alles berichten soll.«
Aber er wusste, dass sie ihm unmöglich »alles« erzählen konnte – jedenfalls nicht, wenn es um AM ging, worauf ihr besorgter Ton hinzudeuten schien. Nicht nur aus physikalischen Gründen war es besser, die Finger von AM zu lassen – es gab auch strikte Mandats-Gesetze, die eine offizielle Forschungslizenz erforderlich machten, wenn man sich einem bekannten AM-Körper auf weniger als hundert Kilometer nähern wollte.
Drakes kleine Firma hatte einmal eine solche Lizenz besessen, als er und McGee vertragsgemäß damit beschäftigt waren, die gefährlichsten Teile der AM-Strömung mit Markierungsblinkern zu kennzeichnen, die Drake erfunden hatte – farbige Spiegel, die die tödlichen Felsgebilde wie kleine Satelliten umkreisten. Die Blinker waren noch überall im Sonnensystem in Betrieb, aber die Kommission hatte Drakes Forschungslizenz eingezogen, als die AM-Patrouille gebildet wurde.
Die Asteriten waren in der Kommission nicht vertreten, und Drake und McGee waren eben nur Felsläufer. Und obwohl sie einen Großteil der AM-Strömung vermessen und erforscht hatten, waren sie darüber hinaus Freunde von Bruce O'Banion, dem alten Kämpfer für die Freiheit der Asteroiden. Ja, überlegte Rick, man fürchtete diese alten Pioniere noch immer.
Ann hatte einen Augenblick geschwiegen und fuhr jetzt vorsichtig fort: »Auf der anderen Seite von Obania liegt in vier Millionen Kilometer Entfernung ein Felsen, ein kleiner Asteroid, wie ihn sich dein Vater schon immer gewünscht hat für ein … ein metallurgisches Labor.«
Rick bemerkte ihr Zögern und wusste sofort, dass sie auf ein AM-Laboratorium anspielte.
»Er will den Felsen rechtmäßig in Besitz nehmen, denn Käpt'n Rob hat festgestellt, dass er auf einem Kollisionskurs liegt und mit einem der kleinen AM-Planetoiden zusammenstoßen wird, den die beiden vor Jahren markiert haben. Es gibt ein altes Mandatsgesetz, nach dem man einen unbewohnten Felsen als Eigentum beanspruchen kann, wenn man ihn vor einer Kollision bewahrt.«
Rick nickte. Er kannte das Gesetz, das einen Teil der zufälligen Explosionen verhindern sollte, nach denen die Schifffahrtswege des Alls durch neue tödliche AM-Strömungen unsicher gemacht wurden. Aber konnten Drake und McGee den Kurs des Asteroiden ändern?
»Wäre das nicht herrlich?« fuhr ihre leise Stimme fort. »Ein eigener Asteroid für die Werkstätten und Anlagen, die dein Vater bauen möchte! Ich habe ihm den Namen geben dürfen – wir werden ihn Freedonia nennen! Natürlich haben die beiden den Kurs des Asteroiden noch nicht geändert, und ich weiß auch nicht, wie sie das schaffen wollen. Freedonia ist einfach zu groß für die JANE, und ich glaube nicht, dass sie die Möglichkeit haben, ihn sofort zu terraformen. Trotzdem haben sie einen entsprechenden Antrag eingereicht und werden es versuchen. Irgendwie!«
In der engen Telefonzelle zuckte Rick unbehaglich die Achseln. Ein terrageformter Asteroid wurde von demselben selektiven Paraschwerkraft-Feld vor einer Kollision beschützt, das auch seine künstliche Atmosphäre hielt, aber schon die Terraformung des kleinsten Felsens erforderte Millionenwerte an Atomreaktoren, Abstimm-Diamanten und sonstiger Ausrüstung – und Drake und McGee hatten keine Millionen.
»Sie sind jetzt mit der JANE draußen«, sagte Ann nervös. »Ich weiß nicht, ob ihnen noch genug Zeit bleibt. Jedenfalls sind die beiden Felsen schon so nahe, dass die AM-Patrouille den Schiffsverkehr umgeleitet hat. Dein Vater war optimistisch. Wie dem auch sei, wir werden es bald wissen«, sagte sie plötzlich hastig, als ob sie sich wieder der möglichen Lauscher bewusst wurde. »Ich freue mich jedenfalls, dass du wieder nach Hause kommst, Rick. Allerdings wirst du in Pallasport warten müssen, bis Käpt'n Rob dich mit der JANE abholen kann.«
Sie unterbrach die Verbindung mit einer Plötzlichkeit, die Rick zusammenfahren ließ.
Er zwängte sich aus der engen Zelle, warf sich den Raumsack über die Schulter und trat auf die Straße. Hier blieb er einen Augenblick stehen und blickte stirnrunzelnd zum südwestlichen Himmel auf und fragte sich, wie sein Vater den Kurs des Asteroiden ändern wollte.
Doch jenseits der aufragenden Schiffe und der dünnen Atmosphäre war nur die Schwärze des Alls zu sehen – hier und da unterbrochen durch einige flimmernde Sterne – und der purpurne Kreis um das nackte Gleißen der Sonne. Die beiden Himmelskörper, die bald eine Katastrophe auslösen würden, waren zu weit entfernt, als dass er sie erkennen konnte. Er sah keine Möglichkeit, wie sein Vater und McGee den Zusammenprall verhindern konnten. Es sei denn, sie wollten Anti-Materie benutzen.
Bei diesem Gedanken schüttelte er abwehrend den Kopf. Niemand war in der Lage, mit AM umzugehen, und Rick wusste, dass die beiden noch nicht über ein betriebssicheres AM-Fundament verfügten.
Und doch wollten sie sich mit AM abgeben – das hatte ihm Ann andeuten wollen, als sie von einem metallurgischen Labor sprach. Die Härte des Gesetzes und der dringende Wunsch, endlich einen Platz für das erträumte Labor zu finden, hatte seinen Vater und McGee dazu getrieben, ihr Leben mit irgendeiner bisher nicht erprobten Vorrichtung aufs Spiel zu setzen – davon war Rick überzeugt.
Sie hätten auf ihn warten sollen – aber natürlich war das nicht möglich gewesen. Die Chance einer solchen Kollision bot sich nicht alle Tage. Jedenfalls kam er zu spät und konnte den beiden nicht mehr helfen.
Er begegnete Karen Hood zum zweiten Mal auf einer Straße in der Nähe des Raumhafens – in einer lauten, schmutzigen Gasse, die von Reparaturwerkstätten und Lagerhäusern gesäumt wurde und die erfüllt war von dem Lärm der Lastwagen, Kräne und Ladearbeiter. Als er das Mädchen erblickte, wandte er sich unwillkürlich um.
Sie gehörte einfach nicht hierher. Wenn sie sich schon in Pallasport aufhielt, dann passte sie eher in die sauberen Straßen des Geschäftsviertels, in die teuren Läden und exklusiven Restaurants des abgeschirmten Stadtteils des Mandats.
Und doch schien sie sich hier in der Welt der Arbeit irgendwie zu Hause zu fühlen. Ihre blauen Augen betrachteten die bewegte Szene mit großem Interesse. Als ein Förderband kleine Behälter auf einen wartenden Lastwagen zu laden begann, wandte sie sich um, bemerkte sein bewunderndes Lächeln und betrachtete ihn neugierig, als ob sie sich darüber wunderte, dass er sie zu kennen schien.
Hastig wandte er sich ab.
Er war eben an ihr vorbeigegangen, als es passierte. Ein plötzlicher Lichtschein zuckte auf. Die Grelle bleichte alle Farbe der Glasfassaden der Lagerhäuser, überschwemmte die aufragenden Schiffe mit weißblauem Feuer und warf tintenschwarze Schatten. Rick wusste sofort Bescheid.
Irgendwo war Antimaterie auf irdische Materie gestoßen. Irgendwo gerieten ungleiche Atome aneinander und gaben ihre Existenz auf, Masse verwandelte sich in ungezügelte Energie, die die tausendfache Intensität einer Plutoniumspaltung erreichte. Rick zog den Kopf ein und rannte los. Er sah sich nicht um, bemerkte aber die Richtung, in die die Schatten wiesen.
Sie kamen aus Südwesten, wo sein Vater und Rob McGee eine solche Kollision hatten verhindern wollen. Ihr Vorhaben war also gescheitert. Sie hatten die kleine Welt verloren, die Ann O'Banion Freedonia nennen wollte, und waren dabei wahrscheinlich auch umgekommen.
Es war eine instinktive Reaktion, die Rick veranlasste, seinen Raumsack fallen zu lassen und sich in den Schatten eines Gebäudes zu flüchten, denn er kannte die Wirkung der AM-Strahlung. Er wusste, dass sie den Körper durchdrang und die entsetzliche Krankheit hervorrief, die von den Raumfahrern AM-Schock genannt wurde. Die Arbeiter in der Straße wussten ebenfalls Bescheid. Nach einigen entsetzten Rufen verstummte der Lärm der Maschinen. Hastige Schritte ertönten, und Sekunden später lag die Straße verlassen da. Nur Karen Hood war stehengeblieben wie angewurzelt.
»Was ist das für ein Licht?« fragte sie und starrte in die Helligkeit.
»Sie dürfen nicht ins Licht sehen!« keuchte er. »Das ist AM!«
Diese Information hätte normalerweise ausreichen müssen, aber das Mädchen rührte sich nicht. Rick stürzte erneut in das entsetzliche Feuer hinaus, riss sie von der Straße und zog sie in die kleine Gasse zwischen zwei Lagerhäusern, in der er Schutz gesucht hatte. Sie befreite sich aus seinem Griff, versetzte ihm einen Schlag und wollte wieder auf die Straße hinausrennen, aber unter Aufbietung sämtlicher Kräfte hielt er sie fest.
»Lassen Sie mich los!« sagte sie wütend. »Es könnte Sie das Leben kosten!«
Rick war viel zu sehr außer Atem, um sie auf die Gefahr hinzuweisen. Als er sich etwas beruhigt hatte, versuchte er ihr die Situation zu erklären, doch im gleichen Augenblick bemerkte er, dass das blaue Licht einen rötlichen Schimmer annahm und plötzlich verblasste. Die Gefahr war vorüber. Vorsichtig ließ er das Mädchen los, das sofort schreiend auf die Straße stürzte.
Von allen Seiten kamen vorsichtig Männer aus den Schatten. Ein Offizier der Hohen Raumgarde rannte auf das Mädchen zu, und ihre Schreie verstummten, als sie ihn erblickte.
»Paul! Ich bin ja so froh …!« Sie klammerte sich an ihn und wandte sich wütend zu Rick um, der eben seinen Raumsack aufnahm. »Der Mann hat mich angefallen!« sagte sie. »Er hat mich angestarrt, und als ich mir das Licht ansehen wollte, packte er mich und zog mich in die Gasse dort. Ich bin ihm eben noch entkommen.«
Schwer atmend richtete sich Rick auf. Der große Gardeoffizier schien wenig beeindruckt.
»Vielleicht wollte er dir gar nichts tun, wenn du wirklich in das Licht gestarrt hast«, sagte er leise. »Siehst großartig aus, Kay! Ich wollte dich vom Schiff abholen, aber dein Onkel hält mich immer auf Trab. Dachte, ich treffe dich heute Abend beim Empfang. Hier hast du nichts verloren.«
»Onkel Austin hatte eine Verabredung, und da bin ich einfach losgezogen, um mir den Hafen anzusehen«, sagte Karen Hood und musterte Rick wütend. »Ich konnte natürlich nicht annehmen, dass ich angegriffen würde!«
»Vielleicht bist du gar nicht angegriffen worden.« Er blickte Rick an. »Was sagen Sie, Mister?«
»Es tut mir sehr leid«, stotterte Rick. »Ich habe Miss Hood im Freien stehen und in das Licht starren sehen. Ich rief ihr zu, dass das AM wäre, aber sie rührte sich nicht. Da habe ich sie aus der Strahlung gezerrt. Ich fürchte, das hat sie missverstanden.«
»Allerdings.« Der große Offizier lächelte. »Jedenfalls vielen Dank.«
Karen starrte Rick ausdruckslos an.
»Dank?« flüsterte sie. »Was ist AM?«
»Antimaterie«, erklärte ihr der Gardist. »Antimaterie, die mit irdischer Materie zusammengestoßen ist – etwa fünfundzwanzig Millionen Kilometer entfernt.«
»Du meinst, dass das Licht …?«
»Gammastrahlen! Die unsichtbaren Gammastrahlen sind äußerst gefährlich«, erwiderte er. »Sie rufen die Strahlenkrankheit hervor.«
»Oh.« Das Mädchen biss sich auf die Lippe. »Dann … dann hat er mir also …«
»… das Augenlicht gerettet und dich wahrscheinlich davor bewahrt, einen Mutanten zur Welt zu bringen, wenn du einmal heiratest. Hätte dir auch das Leben retten können, wenn die Strahlung etwas stärker gewesen wäre.«
»Oh.« Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. »Natürlich habe ich von der AM-Strömung gehört«, flüsterte sie dann. »Wenn ich nur daran gedacht hätte …«
Der Offizier blickte auf den Geigerzähler an seinem Handgelenk. »Jedenfalls hat die Strahlung für dich keinen gefährlichen Wert erreicht, da dich dieser Herr davor bewahrt hat, in das Licht zu blicken. Dabei scheint er allerdings etwas gelitten zu haben.«
Verlegen blickte ihn Karen Hood an. »Ich habe Sie mit meinem Ring verletzt«, sagte sie und rieb über die Knöchel ihrer rechten Hand. Das Sonnenlicht brach sich in dem gewaltigen Diamanten, in dessen Oberfläche ein winziges weißes Iridium-Raumschiff eingebettet war. Dieser Ring kennzeichnete sie als Anteilseigner der Interplanet-Gesellschaft. »Es tut mir entsetzlich leid«, flüsterte sie. »Wie kann ich das nur gutmachen?«
»Denken Sie nicht mehr daran.« Rick betupfte die Schramme in seinem Gesicht, die der Ring hinterlassen hatte. »Es ist mir ja nichts passiert.«
Und er starrte wieder in den dunklen Himmel, wo der orangenfarbene Fleck eben kirschrot wurde und gleich darauf verschwand, wo sein Vater und Rob McGee versucht hatten, den Asteroiden vom Kurs abzubringen und vor einer Kollision zu bewahren. Ihm war nichts passiert, aber die beiden waren wahrscheinlich nicht mehr am Leben.
»Aber ich kann Sie nicht einfach so gehenlassen«, sagte Karen Hood. »Wollen Sie mir nicht wenigstens Ihren Namen sagen?«
Stirnrunzelnd wandte er sich um. »Richard Drake«, sagte er. »Ich bin zusammen mit Ihnen auf der PLANETANIA gekommen. Es tut mir leid, dass ich Sie angestarrt hatte. Aber man hat mir an Bord von Ihnen erzählt.«
Sie errötete etwas, streckte ihm aber die Hand hin. »Hallo, Mr. Drake. Ich möchte Ihnen gern Captain Paul Anders vorstellen, der auch von der Erde stammt.« Sie lächelte zu dem großen Gardisten auf. »Er ist Raumingenieur und leistet seinen Militärdienst als Sonderberater des Hochkommissars. Er ist ein alter Freund.«
»Ja, wir kennen uns schon seit unserem fünften Lebensjahr. Dabei habe ich feststellen müssen, dass Karen mit ihren Fäusten schon immer gut umgehen konnte«, grinste Anders und reichte Rick die Hand. »Es freut mich, einen Mann von der Erde hier begrüßen zu können, Mr. Drake.«
»Nein, ich bin Asterit, Captain«, erwiderte Rick. »Ich habe nur auf der Erde studiert. Und jetzt mache ich mich am besten auf den Weg.«
»Ist es so wichtig, woher Sie kommen?« fragte sie und blickte ihn offen an. »Wenn Sie Raumingenieur sind und Ihre Ausbildung gerade beendet haben, brauchen Sie sicher eine Stellung.«
»Ich habe eine.«
»Bei der Interplanet?«
Er schüttelte den Kopf.
»Dann kann ich etwas für Sie tun.« Sie lächelte hinreißend. »Sehen Sie, ich bin nach Pallas gekommen, um für die Gesellschaft zu arbeiten, für die Onkel Austin hier zuständig ist. Er kann dafür sorgen, dass Sie eingestellt werden.«
»Vielen Dank«, erwiderte Rick. »Aber mein Vater hat eine eigene kleine Firma. Ich werde bei ihm arbeiten.«
Und ein AM-Fundament konstruieren, wenn Drake und McGee noch am Leben waren und wenn sie nach dem Verlust von Freedonia eine neue Heimat für das gefährliche Projekt finden konnten. Aber davon durfte er nicht sprechen, denn es war Karens Onkel Austin gewesen, der die AM-Forschungslizenz eingezogen hatte.
»Können wir denn überhaupt nichts für Sie tun …?« fragte Karen Hood.
»Nichts«, erwiderte Rick. »Aber trotzdem vielen Dank.«
»Rufen Sie mich an, wenn Sie mal einen Freund brauchen«, murmelte Anders.
Rick hatte seinen Raumsack über die Schulter geworfen und wollte sich eben abwenden, doch Anders' freundlicher Ton ließ ihn innehalten.
»Oh, ich brauche wirklich einen Freund«, brach es impulsiv aus ihm hervor. Doch er hielt sofort inne, erschreckt von seiner eigenen Kühnheit.
»So?« fragte Anders. »Und was kann ich für Sie tun?«
»Ich bin draußen auf Obania zu Hause, das etwa in der Richtung der Kollision liegt. Könnten Sie vielleicht … feststellen lassen, ob jemand verletzt ist?«
»Kommen Sie mit«, nickte der Offizier bereitwillig. »Ich werde die AM-Patrouille anrufen. Ich kenne den Kommandanten des Schiffes, das auf Obania stationiert ist, ein dickköpfiger Marsianer namens von Falkenberg. Allerdings glaube ich nicht, dass Sie sich wegen Obania Sorgen zu machen brauchen«, fuhr er beiläufig fort. »Die Ursache der Kollision ist ein kleinerer, unbewohnter Felsen gewesen, vier Millionen Kilometer weiter draußen.«
Rick folgte dem Offizier und dem Mädchen, das ungläubig fragte: »Ihr habt die Explosion erwartet?«
»Die AM-Patrouille hat letzte Woche eine Warnung durchgegeben. Eine kleine Felsläufer-Firma hat den Asteroiden auf Kollisionskurs gefunden und einen Rettungsantrag gestellt. Wir wussten, dass die Burschen keine Chance hatten.«
»Es waren also Menschen dort draußen, die die Explosion aufhalten wollten?« Ungläubig wandte sich Karen Hood um und starrte in die Schwärze hinaus, wo die tödliche Explosion erfolgt war.
»Für einen Klumpen fast wertlosen Nickels.« Der Offizier zuckte die Achseln. »Der Asteroid wäre rechtmäßig ihr Eigentum geworden, wenn sie die Kollision verhindert hätten. Das wäre aber nur möglich gewesen, wenn sie eine Schiffsladung Terraform-Ausrüstung und sechs Monate Zeit gehabt hätten, was beides nicht zur Verfügung stand; sonst hätte sich die Patrouille diesen Brocken nicht entgehen lassen.«
»Aber sie haben es trotzdem versucht?«
»Nehme ich an«, sagte Anders und musterte Rick. »Jedenfalls ist Obania in Sicherheit. Von Falkenberg ist irgendwo dort draußen mit der PERSEUS unterwegs und hat alle gewarnt. Es ist also wahrscheinlich niemand verletzt. Wenn allerdings die beiden ehrgeizigen Felsläufer Drake und …«
Er unterbrach sich und starrte Rick an.
»Mein Vater«, sagte dieser und nickte langsam.
»Oh …«, sagte Karen bestürzt. »Es tut mir leid!«
»Das wollen Sie also wissen?« fragte Anders und nickte verständnisvoll. »Ich werde sehen, was ich herausfinden kann. Aber rechnen Sie nicht mit guten Nachrichten.«
Karen und Rick warteten in Anders' Wagen, während der Offizier in das Garde-Hauptquartier ging, um Erkundigungen einzuziehen. Rick starrte düster ins Leere, bis ihn das Mädchen in ein Gespräch über AM verwickelte.
»Natürlich habe ich schon von der Strömung gehört«, sagte sie, »aber auf der Erde klingt das alles nicht so gefährlich. Ist AM wirklich soviel schlimmer als Plutonium?«
»Natürlich reagiert AM nur, wenn sie mit irdischer Materie in Berührung kommt«, sagte Rick – dankbar, dass ihn die Frage etwas von seinen Sorgen ablenkte. »Wenn es aber zu einer Reaktion kommt, verwandelt sich die gesamte Masse in Energie, und nicht nur etwa ein Zehntel Prozent, wie das bei einer Atomspaltung der Fall ist. Auf diese Weise ist AM also etwa tausendmal schlimmer oder besser – je nach dem Standpunkt, den man einnimmt.«
Verwirrt deutete sie auf den schwarzen Himmel. »Wie können die tödlichen Strahlen etwas Gutes bedeuten?«
»Sie sind Energie«, erwiderte Rick, »und Energie ist unser Lebenselixier. Hier draußen hängt der Betrieb unserer Schiffe und Terraform-Anlagen allein von der Kernspaltung ab – also unser Leben. Aber das spaltbare Material ist schon fast völlig aufgebraucht.«
Sie starrte ihn aus aufgerissenen Augen an. »Sie wollen doch nicht etwa … AM-Energie erzeugen?«
Er nickte nüchtern. »Wir kommen nicht darum herum. Wir brauchen sie sogar bald. Wenn der Mensch hier draußen und auf den Planeten überleben will, nachdem alle Uran- und Thorium-Vorräte aufgebraucht sind, dann braucht er AM. Das einzige Problem dabei ist die Tatsache, dass wir AM nicht berühren können. Wir müssen irgendeinen Weg finden, AM mit gewöhnlicher Materie zu verbinden, ohne dass es zu einer Reaktion kommt. Wir müssen irdische Griffe auf AM-Werkzeuge setzen und AM-Maschinen auf irdische Sockel stellen können.«
»Das dürfte einen kühnen Mann erfordern, Mr. Drake«, sagte sie und musterte ihn, als sähe sie ihn eben zum ersten Mal. »Würden Sie es versuchen?«
Rick merkte, dass er schon zuviel gesagt hatte, und zwang sich ein entwaffnendes Lächeln ab. »Das ist eine sehr akademische Frage – man braucht dazu sehr viel Geld und eine Lizenz des Mandats. Beides habe ich nicht.«
»Aber wenn Sie es hätten?«
»Dann würde ich's versuchen, weil ich glaube, dass wir einen gewissen Wendepunkt erreicht haben. Wir brauchen einen Weg, mit AM umzugehen und uns ihre Energien zu erschließen, denn wenn wir weiterhin auf die alten Quellen angewiesen sind, wird es eines Tages über die schwindenden Vorräte zum Kampf kommen, der dann wahrscheinlich mit AM-Bomben ausgetragen wird.«
»AM-Bomben?« Sie schüttelte zweifelnd den Kopf. »Aber wie kann man AM-Bomben ohne AM-Fundament herstellen?«
»Irgendjemand wird das schon schaffen. Für die friedliche Nutzung der AM-Energie ist es erforderlich, AM-Maschinen verschiedenster Art zu konstruieren und in Betrieb zu nehmen. Dagegen kann jeder einfache, unbearbeitete AM-Brocken als Bombe eingesetzt werden, wenn man ihn mit normaler irdischer Materie in Berührung bringt. Ich möchte wetten, dass man im Augenblick auf jedem Planeten des Systems mit diesem Problem beschäftigt ist.«
»Ich habe in der Tat auf der Erde schon Kriegsgerüchte gehört«, sagte Karen Hood widerstrebend, »und spüre, dass Onkel Austin über die Situation besorgt ist. Aber wie könnte uns die AM-Energie überhaupt helfen?«
»Energie bedeutet Leben«, sagte Rick. »Die Uran- und Thoriumvorkommen werden bald zum Streitobjekt, weil sie nicht mehr ausreichen, uns alle am Leben zu erhalten. Dagegen enthält ein faustgroßer AM-Brocken mehr Energie als eine Tonne Uran oder eine Million Tonnen Kohle. Und es gibt ganze Asteroiden aus AM. Jedenfalls mehr als wir brauchen, wenn wir die AM-Energie erst einmal gebändigt haben.«
»Ich verstehe«, sagte sie. »Würden Sie mir noch eine Frage beantworten?«
Rick nickte.
»Sie sind Asterit«, sagte sie leise. »Ich habe gehört, dass die meisten Asteriten unglücklich sind über das Mandat. Trifft das zu?«
»Wir wurden von Ihrer Gesellschaft verraten, nachdem wir im Raumkrieg ihre Partei ergriffen hatten. Asterit-Kämpfer wie Bruce O'Banion haben die Erde und die Interplanet-Gesellschaft vor einer Niederlage gegen die Alliierten Planeten bewahrt. Wir hätten unsere Freiheit verdient, aber mit der Errichtung des Mandats wurden wir unserer Rechte beraubt.«
»Sie sind also Gegner der Interplanet?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, nur ein kleiner Ingenieur.«
Sie musterte ihn zweifelnd. »Was würden Sie tun, wenn Ihnen die Gesellschaft eine Stelle anböte, damit Sie ein AM-Fundament entwerfen könnten?«
»Das wird die Interplanet bestimmt nicht tun«, sagte Rick lächelnd. »Sie hat zu viele hundert Milliarden in Uran- und Thorium-Bergwerken investiert und ist gezwungen, diese Mittel zu schützen.«
»Das mag schon stimmen«, sagte das Mädchen. »Ich möchte Sie trotzdem bitten, mal mit Onkel Austin darüber zu sprechen.«
»Über AM?« Er schüttelte den Kopf. »Männer wie mein Vater und Martin Brand haben ihr Leben lang versucht, andere für AM zu interessieren. Niemand interessiert sich dafür.«
»Ich schon.« Impulsiv lächelte sie ihn an. »Ich werde mit meinem Onkel …«
Aber Rick hörte schon nicht mehr zu, denn er sah, wie Captain Anders das Garde-Hauptquartier verließ und auf sie zukam. Ungeduldig wartete er auf Nachricht über seinen Vater und die AM-Explosion.
Der Gardeoffizier blickte kopfschüttelnd zum Himmel auf. »Dass es so etwas gibt …«, murmelte er dabei vor sich hin.
»Haben Sie etwas erfahren …?«
»Kopf hoch, Drake«, grinste Anders plötzlich. »Ich habe eben mit unserem marsianischen Freund von der PERSEUS gesprochen, und er sagt, dass sich Drake und McGee ihren Besitztitel offenbar verdient haben. Umwerfend ist nur, wie sie das geschafft haben.«
»Aber … der Blitz …«, sagte Rick.
»Eine AM-Explosion, ganz recht, aber eine Explosion, die die beiden selbst herbeigeführt haben – stellen Sie sich das vor!« Ehrfurcht schwang in seiner Stimme mit, als er fortfuhr: »Von Falkenberg sagt, dass mit dieser Explosion der Zusammenstoß verhindert wurde.«
»Wissen Sie, ob den beiden etwas passiert ist?«
»Keine Sorge – sie haben schon mit von Falkenberg gesprochen, und zwar von dem Asteroiden aus – Freedonia, wie sie ihn nennen. Sie brauchten ihn als Zeugen dafür, dass sie ein Anrecht darauf haben, nachdem sie ihn vom Kollisionskurs abbrachten.«
»Vielen Dank, Captain«, sagte Rick und grinste schwach. »Ich hatte angenommen, dass die beiden ums Leben gekommen wären. Aber wie haben sie das nur geschafft?«