Zum Buch
Vor einhundert Jahren beklagte Max Weber die »Entzauberung der Welt« – den »Glauben daran, dass es prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, dass man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne«.
Tobias Haberl schreibt in seinem neuen Buch gegen ein solches Unbehagen an, nämlich gegen die zunehmende Entzauberung unseres Lebens. Denn das ist vernünftig, digitalisiert, versichert, vermarktbar, mit moralischem Gütesiegel versehen, glatt und gut beleuchtet. Wir haben alles unter Kontrolle. Aber haben wir auch Freiheit und Glück gefunden? Haberls Polemik wider den Zeitgeist stellt unbequeme Fragen. Könnte es sein, dass wir reicher und gleichzeitig ärmer, sicherer und gleichzeitig ängstlicher, unpolitischer und gleichzeitig radikaler werden? Und Haberl stellt die Werte vor, die unser Leben wieder verzaubern und mit wahrem Glück erfüllen können. Unvernunft und Glamour, Spontanität und Gelassenheit, Natürlichkeit und Nähe.
Zum Autor
Tobias Haberl, geboren 1975 im Bayerischen Wald, hat in Würzburg und Großbritannien Latein, Germanistik und Anglistik studiert. In den Jahren 2001 und 2002 war er freier Journalist in Berlin, besuchte dann die Henri-Nannen-Schule Hamburg und ist seit 2005 Redakteur im Magazin der »Süddeutschen Zeitung«. 2016 erhielt er den Theodor-Wolff-Preis. Der Autor lebt in München.
TOBIAS HABERL
DIE GROSSE
ENTZAUBERUNG
Vom trügerischen
Glück des heutigen
Menschen
BLESSING
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Copyright © 2019 by Tobias Haberl
Copyright © 2016 by Karl Blessing Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik & Typografie
Umschlagabbildung: Bruno Munari,
Supplemento al dizionario italiano – I Gesti,
1963 (© Bruno Munari,
All rights reserved to Maurizio Corraini s.r.l.)
Herstellung: Ursula Maenner
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN: 978-3-641-23911-4
V002
www.blessing-verlag.de
Für meine Eltern
Kit: But you complain so all the time.
Port: Oh, not about life; only about human beings.
Kit: The two can’t be considered separately.
Port: They certainly can. All it takes is a little effort. (…)
I can imagine an absolutely different world.
(Paul Bowles: The Sheltering Sky)
Alexa, spiel Pop-Hits zu Weihnachten!
(Amazon)
Inhalt
Vorwort
Vielfalt
Glamour
Melancholie
Unberechenbarkeit
Natürlichkeit
Toleranz
Authentizität
Nähe
Selbstbestimmung
Individualität
Hoffnung
Nachwort
Dank
Literaturverzeichnis
Anmerkungen
Vorwort
»Nicht die Musik hat sich geändert, weißt du das?
Sondern wir.
Wir sind gelähmt vor Angst.«
Virginie Despentes: Das Leben des Vernon Subutex 2
Ich war ein paar Tage in New York, ein Interview mit dem Künstler Raymond Pettibon, der im 57. Stock des Gehry Tower an der Südspitze Manhattans lebt. Ich sah den Wolkenkratzer schon von Weitem, als ich mich durch den Menschenstrom quälte, vorbei an asiatischen Massagesalons und Sandwichläden für die Touristen.
Als ich schließlich vor dem 267 Meter hohen Gebäude stand und meinen Blick die Fassade hinauf- und wieder hinabgleiten ließ, war ich überrascht: Der Eingang, vor dem Security-Beamte auf- und abschritten, befand sich in einer unscheinbaren, fast beschaulichen Gasse, der Spruce Street, davor hatte man einen kleinen Park mit Bänken, Wasserfontänen und Pflanzentrögen angelegt, eine winzige Oase im Zentrum Manhattans, gar nicht weit von der Wall Street. Hier muss ein feinfühliger Mensch am Werk gewesen sein, dachte ich, ein sensibler Charakter, der den Bewohnern dieses Wolkenkratzers aus Glas und Stahl wenigstens die Ahnung von Ruhe und Natur ermöglichen wollte. Dann entdeckte ich ein Schild mit den Rules of Conduct, den Verhaltensregeln:
Dieser Platz wurde zur passiven Erholung geschaffen. Wer sich nicht an die Regeln hält, wird vom Sicherheitspersonal entfernt und muss mit einer Anzeige rechnen. Folgende Aktivitäten sind verboten:
– Kochen, Grillen und Zelten
– Kartenspielen
– Musikmachen
– Genuss von Nikotin und Alkohol
– Decken auf die Grünflächen legen
– Anpflanzen von Bäumen oder Blumen
– Radfahren, Skateboarden und Rollerskaten
– Füttern von Vögeln und Eichhörnchen
– Hunde ohne Leine laufen lassen
– Kinder ohne Aufsicht spielen lassen
– Berühren der Wasserfontänen
Ich spürte, wie mich Traurigkeit überfiel. Ein Platz von Menschen für Menschen, an dem alles verboten war, was eventuell Spaß machen könnte. Ich setzte mich auf eine Bank und lauschte für ein paar Sekunden dem Plätschern der Wasserfontänen. Außer mir war kein Mensch zu sehen, nicht mal ein Eichhörnchen, dem ich verbotenerweise eine Nuss hinhalten konnte. Niemand saß auf einer Bank, summte eine Melodie oder spazierte über das Grün, dieser Ort war so ausgestorben, als wäre ich der einzige Mensch in der Stadt.
Es war der Moment, in dem ich begriff, dass unsere sogenannte freie, westliche Welt dabei ist, wie dieser Platz vor dem Gehry Tower in New York zu werden: aufgeräumt, aber leblos, hübsch, aber langweilig, sicher, aber kontrolliert wie ein Straflager – ein Ort ohne Zauber, aus dem sich jedes Temperament und jede Lebendigkeit verabschiedet haben, als hätte jemand eine Kaschmir-Decke über das Geschehen gebreitet.
Es war der Moment, in dem ich begriff, dass sich seit Jahren ein Entmenschlichungsprogramm mit algorithmischer Unerbittlichkeit über unsere Leben stülpt, während wir von Drohnenflotten und Kolonien auf dem Mars schwadronieren.
Es war der Moment, in dem ich beschloss, dieses Buch zu schreiben.
—
Meine Freunde sagen, es ist das Alter, eine Art zweite Pubertät, ich bin 44. Andere sagen, ich solle endlich aufhören zu träumen und erwachsen werden, ein Kind könnte helfen, Verantwortung, zur Not würde mich ein Schicksalsschlag irgendwann auf den Boden der Tatsachen holen. Wieder andere schauen mich verständnislos an: »Was hast du eigentlich?«, fragen sie, »uns geht’s doch gut«, dann gehen sie zur Haarentfernung mit Bio-Wax oder bereiten sich eine Schale Porridge mit Goji-Beeren zu.
Und es stimmt ja. Es geht uns allen Krisen zum Trotz immer noch blendend in der westlichen Welt, in der Mitte Europas, in Deutschland: Die Wirtschaft wächst, die Arbeitslosigkeit sinkt, wer glauben will, dass die Welt jeden Tag ein bisschen besser wird, findet Statistiken, die genau das belegen: Die Lebenserwartung steigt, ebenso der Bildungsgrad, das Kindergeld und der Mindestlohn, im Gegenzug hat sich die Arbeitszeit verringert, ist die Kriminalitätsrate gesunken.
Aber können Zahlenkolonnen zeigen, wie es uns geht? Können Excel-Tabellen die Seelenlage von Menschen erfassen? Oder könnte es sein, dass es in Wahrheit bergabgeht, weil sämtliche Kurven nach oben zeigen, nur die entscheidende nicht, weil die Abwesenheit einer Tragödie noch lange nicht Glück bedeutet? Und könnte es ebenfalls sein, dass die Menschen reicher und gleichzeitig ärmer, gesünder und gleichzeitig kränker, toleranter und gleichzeitig missgünstiger, sicherer und gleichzeitig ängstlicher werden? Dass sie äußerlich einverstanden, aber innerlich gereizt, frustriert, deprimiert sind und sich das Leben, das echte, pralle, intensive Leben vor allem vom Leib halten wollen? In Rom zieht mittlerweile ein Straßenmusiker mit seiner Gitarre durch die Restaurants, ohne zu spielen, in der Hand hält er ein Schild mit der Aufschrift: »Ich spiele nicht, um Sie nicht zu belästigen. Über eine kleine Entschädigung würde ich mich freuen.«1
In den letzten Jahren sind mehrere Bücher erschienen, die Bedenkenträgern wie mir den Kampf angesagt haben: Was genau war früher besser? heißt die Kampfschrift des Philosophen Michel Serres, in der er an sämtliche Schrecklichkeiten des 20. Jahrhunderts erinnert, Hitler, Stalin und Pol Pot, Hiroshima, Tuberkulose, Syphilis und Meningitis, die uns zu Tausenden dahinrafften, unmenschliche Internate, krumme Bauernrücken, Wäscheklopfen auf Knien, ständigen Durchfall, aufgescheuerte Füße und den verschämten Umgang mit der Sexualität, der manches erwachsene Paar glauben ließ, Liebe werde durch den Bauchnabel gemacht.
Er hat recht. Unser Alltag ist in vielerlei Hinsicht einfacher, aufgeklärter, angenehmer und friedlicher geworden, trotzdem finde ich nicht, dass irgendetwas darauf hindeutet, dass wir glücklicher geworden sind außer ein paar Umfragen, die wir so beantworten, dass wir mit ihren Ergebnissen leben können. »Dann sind Sie also frei?«, wird Karl, der Held in Franz Kafkas Roman Amerika, gefragt. »›Ja, frei bin ich‹, sagte Karl, und nichts schien ihm wertloser.«2
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In keiner Phase der Weltgeschichte haben wir sicherer gelebt als genau jetzt, trotzdem scheint unsere Angst nie größer gewesen zu sein. Manchmal habe ich das Gefühl, als würden sich die Menschen um mich herum für etwas wappnen, aber für was?
Tatsächlich haben wir mittlerweile Angst vor roter Wurst, dem Rechtsruck, Deodorants mit Aluminium, Feinstaub, Terrorismus, Wohnungseinbrüchen, Fahrverboten, schlechten Fetten, schlechten Wirtschaftsdaten, Flüchtlingen, Hackern, der Vergangenheit, dass sie sich wiederholen, und der Zukunft, dass sie tatsächlich eintreten könnte. Die Ersten haben angefangen, sich einen Panikraum einzurichten – die guten sollen aussehen wie ganz normale Schlafzimmer.
Es stimmt schon, dass wir alles im Griff haben, das Aktiendepot, die Kalorientabelle, den Stundenplan der Kinder, die Altersvorsorge, die Zahnzusatzversicherung. Die Eselsbrücken für unsere Passwörter funktionieren, unser Leben kann sich sehen lassen, unser Profil auch, jeden Tag neue Likes, neue Freunde, neue Posts, die Timeline haben wir unter Kontrolle – warum aber diese Verzagtheit, diese Erschlaffung, diese ständige Empörungsbereitschaft auf den Straßen und in den Schlangen der Supermärkte? Warum die Angst vor allem, was leidenschaftlich und temperamentvoll ist, was lacht, weint, wütet und trauert, was laut, direkt, intensiv, dunkel, unberechenbar ist und vor allem: jenseits unserer Kontrolle?
Warum das dauernde Gefühl, nicht zu genügen, nicht genug vom Leben abzukriegen, zu wenig dabei zu sein, zu wenig man selbst, verwirklicht und wahrgenommen? Warum gilt heute schon als kultiviert, wer über die Konsistenz der Crema eines Espresso Bescheid weiß? Warum werden die To-do-Listen länger und die Plaudereien kürzer? Und warum erzählen einem junge Menschen immer nur, was sie später mal werden wollen, und nie, was sie erlebt haben?
Nachdem der Plattenverkäufer Vernon Subutex, der Held aus Virginie Despentes’ gleichnamiger Trilogie, seine Wohnung verloren und einige Zeit als Obdachloser in den Parks von Paris verbracht hat, wird er von alten Freunden aufgespürt, in eine Wohnung gebracht, unter die heiße Dusche gestellt und gefragt, ob er eine Weile bleiben wolle. Er entscheidet sich dagegen. Er konnte die Wände und die Zimmerdecken körperlich nicht mehr ertragen, er bekam schlecht Luft, alle Gegenstände reizten ihn. »Das Schlimmste allerdings waren die Menschen um ihn herum. Er spürte ihr Elend, ihre Schmerzen, ihre panische Angst, nicht mithalten zu können, entlarvt und bestraft zu werden, zu versagen.«3
—
Immer wenn ich auf den ICE nach Hamburg oder Berlin warten muss, blättere ich im Bahnhofskiosk Zeitschriften durch. Hier einige der Titelgeschichten aus den letzten Monaten:
– HINSCHMEISSEN, UMSTEIGEN ODER NUR MAL DURCHATMEN – Welche Veränderung dich wirklich glücklich macht
– SEID MUTIG – Jede Entscheidung hat die Macht, Dein Leben zu verändern
– BIN ICH GUT GENUG? – Wie wir Selbstzweifel hinter uns lassen und Vertrauen in uns finden
– STÄNDIG WAS NEUES – Wie es uns gelingt, gelassen mit der Welt umzugehen
– UMSCHALTEN! – Wie Sie Stress loswerden und Energie gewinnen
– GELASSEN SEIN – Warum das so schwierig ist
– ECHT JETZT? – Sich selbst erkennen, zu sich stehen – und authentisch leben
– SCHLAFT GUT! – Warum es so kompliziert geworden ist, wirklich Ruhe zu finden. Tricks für die Erholung – bei Tag und bei Nacht
Ich war irritiert. Warum dieser heftige Wunsch nach Veränderung? Warum diese Unsicherheit, dieser Drang, das Leben besser, effizienter, authentischer zu machen? Ich dachte, alles sei wunderbar, Tendenz steigend? Ich dachte, wir können jede Glasnudelsuppe, jedes Paar Sneakers, jeden Karibik-Urlaub und jeden G-Punkt-Vibrator mit einem Klick bestellen? Ich dachte, unsere Freiheit ist so überwältigend, unsere Toleranz so ansteckend, unsere Individualität so aufregend, unsere Flexibilität so praktisch, dass wir sie im Zuge einer universalen Verwestlichung in jeden Winkel dieser Erde transportieren wollen, denn wenn wir ehrlich sind, ist es schon so, dass wir denken, der Rest der Welt könnte irgendwann mal das Privileg haben, so zu leben wie wir.
Manchmal wache ich vor dem ersten Morgenlicht auf und empfinde die Bedrängnis des Lebens als so niederschmetternd, dass ich die Neugierde verliere, wie es weitergehen könnte; dann flüchte ich ins Freie und fühle mich bedrängt von Bäckereiverkäuferinnen mit Latexhandschuhen, Foodora-Boten in pinkfarbenen Uniformen, Anzugträgern mit kabellosen Kopfhörern und Schulkindern, auf deren Pullovern »Racker« steht, während sie von einer Tracking-App überwacht werden.
Manchmal tröstet mich das Rascheln eines Butterbrotpapiers oder der unverschämte Blick eines Kindes in der U-Bahn, manchmal erlöst mich der Anblick einer Schwalbe, die vor einer Vodafone-Filiale in den Himmel steigt, oder eines Dackels, der in die Ecke macht; es ist unsagbar traurig, dass man auf den Straßen unserer Städte keine Katzen mehr sieht. Manchmal erlöst mich ein Soßenfleck auf meinem Hemd, den ich nicht entferne, sondern stolz trage zum stillen Protest, den niemand bemerkt.
Das Lebenstempo nimmt zu, die Nischen sind verbaut, die Pausen zugemüllt; die Schollen, auf die man sich flüchten könnte, schmelzen ab. Wir sind umzingelt von Optionen, 100-Euro-Joker-Wetten, Save-the-Date-Mails und Treuepunkten, aber unsere Seelen trocknen aus. Neulich ertappte ich mich dabei, wie ich mich in einem Hinterhof darüber freute, dass es stank; der Geruch nach verwesenden Tomaten erschien mir auf tröstliche Art sinnhaft, weil in der Tonne tatsächlich verwesende Tomaten lagen. Bin ich im Begriff, ein »Sehnsuchtsklumpen« zu werden, ein »herumempfindelnder« Zeitgenosse, wie es bei Wilhelm Genazino heißt, oder warum war es ausgerechnet der Gestank der Fäulnis, der mich für einen kurzen Moment zu einem intensiveren Leben ermuntert hat, weil nur verwesen kann, was zuvor gelebt hat?
Ich schreibe dieses Buch, weil ich ein Unbehagen spüre. Dieses Unbehagen ist die Ahnung, dass wir nach Jahrzehnten des Wohlstands an einem großen Kater leiden, so formatiert wie wir in halben Zügen vor uns hin existieren, so bereitwillig wie wir uns an die Entfremdungen der westlichen Welt gewöhnt haben.
Es ist die Ahnung, dass wir einen faustischen Pakt eingegangen sind, dass unsere technologischen Errungenschaften vor allem neue Zwänge und Ängste hervorgebracht haben, dass aus den Hippie-Träumern des Silicon Valley skrupellose Unternehmer geworden sind, dass die schöne neue Welt, die sie uns in Aussicht stellen, in Abhängigkeit und Manipulation mündet, dass die KI-Utopien der Software-Ingenieure immer nur auf Effizienz und nie auf Schönheit oder Sinn zielen.
Dieses Unbehagen, das ist das Gefühl, dass wir, so zivilisiert wir uns auch wähnen, unser Leben vor allem bewältigen, und alles, was wir tun, von einer pornografischen Geheimnislosigkeit ist, vor der man sich nicht mehr in Sicherheit bringen kann, weil sie immer schon da ist, einen Schritt voraus, auf sämtlichen Kanälen. Das Gefühl, dass wir fast nie unsere Bedürfnisse erfüllen, sondern immer nur die eines Marktes, den es ohne uns nicht gäbe. Dass sich ein neuer Totalitarismus im Gewand der Freiheit über unser Dasein stülpt. Dass wir Information mit Bildung, Transparenz mit Ehrlichkeit und Toleranz mit Menschlichkeit verwechseln. Das Gefühl, dass etwas nicht richtig sein kann, wenn wir tiefes Glück empfinden, sobald wir nach einem Inlandsflug mit einem Schnalzer das Handy entriegeln.
Ich spüre es, wenn ich durch die Straßen meiner Stadt gehe, im Netz surfe, im Büro sitze, Freunde treffe, durchs Fernsehprogramm zappe; ich spüre es vor dem Einschlafen, vor dem Computer, am Flughafen, im Café, im Kaufhaus, in München, Berlin, Paris, New York, wo ich neulich zwei Stunden durch Manhattan gelaufen bin, um in Ruhe einen Kaffee aus einer Porzellantasse zu trinken, was mir tatsächlich erst im Waldorf Astoria gelang. Mal lässt mich dieses Unbehagen wütend, mal melancholisch werden, mal treibt es mich an, mal lähmt es mich; es sind die Momente, in denen es sich zum Ekel auswächst, so kontaminiert von Zumutungen erscheint mir die Gegenwart, so enthumanisiert die Räume, so kontrolliert der Alltag, so hemmungslos der Repräsentationsdruck, so porös die Wirklichkeit, so tragisch das Entfremdungsdrama zwischen den Menschen und der Welt, in die sie hineingeboren wurden. Ich finde den Preis, den wir für Sicherheit, Bequemlichkeit und Fortschritt zu zahlen bereit sind, zu hoch, weil wir nichts Geringeres erleben als die Säuberung der Welt von jeder Poesie.
Es vergeht kein Tag, an dem man nicht über die Zumutungen der digitalisierten Gegenwart erschrecken könnte. Und manchmal frage ich mich, ob die Freiheit, auf die wir so stolz sind, nur noch die Erinnerung an die Zeit ist, in der wir Kinder waren. »Für uns beginnt die Ära der langsamen Vereisung, der kontinuierlichen, leichten Anästhesie mit durchgeplantem Freizeitprogramm, vorgeschriebenen Gedanken und zerbröselten Leben«4, schrieb die französische Psychoanalytikerin Anne Dufourmantelle wenige Jahre vor ihrem Tod.
Wann haben wir aufgehört, die Tür zur Welt aufzureißen? Wann haben wir angefangen, die Kontrolle über unser Leben aus der Hand zu geben, um auf niedrigstem Niveau zufrieden zu sein? Wann ist unsere Idee von der offenen Gesellschaft zum Mythos erstarrt? Ich schaffe es nicht mehr, an die zivilisierende Kraft des Liberalismus und den Fortschritt durch Technologie zu glauben, mein Vertrauen in die Zukunft ist ramponiert, ich empfinde sie als Bedrohung, so schutzlos fühle ich mich einer Logik ausgeliefert, die mich nur noch als Faktor wahrnimmt, als sei ich nicht mehr als die Summe meiner Daten:
»Zieht mein Gesicht in den Sand und handelt mit meiner DNA/ Zieht Kornkreise in die stehenden Felder meiner Biografie/ Lest meine Gedanken, verschenkt die Daten, verkauft mein Fleisch/ Verkauft mein Fleisch an den billigen Ständen und verwertet die Reste«5,
singt Peter Licht in Begrabt mein iPhone an der Biegung des Flusses. Er formuliert die fast vollendete Transformation der Schöpfung in ein Materiallager.
Manchmal kommt es mir vor, als würden wir uns nicht mehr gehören und könnten uns gleichzeitig nicht entkommen. Als würde uns das Geheimnis des Auf-der-Welt-Seins abhandenkommen, als würde die Welt ausfransen, weil ihre Bewohner als letztes Ziel ausgegeben haben, ihre Empathie für fast alles wie eine Monstranz vor sich herzutragen, während sie damit beschäftigt sind, die eigenen Genüsse voraussetzungslos zu sichern. Denn was ist die Toleranz, die wir auf sämtlichen Plattformen ausstellen, anderes als die momenthafte Verschleierung der Gleichgültigkeit, die wir füreinander empfinden?
Man wird mich einen Bedenkenträger schimpfen, ein Auslaufmodell, einen Reaktionär, aber reaktionär ist heute alles, was nicht vermarktet werden kann. Reaktionär ist, wer zu Gott betet, schlechte Laune hat, einen Diesel fährt, Gedichte liest, Schweinebraten isst, ARD schaut, Briefmarken sammelt, Vögel beobachtet. Reaktionär ist, wer den Fortschritt nicht vorbehaltlos gut findet und gelegentlich den Verdacht hegt, dass die vernetzte Konsumwelt uns nicht glücklich macht. Reaktionär ist alles, was den immerwährenden Strom der Daten, Waren und Devisen unterbrechen könnte, was sich nicht einschmiegt, nicht beliebig, engagiert, effizient ist.
—
Es war der Soziologe Max Weber, der vor ziemlich genau hundert Jahren den Begriff der »entzauberten Wirklichkeit« prägte. Er meinte damit »das Wissen oder den Glauben daran: (…) daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt.«6
Im Zentrum seiner Kritik standen die »abendländischen Rationalisierungsprozesse«, die aus dem Siegeszug der protestantischen Ethik und des Kapitalismus resultierten, also die Tendenz, das Leben und die Welt wissenschaftlich, technisch, ökonomisch und politisch berechenbar und beherrschbar zu machen. Überzeugt davon, dass diese Entwicklung zwangsläufig in Entfremdung, ja in ein Weltverstummen münden würde, setzte er das Wörtchen »Fortschritt« meist in Anführungszeichen, weil eine beherrschbar gemachte Welt nicht nur Magie, sondern auch Sinn einbüße und zu einem »stahlharten Gehäuse erkalte«, bis die Menschen zu einem »Nichts« geworden seien, das sich einbildet, »eine nie vorher erreichte Stufe des Menschseins erstiegen zu haben«7. Er muss geahnt haben, welchen Preis der permanente Fortschritt haben würde. Neue Freiheitsräume erhoffte er sich jedenfalls nicht, vielmehr spürte er die Bedrohung einer zunehmenden Reglementierung.
Ein halbes Jahrhundert später fassten Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung zusammen: »Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils. Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt.«8 Wie hysterisch, prosaisch und ängstlich die von sämtlichen Tabus befreite Welt des Westens freilich ein halbes Jahrhundert später sein würde, konnten sie allesamt nicht ahnen.
»Wenn man alles beherrscht, geht etwas verloren«, sagt der Soziologe Hartmut Rosa, »die Welt spricht und singt nicht dort zum Menschen, wo sie beherrscht wird, sondern wo der Mensch für sie entbrennt.«9 Unsere Utopien aber sind nur noch technischer Natur, nicht mehr sozialer, menschlicher oder künstlerischer. Wir hocken, umgeben von Datenströmen, in klimatisierten Großraumbüros und liebevoll inszenierten Altbauwohnungen und wagen nichts mehr zu denken, das größer ist als wir selbst. Wir schaffen es nicht mehr, die Zurichtungen des Alltags wenigstens für einen Moment zu unterbrechen, um, wenn schon nicht das Heilige, so doch wenigstens das Erhabene oder Rätselhafte in unser Leben zu lassen, eine Ahnung von Transzendenz oder Poesie. In ihrem Essay Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft schreibt Hannah Arendt:
»Wir wissen auch nicht, aber wir können es ahnen, wie viele Menschen sich in Erkenntnis ihrer wachsenden Unfähigkeit die Last des Lebens unter modernen Verhältnissen zu ertragen, willig einem System unterwerfen würden, das ihnen mit der Selbstbestimmung auch die Verantwortung für das eigene Leben abnimmt.«10
Warum eigentlich muss man bei diesem Satz sofort an unsere Armada aus Apps denken, an die zunehmende Verschmelzung mit unseren Lieblingsgadgets, die wir noch in der Hand, aber bald schon unter der Haut mit uns herumtragen werden?
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat die entzauberte Wirklichkeit endgültig übernommen und mit ihr die Kontrolliertheit unserer Affekte, die Trostlosigkeit des öffentlichen Raums, die Offensichtlichkeit der aufgemotzten Lebensläufe, die Körperlosigkeit der Datenströme, die Heimatlosigkeit der Dinge, die Ödnis der durchökonomisierten Welt, in der keine Geste mehr um ihrer selbst willen geschieht, sondern zur Ware verkommen auf dem Marktplatz der Globalvernetzung feilgeboten wird wie ein Stück Fleisch auf einem Basar.
Lebe lieber selbstbestimmt, Erfolgreich altern, Werde unwiderstehlich, Gesund durch Atmen, Mehr Zeit für das Wesentliche, Noch mehr Zeit für das Wesentliche – die Titel unserer Ratgeberbücher lassen erahnen, was wir verloren, verkauft, verraten haben. Oder warum fühlt sich das Leben zunehmend an wie die endlose Aneinanderreihung von Ausbeutungen, Gängelungen, Zermürbungen, die uns von allem, was wir lieben, und am Ende von uns selbst entfremdet?
»(…) unsere Zeit schafft diese Wunder, aber sie fühlt sie nicht mehr. Sie ist eine Zeit der Erfüllung, und Erfüllungen sind immer Enttäuschungen; es fehlt ihr an Sehnsucht, an etwas, das sie noch nicht kann, während es ihr am Herz nagt«11,
heißt es in Robert Musils Essay Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste. Warum also fragen wir immer danach, wie menschlich die Maschinen von morgen sein werden, und nie, wie maschinenhaft die Menschen von heute schon sind? Haben wir wirklich so viele Krisen überstanden und Diktatoren niedergerungen, um uns anschließend von ein paar Software-Ingenieuren einreden zu lassen, dass es im Leben um Content, Likes und Follower geht?
Die Utopie der 68er-Generation, die Versöhnung von Arbeit und Lust, ist nicht nur gründlich gescheitert, sie hat sich in ihr Gegenteil verkehrt, weil alles, was im Büro, im Schlafzimmer und in unserer Fantasie geschieht, in den Leistungskatalog des modernen Menschen aufgenommen wurde. Wir ahnen, dass wir kindisch, eitel und süchtig sind, aber die anderen sind es auch, und deswegen ist es okay. Drohungen braucht es schon lange nicht mehr, um uns in Schach zu halten, das erledigen wir schon selbst. Das Zusammenspiel aus Spaß, Technik und sozialer Anerkennung im Netz, diese »ultra-schnellen Kontrollformen mit freiheitlichem Aussehen« (Gilles Deleuze), sind das geschmeidigste Herrschaftssystem der Weltgeschichte. Die Menschen, schreibt Peter Sloterdijk, agierten nie besessener, als wenn sie vom Bewusstsein ihrer Freiheit erfüllt seien. »Meinen sie, im hier und jetzt ihrer wahren Natur zu folgen, sind sie schon durch und durch Marionetten der Unterwelt.«12 Wir müssen nicht von Geheimdiensten überwacht werden, wir kontrollieren uns gegenseitig, wenn wir rund um die Uhr senden, posten, liken, twittern und unsere vulgären Selbstinszenierungen zur Schau stellen, weil wir ohne den kleinen Dopaminschub zwischendurch nicht mehr leben wollen.
Politische Diktaturen versuchen, die Menschen an der Meinungsäußerung zu hindern, das körperlose Herrschaftssystem der Dauerkommunikation geht raffinierter vor. Gilles Deleuze schrieb:
»Die Schwierigkeit ist heute nicht mehr, dass wir unsere Meinung nicht frei äußern können, sondern, Freiräume der Einsamkeit und des Schweigens zu schaffen, in denen wir etwas zu sagen finden. Repressive Kräfte hindern uns nicht mehr an der Meinungsäußerung. Im Gegenteil, sie zwingen uns sogar dazu. Welche Befreiung ist es, einmal nichts sagen zu müssen und schweigen zu können, denn nur dann haben wir die Möglichkeit, etwas zunehmend Seltenes zu schaffen: Etwas, das es tatsächlich wert ist, gesagt zu werden.«13
Schweigen ist schon lange nicht mehr Gold. Wer nicht teilnimmt an den Beschimpfungs- und Verehrungsloops im Netz, gilt als Sonderling, ja macht sich verdächtig, als würde er etwas aushecken.
»If you have something that you don’t want anyone to know, maybe you shouldn’t be doing it in the first place«14 (»Wenn es Dinge gibt, von denen Sie nicht wollen, dass irgendjemand etwas darüber erfährt, dann sollten Sie so etwas nicht tun«),
sagte Google-Chef Eric Schmidt 2009. Noch besorgniserregender ist eigentlich nur ein Satz von Mark Zuckerberg, den er – lange bevor er kleinlaute Wir-entschuldigen-uns-Anzeigen in Zeitungen abdrucken ließ – auf dem Podium der Sun-Valley-Konferenz auf die Frage äußerte, wie Facebook es mit dem Schutz der Privatsphäre halte:
»Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten.«15
Es ist die Definition der perfekten Diktatur, die Grundlage eines totalitären Regimes, die Voraussetzung für ein Klima der Gleichförmigkeit, das immer intoleranter gegenüber allem wird, was sich widersetzt oder nicht unter einem Hashtag zu verschlagworten ist.
Ich fühle mich bedroht von den Männern aus dem sagenumwobenen Tal in Amerikas Westen. Nie wirken sie zufrieden, immer nur visionär, getrieben, ambitioniert und ein bisschen albern. Camoufliert durch die Insignien der Lässigkeit – Sneakers, Kapuzenpullover, Fünftagebart –, vermitteln sie eine Ahnung der Welt, an der sie basteln. Ich sehe ihre blassen Gesichter, die ehrgeizigen Augen und gepflegten Hände, die keine Geschichten erzählen, und frage mich: Wen habt ihr geliebt, und wen habt ihr sterben gesehen? Bei wie vielen Kranken habt ihr gewacht? Für wen habt ihr gebetet, nachts, auf euren Knien? Welche Bücher habt ihr gelesen, welche Lieder gehört, welche Bilder betrachtet, welche Länder bereist, welche Menschen gesprochen? Wen musstet ihr verlassen, und wer hat euch getragen, damals, in den Tagen, an die ihr euch nicht erinnert? Und was macht euch so sicher, dass ihr zu wissen glaubt, was uns glücklich macht?
Wir sind schon lange nicht mehr ihre Kunden, nur noch ihre Produkte. Was wir tun, sagen, denken, lesen, kaufen, wird vermessen, gespeichert und bewertet; jeder Schritt, jeder Herzschlag, jeder Gedanke, jedes Gefühl – alles wird feilgeboten, abgebucht, profitabel gemacht, auch unsere Freude, unsere Trauer, unser Mitgefühl, unsere Kritik, unsere Sehnsucht, unsere Angst, unsere Moral, unsere Erschöpfung, unsere Wut. Im Gegenzug wird alles, was sich nicht verkaufen lässt, was rätselhaft und überraschend sein könnte – in einem Wort: diese verrückte Idee, dass jeder Mensch tatsächlich und nicht nur als Slogan eine Einzigartigkeit sein könnte, der Zauber also, der aus der bloßen Existenz ein Leben macht –, geleugnet:
Es ist dies die dionysische Seite des Lebens, alles Leidenschaftliche, Temperamentvolle, Exzessive, Erotische, Triebhafte, aber auch Innerlichkeit und Spiritualität, Glaube, Melancholie, Wahnsinn, Poesie und Sehnsucht, also alles, was sich nicht kontrollieren lässt und von Albert Camus unter dem Begriff der »metaphysischen Revolte« zusammengefasst wurde, die zum Scheitern verurteilte, aber heroische Auflehnung des Menschen gegen die eigene Sterblichkeit. Echte Gemeinschaftlichkeit und Individualität findet man eigentlich nur noch an Orten, die nach Regeln funktionieren, die die spätmoderne Gesellschaft ablehnt oder denen sie sich einmal im Jahr zu kontrollierten Bedingungen lustvoll unterwirft, also im Kloster oder in Ländern südlich des Äquators, die man sonst nur aus dem Weltspiegel kennt.
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»Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.«16
200 Jahre ist es her, dass Novalis das romantische Kunst- und Weltverständnis formulierte, eine bis heute gültige Anleitung, wie der Mensch sich durch ein selbst auferlegtes Wiederverzauberungsprogramm den Abhängigkeiten der bürgerlichen Gesellschaft und der Entfremdung durch eine industrialisierte Berufswelt, also der »wunderlosen Immergleichheit« (Markus Schwering) des Lebens, entziehen könnte.
Wir machen das Edle gemein, das Geheimnis sichtbar, das Unbekannte zugänglich; das Unendliche ziehen wir herab auf den Boden der Tatsachen. Weil wir nichts bedrohlicher finden als Unberechenbarkeit, entzaubern wir unsere Welt. Was auch kommen mag, wir haben die Maßnahmen schon getroffen, die Konsequenzen bedacht und die Folgen berechnet.
Statistiker sagen, das Gefühl trügt: Weltweit gehe es den Menschen immer besser. Dritte-Welt-Länder würden zu Schwellenländern, Schwellenländer zu Wohlstandsnationen, der Kapitalismus fühle sich vielleicht ungerecht an, aber er gehe auf und mache die Welt zu einem besseren Ort.
Was aber ist gewonnen, wenn die Glasfasernetze verlegt, die Stromtrassen gebaut und die Zahnbürsten mit dem Netz verbunden sind, aber keine Verlockung mehr ausgeht von der Welt, wenn die Impulse ausbleiben, die Reize versiegen, die Schönheit schwindet? Was sind wir denn schon außer zeitgemäß und bestens präpariert? Vielleicht meinte Michel Houellebecq ja das, als er öffentlich gestand: »Es passiert mir, dass ich mich frage, warum ich noch am Leben bin.«17 Warum weitermachen, mag er sich gefragt haben, wenn das Leben abläuft wie ein Computerprogramm, warum weitermachen, wenn es so schwer geworden ist, »ein verdammter Mensch zu bleiben« (David Foster Wallace)? Manchmal kommt es mir vor, als gäbe es in der westlichen Welt nichts Großes mehr zu erleben außer der möglichst schmerzfreien Verarbeitung des eigenen Überflüssigwerdens.
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Dieses Buch ist kein Plädoyer für einen beherzten Aufbruch in die Vergangenheit, erst recht keine Klage darüber, dass früher alles besser war, es erzählt lediglich von Kraftquellen, auf die wir verzichten werden müssen, wenn wir so weitermachen. Es versucht eine Vorstellung davon zu vermitteln, welche Geheimnisse, Werte und Erfahrungen wir verlieren und welche Gewissheiten wir an ihrer Stelle bekommen, wenn wir es nicht schaffen, den Wandel und den Fortschritt menschlicher zu gestalten. Dieses Buch beklagt Verluste, skizziert Auswege, ermuntert zum Widerstand und versucht herauszufinden, ob Houellebecq vielleicht doch recht hat, wenn er am Ende seines Romans Serotonin fragt, ob wir »Illusionen von individueller Freiheit, von einem offenen Leben, von unbegrenzten Möglichkeiten erlegen«18 seien. Letztlich stellt es die Frage, ob unsere freie Welt vielleicht nicht nur von China und Russland, von rechten Spinnern, islamistischen Fundamentalisten und gewissenlosen Investoren bedroht wird, sondern vor allem von uns, den Amazon-Bestellern, Netflix-Schauern und Bauernmarktbesuchern, weil wir uns in den Widersprüchen der Freiheit verheddert und in der Komfortzone allzu bequem eingerichtet haben, ohne Neugierde, ohne Temperament, ohne Mut und – auch wenn manche es nicht wahrhaben wollen – ohne Toleranz, ohne Vielfalt und ohne echte Menschlichkeit.
Natürlich gab es die Angst vor dem Neuen zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte. Jeder Fortschritt wurde erst dämonisiert und dann selbstverständlicher Alltag. Der Buchdruck, die Eisenbahn, das Flugzeug, das Telefon, das Fernsehen, das Internet – wer würde heute darauf verzichten wollen? Trotzdem glaube ich, dass diesmal mehr auf dem Spiel steht, dass wir uns an der Schwelle zu einer Logik befinden, an der das Humanum selbst, also das Menschliche am Menschen, in Gefahr gerät, nicht, weil es von einem Krieg oder einer Naturkatastrophe ausgelöscht werden, sondern weil es sich im Namen des technologischen Fortschritts verflüchtigen könnte. Das Ergebnis wäre nicht das Ende der menschlichen Spezies, sondern die Erschaffung einer Gesellschaft aus Einzelwesen, die identitätslos und in kaltem Respekt vor sich hin leben, kontrolliert, manipuliert und am Leben gehalten durch die neuesten Errungenschaften der Genetik, Biowissenschaften und künstlichen Intelligenz.
»Man muss kein Hellseher sein, um eine totalitäre Gesellschaft heraufdämmern zu sehen, worin ein Heer von digital Deklassierten gegen eine Klassenordnung der Gen- und Cyber-Privilegierten steht, die um ihre Positionen kämpfen«19, schreibt der Philosoph Peter Strasser. Wir sind mit leidenschaftlichem Zynismus (bei gleichzeitigem Hypermoralismus) dabei, eine Welt zu erschaffen, die es schon mal gab, freilich unter den technischen Bedingungen des 21. Jahrhunderts: Es ist eine Welt der Spaltung, der Ungleichheit und des Misstrauens, ein mittelalterlicher Kosmos, digital durchseucht, mit gigantischem Unterhaltungspotenzial und unendlichen Konsumoptionen. Die Autoritäten sind noch da, sie haben sich nur verlagert, von Königen zu Software-Ingenieuren, von goldenen Palästen zu gläsernen Firmenzentralen, von einem allwissenden Gott zu ein paar skrupellosen Business-Punks, die für uns die Zukunft entwerfen.
Wir glauben, es müsse so sein, das sei der Lauf der Dinge, die spezifische Ordnung unserer Zeit, aber das stimmt nicht: »Ich habe mir vorgenommen (…) den Menschen zu zeigen, dass sie weit freier sind, als sie meinen«, schrieb Michel Foucault, »dass sie Dinge als wahr und evident akzeptieren, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte hervorgebracht worden sind, und dass man diese so genannten Evidenzen kritisieren und zerstören kann.«20
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Es gibt einen Cartoon, in dem Charlie Brown und Snoopy auf einem Steg sitzen und aufs Wasser schauen: »Eines Tages werden wir sterben, Snoopy«, sagt Charlie Brown. Und Snoopy antwortet: »Ja, aber an allen anderen Tagen nicht.«
Roger Willemsen meinte das Gleiche, als er sagte: »Wir können das Leben nicht verlängern, aber wir können es verdichten«, also Erfahrungen, Begegnungen und Erinnerungen schaffen, die uns den Wert des Lebens spüren lassen und, wenn es so weit ist, die Kraft geben, das Nicht-mehr-da-Sein zu akzeptieren. Wir aber tun alles dafür, um es in die Länge zu ziehen, wenigstens ein paar Jahre. Wir fordern den Tod heraus, lassen unsere Gene entziffern und unsere Körper einfrieren, in der Hoffnung, spätere Generationen könnten uns zum Leben erwecken. Bis es so weit ist, überwachen wir unsere Schlafperformance, gehen zur Hautfaltenmessung und speichern Tausende von Bildern unserer Liebsten in Dutzenden von Ordnern.
Das Buch, an dem Willemsen bis zuletzt geschrieben hat, erschien in verkürzter Form nach seinem Tod. Wer wir waren ist eine Skizze des Werks, das er eigentlich hatte schreiben wollen, eine Analyse der Gegenwart aus der Perspektive der Nachzeitigkeit. Am Ende erzählt es von Raumfahrern, die ihre Lieblingsmusik mit in den Weltraum genommen hatten und nach Wochen im Orbit nur noch Kassetten mit Naturgeräuschen hören wollten: Donnergrollen, Regen, Vogelzwitschern. Manche legten sich Gemüsebeete im All an und züchteten Hafer, Erbsen, Radieschen, andere empfanden tiefe Trauer, als Fische, die sie in einem kleinen Aquarium mit in den Weltraum genommen hatten, die Strapazen der Reise nicht überstanden. »Am äußersten Ende der Exkursion zu den Grenzen des Erreichbaren, die technologische Rationalität mit einer Meisterleistung krönend, entdeckten sie das Kreatürliche, das Spirituelle und das Moralische und kehrten zurück zum Anfang, zum Kind, zum Säugling, der da liegt wie der zusammengekauerte Todesschläfer, der letzte komplette Mensch.«21