Zum Buch
Mordanschläge, die dem israelischen Geheimdienst Mossad zugeschrieben werden, sorgen immer wieder für Aufsehen. Doch über die Hintergründe dieser Aktionen war bislang kaum etwas bekannt. In seinem packend geschriebenen Enthüllungsbuch deckt der israelische Geheimdienstexperte Ronen Bergman nun erstmals die ganze Dimension eines Schattenkriegs auf, der seit Jahrzehnten im Geheimen ausgetragen wird. Er beschreibt die Erfolge und Misserfolge der zum Teil unbekannten Attentate, benennt Opfer, Täter und Verantwortliche und fragt, welchen Preis Staat und Gesellschaft in Israel für ihre Sicherheit bezahlen.
Zum Autor
Ronen Bergman, geboren 1972, ist Chefkorrespondent für Militär- und Geheimdienstthemen bei der israelischen Tageszeitung Yediot Acharonot. Nach Abschluss seines Jurastudiums an der Universität Haifa arbeitete er zunächst für den israelischen Generalstaatsanwalt und promovierte dann an der Universität Cambridge mit einer Arbeit über den Mossad. Bergman ist einer der führenden Experten für Sicherheitsfragen und Geheimdienste im Nahen Osten, seine Analysen werden u. a. in der New York Times, im SPIEGEL und in der Zeit veröffentlicht. Er ist Autor mehrerer Bücher, für seine publizistische Arbeit wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem B’nai B’rith’s International Press Award und mit dem Sokolow-Preis, Israels wichtigster Auszeichnung für Journalisten.
RONEN
BERGMAN
DER
SCHATTEN
KRIEG
ISRAEL UND DIE GEHEIMEN
TÖTUNGSKOMMANDOS DES MOSSAD
Aus dem Englischen von
Henning Dedekind,
Jens Hagestedt,
Norbert Juraschitz
und Heide Lutosch
Deutsche Verlags-Anstalt
Für Yana, die genau zur rechten Zeit erschien
»Wenn jemand kommt, dich zu töten, steh auf und töte ihn zuerst.«
BABYLONISCHER TALMUD, TRAKTAT SANHEDRIN, ABSCHNITT 72, VERS 1
Inhalt
Vorbemerkung zu den Quellen
Prolog
1 In Blut und Feuer
2 Eine geheime Welt entsteht
3 Die Agentur, die Treffen mit Gott arrangiert
4 Die gesamte militärische Führung, mit einem einzigen Schlag
5 »Als fiele uns der Himmel auf den Kopf«
6 Eine Reihe von Katastrophen
7 »Der bewaffnete Kampf ist der einzige Weg zur Befreiung Palästinas«
8 Meir Dagan und seine Expertise
9 Die PLO erweitert ihre Aktivitäten ins Ausland
10 »Niemand, den ich getötet habe, ist ein Problem für mich«
11 »Die falsche Identifizierung einer Zielperson ist kein Versagen, sondern ein Fehler«
12 Hybris
13 Der Tod in der Zahnpasta
14 Eine Meute wilder Hunde
15 »Abu Nidal, Abu Shmidal«
16 Schwarze Flagge
17 Ein Putschversuch des Schin Bet
18 Dann gab es einen Funken
19 Intifada
20 Nebukadnezar
21 Ein »grüner Sturm« zieht auf
22 Das Zeitalter der Drohne
23 Mughniyyas Rache
24 Nur ein Schalter: an und aus
25 »Bringt uns den Kopf von Ajasch«
26 »Schlau wie eine Schlange, naiv wie ein kleines Kind«
27 Auf dem Tiefpunkt
28 Totaler Krieg
29 »Mehr Selbstmordbomber als Sprengstoffwesten«
30 »Zielperson ausgeschaltet, Operation gescheitert«
31 Der Aufstand in Einheit 8200
32 Windröschen pflücken
33 Die Radikale Front
34 Maurice töten
35 Eindrucksvoller taktischer Erfolg, katastrophaler strategischer Fehlschlag
Dank
Anmerkungen
Bibliografie
Register
Vorbemerkung zu den Quellen
Die israelische Geheimdienstgemeinde wacht argwöhnisch über ihre Geheimnisse. Die fast vollständige Intransparenz ihres Handelns wird durch einen Komplex von Gesetzen und Verhaltensregeln gesichert, durch strenge Militärzensur, durch Einschüchterung, Befragung und strafrechtliche Verfolgung von Journalisten und ihren Quellen sowie durch die interne Solidarität und Loyalität der Geheimdienstmitarbeiter selbst. Alle Blicke hinter die Kulissen haben daher bis heute bestenfalls Einzelheiten erhascht.
Wie ist es dann möglich, über eine der verschwiegensten Organisationen der Welt ein ganzes Buch zu schreiben?
Bemühungen, den israelischen Verteidigungsapparat zur Kooperation bei den Recherchen für dieses Projekt zu überreden, haben zu nichts geführt.[1] Aufforderungen, die Geheimdienstgemeinde möge dem Gesetz Genüge tun, indem sie ihre historischen Dokumente dem Staatsarchiv übergebe und der Veröffentlichung von 50 oder mehr Jahre alten Materialien zustimme, wurden mit eisernem Schweigen beantwortet. Die Behandlung einer Petition an das Oberste Gericht, die Einhaltung des Gesetzes zu erzwingen,[2] wurde unter Mitwirkung des Gerichts jahrelang torpediert und endete mit – einer Änderung des Gesetzes: Die Geheimhaltungsfrist wurde von 50 auf 70 Jahre verlängert, das heißt auf eine Zeitspanne, die länger ist als die Geschichte des Staates.
Im Übrigen sah der Verteidigungsapparat der Entstehung des Buches nicht tatenlos zu.[3] Schon 2010, zu einem Zeitpunkt, da nicht einmal der Vertrag über das Buch unterzeichnet war, hielt die Caesarea, die Mossad-Abteilung für verdeckte Operationen, eine Sondersitzung ab, um Möglichkeiten zu besprechen, meine Recherchen zu behindern. Alle ehemaligen Mossad-Bediensteten wurden angeschrieben und davor gewarnt, mir Interviews zu geben. Mit den mutmaßlich »problematischsten« ehemaligen Mitarbeitern wurden Einzelgespräche geführt. Ende 2011 bat der Generalstabschef der israelischen Armee, Generalleutnant Gabi Aschkenasi, den Schin Bet, aggressive Schritte gegen mich zu unternehmen, da ich »schwere Spionage« begangen hätte, was daraus hervorgehe, dass ich »als geheim eingestufte Dokumente« in meinem Besitz hätte und von »geheimem Material« Gebrauch machte, um Aschkenasi »persönlich in Verruf zu bringen«. Seither haben mehrere Organisationen versucht, ein Publikationsverbot für das Buch oder für große Teile desselben zu erwirken.
Wenn israelische Medien geheime Aktionen, vor allem gezielte Tötungen, erwähnen, die einem israelischen Geheimdienst zugeschrieben werden, müssen sie, einer Auflage des Militärzensors gehorchend, durch den Zusatz »ausländischen Publikationen zufolge« kenntlich machen, dass die Erwähnung nicht auf offizieller Anerkennung von Israels Verantwortlichkeit basiert. Insofern muss dieses Buch, dessen Inhalte von israelischer Seite keinerlei offizielle Bestätigung erfahren haben, als »ausländische Publikation« gelten.
Keines der 1000 Interviews, auf denen dieses Buch basiert[4] – Interviews mit einem breiten Spektrum von Quellen, von Persönlichkeiten der politischen Führung über Chefs von Geheimdiensten bis hin zu Attentätern –, wurde von Israels Verteidigungsapparat genehmigt. Die meisten Quellen werden durch ihre Namen kenntlich gemacht. Andere fürchteten verständlicherweise, identifiziert zu werden, und werden daher unter Angabe ihrer Spitznamen oder der Initialen ihrer bürgerlichen Namen zitiert; außerdem erwähne ich nur jene Charakteristika, die die Identitäten der Personen nicht verraten.
Zudem habe ich von den Tausenden Dokumenten Gebrauch gemacht, die ich von diesen Quellen erhalten habe und die in diesem Buch erstmals für die Öffentlichkeit ausgewertet wurden. Meine Quellen waren nicht befugt, die Dokumente von ihrem Arbeitsplatz zu entfernen, geschweige denn, sie an mich weiterzugeben. Von einer autorisierten Geschichte der israelischen Geheimdienste ist dieses Buch also denkbar weit entfernt.
Aber warum haben meine Quellen mit mir gesprochen und mir diese Dokumente zur Verfügung gestellt? Jeder meiner Gesprächspartner hatte seine eigenen Motive, und manchmal war die Hintergrundgeschichte kaum weniger interessant als der Inhalt des Interviews. Es ist klar, dass einige Politiker und Geheimdienstleute – Angehörige von Berufsgruppen, die sich bestens auf Manipulation und Täuschung verstehen – den Versuch machten, mich als Übermittler ihrer Version der Ereignisse zu benutzen oder die Geschichte vorteilhaft für sie selbst darzustellen. Ich habe mich bemüht, solche Versuche durch Abgleich mit möglichst vielen schriftlichen und mündlichen Quellen zu durchkreuzen.
Ich hatte aber den Eindruck, dass das Motiv oft ein anderes war – eines, das viel mit einem für Israel typischen Widerspruch zu tun hat: Einerseits ist nahezu alles in diesem Land, was mit den Geheimdiensten und der nationalen Sicherheit zu tun hat, als »streng geheim« klassifiziert. Andererseits möchte jeder über das sprechen, was er getan hat. Taten, zu denen sich Menschen in anderen Ländern aus Scham nicht bekennen würden, sind für Israelis Grund, stolz zu sein, weil sie kollektiv als notwendig für die nationale Sicherheit betrachtet werden, als notwendig für den Schutz des bedrohten Lebens israelischer Bürger, ja für die Erhaltung der Existenz des bedrängten Staates.
Nach einiger Zeit gelang es dem Mossad, die Verbindung zu einigen meiner Quellen zu kappen (in den meisten Fällen allerdings erst, nachdem sie mit mir gesprochen hatten). Weit mehr Quellen sind gestorben, seit ich mich mit ihnen getroffen habe, die meisten von ihnen eines natürlichen Todes. Die Darstellungen aus erster Hand, die diese Männer und Frauen für das vorliegende Buch gegeben haben – Männer und Frauen, die Zeugen waren von bedeutsamen historischen Ereignissen und diese mitbestimmt haben –, sind die einzigen, die außerhalb der Geheimarchive des Verteidigungsapparats existieren. Zum Teil sind sie die einzigen, die überhaupt existieren.
Prolog
Meir Dagan, Chef des israelischen Mossad, legendärer Spion und Attentäter, betrat den Raum.
Er ging gestützt auf seinen Gehstock, den er seit den 1970er-Jahren gebrauchte, als er noch ein junger Sondereinheitsoffizier war und im Gazastreifen gegen palästinensische Terroristen kämpfte. Durch eine ihrer Landminen war er damals verwundet worden. Dagan, der über die Macht von Mythen und Symbolen so einiges wusste, stritt ganz bewusst nicht die Gerüchte ab, dass sich in seinem Stock eine Klinge verbarg, die er durch einen Knopfdruck ziehen könnte.
Dagan war ein kleiner Mann und so dunkelhäutig, dass die Menschen stets überrascht waren, wenn sie erfuhren, dass er polnischer Herkunft war. Vor sich her schob er einen gewaltigen Schmerbauch. Zu dieser Gelegenheit trug er ein einfaches, offenes Hemd, leichte schwarze Hosen und schwarze Schuhe. Er wirkte, als hätte er sich keine großen Gedanken um sein Äußeres gemacht. Er strahlte ein direktes, prägnantes Selbstvertrauen aus und besaß ein ruhiges, bisweilen bedrohlich wirkendes Charisma.
Das Konferenzzimmer, das Dagan an jenem Nachmittag des 8. Januar 2011 betrat, befand sich in der Mossad-Akademie nördlich von Tel Aviv. Zum ersten Mal überhaupt traf sich der Chef der Spionagebehörde im Herzen einer von Israels bestbewachten und geheimsten Einrichtungen mit Journalisten.
Dagan hatte für die Medien wenig übrig. »Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass sie ein unersättliches Monster sind«, sagte er mir später. »Also gibt es keinen Grund, eine Verbindung zu ihnen zu unterhalten.«[1] Trotzdem hatten ich und einige weitere Korrespondenten drei Tage vor dem Treffen eine vertrauliche Einladung erhalten. Ich war überrascht. Ein ganzes Jahrzehnt lang hatte ich den Mossad und insbesondere Dagan scharf kritisiert, was diesen schwer erzürnt hatte.[2]
Der Mossad tat, was er konnte, um das Treffen möglichst abenteuerlich wirken zu lassen. Wir waren angewiesen, zum Parkplatz des Cinema City zu kommen, eines nicht weit vom Mossad-Hauptquartier gelegenen Kino-Komplexes, und außer Notizblöcken und Schreibutensilien alles im Auto zu lassen. »Man wird Sie gründlich durchsuchen, und wir wollen jegliche Unannehmlichkeiten vermeiden«, sagte uns ein Begleiter. Von dort fuhr man uns in einem Bus mit dunkel getönten Fenstern zum Komplex des Mossad-Hauptquartiers. Wir passierten eine Reihe elektronisch gesicherter Tore und elektrischer Schilder, die die Besucher informierten, was im Innern der Eingrenzung gestattet und was verboten war. Dann wurden wir mit Metalldetektoren gründlich gefilzt, um sicherzugehen, dass wir keine Audio- oder Video-Aufzeichnungsgeräte mitgebracht hatten. Wir betraten das Konferenzzimmer. Ein paar Minuten später kam Dagan, ging umher und schüttelte Hände. Als er zu mir gelangte, drückte er einen Augenblick lang meine Hand und sagte mit einem Lächeln: »Sie sind mir ja so ein Bandit!«
Dann setzte er sich. Zu seinen Seiten saßen der Sprecher des Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und die Chefzensorin des Militärs, eine Brigadegeneralin. (Der Mossad ist eine dem Ministerpräsidenten unterstellte Einheit; jede Berichterstattung über seine Aktivitäten unterliegt nach Landesgesetz der Zensur.) Sowohl der Sprecher als auch die Generalin glaubten, Dagan hätte das Treffen nur einberufen, um sich von den Personen zu verabschieden, die seine Amtszeit begleitet hatten, und dass er nichts Substanzielles sagen würde.
Sie täuschten sich. Die Überraschung stand dem Sprecher des Ministerpräsidenten ins Gesicht geschrieben, dessen Augen immer größer wurden, während Dagan redete.
»Eine Rückenverletzung hat ihre Vorteile«, begann Dagan seine Ansprache. »Man bekommt ärztlich attestiert, dass man nicht wirbellos ist.« Rasch erkannten wir, dass dies nicht nur bloßer Wortwitz war, denn Dagan setzte zu einem vehementen Angriff auf den israelischen Ministerpräsidenten an. Benjamin Netanjahu, so behauptete Dagan, verhalte sich unverantwortlich und manövriere das Land aus egoistischen Motiven in eine Katastrophe hinein. »Dass jemand gewählt wird, bedeutet nicht, dass er auch schlau ist«, lautete eine seiner Spötteleien.
Es war der letzte Tag von Dagans Amtszeit als Direktor des Mossad. Netanjahu wies ihm die Tür, und Dagan, dessen Lebenstraum es gewesen war, die Position des obersten Spions Israels zu bekleiden, wollte nicht länger tatenlos zusehen. Die akute Vertrauenskrise zwischen den beiden Männern war aus zwei Fragen heraus entstanden, und beide waren fest verwoben mit Dagans Lieblingswaffe: den Tötungsmissionen.
Acht Jahre zuvor hatte Ariel Scharon Dagan zum Mossad-Chef ernannt und ihn mit der Aufgabe betraut, das iranische Atomwaffenprojekt aufzuhalten, das beide Männer als existenzielle Bedrohung für Israel betrachteten. Um diese Aufgabe zu erfüllen, agierte Dagan auf unterschiedliche Weise. Die schwierigste, aber auch wirkungsvollste Methode war seiner Meinung nach, die wichtigsten iranischen Nuklear- und Raketenforscher ausfindig zu machen und zu töten. Der Mossad bestimmte 15 solcher Zielpersonen, von denen sechs eliminiert wurden, meist auf dem morgendlichen Weg zur Arbeit. Dies erfolgte durch Bomben mit Kurzzeitzündern, die Motorradfahrer an ihren Autos anbrachten. Außerdem wurde ein General der Iranischen Revolutionsgarden, dem das Raketenprojekt unterstand, zusammen mit 17 seiner Männer in seinem Hauptquartier in die Luft gesprengt.
All diese Operationen waren erfolgreich, doch Netanjahu und sein Verteidigungsminister Ehud Barak fanden, dass ihr praktischer Nutzen schwand. Sie beschlossen, dass verdeckte Maßnahmen das iranische Nuklearprojekt nicht mehr effektiv verzögern könnten und nur ein massives Flächenbombardement der iranischen Nukleareinrichtungen die Entwicklung eigener Atomwaffen erfolgreich aufhalten könne.
Dagan sprach sich entschieden gegen diesen Gedanken aus. Tatsächlich stand er gegen alles, woran er glaubte: dass offene Kriegführung nur in Betracht komme, wenn »das Schwert an unserem Hals ist«, oder als letztes Mittel in Situationen, in denen keine Wahl blieb. Alles andere könnte und sollte durch verdeckte Maßnahmen erledigt werden.
»Attentate haben eine Auswirkung auf die Moral«, sagte er, »ebenso wie einen praktischen Effekt. Ich glaube nicht, dass es viele Männer gab, die Napoleon hätten ersetzen können, oder einen Präsidenten wie Roosevelt oder einen Premierminister wie Churchill. Der persönliche Aspekt spielt eine große Rolle. Es stimmt, dass jeder ersetzbar ist, aber es gibt einen Unterschied zwischen einem Ersatzmann mit Mumm und irgendeiner farblosen Figur.«
Obendrein war die Anwendung von Attentaten aus Dagans Sicht »weitaus moralischer« als eine uneingeschränkte Kriegführung. Die Neutralisierung von ein paar wichtigen Personen genügt, um letztere Option unnötig zu machen, und rettet unter Soldaten und Zivilisten beider Seiten unzählige Menschenleben. Ein groß angelegter Angriff auf den Iran würde zu einem schweren Konflikt im gesamten Nahen Osten führen, und selbst dann würden die iranischen Einrichtungen wahrscheinlich nicht ausreichend beschädigt.
Würde Israel einen Krieg gegen den Iran beginnen, so Dagans Meinung, stünde damit außerdem seine gesamte Karriere unter Anklage. Die Geschichtsbücher würden zeigen, dass er die ihm von Scharon übertragene Aufgabe nicht erfüllt hatte: dem iranischen Atomprogramm mit verdeckten Mitteln ein Ende zu setzen und so auf einen offenen Angriff zu verzichten.
Dagans Widerstand und ähnlich starker Druck von Seiten der obersten Militär- und Geheimdienstchefs bewirkten, dass der Angriff auf den Iran immer wieder verschoben wurde. Dagan setzte sogar den CIA-Direktor Leon Panetta über den israelischen Plan in Kenntnis (der Ministerpräsident deutete an, dass er dies ohne Erlaubnis tat), und bald mahnte auch Präsident Obama seinen Amtskollegen Netanjahu, nicht anzugreifen.
Die Spannung zwischen den beiden Männern nahm 2010 sogar noch zu. Dagan war nun sieben Jahre im Amt. Er hatte ein Killerkommando aus 27 Mossad-Agenten nach Dubai geschickt, um dort einen hohen Vertreter der palästinensischen Terrororganisation Hamas zu eliminieren. Sie erledigten den Job: In seinem Hotelzimmer spritzten ihm die Attentäter ein lähmendes Mittel und machten sich davon, bevor die Leiche entdeckt wurde. Kurz nach ihrer Abreise jedoch bekam die ganze Welt Bildmaterial mit ihren Gesichtern und eine lückenlose Aufzeichnung ihrer Bewegungen zu sehen. Der Grund dafür war eine ganze Reihe schwerer Schnitzer: Man hatte die unzähligen Überwachungskameras in Dubai außer Acht gelassen und obendrein dieselben Pässe verwendet, mit denen die Agenten vorher schon einmal nach Dubai eingereist waren, um die Zielperson zu verfolgen. Zu guter Letzt wurde noch eine Telefonverbindung benutzt, die von der örtlichen Polizei problemlos geknackt werden konnte. Die Erkenntnis, dass es sich um eine Operation des Mossad handelte, fügte der Behörde ernsten operativen Schaden zu und brachte daneben den Staat Israel in eine höchst peinliche Lage, da dieser erneut dabei erwischt worden war, seine Agenten mit falschen Pässen freundlich gesinnter westlicher Länder ausgestattet zu haben. »Aber Sie haben mir doch gesagt, das Ganze wäre ein Kinderspiel, und das Risiko, dass etwas schiefgehe, wäre praktisch gleich null«, schimpfte Netanjahu mit Dagan und befahl ihm, viele der anstehenden Attentatspläne und andere Operationen bis auf Weiteres auf Eis zu legen.[3]
Die Konfrontation zwischen Dagan und Netanjahu spitzte sich zu, bis Netanjahu – so seine eigene Version – beschloss, Dagans Amtszeit nicht zu verlängern. Dagan hingegen formulierte es so: »Ich konnte ihn einfach nicht mehr ertragen, also beschloss ich, aus dem Dienst auszuscheiden.«
Bei jenem Gespräch in der Mossad-Akademie und bei einigen späteren Interviews für dieses Buch legte Dagan die unerschütterliche Überzeugung an den Tag, dass es dem Mossad unter seiner Führung gelungen wäre, das iranische Atomprogramm durch Attentate und andere gezielte Maßnahmen zu stoppen – zum Beispiel durch eine Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten, um die Iraner an der Einfuhr wichtiger Elemente für ihr Atomprojekt zu hindern, die sie nicht selbst herstellen konnten. »Wenn es uns gelingt, zu verhindern, dass die Iraner bestimmte Komponenten bekommen, wäre dies ein ernster Schlag gegen ihr Projekt. Ein Auto besitzt im Schnitt 25 000 Teile. Stellen Sie sich vor, dass 100 davon fehlten. Es wäre sehr schwierig, es zum Fahren zu bringen.«
»Andererseits«, fuhr Dagan mit einem Lächeln fort und kehrte zu seinem bevorzugten Modus operandi zurück, »ist es bisweilen am wirkungsvollsten, den Fahrer zu töten, und fertig.«
Von allen Mitteln, derer sich eine Demokratie zum Schutz ihrer Sicherheit bedient, ist keines belasteter und kontroverser als die »Tötung des Fahrers« – ein Mordanschlag. Manche wählen den euphemistischen Begriff der »Liquidierung«. Die amerikanischen Geheimdienste sprechen aus rechtlichen Gründen von sogenannten gezielten Tötungen. In der Praxis laufen alle Begriffe auf dasselbe hinaus: die Tötung eines bestimmten Individuums zur Erreichung eines bestimmten Zieles – um das Leben von Menschen zu retten, die die Zielperson zu töten beabsichtigt, oder einen gefährlichen Akt zu verhindern, den sie durchführen will, und manchmal auch, um einen Führer zu beseitigen und so den Lauf der Geschichte zu ändern.
Bedient sich ein Staat eines solchen Mittels, werden zwei sehr schwierige Dilemmas berührt. Erstens: Ist die Maßnahme überhaupt wirkungsvoll? Wird die Welt durch die Eliminierung eines Individuums oder einer bestimmten Anzahl von Individuen zu einem sichereren Ort? Zweitens: Ist das Ganze moralisch und rechtlich vertretbar? Ist es ethisch und juristisch legitim für ein Land, zum Schutz seiner eigenen Bürger das nach sämtlichen ethischen Kodizes oder Gesetzen schwerwiegendste Verbrechen zu begehen – die vorsätzliche Vernichtung menschlichen Lebens?
Dieses Buch befasst sich hauptsächlich mit den Attentaten und gezielten Tötungen, die der Mossad und andere Arme der israelischen Regierung sowohl in Friedens- als auch in Kriegszeiten durchführten, sowie – in den ersten Kapiteln – mit den Aktivitäten der Untergrundmilizen der vorstaatlichen Ära, Organisationen, aus denen nach der Staatsgründung die Armee und die Geheimdienste hervorgingen.
Seit dem Zweiten Weltkrieg hat Israel mehr Menschen liquidieren lassen als jedes andere Land der westlichen Welt. Unzählige Male überlegten die Staatslenker, wie die nationale Sicherheit am besten zu verteidigen sei, und entschieden sich unter Abwägung sämtlicher Optionen immer wieder für Geheimoperationen, wobei Attentate das Mittel der Wahl waren. Dies, so glaubten sie, würde komplizierte Probleme lösen, denen sich der Staat gegenübersah, und bisweilen sogar den Lauf der Geschichte verändern. In vielen Fällen befand die israelische Führung sogar, dass es zur Tötung einer bestimmten Zielperson moralisch und legal sei, das Leben unschuldiger Zivilisten zu gefährden, die zufällig in die Schusslinie geraten könnten. Solchen Menschen Schaden zuzufügen gilt dabei als notwendiges Übel.
Die Zahlen sprechen für sich. Bis zum Beginn der zweiten palästinensischen Intifada im September 2000, als Israel auf Selbstmordanschläge erstmals mit dem Einsatz bewaffneter Drohnen zur Ausführung von Tötungen reagierte, hatte der Staat etwa 500 gezielte Tötungsmissionen angeordnet. Bei diesen waren mindestens 1000 Menschen getötet worden, sowohl Zivilisten als auch Gegner.[4] Während der zweiten Intifada führte Israel weitere 1000 Operationen durch, von denen 168 erfolgreich waren. Seither – und bis zur Niederschrift dieses Buches – hat Israel rund 800 gezielte Tötungen ausgeführt, die fast gänzlich Teil der Kriegführung gegen die Hamas im Gazastreifen in den Jahren 2008, 2012 und 2014 waren, oder Mossad-Operationen im gesamten Nahen Osten gegen palästinensische, syrische und iranische Zielobjekte.[5] Zum Vergleich: Von den Vereinigten Staaten wurden während der Präsidentschaft George W. Bushs einer Schätzung zufolge 48 gezielte Tötungen durchgeführt; unter Präsident Obama gab es 353 solcher Anschläge.[6]
Israels Rückgriff auf das Attentat als militärisches Mittel ergab sich nicht durch Zufall, sondern wurzelt vielmehr in den revolutionären und aktivistischen Anfängen der Zionistenbewegung, im Trauma des Holocausts und in der Ansicht der israelischen Führung und Bürger, dass dem Land und seinem Volk ständig die Vernichtung drohte und, wie im Holocaust, niemand zu Hilfe kommen werde, wenn dieser Fall eintritt.
Aufgrund der geringen Staatsfläche Israels, der Versuche arabischer Staaten, es noch vor der Staatsgründung zu vernichten, ihrer fortdauernden Drohungen, dies zu tun, und der ständigen Gefahr durch den arabischen Terrorismus brachte das Land ein höchst effektives Militär und die wohl besten Geheimdienste der Welt hervor. Diese wiederum haben die robusteste und rationellste Attentatsmaschinerie der Geschichte entwickelt.
Auf den nachfolgenden Seiten werden die Geheimnisse dieser Maschinerie – einer Verbindung von Guerilla-Kriegführung mit der militärischen Macht eines technologischen Kraftwerks – detailliert dargestellt: Agenten, Führungsfiguren, Methoden, Ziele, Erfolge, Fehlschläge und moralische Fragen. Dieses Buch zeigt auf, wie sich zwei separate Rechtssysteme in Israel entwickelten – eines für gewöhnliche Bürger und eines für Angehörige von Geheimdiensten und militärischer Führung. Letzteres System hat ohne parlamentarische oder öffentliche Beteiligung, nur mit einem Nicken oder Zwinkern, hoch problematische Tötungsmissionen gestattet, bei denen viele unschuldige Menschen ihr Leben verloren.
Andererseits waren es gerade diese als Waffe eingesetzten, auf einer »schlicht hervorragenden« Geheimdiensttätigkeit (so der frühere Chef von NSA und CIA, General Michael Hayden) basierenden Attentate, die Israels Krieg gegen den Terror zu einem der wirksamsten machten, den je ein westliches Land geführt hat. Oft wurde Israel durch ein Attentat vor einer schweren Krise bewahrt.
Der Mossad und die anderen israelischen Geheimdienste haben Individuen beseitigt, die als direkte Bedrohung der nationalen Sicherheit erkannt wurden. Ihre Tötung beinhaltete zudem eine klare Botschaft: Wenn du ein Feind Israels bist, finden und töten wir dich, egal, wo du auch bist. Diese Botschaft wurde auf der ganzen Welt vernommen. Gelegentliche Patzer haben den Ruf des Mossad als aggressive und gnadenlose Organisation nur verstärkt – nicht das Schlechteste, wenn die Abschreckung ein ebenso wichtiges Ziel ist wie die Verhinderung spezifischer feindseliger Akte.
Die Attentate wurden nicht sämtlich von kleinen, geschlossenen Gruppen ausgeführt. Je komplexer sie wurden, desto mehr Personen waren daran beteiligt, bisweilen Hunderte, die Mehrheit davon unter 25 Jahre alt. Manchmal treffen sich diese jungen Menschen und ihre Kommandeure mit dem Ministerpräsidenten – dem Einzigen, der grünes Licht für eine Tötungsmission geben kann –, um eine jeweilige Operation zu erklären und endgültige Zustimmung einzuholen. Solche Foren, in denen die meisten Mitwirkenden, die sich für den Tod eines Menschen aussprechen, unter 30 Jahre alt sind, gibt es vermutlich nur in Israel. Einige der rangniederen Offiziere, die an derartigen Treffen teilgenommen haben, sind über die Jahre zu nationalen Führungsfiguren aufgestiegen und manche sogar selbst Ministerpräsident geworden. Wie hat sie diese Zeit geprägt, als sie noch an Tötungsoperationen beteiligt waren?
Die Vereinigten Staaten haben sich die in Israel entwickelten Attentatstechniken und Methoden der Informationsbeschaffung zum Vorbild genommen. Nach dem 11. September und nachdem Präsident George W. Bush beschlossen hatte, mit einer Reihe gezielter Tötungen gegen al-Qaida vorzugehen, übernahmen die USA einige dieser Methoden für ihre eigenen Geheimdienste und Terrorabwehrsysteme.
Die Kommando- und Kontrollsysteme, die Einsatzzentralen, die Methoden der Informationsbeschaffung und die Technologie der unbemannten Flugkörper (oder Drohnen), die wir heutzutage bei Amerika und seinen Verbündeten sehen, wurden zum großen Teil in Israel entwickelt.
Wenn Amerika heute dieselbe Art außergerichtlicher Tötungen, die Israel seit Jahrzehnten anwendet, tagtäglich als Waffe gegen seine Feinde einsetzt, ist es angemessen, nicht nur die beeindruckenden operativen Ressourcen zu bewundern, die Israel geschaffen hat, sondern sich auch mit dem hohen moralischen Preis zu befassen, der für den Gebrauch solcher Macht bezahlt wurde und immer noch bezahlt wird.
Ronen Bergman
Tel Aviv