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Die Erinnerung ist das einzige Paradies
aus dem man nicht vertrieben werden kann.
 (Jean Paul) 

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2012

© 2015 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim
www.rosenheimer.com

Titelfoto: © Bundesarchiv Bild 183-N0301-374, Otto Donath (oben) und
© Bundesarchiv, Bild 183-J19568, Friedrich Gehrmann (unten)
Autorenfoto in „Worum geht es im Buch?“: © Elfriede Mosenthin
Lektorat: Gisela Faller, Stuttgart
Satz: Satzpunkt Ursula Ewert GmbH, Bayreuth
eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

eISBN 978-3-475-54497-2 (epub)

Worum geht es im Buch?

Elfriede Mosenthin

Über Nacht war alles anders
Flüchtlingsschicksal einer Familie

 

Elfi hat alles, was sie sich im Leben wünscht. Ohne Sorgen wächst sie auf dem Gut der Familie in Polen auf. Die Eltern tadeln das Naturkind nur selten.
Doch Elfi hat neben ihrem freien Geist auch einen wachen Verstand. Längst weiß sie, dass dunkle Wolken ihr Paradies bedrohen.
Der Einbruch des Zweiten Weltkrieges verändert alles. Ihre Familie wird vertrieben. Sie muss lernen, sich anzupassen, um überleben zu können. Das unbedarfte Kind wird zu einer starken Frau, die nie die Hoffnung verliert.

 

Diese bewegende Geschichte beruht auf den Erinnerungen Elfriede Mosenthins, Autorin der bekannten »Nachtschwester«-Romane, die darin beschreibt, wie sie das Schicksal zum Beruf der Nachtschwester führte.

Autorenfoto

1

Im Jahr 1942 in Polen, genauer gesagt in der Nähe von Neutal im Warthegau, war ich gerade 13 Jahre alt, das Nesthäkchen der Familie und entsprechend verwöhnt. Obwohl der Krieg schon drei Jahre dauerte, hätten wir dort gar nicht viel davon bemerkt, wären nicht die jungen Männer – darunter auch mein Bruder Horst – von der Wehrmacht eingezogen worden, um in diesem Krieg zu kämpfen. Wir hatten keinerlei Mangel zu leiden, denn wir besaßen ein großes Gut, Potporowo, das meine Eltern selbst bewirtschafteten. Jeden Sommer verbrachten wir in dem imposanten Gutshaus. Wenn es kälter wurde, zogen wir in unsere Stadtvilla, denn die hohen Räume des Gutshauses waren im Winter nur schwer warm zu bekommen. Die kleine Stadt, in der wir die kalte Jahreszeit verbrachten, trug den schönen Namen Birnbaum.

Bis zum Ersten Weltkrieg hatte die Provinz Posen, in der wir lebten, zu Deutschland gehört, danach war sie aber Polen zugesprochen worden. Viele Deutsche, die hier lebten, hatten deshalb gehofft, die alten Verhältnisse würden wiederhergestellt. Als wir nach dem siegreichen Polenfeldzug Hitlers dann aber wirklich wieder zum Deutschen Reich gehörten, kam für viele, darunter auch meine Eltern, die Ernüchterung recht schnell. Vor allem die Rassenpolitik widersprach den Wertvorstellungen meiner Eltern. In unserem Haus waren selbstverständlich auch immer jüdische Freunde ein- und ausgegangen, und trotz aller Repressalien gegen die Juden hielt mein Vater diese Freundschaften weiter aufrecht. Auch mit den Polen hatten wir nie Probleme gehabt. Alle unsere Arbeiter am Gut waren Polen, und Vater war stets zufrieden mit ihnen.

Mein polnisches Kindermädchen, muss ich gestehen, trieb ich allerdings oft zur Verzweiflung. Ruscha, wie wir sie nannten, hieß eigentlich Rosalie Maitschak und diente bereits seit ewigen Zeiten auf Potporowo. Sie hatte eine verkrüppelte Hand, die so stark zitterte, dass sie sie nie still halten konnte. Sicher hätte sie nirgendwo sonst eine Arbeit bekommen, aber meine herzensgute Mutter behandelte sie fast wie ein eigenes Kind und nahm sie ständig in Schutz, vornehmlich vor meinen bösen Streichen.

Ruscha hatte es mit mir wirklich nicht leicht. Erna, die zuvor unser Kindermädchen gewesen war, war zu Servierdiensten eingeteilt worden, als meine älteren Geschwister erwachsen wurden, und an ihrer Stelle musste Ruscha sich um mich kümmern. Zwar tat sie mir zwar oft leid wegen ihrer Behinderung, andererseits grauste es mich aber vor ihren stets feuchten Händen. Mutter hatte ihr befohlen, mir beim Ankleiden behilflich zu sein, aber ich bekam eine Gänsehaut vor Ekel, wenn sie mich anfasste. Wenn ich mich bei Mutter beschwerte, wurde ich zurechtgewiesen: »Sei doch nicht so herzlos! Ruscha braucht das Gefühl, noch gebraucht zu werden.« Aber das machte die Berührungen meines Kindermädchens für mich nicht weniger unangenehm.

Ruscha machte es mir aber auch sehr leicht, sie zu ärgern. Über alles regte sie sich auf. An diesem Sommertag im Jahr 1942 genoss ich es, oben auf dem Kirschbaum frische Kirschen zu essen und von dort zu beobachten, wie Ruscha aufgeregt hin- und herlief und dabei fortwährend meinen Namen rief. Mutter hatte ihr wohl aufgetragen, mich zu suchen. Schon dreimal war sie direkt unter mir vorbeigelaufen, ohne mich zu finden. Dabei hätte sie sich ja nur an Ajax orientieren müssen. Wo er war, da musste schließlich auch ich in der Nähe sein.

Als sie das nächste Mal unter mir war, spuckte ich einen Kirschkern aus, und Ruscha blickte endlich nach oben und sah mich. Sie schäumte vor Zorn. »Wild wie Pferd, nicht gewaschen wie Ferkel, Chaare nicht gekämmt!«, rief sie zu mir hinauf.

Polen können kein »H« aussprechen. Es wird immer ein hartes »Ch« daraus.

Ich wusste, warum Ruscha mich suchte. Heute Abend würde sich meine älteste Schwester Annelies mit Leutnant Quitschorek verloben, und ich sollte dafür fein gemacht werden. Das bedeutete: Ich musste ein Kleid anziehen. Ein Kleid, das war aber das Ärgste, was man mir antun konnte. Da gab es nur eine Möglichkeit, und das war Flucht.

Ich pfiff kurz. Mein Ajax kannte diesen Pfiff, trabte unter den Baum, und ich konnte leicht auf seinen Rücken springen. Dann galoppierte ich an der erschrockenen Ruscha einfach vorbei, und fort war ich. Mutter hatte den Vorfall vom Herrenhaus aus beobachten können. Obwohl sie sich eines Lächelns nicht erwehren konnte, tat ihr mein Kindermädchen wieder einmal leid. Als Ruscha dann niedergeschlagen eintrat, tröstete sie sie und versprach, ein ernstes Wort mit mir zu reden.

Aber wann hätte sie das tun sollen? Mein Pferd nahm mich ja Tag und Nacht in Anspruch, und im Sommer war ich so viel im Freien, dass meine Sonnenbräune schon an Zigeunerdunkelbraun grenzte. Das und meine ungebärdige Art hatten mir beim Personal den Namen »Die wilde Comtess« eingebracht. Liebenswürdig war ich damals wahrlich nicht, und meinen Willen wusste ich durchzusetzen. Nicht einmal zum Kämmen fand ich Zeit, ich band eine Schleife um meine langen Haare, und das musste genügen. Auch zu den Mahlzeiten erschien ich nur höchst selten. Zu diesem Zweck hätte ich mich umziehen müssen, und das war mir lästig. In unserem Garten gab es ja genügend Früchte, und notfalls ging ich zur Köchin, denn die hatte immer etwas Gutes für mich. Meine Eltern waren ständig in großer Sorge um mich, weil ich für mein Alter viel zu klein und zu schmächtig war, aber meine Energie hätte auch für zwei Kinder ausgereicht.

Die Vorbereitungen des Personals hatten mir deutlich gemacht, dass es eine große Feier sein würde, die heute Abend veranstaltet werden sollte. Aus Erfahrung wusste ich, was da auf mich zukommen würde: Elegante Kleider, affiges unnatürliches Benehmen und das Widerlichste von allem, die verschiedenen Parfüms der Damen. Igitt, nur bei dem Gedanken schüttelte ich mich bereits im Voraus. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, in den Pferdestall zu gehen und mich dort mit Dreck und Pferdeäpfeln so zurechtzumachen, dass ich den Ballsaal genauso schnell wieder verlassen konnte, wie ich ihn betreten hatte. Aber dann fand ich, dass es wohl doch das Beste war, mich gar nicht erst blicken zu lassen.

Ich lenkte Ajax zu dem kleinen Teich inmitten des Waldes, meinem Lieblingsplatz. Außer Janek kannte niemand diesen »heiligen Fleck Erde«, wie ich ihn gerne nannte. Ich genoss die Geräusche dieses Plätzchens, das Quaken der Frösche und das Gezwitscher der Vögel. Es klang alles so ehrlich und beruhigend, dass ich sehr oft dort eingeschlafen und stets entspannt wieder aufgewacht bin. Diesmal bekam ich aber keine Gelegenheit einzuschlafen. Schon nach ein paar Minuten vernahm ich das Getrappel von Janeks Pferd, und schon von Weitem hörte ich ihn aufgeregt rufen: »Comtesschen, Ihr Cherr Vater will, dass Sie sofort in sein Büro kommen!«

»Mein Cherr Vater kann noch etwas warten!«, gab ich schnippisch zurück. »Hier ist es so ruhig und gemütlich. Außerdem hat Ajax noch nicht genug gegrast.«

Janek war unser Pferdeknecht und mir treu ergeben, obwohl er viele meiner Unarten aushalten musste. Aber nun errötete er vor Zorn, denn er konnte es nicht ausstehen, wenn ich mich über seine Aussprache lustig machte. Wie fast immer ging er aber dennoch ohne ein Wort darüber hinweg, denn er kannte mein aufbrausendes Temperament zur Genüge. »Cherr Vater wartet, ich soll Sie gleich mitbringen«, wiederholte er stur.

»Was will Vati denn von mir?«, fragte ich, nun doch neugierig geworden.

»Cheute Abend ist großer Ball ...«

»Weiß ich schon, darum bin ich ja abgehauen!«

»Aber Ball ist für Comtess Annelies. Cheute ist Verlobung mit Herrn Leutnant Quitschorek!«

»Na und, was soll ich dabei?«, fragte ich ärgerlich.

Das verstand Janek gar nicht. »Aber Comtesschen, ist doch Familienfeier, muss man doch gratulieren großes Schwester und winschen viel Glick!«

»Da muss ich mich nur wieder in so ein enges Kleid quetschen und dummen Leuten dumme Fragen beantworten!«, maulte ich. Aber dann schwang ich mich doch wieder auf Ajax und ritt zum Gutshaus.

Vater kannte mich gut genug, um zu wissen, dass ich nicht wagte, ungehorsam zu sein, wenn er mich rufen ließ. Er wartete bereits auf der Veranda und tippte mit den Zehenspitzen hin und her. Es war also Vorsicht geboten, denn das tat er nur, wenn er schlechte Laune hatte. Ich fiel ihm gleich um den Hals.

»Vati, bitte erspar mir doch den Kladderadatsch«, sprudelte ich heraus. »Du kennst mich doch, ich werde doch wieder nur unangenehm auffallen!«

Zärtlich löste er meine Arme von seinem Hals und sagte sehr ernst: »Herzblatt, heute gibt es kein Pardon. Annelies würde dir ein Fernbleiben nie verzeihen, und Hans muss morgen in aller Frühe schon wieder an die Front!«

Ungläubig starrte ich ihn an. »Hans muss morgen schon wieder nach Russland? Die sind doch verrückt mit ihrem blöden Krieg!«

»Wirst du wohl still sein!«, ermahnte mich mein Vater. »Weißt du nicht, dass man so etwas nicht sagen darf?«

»Ach, ist doch wahr«, maulte ich. Seit unsere Pferde weggeholt worden waren, war jede Hurrapropaganda, mit der in der Bevölkerung die Kriegsbegeisterung geweckt werden sollte, an mich völlig verschwendet. Wenn ich nicht zufällig mit Ajax unterwegs gewesen wäre, dann hätten sie ihn auch mitgenommen – ein Gedanke, bei dem es mir eiskalt den Rücken hinunterlief. Janek hatte kurzerhand behauptet, wir hätten kein Reitpferd mehr auf dem Gut, sonst wäre Ajax später auch noch abgeholt worden.

»Wo ist Ruscha? Ich will mich umziehen!«

So schnell kam der Themenwechsel, dass Vati mir nur noch kopfschüttelnd hinterherschauen konnte.

Arme Ruscha, sie war nun wieder mein Blitzableiter, denn die dargereichten Kleider fanden bei mir keine Anerkennung: Eines war zu eng, das andere zu lang, an allen fand ich etwas auszusetzen. Das stimmte mich auf eine verdrehte Art und Weise sogar ganz zufrieden: Ob ich nun vielleicht doch um den Ball herumkommen würde?

»Ich kann nicht zu dem blöden Ball gehen! Ich habe nichts anzuziehen!«, schleuderte ich meiner Mutter entgegen, die gerade zur Tür hereinkam, und sah im gleichen Moment, dass sie ein himmelblaues zartes Kleid in den Händen hielt, das offenbar für mich bestimmt war.

»Bitte, Elfi, benimm dich nicht wie ein Fuhrknecht!«, rügte sie mich sofort.

Angriffslustig fragte ich: »Was ist an einem Fuhrknecht auszusetzen, liebste Mutti? Ist er etwa nicht salonfähig?«

Sie tat so, als hätte sie es nicht gehört. Stattdessen reichte sie Ruscha das Kleid, und zu mir sagte sie: »Lass dich jetzt bitte ankleiden.«

»Oh Gott, bis die mir den Fetzen anzieht, mache ich das lieber selber!«, rief ich, bis ins Mark empört. Wie ein geprügelter Hund lief Ruscha von dannen.

»Ich bin sehr enttäuscht von dir, Kind, wie du mit der armen Ruscha umspringst«, sagte meine Mutter ruhig. »Mich rügst du, weil ich deine Kraftausdrücke mit denen eines Fuhrknechts vergleiche, du aber behandelst unser Personal, als wenn es gar keine Menschen wären. Denk bitte stets daran, Elfi: ›Noblesse oblige‹!«

Entsetzt hielt ich mir beide Ohren zu. »Bitte, Mutti, verschone mich mit diesem Satz, ich kann ihn nicht mehr hören! Allmählich müsstest du doch bemerkt haben, dass ich auf die ganze Vornehmheit pfeife. Ich bin eben aus der Art geschlagen!«

Ja, wir gehörten zu den vornehmen Kreisen, und das bedeutete, ich sollte mich Tag und Nacht an eine Unmenge komplizierter ungeschriebener Vorschriften halten, die meine Mutter selbst mit müheloser Leichtigkeit anwandte. Aber ich scheiterte an ihnen täglich etliche Male, alleine schon deshalb, weil mir diese Vorschriften so sinnlos vorkamen. Mutters stete Bemühungen darum, sie mir beizubringen, waren deshalb von vornherein zum Scheitern verurteilt. Dass sie das nicht einsehen wollte, machte mich nur noch rebellischer.

»Jetzt sei wieder lieb, Kind, und kleide dich an!«, rief Mütterchen, ohne darauf einzugehen. »Ich habe dieses Kleid extra für den heutigen Abend anfertigen lassen. Es wird dich ausgezeichnet kleiden!«

Widerwillig schlüpfte ich unter dem Blick meiner Mutter in den blauen Traum und sah den Stolz in ihren Augen aufleuchten.

»Wunderschön siehst du darin aus! Geh und sieh dich einmal selber an!«

Ich fühlte mich in dem Kleid so eingeengt wie ein Sträfling, trat aber gehorsam vor den Spiegel und meinte dann unbeeindruckt: »Na ja, für heute Abend wird es schon gehen, und morgen kann ich ja wieder meine Reithosen anziehen!«

Mit solchen Sätzen konnte ich meine Mutter nicht aus der Fassung bringen.

»Dummerle!«, gab sie liebevoll zurück. »Du wirst es schon aushalten. Tu es für Hans!«

2

»Mir wäre es lieber gewesen, wenn deine Eltern von diesem Ball abgesehen hätten!«, sagte Hans gerade traurig zu Annelies, als ich zu ihnen in den roten Salon hereinkam. »So sehr ich meinen Kameraden, die ja morgen auch wieder an die Front müssen, diese Abwechslung gönne, ich hätte mir doch gewünscht, mehr Zeit für uns zu haben.«

Bittend sah Annelies zu ihm auf. »Ich freue mich aber auch sehr auf diesen Ball, Hans«, beteuerte sie. »Weiß Gott, wann wir wieder einmal Gelegenheit haben werden, miteinander zu tanzen.«

Kurz darauf musste sie gehen, um sich für den Ball umzuziehen. Kaum hatte sie den Raum verlassen, stürmte ich zu Hans und fiel ihm um den Hals. »Mach doch nicht schon wieder so traurige Augen, ich pass schon auf deine Annelies auf!«

Hans lachte, aber seine Augen blieben traurig. »Habt ihr etwas von Horst gehört?«, fragte er. Er wollte wohl auf ein anderes, weniger heikles Thema ablenken.

»Ist in Norwegen!«, hörte ich hinter mir meine zweite Schwester Christine an meiner Stelle antworten. Sie hatte mich wohl in den roten Salon gehen sehen und war mir gefolgt.

Christine war die drittälteste von uns vier Goldbergkindern und äußerlich ein wenig aus der Art geschlagen. Während Annelies, Horst und ich zart und feingliedrig waren, hatte sie eine etwas kräftigere Statur und ein rundes ebenmäßiges Gesicht. Horst und Christine waren nur ein Jahr auseinander und hingen mit einer schier affigen Liebe aneinander. In seinen Briefen kam immer die Frage »Wie geht es Christel?« an erster Stelle. Mit mir hatte er dagegen seine Schwierigkeiten. Seiner Ansicht nach war ich gar kein richtiges Mädchen. Damit lag er nicht einmal so verkehrt, denn Vati hätte gerne noch einen Sohn gehabt. Weil Horst sehr weich veranlagt war, fand er an meiner jungenhaften Art Gefallen und spornte mich damit, wenn auch sicherlich nicht mit Absicht, zu allerhand Streichen an. Ich wiederum wusste, dass Vater stolz auf mich war, und nützte es aus. Einmal hatte ich sogar mit Vaters Schrottflinte auf meinen Bruder geschossen. Vorwurfsvoll hatte er da gesagt: »Elfi darf ja hier alles!«

Sehr oft musste Horst sich Vorwürfe anhören wie: »Nimm dir ein Beispiel an Elfi, so wie sie müsste ein Junge sein, wie sie müsstest du reiten können.« Horst mochte die störrischen Reitpferde aber nicht. Ja, ich hatte sogar den Verdacht, dass er sich vor ihnen fürchtete. Heimlich nannte ich ihn eine Memme, weil er auch sonst vor vielem Angst hatte. Erst seit mein Bruder zur Waffen-SS eingezogen worden war, begann er mir schmerzlich zu fehlen. Immer, wenn von ihm die Rede war, schossen mir Tränen in die Augen. So auch jetzt.

Aber damit hatte ich schon wieder eines dieser ungeschriebenen Gesetze übertreten, denn Gefühle zeigen, das durfte man ja auch nicht. Oh wie ich das hasste! Unbeherrscht stampfte ich mit dem Fuß auf und rief: »Scheiße!« Anschließend lief ich hinaus.

»Lass sie nur«, hörte ich Hans drinnen zu Christine sagen, die wohl die Stirn über mich gerunzelt hatte. »Manchmal tut ein Kraftausdruck recht gut!«

Vor dem Salon wäre ich beinahe mit Vati zusammengestoßen. Vorwurfsvoll blickte er mich an: »Was rennst du denn so unaufmerksam herum? – Aber egal: Ich habe dich schon überall gesucht. Komm doch bitte mit in mein Büro!«

»Was ist denn schon wieder los?«, stöhnte ich auf.

»Elfi, Frau Franz hat mich angerufen.«

Das und sein vorwurfsvoller Blick sagten mir schon alles. Meine Klavierlehrerin hatte sich bei ihm über mich beschwert.

»Ach du lieber Himmel, diese ekelhafte Petze!«, entfuhr es mir.

»Bitte, Kind, alles Weitere im Büro! Nimm dich vor dem Personal zusammen!«

Noch eine von diesen Ermahnungen, die ich täglich mindestens ein Dutzend Mal zu hören bekam! Kleinlaut und nichts Gutes ahnend schlich ich hinter Vati her.

»Setz dich!«, befahl Vater, als er die Bürotür hinter sich geschlossen hatte. Er bemühte sich um eine strenge Miene, aber es gelang ihm nicht so richtig. Meine Stimmung verbesserte sich schlagartig. Oh, wie gut ich ihn kannte! Ich wusste genau, dass er mir nicht lange böse sein konnte.

»Also, was hat es wieder mit Frau Franz gegeben?«, forderte er mich auf zu erzählen. Dabei hatte ihm die dumme Franze – wie ich sie heimlich nannte – sicherlich haarklein alle meine Sünden vorgebetet. Aber er wollte es von mir selbst hören, denn ich war eine Wahrheitsfanatikerin. Jeder wusste, was immer ich anstellte – und es waren wirklich böse Dinge darunter –, lügen würde ich nicht. Ich stand zu meinen Schandtaten, auch wenn ich dafür bestraft wurde. In diesem Fall hatte Frau Franz die Klavierstunde abbrechen müssen, weil ich die Tasten mit Klebstoff beschmiert hatte.

»Ich mag nicht Klavierspielen lernen!«, fasste ich am Ende meines Berichts zusammen.

»Den Satz kenne ich bereits, Elfi!«

Ich sah vertrauensvoll zum ihm auf. »Es ist aber wirklich so!«

»Sieh mich nicht so an, Kind, wir haben bereits öfter darüber diskutiert. Andere Kinder wären froh, wenn ihnen all das geboten würde, was du darfst!«

»Ich kann aber nicht Klavier spielen, wenn ich weiß, dass Ajax draußen auf mich wartet. Das solltest du verstehen Vati!«

»So, sollte ich das? Gut, dann werden wir die Stunden auf den Abend verlegen!«

Stürmisch sprang ich auf und umarmte ihn. »Du bist der beste Vater aller Zeiten!«

»Aber bitte, misshandle unser Klavier nicht noch einmal mit Klebstoff!«, schmunzelte er. »Und sei auch ein bisschen netter zu der armen Frau Franz!«

Ich verdrehte die Augen. »Die arme Frau Franz!«, äffte ich ihn nach. »Bei jeder Kleinigkeit rennt sie immer gleich zu dir, um mich zu verpetzen, und dann wundert sie sich, dass ich sie nicht leiden kann?«

Vati bemühte sich, streng dreinzublicken. »Ja, die arme Frau Franz!«, betonte er noch einmal mit Nachdruck. »Sie gibt sich nämlich wirklich Mühe mit dir, aber heute war es ihr einfach zu viel. Ich habe ihr versichert, dass du dich in Zukunft manierlicher benehmen wirst, und ich hoffe doch, dass ich mich da ganz auf dich verlassen kann!«

Vater wusste genau, wie er mit mir reden musste. Er hatte für mich sein Ehrenwort gegeben, also konnte ich ihn natürlich nicht im Stich lassen. Jetzt gab er mir einen kleinen Klaps und sagte: »So, und jetzt geh, und mach dich noch ein wenig frisch für den Ball!«

An seinem Gesichtsausdruck sah ich, dass er mir nicht mehr böse war, und lief erleichtert aus dem Büro.

Als ich in meinem neuen Kleid hinunterlief, kam auch Annelies gerade die Treppe heruntergeschwebt. Sie hatte ein zartrosa Kleid an, welches durch einen betont einfachen Schnitt bestach. Allerdings war das Dekolleté etwas gewagt und entsprach sicher nicht dem Geschmack der Frau Mama. Annelies war jedoch sehr eigenwillig in puncto Mode und ließ sich dabei von niemandem dreinreden. Völlig zu Recht, denn sie sah hinreißend aus. Das sagte ich ihr auch.

»Du aber auch, Elfi!«, gab meine älteste Schwester das Kompliment mit einem Lächeln zurück.

Ich lief Annelies voraus, weil ich sehen wollte, was Hans beim Anblick meiner Schwester in diesem wunderschönen Kleid für ein Gesicht machen würde. Aber in dem bewundernden Blick für seine zukünftige Braut sah ich so viel Traurigkeit, dass es mir sofort wieder ins Herz schnitt. »Bleib doch einfach da!«, rief ich aus einem Impuls heraus, ohne nachzudenken. »Fahr morgen nicht wieder an die Front, lass doch die ihren blöden Krieg alleine weitermachen!«

Einige der anwesenden Offiziere schauten befremdet zu mir herüber. Das machte mich noch wütender.

»Was glotzt ihr mich denn alle so blöd an?«, rief ich angriffslustig. »Wer von euch morgen gerne zurück an die Front fährt, der hebe jetzt mal den Finger!« Ich hätte wohl noch mehr gesagt, aber da packte mich Christine am Arm und schubste mich unsanft hinaus.

»Sag einmal, bist du verrückt geworden?«, herrschte sie mich an. »Ist dir wirklich nicht klar, dass man solche Äußerungen nicht machen darf?«

Ein Hauptmann war in den Gang hinausgetreten und unterbrach sie: »Lassen Sie die Kleine nur, es war sicher nicht böse gemeint. Ganz im Vertrauen, ich hätte meinen Finger bestimmt nicht gehoben, als sie gefragt hat, wer morgen gerne an die Front fährt! – Können Sie tanzen?«, wandte er sich dann an mich.

»Ja ... natürlich ...«, stammelte ich, von dem plötzlichen Themenwechsel überrumpelt. »Aber zu mir brauchen Sie nicht Sie zu sagen, ich werde ja erst vierzehn.«

Tatsächlich tanzte ich sogar sehr gerne. Anders als die verhassten Klavierstunden versäumte ich meine privaten Tanzstunden nie und hatte gegen sie auch nichts einzuwenden. Außer den neuesten beherrschte ich inzwischen alle Tänze. So ließ ich mich von dem Hauptmann zurück in den Saal und aufs Parkett führen und zeigte, was ich gelernt hatte. Flüchtig nahm ich um mich herum Erstaunen in manchen Gesichtern wahr. Dass ich so gut tanzen konnte, hatte mir wohl so mancher nicht zugetraut.

An diesem Abend bekam ich eine Ahnung davon, was es bedeutet, eine umschwärmte junge Dame zu sein, denn die anderen Offiziere standen nun förmlich Schlange, um auch einen Tanz mit mir zu bekommen. Aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, was für ein stolzes Gesicht mein Vater machte. Ich flog von Arm zu Arm, bis es Mutti schließlich zu viel wurde und sie mich bat, mich zurückzuziehen.

»Aber Mutti!«, rief ich empört. »So lass mich wenigstens dabei sein, wenn Vati die Verlobung bekannt gibt!«

Das war doch die Höhe! Erst wurde ich fast mit Gewalt gezwungen, an diesem Ball teilzunehmen, und nun, da es mir gefiel, sollte ich so schnell wieder gehen müssen?

Hans kam mir zu Hilfe: »Wenn ich ehrlich bin, hätte ich wirklich gerne die gesamte Familie dabei, und auf eine halbe Stunde kommt es jetzt doch auch nicht mehr an!«

Das letzte Wort hatte mein Vater, und er zeigte sich einsichtig. »Gut, noch eine halbe Stunde, aber dann ist Zapfenstreich!« Anschließend bat er die Kapelle um einen Tusch. Mit sichtlicher Rührung in der Stimme gab er bekannt, dass Herr Leutnant Quitschorek und seine älteste Tochter sich gefunden hätten. Seine kurze Verlobungsansprache endete mit den Worten, man hoffe, dass dieser Krieg ein siegreiches Ende nehmen und die beiden ein glückliches Paar werden würden. Die Gläser wurden gehoben, und man wünschte den Verlobten alles Gute. Danach spielte die Kapelle einen Wiener Walzer. Gleichzeitig verbeugten sich schon wieder mehrere Herren vor mir und baten um den Tanz. Aber Vati trat dazwischen und meinte lakonisch: »Den letzten Tanz hätte ich gerne selber mit meiner Tochter getanzt, meine Herren!«

Artig traten sie wieder zurück.

Vater verstand es, mich zu führen, es war ein unglaubliches Vergnügen, sich seinen Tanzschritten anzupassen. »Vati, du bist der beste Tänzer im Saal!«, sagte ich stolz. Das konnte ich beurteilen, so viele verschiedene Tänzer hatte ich gehabt.

»Meine Kleine, dir macht hier auch keine der Damen etwas vor«, antwortete mein Vater. »Da sind die Tanzstunden nicht umsonst gewesen. Es ist ein Vergnügen, mit dir zu tanzen, Kind.«

Gott, was war ich stolz. Wir waren so versunken, dass wir gar nicht merkten, dass wir inzwischen allein auf der Tanzfläche waren. Die anderen Tanzpaare hatten einen Kreis um uns gebildet und sahen uns fasziniert zu. Ein Zauber lag über dem Saal, bis ich bemerkte, was geschehen war, und ausrief: »Was glotzt ihr denn alle so, tanzt doch selber!«

Die Herren Offiziere brachen in schallendes Gelächter aus, und die Damen waren schockiert. Mutti tat wie meistens, als hätte sie nichts von dem peinlichen Vorfall bemerkt, und ich hatte mir, wie ich fand, einen würdigen Abgang geschaffen. Beim Hinausgehen hatte ich Mühe, mir das Lachen zu verbeißen, denn ich hörte sehr wohl, was manche der aufgetakelten Damen hinter mir flüsterten! »Enfant terrible« nannten sie mich und »aus der Art geschlagenes Mädchen« und noch so manches andere.

Obwohl mir das Tanzen so großes Vergnügen gemacht hatte, atmete ich auf, als ich den Saal verlassen hatte. Die frische unparfümierte Luft tat mir gut. Das traurige Abschiednehmen – mit einer unbeherrscht weinenden Annelies, als Hans sie ein letztes Mal in den Arm nahm – fand erst danach statt. Die Herren Offiziere sollen aber ebenfalls alles andere als mutig gewirkt haben. Jedem stand das Grauen im Gesicht. Und nachdem sich mit Herrn Hauptmann Merzbacher unter den Gästen auch noch einer gefunden hatte, der glaubte, die Hand heben und sich mit einem zackigen »Heil Hitler« verabschieden zu müssen, zog sich ein jeder mit gemischten Gefühlen zurück.

Schon vom Weitem hörte ich Frederik meckern, als ich zu meinem Zimmer lief. Frederick war ein kleiner Ziegenbock. Seine Mutter war gestorben, und ich betreute ihn nun als Ersatzmutter. Er erlaubte sich mir gegenüber einiges. Diesmal stand er vor der Tür, und als er mich sah, lief er gleich auf mich zu und beschwerte sich.

»Was machst du denn hier draußen?«, fragte ich ihn, während er, sichtlich erleichtert über meine Gegenwart, den Kopf in meinen Schoß steckte, bis ich die Tür aufgemacht hatte. Dann rannte er zu meinem Bett und ließ sich hineinfallen. Dass wir so laut gewesen waren, bescherte mir einen weiteren Schlafgenossen: Emma, eine kleine Ente, die sich am Fuß verletzt hatte und die ich seither auch nicht mehr loswurde.

Es klopfte an meiner Tür. Vati wollte mir noch gute Nacht sagen.

»Oh Gott, liegst du wieder mit deinem Kroppzeug im Bett!«, war alles, was ihm beim Anblick meines voll belegten Betts einfiel. »Bleibt dir denn überhaupt noch Platz zum Schlafen?«

Meine Tierliebe machte vor gar nichts Halt außer vielleicht Stechmücken. Ich musste einfach jedes lebende Geschöpf retten, das ich in Gefahr sah, und fürchtete mich vor keinem. Als die Maler bei mir die Fenster gestrichen hatten, rettete ich sogar eine dicke Spinne, die ich Thekla nannte, nach der Spinne im Kinderbuch »Biene Maja«. Außerdem hatte ich zeitweise auch eine Fledermaus namens Karla, die mit dem Kopf nach unten an der Lampe hängend in meinem Zimmer schlief. Ruscha, die eigentlich mein Zimmer hätte sauber halten sollen, ekelte sich so vor meinen Tieren, dass sie sich weigerte, es zu betreten.

Ich versicherte meinem Vater, dass meine Tiere und ich uns durchaus arrangieren konnten. Kopfschüttelnd ging er hinaus, nachdem er mir eine gute Nacht gewünscht hatte.

3

Anfang Juli 1943 war der Krieg immer noch wie ein fernes Donnergrollen. Aber inzwischen riefen uns nicht mehr nur die Briefe meines Bruders Horst und die von Hans, des Verlobten meiner ältesten Schwester, regelmäßig in Erinnerung, dass es ihn gab. Er war nahe genug gerückt, dass auch ich eine erste Auswirkung zu spüren bekommen hatte: Meine Schulklasse hatte nur noch mit der mittleren Reife abschließen dürfen. Alle Jungen unter meinen Schulkameraden hatten sich freiwillig zur Wehrmacht gemeldet. Es war eine traurige Abschlussfeier gewesen.

Aus war nun der Traum vom Medizinstudium, den ich seither immer gehabt hatte! Mein großes Vorbild dabei war Onkel Herbert gewesen, der Bruder meines Vaters. Er war praktischer Arzt und Chirurg. Mehr als einmal hatte ich in seiner Praxis ausgeholfen, und er behauptete immer, dass ich die geborene Medizinerin sei. Dass ich stattdessen jetzt in seiner Praxis eine Ausbildung als Sprechstundenhilfe begonnen hatte, tröstete mich über einiges hinweg, denn an der Privatschule, in die mich meine Eltern geschickt hatten, hatte ich nur wenig Freude gehabt, und sie an mir auch nicht. Es war mir dort einfach langweilig gewesen. Im ersten Halbjahr waren meine Noten immer haarsträubend ausgefallen. Ging es dann zur Versetzung, gab ich mir ein bisschen mehr Mühe und wurde prompt Klassenbeste. Nun, damit war es jetzt vorbei.

Annelies strahlte, als ein Brief von Hans eintraf, in dem er schrieb, er werde zwei Wochen lang an einem Lehrgang teilnehmen. »Sein Gesundheitszustand ist, wie er mir schreibt, nicht zufriedenstellend«, erzählte sie am Frühstückstisch. »Leider gibt man ihm keinen Heimaturlaub, aber ich bin schon zufrieden, wenn er nicht mehr in Gefahr ist!«

»Ich auch«, erwiderte Mutter. »Dann wirst du wenigstens mal wieder eine Nacht schlafen.«

Annelies sah erstaunt auf. Dabei hätte man schon blind sein müssen, um die Spuren durchweinter Nächte auf ihrem Gesicht nicht zu bemerken.

Dass meine Mutter sich über mich ärgerte, merkte ich auch, aber das war keine Kunst, denn mir war schon in meinem Zimmer klar gewesen, dass die Reithose, die ich angezogen hatte, nicht ihren Beifall finden würde. Die Sorgen, die mein Vater wälzte, musste ich aber nicht erraten, denn er sprach selbst davon. Es ging um einen seiner Freunde, Herrn Rothe. Man hatte ihm seine Konten gesperrt, und das nur aus einem einzigen Grund: Er war Jude.

Rothe war vor dem Krieg ein wichtiger und angesehener Mann gewesen, der in den besten Kreisen verkehrte, und er blieb wegen seiner Stellung und seiner Beziehungen lange Zeit von den Judenverfolgungen unbehelligt. Damit war er unter den Juden in Polen eine Ausnahme, aber es gab auch noch einige andere Fälle dieser Art, sogar dann noch, als andere Juden sich der Deportation nur noch entziehen konnten, indem sie sich versteckten. Aber nun schien ihn sein Glück verlassen zu haben.

»Ich muss ihm helfen, Anna«, fuhr mein Vater fort. »Zumindest werde ich ihm Geld von meinem Schweizer Konto zukommen lassen, damit er seinen Verpflichtungen nachkommen kann!«

»Wenn du nur selber nicht in Schwierigkeiten gerätst, Günther«, warnte meine Mutter besorgt.

»Aber wieso denn, meine Liebe?«, tat mein Vater ihre Warnung ab. »Davon erfährt niemand etwas. Außerdem kann ich meinen Freund doch nicht im Stich lassen.«

Er ahnte nicht, dass er ihm nicht mehr helfen konnte. Erst am nächsten Tag erfuhr er, dass Herr Rothe zusammen mit seiner ganzen Familie abgeholt und in ein Konzentrationslager gebracht worden war.

Niemand achtete während dieses Gesprächs auf das Dienstmädchen Erna, das sich im Esszimmer zu schaffen machte und aufmerksam jedes Wort meiner Eltern verfolgte.

Einen Tag später kam das verhängnisvolle Telegramm. Hans, stand darin, sei gefallen – für Führer, Volk und Vaterland, wie das damals hieß. Meine Schwester konnte es zunächst gar nicht glauben. »Wie kann er denn gefallen sein, wenn er gar nicht an der Front ist?«, begehrte sie auf. »Er hat mir doch selber geschrieben, dass er auf einen Lehrgang musste.« Aber am Nachmittag erschien ein Freund meines Vaters, Hauptmann Brittig, derselbe Hauptmann, der mich damals bei der Verlobungsfeier in Schutz genommen hatte. Er wusste bereits, was uns offiziell erst Wochen später bestätigt wurde: Hans war durch die schweren Kämpfe an der Ostfront so geschwächt worden, dass er auf dem Lehrgang bei einer Schwimmübung einen Schwächeanfall erlitt und ertrank.

Gut, dass Hauptmann Brittig an jenem Tag bei uns war. Alle saßen noch trauernd beisammen, nur ich war hinausgelaufen, weil ich die Trostlosigkeit einfach nicht mehr aushalten konnte, als ein schwarzes Auto vorfuhr. Drei Herren von der SS stiegen aus. Sie waren gekommen, um meinen Vater zu verhaften, und wahrscheinlich hätten sie ihn mitgenommen, wäre Hauptmann Brittig nicht mit zornfunkelndem Blick aufgesprungen.

»Was soll das heißen, meine Herren? Geht man so mit einer Familie um, die gerade um einen Angehörigen trauert, der für den Führer gefallen ist?«

Es gab einiges Hin und Her. Die Herren der SS baten Hauptmann Brittig aus dem Raum zu einer Unterredung, dann wollten sie telefonieren, und nach einer halben Ewigkeit, in der alle wie erstarrt dasaßen, hatten sie neue Anweisung bekommen: Angesichts der traurigen Nachricht, schnarrte einer der SS-Männer, sehe man von einer Verhaftung ab, man erwarte allerdings, dass Vater sich in den nächsten acht Tagen freiwillig an die Front melde. Die Herren der SS verabschiedeten sich anschließend knapp und unhöflich.

Erst nachdem sie das Gut verlassen hatten, klärte Hauptmann Brittig meine Eltern darüber auf, warum die SS meinen Vater hatte mitnehmen wollen. »Günther, bei dir im Haus muss es einen Schwätzer geben, wie sonst hätten die Behörden in Erfahrung bringen können, dass du den Juden Rothe finanziell unterstützt.«

Vati sprang erregt auf. »Genügt das denn bereits, um eine Verhaftung zu erwirken? Darf man denn einem Freund nicht helfen?«

»Juden sind keine Freunde, Günther, oder haben keine zu sein. Wusstest du das noch nicht?«, fragte Hauptmann Brittig verbittert.

Erregt antwortete Vater: »Ich habe noch nie danach gefragt, ob einer Jude ist. Der Rothe ist ein feiner Kerl, und ich beteuere noch einmal, er ist mein Freund!«

Annelies lachte auf einmal schrill und unnatürlich auf: »Dass Hans tot ist, hat Vati letztlich davor bewahrt, verhaftet zu werden?«, warf sie ein. »Was für eine Welt!«

Mitleidig sah Hauptmann Brittig meine Schwester an. »Auch wenn das für Sie kein Trost ist: So ist er wenigstens nicht ganz umsonst gestorben!«

»Sei still, Franz, bring dich nicht auch noch in Gefahr!«, warnte Vati. »Offensichtlich haben die Wände hier Ohren. Nun denn: Ich werde mich freiwillig an die Front melden. Vielleicht lässt man dann wenigstens meine Familie in Ruhe!«

Während dieser ganzen Affäre war Mutti nur stumm dagesessen. Jetzt wollte sie aufstehen und streckte die Hand nach meinem Vater aus. Dabei brach sie lautlos zusammen.

»Elfi!«, war das erste Wort, das sie sprach, als sie wieder zu sich kam. »Elfi darf nie erfahren, was hier gerade geschehen ist! Du kennst sie, Günther, sie würde mit ihrer Spontaneität noch größeren Ärger verursachen.«

»Würde sie nicht, sie ist ja nicht dämlich!«, rief ich von der Tür her.

Ich war zwar nicht im Raum gewesen, als die Herren von der SS da gewesen waren, aber es war ja laut genug gesprochen worden. Ich hatte also alles mitbekommen. Die Besucher hatte ich draußen sogar noch abgefangen und mich scheinbar begeistert mit ihnen über unseren guten Führer unterhalten. Ich musste mich sehr beherrschen, als einer der beiden Lackaffen sagte: »Na, da hat der Judenfreund wenigstens eine anständige Tochter!« Das, dachte ich, würde uns vielleicht weitere Schikanen vom Hals halten.

Davon erzählte ich jetzt. Hauptmann Brittig konnte sich trotz der ernsten Situation eines Lächelns nicht erwehren, als er bemerkte: »Auf die kannst du stolz sein, Günther, die macht schon das Richtige!«

Inzwischen hatte ich mich besorgt über meine zarte Mutter gebeugt und lächelte sie an: »Aber Mutti, wer wird denn gleich wie ein Taschenmesser zusammenklappen?«

Das weckte ihre Lebensgeister besser als jedes Riechsalzfläschchen. »Um Himmels willen«, stöhnte sie. »Warum nur drückst du dich stets so gewöhnlich aus? So habe ich dich nicht erzogen.«

»Ich wollte doch nur, dass du tief Luft holst, Mutti«, klärte ich sie belustigt auf. »Onkel Herbert sagt immer, dass das sehr wichtig ist, wenn man aus den Latschen gekippt ist!«

Ich konnte meiner Mutter ansehen, dass sie nun etwas über Onkel Herberts vulgäre Ausdrucksweise sagen wollte, die er in meiner Gegenwart bedauerlicherweise nicht immer unterließe, da griff Hauptmann Brittig in das Gespräch ein. »Haben Sie Lust, ein wenig mit mir auszureiten, Elfi? Ich würde gern etwas mit Ihnen besprechen.«

Wir ritten zu meinem Lieblingsplatz im Wald, wo wir abstiegen und die Pferde grasen ließen. Zögernd begann der Hauptmann mit der Unterhaltung.

»Comtess, mit dem, was ich Ihnen jetzt als Freund ihrer Familie sagen muss, können Sie mich vor das Kriegsgericht bringen. Aber im Interesse Ihrer Familie und als deren Freund bin ich verpflichtet, Sie zu warnen.«

Ich musste mir Mühe geben, ihn von der Gänsehaut, die mich überlief, nichts merken zu lassen. »Ich werde schweigen wie ein Grab«, versprach ich ihm feierlich.

Eine ganze Weile gingen wir nebeneinander her, ohne ein Wort zu sprechen. Endlich hörte ich ihn leise sagen: »Wir werden diesen Krieg verlieren.«

Ich blickte ihn an und erkannte, dass es ihm ernst damit war. Er hatte nicht einmal gesagt »vielleicht«, sondern schien sich ganz sicher zu sein. Mein Magen krampfte sich zusammen.

»Auch wenn uns die Propaganda immer wieder den Sieg vorgaukelt, es steht schlecht an der Front«, hörte ich den Hauptmann fortfahren. »Vor allem an der Ostfront. Die Wehrmacht wird sich früher oder später zurückziehen müssen, und der Feind wird nachrücken.«

»Was sollen wir tun?«, fragte ich.

»Sie werden gehen müssen.«

»Wohin?«, erkundigte ich mich. »Und für wie lange?«

»Nach Westen!« Die Antwort des Hauptmanns kam wie aus der Pistole geschossen. »Je weiter nach Westen, desto besser. Denn auch von Westen wird das Reich am Ende vom Feind überrollt werden. Aber der Feind, der uns im Westen besetzt, werden nicht die Russen sein, sondern die Amerikaner.« Er machte eine Pause und schien nachzudenken. »Und für wie lange?«, sagte er am Ende und sah mir direkt in die Augen. »Das weiß ich nicht, ganz ehrlich. Aber vermutlich für immer.«

Mir wurde übel. Fortgehen, die Heimat verlassen, vielleicht sogar für immer?

»Ich weiß, dass das nicht leicht für Sie sein wird«, hörte ich den Hauptmann neben mir sprechen. »Für keinen von Ihnen. Aber Sie scheinen mir belastbarer als Ihre Mutter und Ihre Schwestern, darum wollte ich lieber mit Ihnen darüber sprechen als mit Ihrer Frau Mutter. Ihr Vater muss bald fort und wird Ihnen nicht helfen können, wenn es ernst wird.«

Ein wenig Stolz mischte sich jetzt doch in meine Angst. »Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen und für die Warnung«, sagte ich mit so gut gespielter Gelassenheit, als hätte ich nie über die Zumutung des »Noblesse oblige« geschimpft. »Ich werde mich um Mutti, Annelies und Christine kümmern, wenn es so weit kommen sollte ... aber wann wird das geschehen? Schon bald? Und woran erkenne ich überhaupt, dass wir fortgehen müssen?«

Zu meiner Erleichterung glaubte der Hauptmann nicht, dass es schon so bald geschehen würde, wie ich es mir gerade ausgemalt hatte. »Ein Jahr«, schätzte er. »Vielleicht ein paar Monate länger oder kürzer. Aber länger als allerhöchstens zwei Jahre wohl kaum. Ich verspreche Ihnen aber, dass ich versuchen werde, wo immer ich auch bin, mit Ihnen Kontakt zu halten, um Sie rechtzeitig zu warnen.«

Auf dem Heimritt sprachen wir kein einziges Wort. Der Hauptmann war wohl mit seinen Gedanken ebenso beschäftigt wie ich.

Wenige Tage später nahm mein Vater Abschied von der Heimat. Ihrer Erziehung getreu ließ sich die Familie vor dem Personal nichts anmerken, und die Abschiedszeremonie wirkte kühl, obwohl wir alle aufgewühlt waren. Mich belastete nach dem, was ich von Hauptmann Brittig erfahren hatte, am meisten, dass mein Vater ausgerechnet an die Ostfront musste.

Anschließend knöpfte ich mir Erna vor, die meinen Vater verraten hatte. Dass ich das erfahren hatte, hatte ich Janek zu verdanken. Er hatte, nachdem er meinen Vater zum Bahnhof gebracht hatte, Mutter davor gewarnt, in Ernas Gegenwart unbedachte Bemerkungen zu machen: »Das war Erna, wo chat verraten sie an SS. Schmust sie mit einem cherum!«

Mein gutes, ehrliches Mütterchen wusste nun gar nicht, wie sie sich Erna gegenüber verhalten sollte. Aber ich schon.

»Weißt du, Mutti«, säuselte ich am Nachmittag, als Erna gerade den Kaffee hereinbrachte, »wenn ich vorher gewusst hätte wie schön es beim BDM ist, hätte man mich nicht holen müssen. Gerne wäre ich freiwillig hingegangen. Alle Sportarten werden da gefördert. Und was man uns über unseren geliebten Führer erzählt, ich bin total begeistert.«

Erna warf erst mir, dann meiner Mutter einen erstaunten Blick zu. Doch meine gute Mutter hatte sich ausgezeichnet in der Gewalt und lächelte sie nur an, als wäre das, was ich jetzt sagte, für sie gar keine Überraschung.

»Was glotzt du so blöd, hast du etwa irgendetwas gegen unseren guten Führer einzuwenden?«, fuhr ich die verdatterte Erna an.

»Nein, nein«, stotterte Erna und wollte den Salon verlassen. Offensichtlich war es ihr dabei sehr eilig.

»Bleib!«, schrie ich sie an. »In Zukunft wünsche ich, dass du uns mit Heil Hitler begrüßt. Und vergiss bloß nicht, deinen Arm dabei hochzureißen, wie es sich gehört!«

Erna errötete und lief geradezu fluchtartig aus dem Salon.

»Aber Elfi, findest du das nicht ein wenig grotesk?«, riss mich meine Mutter aus meiner stillen Genugtuung.

Aber das fand ich gar nicht. In Wirklichkeit fand ich die Treffen der weiblichen Hitlerjugend, dem Bund Deutscher Mädel, abscheulich. Seit uns dort die Judenpolitik Hitlers näher erläutert worden war, hatte ich aber begriffen, dass man sich gegen die Methoden dieses Regimes mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zur Wehr setzen musste, wenn man von ihnen bedroht wurde. Wenn es der Familie half, war es mir egal, ob ich für noch verrückter gehalten wurde als ohnehin schon zuvor.

4

Meine Schwester Christine hatte die Handelsschule absolviert und sogleich nach ihrem Abschluss eine Stellung in der SA-Standarte erhalten, wo man sie zur Sekretärin ausbildete. Herr Wiesner, der Standartenführer, war ein korrekter Mann, der guten Kontakt mit unserer Familie pflegte und ab und zu einen Besuch abstattete, bei dem er immer voll des Lobes für Christine war.

Eines Tages kam sie ganz aufgeregt nach Hause: »Mutti, stell dir vor, ich darf nach Erlangen zu einem Lehrgang fahren!«

»Nach Erlangen, das ist doch in Bayern. Um Himmelswillen, da sind doch Bombenangriffe an der Tagesordnung!«, rief die Mutter ängstlich aus. Sie wollte meine Schwester erst nicht gehen lassen, aber Herrn Wiesner gelang es, sie umzustimmen. Eine Woche später standen wir in Posen am Bahnsteig und winkten Christine zum Abschied nach.

Ein bisschen war ich neidisch auf meine Schwester, weil sie ganz alleine so weit wegfahren durfte. Aber dass sie aus Erlangen ihren künftigen Mann mitbringen würde, damit hatte ich dann doch nicht gerechnet. Hätte ich davon etwas geahnt, wäre ich der Heimkehrerin vielleicht nicht gerade barfuß und ohne Sattel entgegengeritten. So dachte ich mir nichts dabei, meiner Schwester einen, wie ich fand, würdigen Empfang zu bereiten.

Gut, dass ich mir wenigstens das Indianergeheul verkniffen habe, als ich sah, dass Janek mehrere Personen kutschierte. »Omi!«, jubelte ich stattdessen, denn meine Großmutter Waldek aus Posen – die Mutter meiner Mutter –, die neben Christine saß, erkannte ich natürlich gleich. Den blonden jungen Mann, der ihr gegenübersaß, hatte ich dagegen noch nie gesehen.