Kathy Reichs
Fährte des Todes
Aus dem Amerikanischen
von Klaus Berr
Karl Blessing Verlag
Zum E-Book
In den Wäldern um den Mountain Island Lake in North Carolina lauert der Tod besonders auf alle, die ins Beuteschema gefährdeter Raubvögel passen – denn für diese wurde in der Nähe das Carolina Raptor Center eingerichtet. Doch Edith Blankenship, eine junge Biologiestudentin, fand hier allem Anschein nach den Tod durch die Hand eines Artgenossen, ihre Leiche findet sich in einer alten Sporttasche. Tempe Brennan, als forensische Anthropologin mit der Untersuchung betraut, heftet sich an die Fersen eines offenbar skrupellosen Mörders – ohne zu ahnen, wie gut sich ihr Widersacher auf täuschen, tarnen und zuschlagen versteht …
Ein Fall für Tempe Brennan exklusiv als E-Original!
Zur Autorin
Kathy Reichs, geboren in Chicago, lebt in Charlotte und Montreal. Sie ist Professorin für Soziologie und Anthropologie und unter anderem als forensische Anthropologin für gerichtsmedizinische Institute in Quebec und North Carolina tätig. Ihre Romane erreichen regelmäßig Spitzenplätze auf internationalen und deutschen Bestsellerlisten und wurden in 30 Sprachen übersetzt. Tempe Brennan ermittelt auch in der von Reichs mitkreierten und -produzierten Fernsehserie »Bones – Die Knochenjägerin«.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Titel der Originalausgabe: Bones in her Pocket
Originalverlag: Scribner, New York
Copyright © der Originalausgabe 2013 by Temperance Brennan, L.P.
Published by arrangement with the original publisher,
Scribner, an imprint of Simon & Schuster, Inc.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014
by Karl Blessing Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umschlaggestaltung und Motiv:
Hauptmann und Kompanie Werbeagentur, Zürich
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-13794-6
V003
www.blessing-verlag.de
Von Kathy Reichs erschienen:
Aus der Temperance-Brennan-Reihe
Totengeld
Knochenjagd
Fahr zur Hölle
Blut vergisst nicht
Das Grab ist erst der Anfang
Der Tod kommt wie gerufen
Knochen zu Asche
Hals über Kopf
Totgeglaubte leben länger
Totenmontag
Mit Haut und Haar
Knochenlese
Durch Mark und Bein
Lasst Knochen sprechen
Knochenarbeit
Tote lügen nicht
Aus der Virals-Reihe mit Brendan Reichs
Jeder Tote hütet ein Geheimnis
Nur die Tote kennt die Wahrheit
Tote können nicht mehr reden
1. Kapitel
Ich klammerte mich an einer Strebe fest, während der Mule hüpfte und schlingerte und seine Teile schepperten wie ein Schrottwagen aus dem Korea-Krieg. Ich blies Luft nach oben in dem vergeblichen Versuch, die Haare zu befreien, die auf meiner Stirn klebten, denn loslassen wollte ich die Verstrebung dieses allradgetriebenen Geländefahrzeugs auf gar keinen Fall.
Wie ich mir eine Künstlerkolonie auch vorgestellt hatte, zu meinem Bild gehörten auf jeden Fall zahlreichere und besser erhaltene Straßen. Diese hier bestand aus dichtem Wald, einem gelichteten Streifen für Stromleitungen und einem Netzt holperiger Wege durch dichtes Unterholz. North Carolina meets Jurassic Park.
Aber ich war nicht hier, um mit der Natur zu kommunizieren oder um die Kreativität meiner linken Gehirnhälfte zu fördern. Ich war hier, um eine Leiche zu bergen.
Eigentlich hatte ich für heute ein paar entspannte Runden auf dem Booty Loop, Charlottes berühmter Jogging-Strecke, Mittagessen mit meiner Freundin Anne und einen Bummel durch die Galerien in NoDa, dem Kunstdistrikt nördlich der North Davidson Street, geplant. Ich schnürte mir gerade meine Nikes, als ich den Anruf meines Chefs erhielt.
»Es ist Samstag«, hatte Anne protestiert, als ich ihr die schlechte Nachricht überbrachte. »Warum kann das denn nicht warten?«
»Willst du vor dem Mittagessen wirklich über Verwesung reden?«
»Ist für so etwas nicht die Polizei zuständig?«
»Das ist mein Fall.« Als forensische Anthropologin des Mecklenburg County Medical Examiner sind nicht identifizierbare menschliche Überreste mein Fachgebiet. »Vor ein paar Wochen wurden am Mountain Island Lake eine Fibula und eine Tibia, also ein Schien- und ein Wadenbein sowie zwei Wirbel gefunden. Die Polizei dachte, es handle sich um eine vermisste Person namens Edith Blankenship.«
»Ich habe in den Nachrichten davon gehört. Ein Collegemädchen, nicht?«
»Masterstudentin an der UNCC.« Ich meinte damit die University of North Carolina-Charlotte, mein zweiter Arbeitgeber.
»Nicht Edith?«
»Der Amelogenin-Test ergab, dass die Knochen von einem Mann stammen«, sagte ich.
»Ich steh drauf, wenn du schmutzige Wörter in den Mund nimmst.«
»Ich habe den Kerl noch nicht identifiziert.« Der Unbekannte lag in einer Kiste in meinem Labor. Fallnummer: MCME-422-13. Ich hatte eine Sonaruntersuchung der kleinen Bucht beantragt, in der die Knochen angespült worden waren. War jetzt vielleicht gar nicht mehr nötig. Weniger Papierkram. Ein schwacher Trost.
Anne gratulierte mir nicht für mein Engagement im Dienst an der Öffentlichkeit.
»Derselbe Kerl, der die Knochen gefunden hat, glaubt, er hätte noch mehr entdeckt.«
»Und du musst jetzt den Rest von Mr. Tibia Fibula einsammeln.«
»Vielleicht habe ich ja danach noch Zeit, mich mit dir zu treffen.«
»Aber wasch dir ja vorher die Hände.« Anne legte auf.
Der Mule machte einen Satz nach links und schoss durch eine unsichtbare Öffnung in den Bäumen nach unten. Mich hätte es beinahe mit dem Kopf voran durch die offene Seite nach draußen geschleudert. Der Kerl am Steuer schrie über die Schulter.
»Alles okay?« Leichter Akzent.
»Bestens«, brachte ich gerade noch heraus.
Mein Fahrer war ein Kunst-Cowboy namens Emmett Kahn. Die Bezeichnung stammte von ihm, nicht von mir. Vor einer Stunde hatte er mich mit einem herzlichen Lächeln und einem knochenbrechenden Händedruck begrüßt.
Ich schätzte Kahn auf etwas über sechzig. Zottelige schwarze Haare, olivfarbene Haut, dunkle Augen mit schweren Lidern, Koteletten, groß wie Hochrippensteaks. Als erfolgreichem Kunsthändler gehörten Kahn die einhundertzwanzig Hektar, durch die uns dieser wilde Ritt führte.
»Ich nenne das Anwesen hier Carolitaly, weil es die Form eines Stiefels hat. Wir sind unterwegs zum Zeh. Wissen Sie viel über den Mountain Island Lake?«
Ich schüttelte mit zusammengebissenen Zähnen den Kopf.
»Der See wurde 1929 als Reservoir für die Wasser- und Dampfkraftwerke aufgestaut. Er wird vom Catawba River gespeist und ist der kleinste der drei künstlichen Seen in Mecklenburg County.«
»Groß.« Mehr als Höhlenmenschengebrabbel brachte ich nicht heraus. Land ausgedehnt. Fahrt holperig. Tempe durchgeschüttelt.
»Deshalb habe ich einen Verwalter. Skip kümmert sich um die Sicherheit.« Kahn deutete mit dem Kopf zu dem Betonklotz von einem Mann auf dem Beifahrersitz. Er war kantig in jeder Hinsicht. Kantige Schultern, kantiger Rücken, ein Bürstenschnitt, der auch seinen Kopf kantig machte. Eine Fliegersonnenbrille verdeckte Skips Augen, aber ich war mir sicher, dass er finster dreinblickte.
»Skip ist Polizist in Gaston County. Es hilft, wenn man lokal vernetzt ist, wissen Sie?«
Der Mule richtete sich wieder aus und gestattete einen klaren Blick auf den östlichen Horizont. Tief, dunkel und regenschwer hingen dort die Wolken.
Der ebenere Untergrund gestattete mir zu schreien: »Ich dachte, wir sind in Mecklenburg?«
»Die County-Grenze verläuft durch die Mitte des Sees. Mein Besitz liegt auf beiden Seiten. Mein Mann Skip wusste, dass Mecklenburg eine Knochenlady hat und schlug mir vor, bei euch anzurufen.«
Schlau, Skip. Die Polizei von Mecklenburg hatte es beim MCME abgeladen. Und mein Chef hatte es mir aufgeladen.
»Um genau zu sein, ich arbeite für den Medical Examiner.«
»Sind Sie Coroner?«
»Forensische Anthropologin. Ich untersuche die Leichen, die für eine normale Autopsie zu schlecht erhalten sind.«
»Wasserleichen zum Beispiel.« Kahns Verwendung des Begriffs deutete auf zu viel Fernsehen hin.
»Ja.« Und die Skelettierten, die Mumifizierten, die Verwesten, die Zerstückelten, die Verbrannten und Verstümmelten.
»Ich hab das im Fernsehen gesehen. Sie finden raus, wie alt das Opfer ist? Ob Mann oder Frau, schwarz oder weiß? Wie es gestorben ist, oder?«
»Ja.«
»Können Sie das mit nur vier Knochen auch?«
»Bei Fragmenten wird’s schwierig«, rief ich. »Gut, dass Sie mehr gefunden haben.«
Calliphoridae
So schnell meine wassergefüllte Fußbekleidung es erlaubte, zog ich meine Beute zum Ufer. Verärgerte Fliegen folgten mir.
Skip half mir, den Sack durch den Schlamm und die Uferböschung hoch zu schleifen. Wasser triefte aus dem Leinen und floss aus einem fünfzehn Zentimeter langen Riss an der Seite.
Zurück auf festem Boden schoss ich noch ein paar Fotos. Dann zog ich den Reißverschluss auf und klappte die Lasche hoch. Ernüchterte Fliegen machen sich in Richtung Fisch davon. Sushi im Freien.
Die Leiche war bekleidet. Unter den durchweichten Stoffen erkannte ich Reste von Bändern und hier und dort einen Fetzen grün-grauen Gewebes.
Doch das war es nicht, was mir den Atem stocken ließ.
Die Beine waren scharf nach hinten gebogen, die Knochen schlanke Röhren unter dem schlammbedeckten Jeansstoff.
Beine.
Plural.
Das hier war auf keinen Fall Mr. Tibia Fibula.