Cover

Das Buch

Rachel Morgan hat kein Problem – nein, sie hat viele: An ihren neuen Status als frischgebackener Dämon und die zahlreichen Nachteile, die dieser in der dämonenfeindlichen Inderlandergesellschaft Cincinnatis mit sich bringt, muss sie sich erst noch gewöhnen. Als ob das nicht schon stressig genug wäre, wird die Stadt auch noch von einer Serie grausamer Morde erschüttert: Seltsame Mischwesen – halb Mensch, halb Tier – werden tot aufgefunden und bereiten Rachel und ihren Freunden Ivy und Jenks Kopfzerbrechen. Sie finden heraus, dass die Leichen das Ergebnis geheimer Experimente sind, hinter denen eine radikale Gruppe menschlicher Wissenschaftler steckt, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die magische Bevölkerung aus Cincinnati zu vertreiben. Doch um ihre Mission erfolgreich abschließen zu können, brauchen die Wissenschaftler eine allerletzte Zutat: Rachels Blut …

Die Autorin

Kim Harrison, geboren im Mittleren Westen der USA, wurde schon des Öfteren als Hexe bezeichnet, ist aber – soweit sie sich erinnern kann – noch nie einem Vampir begegnet. Sie spielt schlecht Billard und hat beim Würfeln meist Glück. Kim mag Actionfilme und Popcorn, hegt eine Vorliebe für Friedhöfe, Midnight Jazz und schwarze Kleidung und ist bei Neumond meist nicht auffindbar.

Mehr Informationen unter: www.kimharrison.net

Ein ausführliches Werkverzeichnis aller von Kim Harrison im Heyne Verlag erschienenen Bücher finden Sie am Ende des Bandes.

KIM HARRISON

BLUTSBANDE

ROMAN

Deutsche Erstausgabe

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

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Titel der amerikanischen Originalausgabe
A PERFECT BLOOD
Deutsche Übersetzung von Vanessa Lamatsch
Redaktion: Charlotte Lungstrass
Copyright © 2012 by Kim Harrison
Copyright © 2012 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN: 978-3-641-09846-9
V002
www.heyne-magische-bestseller.de

1

Die Frau mir gegenüber rümpfte die Nase, als ich den Stift auf den Tresen knallte. Ihr war egal, dass ich wütend war, weil ich seit über einer Stunde in dieser dämlichen Schlange stand und es weder schaffte, meinen Führerschein zu erneuern, noch mein Auto auf meinen Namen anzumelden. Ich war es leid, alles mithilfe von Jenks oder Ivy zu erledigen, aber es gab kein Spezieskästchen für DÄMON auf dem Formular. Freitagmorgen auf der KFZ-Stelle. Gott! Was hatte ich mir nur dabei gedacht?

»Schauen Sie«, sagte ich und wedelte mit einem Stapel Fotokopien. »Hier sind meine Geburtsurkunde, mein Highschool-Abschlusszeugnis, mein alter Führerschein und eine Bibliothekskarte. Ich stehe direkt vor Ihnen. Ich bin eine volljährige Bürgerin, und ich brauche einen neuen Führerschein und muss mein Auto anmelden!«

Die Frau winkte den nächsten Kerl aus der Schlange heran. Ihr ungeschminktes, plumpes Gesicht spiegelte reinstes Desinteresse wider. Ich warf dem Werwolf im Geschäftsanzug, der herangetreten war, bis er direkt hinter mir stand, einen so bösen Blick zu, dass er nervös wieder zurückwich.

Die Angestellte musterte mich über ihre Brille hinweg und verzog den Mund. »Es tut mir leid«, sagte sie schließlich, tippte ein bisschen auf ihrer Tastatur herum und rief ein neues Fenster auf. »Sie sind nicht im System, nicht unter ›Hexe‹ und nicht mal unter ›Anderes‹.« Sie blinzelte mich an. »Sie werden als tot gelistet. Sie sind nicht tot, oder?«

Dreck auf Toast, kann das noch schlimmer werden? Frustriert zog ich meine Handtasche zurecht. »Nein, aber können Sie mir einfach einen Toter-Vampir-Sticker geben, damit ich mein Leben weiterführen kann?«, fragte ich, während der Werwolf hinter mir sich ungeduldig räusperte.

Sie schob ihre dicke Brille höher auf die Nase. »Sind Sie ein Vampir?«, fragte sie trocken, und ich sackte in mich zusammen.

Nein, ich war offensichtlich kein Vampir. Von außen betrachtet sah ich aus wie eine Hexe. Lange, krause rote Haare; durchschnittlich gebaut; durchschnittlich groß; mit einer Vorliebe für Leder, wenn die Situation es verlangte, und manchmal auch zu anderen Gelegenheiten. Bis vor ein paar Monaten hatte ich mich auch selbst als Hexe bezeichnet, aber als ich vor der Wahl stand, eine lobotomierte Hexe oder ein freier Dämon zu sein … da hatte ich mich für den Status als Dämon entschieden. Ich hatte ja nicht ahnen können, dass sie mir danach alles wegnehmen würden. Dämonen waren auf dieser Seite der Kraftlinien sogar vor dem Gesetz Monster. Gott helfe mir, falls ich im Gefängnis landen sollte, weil ich bei Rot über eine Ampel gelaufen war – anscheinend hatte ich sogar noch weniger Rechte als ein Pixie. Und ich war es gründlich leid.

»Ich kann Ihnen nicht helfen, Ms. Morgan«, sagte die Frau und winkte wieder den Mann hinter mir heran. Er schob mich zur Seite und gab ihr sein Formular und seinen alten Führerschein.

»Bitte!«, sagte ich, während sie mich ignorierte und intensiv auf ihren Bildschirm starrte. Der Mann neben mir wurde nervös, und der würzige Geruch von aufgeregtem Werwolf stieg auf.

»Ich habe mir das Auto gerade erst gekauft«, flehte ich, aber es war offensichtlich, dass dieser Termin beendet war. »Ich muss es anmelden. Und meinen Führerschein verlängern. Ich muss doch nach Hause fahren!«

Das musste ich nicht – dafür hatte ich Wayde –, aber die kleine Lüge tat ja niemandem weh.

Die Frau musterte mich mit gelangweilter Miene, während der Mann einen Scheck ausfüllte. »Sie sind als tot gelistet, Ms. Morgan. Sie müssen zum Sozialamt gehen und ihr Problem dort in Ordnung bringen. Hier kann ich Ihnen nicht helfen.«

»Das habe ich schon versucht.« Ich biss die Zähne zusammen. Der Mann am Tresen bewegte sich unruhig, als wir beide um denselben Platz wetteiferten. »Die haben mir erklärt, ich bräuchte einen gültigen Führerschein, eine beglaubigte Lebensbestätigung von meiner Versicherung und ein gerichtlich beglaubigtes Formular des Speziesstatus’, bevor sie sich überhaupt dazu herablassen, auch nur mit mir zu reden. Und die Gerichte geben mir nicht mal einen Termin, weil ich als tot geführt werde!« Ich schrie, also bemühte ich mich, meine Stimme zu senken.

»Ich kann Ihnen nicht helfen«, sagte sie, während der Mann mich von sich wegschob. »Kommen Sie zurück, wenn Sie die richtigen Formulare haben.«

Einfach so abgeschoben. Ich schloss die Augen und zählte langsam bis zehn. Mir war deutlich bewusst, dass Wayde auf einem der verblichenen, orangefarbenen Plastikstühle unter dem Fenster saß und darauf wartete, dass ich mich mit dem Unausweichlichen abfand. Der Werwolf gehörte zu Takatas Sicherheitsleuten und verbarg unter seinem schwarzen T-Shirt und seiner Jeans mehr Muskeln als Tätowierungen, und der kleine, untersetzte Mittzwanziger hatte nun wirklich eine Menge Tätowierungen. Er war in der letzten Juliwoche auf meiner Türschwelle aufgetaucht und gegen meinen Widerstand in den Glockenturm eingezogen – ein »Geburtstagsgeschenk« von meiner Mom und meinem leiblichen Vater/Pop-Star-Dad. Anscheinend waren sie nicht mehr überzeugt, dass ich auf mich selbst aufpassen konnte – was mich ziemlich störte. Irgendwie. Wayde arbeitete jetzt schon seit fast vier Monaten für meine Mom, und die Wut war allmählich verraucht.

Ich öffnete die Augen wieder, aber als ich feststellen musste, dass ich immer noch in diesem Albtraum gefangen war, gab ich auf. Mit gesenktem Kopf nahm ich meine Geburtsurkunde und stampfte zu den orangefarbenen Plastikstühlen. Und tatsächlich, Wayde starrte angestrengt an die Decke. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, blies Kaugummiblasen und wartete. Mit seinem gepflegten, rötlichen Kinnbart sah er aus wie ein Biker. Wayde hatte nicht gesagt, dass er den Ausflug für vergebliche Liebesmüh hielt, aber seine Meinung war nur zu offensichtlich. Der Mann wurde bezahlt, egal, ob er nun für mich den Chauffeur spielte oder im Glockenturm der Kirche herumsaß und sich mit den Pixies unterhielt.

Als ich näher kam, lächelte Wayde aufreizend und sein Bizeps wölbte sich, als er seine Arme bewegte. »Kein Erfolg?«, fragte er mit seinem breiten Akzent aus dem mittleren Westen, als hätte er nicht das gesamte, peinliche Gespräch mitgehört.

Ich kochte innerlich – dass diese Frau mich behandeln konnte, als wäre ich ein trotteliger Niemand! Ich war ein Dämon, verdammt! Ich konnte diesen Laden mit einem Fluch plattmachen, ihn abfackeln, ihr Warzen anhexen oder bei ihrem Hund das Innerste nach außen kehren. Wenn …

Mein Blick glitt über meine geballten Fäuste zu dem Band aus verzaubertem Silber um mein Handgelenk, das im elektrischen Licht glitzerte wie ein hübsches Schmuckstück. Wenn … Wenn ich nicht jeden Kontakt zu meiner entfernten Sippe hätte abbrechen wollen. Wenn ich nicht in erster Linie ein guter Mensch wäre. Wenn ich mich wirklich wie ein Dämon hätte benehmen wollen. Ich hatte mein Leben der Aufgabe gewidmet, die Ungerechtigkeit in der Welt zu bekämpfen. Es war einfach nicht fair, dass ausgerechnet ich so verarscht wurde! Aber niemand legt sich mit einem Angestellten im öffentlichen Dienst an. Nicht einmal ein Dämon.

»Kein Erfolg«, wiederholte ich seine Worte, während ich vergeblich versuchte, mich zu entspannen. Wayde atmete tief durch und stand auf. Er war klein für einen Mann, aber groß für einen Werwolf, genau wie ich 1,72, mit schmalen Hüften, breiten Schultern und kleinen Füßen. Als Wolf hatte ich ihn bis jetzt nicht gesehen, aber ich hätte darauf gewettet, dass er in seiner pelzigen Gestalt ziemlich groß war.

»Macht es dir was aus, mich nach Hause zu fahren?«, fragte ich und gab ihm meine Schlüssel. Dreck, ich hatte sie gerade mal eine Stunde in der Hand gehalten – bis ich in der Schlange nach vorne gerückt war. Ich würde mein Auto nie legal fahren dürfen.

Wayde spielte nachdenklich an dem Hasenpfotenschlüsselanhänger herum, während das Metall leise klimperte. Momentan hing wirklich nicht viel an dem Bund – nur die Schlüssel zu einem Auto, das ich nicht fahren durfte, und der Schlüssel zu Ivys Safeschatulle. »Es tut mir leid, Rachel«, sagte er, und ich sah unwillkürlich auf, weil seine Stimme so ernst klang. »Vielleicht kann dein Dad ja etwas organisieren.«

Ich wusste, dass er Takata meinte, nicht den Mann, der mich tatsächlich aufgezogen hatte. Ich verzog das Gesicht, weil ich es leid war, andere Leute um Hilfe bitten zu müssen. Angespannt vergrub ich die Hände in den Taschen meiner knappen roten Lederjacke und drehte mich zur Tür. Sofort trat Wayde vor mich, um die Milchglastüren zu öffnen. Morgen würde ich das Auto auf Jenks zulassen. Vielleicht konnte Glenn mir dabei helfen, meinen Führerschein zurückzubekommen – im von Menschen geführten Federal Inderland Bureau mochte man mich.

»Ms. Morgan?«, krächzte es aus der alten Lautsprecheranlage, und ich drehte mich um. In mir stieg Hoffnung auf, während ich mich gleichzeitig fragte, warum die weibliche Stimme so besorgt klang. »Bitte kommen Sie zu Schalter G.«

Ich warf einen kurzen Blick zu Wayde, der mit der Hand an der Tür erstarrt war. Seine braunen Augen scannten den Raum hinter mir und sein sonst so unbekümmertes Gesicht war nun professionell wachsam. Die Veränderung überraschte mich. So hatte ich ihn noch nicht gesehen. Allerdings war es in der Kirche auch ziemlich ruhig gewesen, seitdem ich offiziell zum Dämon geworden war. Nur wenige Leute wussten, dass das silberne Band um mein Handgelenk ungefähr die Hälfte meines magischen Arsenals blockierte. Eigentlich war es ein Möbiusband, dessen Anrufungsphrase niemals endete und niemals begann und damit den Zauber – und mich – in einem Zwischenzustand hielt, der real und doch nicht ganz aktiviert war. Auf diese Weise verhinderte er jeden Kontakt mit dem Dämonenkollektiv. Kurz gesagt, es versteckte mich vor den Dämonen. Der unangenehme Nebeneffekt war, dass ich keinerlei Kraftlinienmagie mehr wirken konnte.

»Ms. Morgan, Schalter G?«, erklang wieder die besorgte Stimme.

Wir wandten dem hellen, windigen Tag hinter dem Milchglas den Rücken zu. »Vielleicht haben sie noch ein Formular gefunden«, sagte ich. Wayde glitt näher, bis er zu nah kam und mir ein Schauder über den Rücken lief.

»Wenn du der I. S. und dem FIB die Listen geben würdest, die sie wollen, würdest du deine Bürgerrechte schneller zurückbekommen«, meinte er, und ich runzelte die Stirn. Ich hatte kein gutes Gefühl bei der Sache. Die nicht länger gelangweilten Angestellten hinter den Schaltern flüsterten zu viel. Die Leute beobachteten uns, und zwar nicht gerade wohlwollend.

»Ich werde nicht jeden einzelnen Dämonenfluch aufschreiben, damit sie entscheiden können, welche legal sind und welche nicht«, sagte ich, als ich das handgeschriebene, schäbige G über einem kleinen Tresen am Ende des Raumes entdeckte. »Das ist nichts als Zeitverschwendung.«

»Und der heutige Morgen ist was?«, fragte er trocken.

Ich ignorierte ihn und trat hoffnungsvoll auf die Frau zu, die offenbar auf mich wartete. Sie war gekleidet wie eine höhere Angestellte, und die leichte Röte auf ihren Wangen verstärkte nur meine Sorge. »Ähm, ich bin Rachel Morgan«, sagte ich, aber sie hob bereits die Abtrennung, um mich hinter die Tresen zu führen.

Sie sah mit leuchtenden Augen zu Wayde. »Wenn Sie so freundlich wären, mit mir zu kommen, Ms. Morgan. Sie beide, wenn Sie möchten. Jemand würde gerne mit Ihnen sprechen.«

»Wenn es um …«, setzte ich an.

»Bitte kommen Sie einfach«, wiederholte sie, trat zur Seite und winkte mich aufgeregt weiter.

Mein Magen verkrampfte sich. Aber ich war selbst mit der verbliebenen Hälfte meiner Magie nicht wehrlos, und Wayde war bei mir. Wieder huschten meine Augen zu dem Armband aus verzaubertem Silber. Mir gefiel es nicht, keine Kraftlinienmagie zur Verfügung zu haben, aber das war immer noch besser als die Dämonen wissen zu lassen, dass ich noch lebte. Ich hatte im letzten Jahr ein paar Fehler gemacht, und der Geringste davon war gewesen, ein Leck ins Jenseits zu reißen. Jetzt schrumpfte die gesamte alternative Realität, und sobald die Dämonen das verstanden, würden sie sich wahrscheinlich bei der Jagd auf mich überschlagen.

Mit einem erleichterten Seufzer ließ die Frau die Abtrennung zurückgleiten, dann führte sie uns mit klappernden Absätzen in die Büros im hinteren Teil des Gebäudes. In einem der Büros saß eine fröhliche lebende Vampirin. Ihr Gesicht war gerötet und ihre Augen leuchteten. Sie war jung, professionell und wahrscheinlich von der täglichen Arbeit in diesem Büro zu Tode gelangweilt, zumindest, wenn ich die Bilder von Fallschirm- und Bungee-Sprüngen auf dem Kalender hinter ihr richtig deutete. Ihr Büro war ein organisiertes Chaos aus aufgestapelten Ordnern und Mappen. Wahrscheinlich lud sie sich mehr auf, als sie bewältigen konnte. Versuchte sie, sich im Büro zu beweisen, wie sie es offensichtlich auch an den Wochenenden gerne tat?

Ich ging davon aus, dass ihre menschlichen Vorfahren aus Lateinamerika kamen – sie hatte lange, schwarze Haare, die sie mit einer einfachen Klammer zusammenhielt, braune Haut, dunkle Augen, sehr rote Lippen, weiße Zähne und sehr hübsche Wimpern. Die Finger, die ihre langweilige braune Bluse zurechtrückten, waren lang und schlank und die Nägel in mattem Rot lackiert. Als sie aufsah, konnte ich ihr Selbstbewusstsein förmlich fühlen, so deutlich strahlte sie es aus. Sie war ein lebender Vampir, aber offensichtlich stand sie auf der Favoritenliste ihres Meisters nicht besonders weit oben. Ich fand es seltsam, dass lebende Vampire umso tiefer emotional geschädigt wurden, je beliebter sie bei ihrem Meistervampir waren. Diese Frau gehörte offensichtlich zu den Vergessenen. Die Glückliche. Vergessen zu werden bedeutete, länger zu leben, und als Vergessene fehlten ihr wahrscheinlich einige der beunruhigenden Fähigkeiten, die Ivy, meine Mitbewohnerin, hatte entwickeln müssen, um zu überleben.

»Nina«, sagte die Vorgesetzte, und die junge Frau stand auf. Allem Anschein nach war sie nicht an mir interessiert, denn sie schob erst einmal in dem vergeblichen Versuch, ein wenig Ordnung zu machen, ein paar Papierstapel zusammen. »Das ist Ms. Morgan, und, ähm …«

Wayde füllte die Pause, indem er die Hand ausstreckte und einen Schritt vortrat. Jetzt standen wir beide in dem kleinen, unordentlichen Büro. »Mr. Benson«, sagte der Werwolf. »Ich bin Ms. Morgans Bodyguard. Schön Sie kennenzulernen, Ms. Ninotchka Romana Ledesma.«

Der komplizierte Name rollte über seine Lippen als wäre er im Süden Spaniens aufgewachsen. Ich starrte überrascht auf das Namensschild auf dem Schreibtisch und beschloss, dass ich es bei Nina belassen würde.

Nina blinzelte und ihr Blick glitt von Wayde zu mir, als nähme sie mich jetzt erst wahr. »Ähm, schön, Sie kennenzulernen«, sagte sie und schüttelte gelassen Waydes Hand. Dann drehte sie sich zu mir um und zögerte, als sie bemerkte, dass ich meine Hände immer noch in den Jackentaschen vergraben hatte. »Setzen Sie sich doch, wenn Sie möchten.«

Ich warf einen Blick zu Wayde. Nina war ziemlich aufgeregt, aber nicht unseretwegen. Kommt noch jemand?, dachte ich und musterte den einzigen freien Stuhl in dem engen Raum. »Ähm«, setzte ich an und blinzelte nur, als Nina ihren BH zurechtrückte und dann nach unten spähte, um zu schauen, ob auch wirklich alles an der richtigen Stelle saß. »Brauchen wir nicht noch einen Stuhl?«

»Nein«, sagte sie kurz angebunden, während die Frau, die uns hierhergeführt hatte, uns verließ und die Tür hinter sich schloss. »Es sei denn, Ihr Bodyguard möchte einen. Aber stehen die nicht gewöhnlich?«

»Ist in Ordnung«, meinte Wayde und stellte sich neben die geschlossene Tür. »Ma’am, was genau wollen Sie von Ms. Morgan?«

Angespannt ließ die junge Frau eine Hand über ihre Hüfte gleiten, bevor sie sich hinter ihren Schreibtisch setzte. Als sie bemerkte, dass ihre Finger zitterten, versteckte sie sie unter der Tischplatte. »Ich will gar nichts. Also, nicht ich, sondern er«, sagte sie. Der Duft von aufgeregtem Vampir traf mich unvorbereitet. Gott, sie roch gut. Ich fühlte das Kribbeln der Vampirnarben unter meiner perfekten Haut. »Ich habe so etwas noch nie getan. Ich wusste nicht mal, dass er weiß, dass ich lebe. Und jetzt das!«

»Ähm, ich will nur meinen Führerschein verlängern und mein Auto auf meinen eigenen Namen zulassen«, sagte ich, von den Pheromonen in der Luft aus der Bahn geworfen. Ich hatte recht gehabt. Ihr fehlte die Kontrolle, aber wenn sie zu den Vergessenen gehörte, spielte das keine Rolle. »Wenn Sie mir nicht helfen können, gehe ich wieder.«

Die Vampirin erschrak, und fast wäre sie aufgestanden. »Jemand in der I. S. möchte sich mit Ihnen unterhalten«, erklärte sie mit weit aufgerissenen Augen. »Ich bin die Einzige hier, mit der er arbeiten will. Meine Cousine arbeitet für die I. S., und, na ja …« Sie schenkte uns ein nervöses Lächeln, dann wirkte sie plötzlich verängstigt. »Es ist eine Ehre, einen Meister zu kanalisieren.«

Ich tastete nach dem Stuhl hinter mir und setzte mich. »Ein toter Vamp will mit mir reden?« Behutsam setzte ich mich auf die Stuhlkante. Sicher, es war Tag, aber die Toten waren tief unter der Erde trotzdem wach. Anscheinend wollte einer von ihnen sich mit mir unterhalten. Jemand, der so alt war, dass er in einen fremden, lebenden Vampir gleiten konnte. Nicht gut. Aber vielleicht konnte er dafür sorgen, dass mein Auto auf mich zugelasen wurde …

Unsicher sah ich zu Wayde. Er zuckte nur mit den Achseln und stellte sich bequemer hin. »Schön«, meinte ich schließlich. »Aber machen Sie schnell. Ich muss Jenks fragen, ob er mein Auto anmeldet, nachdem ich hier nicht weitergekommen bin.«

Sie ignorierte meinen Sarkasmus. Stattdessen zitterte sie plötzlich heftig, ihr Blick wurde leer und sie klammerte sich mit solcher Kraft an ihrem Schreibtisch fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Dann holte sie stöhnend Luft und ihr fielen die Haare ins Gesicht, als sie den Kopf beugte. Sie seufzte, ihre roten Lippen schlossen sich und ihr Blick konzentrierte sich auf die eigenen Hände. Langsam ließ sie den Tisch los und legte die Hände in den Schoß. Sie schien zu wachsen, als sie sich aufrichtete und mich wieder ansah – mit einem Lächeln, das ihre kleinen, spitzen Reißzähne zeigte. Bei dem Funkeln in ihren jetzt vollkommen schwarzen Augen lief mir ein Schauder über den Rücken. Ich konnte ihn nicht unterdrücken, und ihr Lächeln wurde noch breiter. Dann musterte sie mein Gesicht auf eine sehr männliche Art. Das war nicht länger Nina.

Ich versteifte mich, als sie tief durchatmete und die Schultern zurücknahm, während sie meine Nervosität in der Luft schmeckte. Dafür wäre Nina wahrscheinlich zu unerfahren gewesen. Sie zog eine leichte Grimasse, als sie ihre Kleidung musterte, und ich fragte mich, ob es ihr unangenehm war, einen Rock zu tragen, oder ob es darum ging, dass die Kleidung eher billig war. Vorher hatte sie ein gesundes Selbstbewusstsein ausgestrahlt. Jetzt hing die Überzeugung in der Luft, dass sie alles tun konnte, was sie wollte, ohne dass jemand deswegen auch nur mit der Wimper zuckte. Wayde, der mit hängenden Armen an der Tür stand, pfiff leise.

»Du hast so was noch nie gesehen?«, fragte ich, und er schüttelte den Kopf. Ich beobachtete, wie »Nina« sich im Raum umsah, alles einordnete, Dinge hörte, die ich nicht wahrnehmen konnte, und Dinge erspürte, die ich auf dem Weg hierher bemerkt hatte. »Ich habe einmal gesehen, wie Piscary Kisten übernommen hat«, sagte ich leise. »Ivy hat es gehasst, wenn Piscary ihren Körper übernahm.«

Nina lächelte. »Sie hat es genossen«, sagte sie, und ihre Stimme klang plötzlich tiefer, voller und kultivierter. »Ohne jeden Zweifel.«

Ich bemerkte, dass ich brav die Beine überschlagen hatte, und korrigierte es sofort, indem ich meine beiden Füße auf den Boden stellte und mich im Stuhl zurücklehnte als wäre ich vollkommen entspannt – was ich nicht war. Es war unheimlich, einen Mann im Körper einer Frau zu sehen, und ich war mir sicher, dass der untote Vampir ein Mann war. Irgendein Telefon vibrierte, wahrscheinlich meines, aber ich ignorierte es.

Nina stand auf, fand elegant ihr Gleichgewicht und warf mit gerunzelter Stirn einen kurzen Blick auf ihre flachen Absätze. Sie streckte mir einladend die Hand entgegen, und ich verfluchte mich selbst, als ich feststellte, dass meine Hand sich gegen meinen Willen hob. Ich zitterte, während sie den Kopf darüber senkte und mit einem tiefen Atemzug alles aufnahm, was er/sie in mir auslöste. »Es ist schön, Sie wiederzusehen, Ms. Morgan«, sagte sie lauernd, und ich zog meine Hand zurück, bevor sie versuchen konnte, sie zu küssen. Gott, ich hasste es, mich mit den ganz Alten herumzuschlagen.

Ich warf einen Blick zu Wayde, der steif neben der Tür stand. »Sie waren der Fahrer in San Francisco«, riet ich. Mir fiel wieder ein, wie der Fahrer einen untoten Vamp von einiger Bedeutung kanalisiert und somit auch die Angelegenheiten des Hexenzirkels belauscht hatte, während er mich an einen Ort fuhr, wo ich mich um jemanden kümmern sollte, dem sonst niemand gewachsen war.

Mit einem verhaltenen Lächeln nickte Nina knapp. Sie wirkte gleichzeitig teuflisch und verführerisch, als sie sich breitbeinig vor mir aufbaute. Es war wirklich seltsam. Das war nicht der nervöse Vampir, der mich in diesem Raum empfangen hatte. Und es war auch nicht das Wesen, zu dem Nina werden würde, wenn sie ihren ersten Tod starb. Das hier war jemand vollkommen anderes: jemand Altes.

»Ich weiß eigentlich gern, mit wem ich mich unterhalte«, sagte ich. Leider klang ich dabei nicht wie gewünscht genervt, sondern eher quengelnd.

»Heute gefällt mir Nina«, sagte sie, setzte sich wieder in ihren Stuhl und verzog das Gesicht, während ihr Blick auf den Dreck in den Ecken des fensterlosen Raums fiel. »So können Sie mich nennen.«

»Wer sind Sie?«, fragte ich bestimmter, doch sie lächelte nur und legte die Finger aneinander.

»Jemand, der Ihnen helfen kann«, sagte sie. Ich warf einen kurzen Blick in Waydes Richtung, als er sich räusperte. Ein leises Piepen aus meiner Handtasche verriet mir, dass jemand auf meine Mailbox gesprochen hatte. »Zumindest, wenn Sie bereit sind, sich ein wenig anzustrengen«, fuhr Nina fort und ignorierte Wayde vollkommen. »Wir haben den Fehler begangen, Sie nicht anzuerkennen. Wir haben zugelassen, dass Sie uns entgleiten. Sie haben sich gut geschlagen, aber mit … ein wenig Struktur … könnte es Ihnen noch besser gehen.«

»Ich komme nicht zurück zur Inderland Security«, unterbrach ich ihn und wurde rot. Dreck, wenn das der Grund für diesen Auftritt war, steckte ich vielleicht in Schwierigkeiten. Ein Nein konnte meine Lebenserwartung empfindlich verkürzen. Aber Nina ließ lediglich ihre schwarzen Augen zu einem Zettel auf dem Tisch gleiten. Es war eine Kopie meines Führerscheins. Darunter lag ein leerer Zulassungsantrag. Ich seufzte und machte mir bewusst, in welcher Welt wir lebten. Verdammt. Mein Telefon klingelte schon wieder. Aber jeder wichtige Anrufer – wie Ivy oder Jenks – wusste, dass er sich auch an Wayde wenden konnte.

»Aber ich könnte einen einzelnen Auftrag übernehmen«, fügte ich widerwillig hinzu. Nina sagte immer noch nichts. Ihre schwarzen Augen machten mich nervös. Wenn der tote Vampir wirklich hier gewesen wäre, hätte er mich zu einfach allem zwingen können, aber Nina war eine junge, vergessene Vampirin und sie produzierte nicht die richtigen Hormone für den untoten Vampir in ihr. Noch nicht.

»Worum geht es?«, drängte ich, weil ich hier rauswollte, bevor ich sie anflehte, mich zu schwängern.

In Ninas Augen trat ein besitzergreifendes Glitzern und sie lächelte. Dabei zeigte sie so viel Zahn, dass ich einen Schauder unterdrücken musste. »Direkt zum Wesentlichen«, sagte sie, als würde sie das freuen. Ich starrte nur, während sie versuchte, einen Fuß aufs Knie zu legen, dann aber im letzten Moment innehielt, weil ihr Rock spannte. Stattdessen lehnte sie sich zurück und wirkte plötzlich noch männlicher, noch kontrollierter. Anscheinend machte es ihr nichts aus, dass sie dabei ziemlich viel Bein zeigte. »Wissen Sie eigentlich, dass ich Sie nur deswegen nicht zur Kenntnis genommen habe, weil Piscary Sie zuerst gesehen hat?«

Piscary war inzwischen tot, aber das hier gefiel mir noch weniger. »Was wollen Sie?«

Nina legte unbeeindruckt den Kopf schief, während sie mich unter dichten Wimpern hervor musterte. Ivy hatte mir diesen Blick schon oft zugeworfen, und ich unterdrückte das aufkommende Begehren, weil ich genau wusste, dass es von den Pheromonen kam, die Nina ausstieß.

»Ich möchte, dass Sie und Ivy Tamwood uns dabei helfen, eine Gruppe von Inderlandern zu finden, die dämonenartige Verbrechen in und um Cincinnati begehen. Es gäbe drei Tatorte zu besichtigen.«

Ich richtete mich entsetzt auf. »Drei! Wie lange geht das schon?« Die Zeitungen hatten nichts davon berichtet, aber wenn die I. S. das nicht wollte, dann lief das eben so.

»Mehrere Wochen«, antwortete Nina bedauernd und wandte zum ersten Mal den Blick von mir ab. »Es wird sich Ihnen erschließen, sobald Sie sich die Informationen anschauen. Also hören Sie mir genau zu, während ich Ihnen sage, was Sie dort nicht finden werden.«

Ich kniff die Augen zusammen. Aber wütend war immer noch besser als angeturnt. »Sie hätten sofort zu mir kommen sollen. Jetzt wird es schwerer.«

»Wir dachten, Sie wären der Täter, Ms. Morgan. Wir mussten sicherstellen, dass Sie es nicht sind. Jetzt, wo wir das sicher wissen, möchten wir Ihre Dienste in Anspruch nehmen.«

Meine Dienste in Anspruch nehmen. Wie alt ist dieser Kerl? »Sie sind mir gefolgt«, sagte ich und erinnerte mich an das kribbelnde Gefühl zwischen meinen Schulterblättern, wann immer ich die Kirche verlassen hatte: im Supermarkt, im Schuhladen, im Kino. Ich hatte gedacht, es läge an Wayde, aber vielleicht ja doch nicht. Dreck, wie lange hatten sie mich schon beschattet?

»Drei Wochen«, sagte Wayde und beantwortete damit meine unausgesprochene Frage. »Ich wusste nicht, dass es die I. S. ist, sonst hätte ich dir etwas gesagt.«

Aufgebracht drehte ich mich zu ihm um. »Du wusstest, dass jemand mich beschattet, und fandest es unnötig, mir davon zu erzählen? Ist das nicht dein Job?«, blaffte ich, und Nina lachte leise.

Mit undurchdringlicher Miene sah Wayde erst zu Nina, dann zu mir. »Es ist mein Job, und damit meine Entscheidung.«

»Wir glauben, dass mehr als eine Person für die Verbrechen verantwortlich ist«, schaltete Nina sich ein, und meine Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf seine/ihre seidige, alte Stimme. Sie faszinierte mich, auch oder weil sie so gar nicht klang wie Ninas. »Es scheint zwei Vorgehensweisen zu geben – erst die Ernte, dann die Entsorgung. Hexen. Alle Leichen waren von Hexen.«

Ich zuckte zusammen. Das gefiel mir gar nicht. »Ernte? Das ist übel.«

Nina holte so tief Luft als hätte sie vorher vergessen zu atmen – was durchaus eine Möglichkeit war. »Uns beunruhigt vor allem die Entsorgung. Nina wird sie an den neuesten Tatort führen, und sobald Sie dort fertig sind, wird ein Kurier alle Informationen bezüglich der früheren Verbrechen in Ihrer Kirche abgeben. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, wäre es mir lieber, wenn Sie nicht zum I. S.-Tower kommen.«

»Kein Problem«, sagte ich leise, bereits in Gedanken versunken. Dämonenartige Verbrechen, nicht Dämonenverbrechen. Ich wollte nicht riskieren, dass die Dämonen erfuhren, dass ich noch am Leben war. Aber wenn es tatsächlich die Taten eines Dämons gewesen wären, hätte es sich schon längst herumgesprochen. Dämonen sind nicht subtil. Nein, wahrscheinlich war es eine Gruppe Möchtegernhexen, die sich an schwarzer Magie versuchte und damit den Ruf der Dämonen weiter schädigte. Sie auszuschalten würde nicht nur dafür sorgen, dass ich mich gut fühlte, sondern mir auch dabei helfen, endlich meine Bürgerrechte zurückzugewinnen.

»Okay«, sagte ich, und ihr leises Seufzen glitt über meine Haut wie Seide und verursachte mir Gänsehaut. »Ich muss kurz telefonieren. Und es ist noch nicht gesagt, dass ich den Job übernehme. Was kriege ich dafür?«

Nina lehnte sich in ihrem Stuhl zurück als gehöre ihr das gesamte Gebäude. »Was wollen Sie?«, fragte sie und wedelte elegant mit ihren langen Fingern. »Geld?«

Es schwang offene Verachtung in dem Wort mit, aber nein, ich wollte kein Geld. Meine Geldbörse war gut gefüllt. Wortwörtlich. Meine Kreditkarten, mein Konto und alles andere war gesperrt worden. Ich war gegen meinen Willen vollkommen abgeklemmt worden, doch dank der Summe, die Trent Kalamack mir gegeben hatte, besaß ich Bargeld. Das Geld stammte ursprünglich von den Withons, eine kleine (seine Einschätzung, nicht meine) Summe, die er als Entschuldigung dafür verlangt hatte, dass sie versucht hatten, ihn umzubringen. Gut, dass ich einen Bodyguard hatte.

»Ein gültiger Führerschein wäre schön«, sagte ich, während ich mich angestrengt bemühte, nicht das Formular auf dem Tisch anzustarren. Damit könnte ich vielleicht sogar mein Konto zurückbekommen. »Und mein Auto soll auf meinen Namen zugelassen werden.« Diese Unabhängigkeit würde Wunder wirken für mein Selbstbewusstsein.

Mit einem maskulinen Schnauben lehnte Nina sich vor und ließ ihre langen Finger über die Formulare zwischen uns gleiten. Unwillkürlich fragte ich mich, wie es wohl wäre, diese sensiblen Fingerspitzen auf der Haut zu spüren, und unterdrückte das nächste Zittern. Es war gar nicht er/sie, es waren die Vamppheromone, die sich im Raum ansammelten. Ich lehnte mich nach hinten und öffnete die Tür einen kleinen Spalt. Sofort drang die wirre Geräuschkulisse von draußen in den Raum. Der untote Vampir lächelte, weil er genau wusste, warum ich die Tür geöffnet hatte, während Nina es wahrscheinlich nicht verstanden hätte.

»Ich hingegen wüsste es sehr zu schätzen, wenn ich eine Liste der Flüche und ihrer Herstellung bekommen könnte, damit wir entscheiden können, welche legal sind und welche nicht«, sagte sie. Ich unterdrückte ein bitteres Lachen.

»Sie haben doch einen Bibliotheksausweis, oder?«, entgegnete ich schnippisch. »Da können sie alles finden.«

Nina legte den Kopf schräg und beäugte mich, bis mein Herz raste. »Nicht alles«, erklärte sie dann leise.

Ich leckte mir die Lippen, setzte mich aufrechter hin, drückte die Knie zusammen und verschränkte die Hände im Schoß. »Ich habe nichts mit meiner gesetzlichen Verwandtschaft zu tun … Nina«, sagte ich angespannt. Es gefiel mir nicht, wie der Untote mit meiner Libido spielte, und das auch noch durch eine junge, unschuldige Frau. Ich hob die Hand und ließ das silberne Armband an meinem Handgelenk klimpern, das mich davon abhielt, eine Kraftlinie anzuzapfen. Er wusste, dass ich es trug. Sie wussten es alle. »Ich bin ein Dämon mit eingeschränkter Magie. Geben Sie mir meine Autozulassung und meinen Führerschein, und ich finde die Täter für Sie. Das ist mein Angebot.«

»Abgemacht«, sagte Nina so schnell, dass ich mir sofort wünschte, ich hätte mehr gefordert.

Nina lehnte sich mit ausgestreckter Hand vor. Ich nahm sie, und sobald wir uns die Hände schüttelten, verschwand der untote Vamp und plötzlich saß mir gegenüber wieder Nina, die Angestellte der KFZ-Stelle.

Nina riss die Augen auf, keuchte und zog ihre Hand zurück. Der Geruch von Schweiß stieg auf und sie sank in ihrem Stuhl zusammen. Ihr Kopf rollte zur Seite und ihre Beine schoben sich ungeschickt unter den Schreibtisch. »Wow«, keuchte sie in Richtung Decke, während ihre Lungen darum kämpften, wieder genug Sauerstoff aufzunehmen, den ihr untoter Gast wahrscheinlich einfach vergessen hatte. Ihr Gesicht war blass und ihre Finger zitterten, aber ihre Augen leuchteten so hell als wäre sie an eine Steckdose angeschlossen. »Was für ein Rausch!«

Ich schaute zu Wayde, der einfach nur verwirrt aussah. Dann setzte sich Nina plötzlich aufrecht hin, als wäre ihr gerade erst bewusst geworden, dass wir noch da waren. »Ähm, ich danke Ihnen, Ms. Morgan«, sagte sie und stand energiegeladen auf. »Ich veranlasse sofort die Erneuerung Ihres Führerscheins und gebe Ihnen die Adresse des Friedhofs. Ich würde Sie ja selbst hinbringen, aber ich muss vorher noch etwas für ihn erledigen. Wir treffen uns dann dort. Ich muss weg.« Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihr Atem kam stoßweise und ich sah, dass sie zitterte.

Begleitet von leisem Papierrascheln eilte sie auf die Tür zu, mit dieser unheimlichen Vampirschnelligkeit, die Ivy so sorgfältig vor mir versteckte. Ich zuckte zusammen und starrte Wayde an, während Ninas überschwängliche Stimme durch die Büros hallte. »Mein Gott! Ich konnte wirklich alles hören!«

Ich atmete tief durch und entspannte meine zu Fäusten geballten Hände. Ein paar böse Hexen aufspüren, das konnte ich. Wie »Nina« schon gesagt hatte, würde es nur ein wenig Ermittlungsarbeit brauchen – in der ich wirklich schrecklich war –, und ein paar Erdzauber, die ich immer noch wirken konnte. »Ich sollte Ivy anrufen«, sagte ich leise.

Wayde sah nicht glücklich aus, als er mir meine Tasche gab. Ich holte mein Handy hervor und runzelte die Stirn, als ich die Nummer des verpassten Anrufs erkannte. Trent? Was will der denn?

»Das ist wahrscheinlich eine gute Idee, Ms. Morgan«, sagte Wayde und lehnte sich vor, um aus der Tür zu spähen, aber ich hatte inzwischen ziemliche Zweifel.

Eine gute Idee? Genau. Alles andere als das.