Lena Kornyeyeva

Nils Aschenbeck

Die sedierte Gesellschaft

Wie Ritalin, Antidepressiva und Aufputschmittel uns zu Sklaven der Leistungsgesellschaft machen

Wilhelm Heyne Verlag

München

Originalausgabe 05/2014

Copyright © 2014 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion: Andrea Kunstmann

Umschlaggestaltung und Motiv: Hauptmann & Kompanie, Zürich

Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering

ISBN: 978-3-641-13260-6

www.heyne.de

Inhalt

Die Normalen werden die Kranken sein

Einführung in eine sedierte Welt

Kapitel 1: Die sedierte Gesellschaft

Warum Psychopharmaka nur eine Scheinlösung sind

Kapitel 2: Drogen als Verkaufsschlager

Die Erfolgsgeschichte der Psychopharmaka

Kapitel 3: Risiken und Nebenwirkungen

Warum Psychopharmaka alles außer Heilung bringen

Kapitel 4: Gesteuertes Leben

Wie die Leistungsgesellschaft uns in die Arme der kleinen Helfer treibt

Kapitel 5: Keine Chance gegen die Pillen

Wie Menschen abhängig werden, ohne es zu merken

Kapitel 6: Ritalin und kein Ende

Wie die Pharmaindustrie uns zu Stammkunden macht

Kapitel 7: Volksdroge Antidepressiva

Warum Pillen sich als einfache Lösung präsentieren

Kapitel 8: Das Rundum-Sorglos-Paket

Warum alle von den Pillen zu profitieren scheinen

Kapitel 9: Verschüttete Gefühle, zerbrochene Aufmerksamkeit

Warum Konsum und Medien uns nicht glücklich machen

Kapitel 10: Die anderen und ich

Widerstehen in einer sedierten Gesellschaft

Dank

Literatur, Quellen

Anmerkungen

»Wir narkotisieren die Zivilisation, denn sonst ertrüge sie sich selbst nicht.«

Stanislaw Lem, Der futurologische Kongress, 19711

»Es ist unfassbar, dass wir das Kindern geben und sie so durch eine Pille passfähig für unsere Gesellschaft machen. Ein Drama für alle Beteiligten. Ich glaube, in 20 Jahren schämen wir uns dafür.«

Katja Saalfrank im August 20132

Die Normalen werden die Kranken sein

Einführung in eine sedierte Welt

Michael Jackson hat vor seinem Tod täglich die Psychopharmaka Demerol, Vistaril, Dilaudid, Xanax, Zoloft, Ritalin, Prozac und Prilosec bekommen. Unter ärztlicher Aufsicht (!) hat er einen atemberaubenden Arzneimittelcocktail eingenommen, an dem er schließlich gestorben ist.3 Jackson wurde durch die Psychopharmaka zu einer abhängigen, steuerbaren Person, zu einem »Label«, einer Handelsmarke. Vermutlich hat niemand erwartet, dass Jackson unter acht unterschiedlichen Psychopharmaka – entweder als Injektion verabreicht oder als Tablette genommen – noch klar denken und handeln kann. Die Tabletten wurden sicher mit guten Begründungen verschrieben, aber vermutlich war die völlige Ruhigstellung der beabsichtigte Kollateralschaden. Unter Einwirkung eines derartigen Medikamentenmixes muss jeder Verstand aussetzen – längst bevor der Körper versagt.

Michael Jacksons Aufgabe war es vermutlich auch nicht, klar zu denken. Er musste für alle Beteiligten – Familie, Produzenten, Konzertveranstalter, Angestellte – nach Plan funktionieren und als »Label« Geld verdienen. Wenn er womöglich mit eigenem Verstand sein Leben gelebt hätte, dann wären Einnahmen in Millionenhöhe gefährdet gewesen, dann hätte ein Imperium mit Dutzenden Beteiligten zu kollabieren gedroht. Michael Jackson wurde ausgenutzt. Auch wenn er selbst an den Sinn und die Notwendigkeit der Medikamente glaubte – sie waren ein Instrument, um seine Persönlichkeit zu unterdrücken, um ihn zu steuern. Kurz vor seinem Tod wurde er von einem Arzt für die bevorstehende Tournee medikamentös »eingestellt«; er sollte trotz offenkundiger psychischer Probleme, allgemeiner Erschöpfung und Medikamentenabhängigkeit auf der ganzen Welt vor Zehntausenden Menschen auf die Bühne treten, dort womöglich den legendären »Moonwalk« tanzen. Das konnte er, wenn überhaupt, nur noch unter Drogen leisten. Der »King of Pop« sollte wie ein Aufziehspielzeug funktionieren.

Leider ist Michael Jackson kein Einzelfall, vielleicht nicht einmal eine Ausnahme im System. Auch die Sängerin Britney Spears, wie Jackson ein Superstar, nahm offenbar bewusstseinsverändernde Medikamente, als sie 2008 mit psychischen Problemen in eine Klinik eingeliefert wurde.4

Anschließend verlor Spears das Sorgerecht für ihre Kinder und wurde unter Vormundschaft gestellt. Seitdem muss sie funktionieren. Das Unternehmen Spears macht einen Jahresumsatz von 58 Millionen Dollar (2012). Die Option, ihr eigenes Leben zu leben, in aller Ruhe und Zufriedenheit, womöglich abseits der Öffentlichkeit – diese Chance wird ihr nicht gegönnt. Wie Michael Jackson ist sie ein Roboter geworden, ein Mechanismus mit Sex-Appeal, der singt und tanzt.

Michael Jackson und Britney Spears – nur zwei Beispiele von unzähligen. Zwei berühmte Namen, die zeigen, dass die Entmachtung des Ichs kein Thema nur der Armen und der Dummen ist. Sie ist längst bei den Leistungsträgern der Gesellschaft angekommen und wird von der Öffentlichkeit, selbst von den Fans, kritiklos akzeptiert.

In der neuen Welt werden die Normalen die Kranken sein; die unter Psychopharmaka Stehenden werden als Gesunde gelten. In der neuen Welt wird man die mündigen Bürger marginalisieren und die kritischen Menschen entmachten.

Haben wir diese »schöne neue Welt«, die Aldous Huxley erst für die Mitte des dritten Jahrtausends prophezeite, bereits jetzt? Ich fürchte, ja. Mein Buch liefert die Beschreibung einer sedierten, stimulierten und bewusstseinsveränderten Gesellschaft, die sich im Zweiten Weltkrieg zu entwickeln begann, die sich in Europa gerade herausbildet und in den USA bereits verwirklicht scheint.

Erfahrungen in einer Rehaklinik

Ich bin Diplom-Psychologin. Nach Abschluss der Forschungsarbeit für meine Promotion habe ich die Universität verlassen und bin in die Praxis zurückgekehrt. Ich arbeite in einer Klinik, die auf kardiologische, orthopädische, diabetische und internistische Erkrankungen spezialisiert ist. Viele meiner Patienten nehmen Psychopharmaka – Stimulanzien, Tranquilizer, Schlafmittel, Neuroleptika und Antidepressiva. Würde man allein von den Medikamenten und ihren Kombinationen schlussfolgern, müsste man davon ausgehen, dass ich es mit psychisch Schwerkranken in einer psychiatrischen Klinik zu tun habe, die wegen Manien und Schizophrenien behandelt werden. Schwere Fälle, die nur noch mit sedierenden Mitteln zu beherrschen sind, tickende Zeitbomben … Aber nein: Meine Patienten sind Leute wie du und ich, Arbeiter und Angestellte, Geschäftsführer und Selbstständige, die über Jahre, manchmal Jahrzehnte funktionieren mussten und funktioniert haben – oft unter der Einnahme der besagten Psychopharmaka –, bis sie eine körperliche Krankheit aus der Bahn geworfen hat und sie schließlich auf eigenen Wunsch in meinem Büro sitzen.

Meine Patienten haben in der Regel keine psychischen Krankheiten, die beispielsweise einen Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik erforderlich machen würden. Es sind »normale« Patienten, die aber dennoch am Körper und an ihrer Seele leiden. Um diese Menschen, das Gros der Bevölkerung, geht es mir in diesem Buch. Ich will an Beispielen zeigen, wie heute Millionen Menschen unter einem krankmachenden künstlich erzeugten Druck leiden. Ich will zeigen, dass einst normale Menschen aus dem heute vorgegebenen Rahmen der Normalität fallen – und krank werden oder zu Kranken erklärt werden. Meine Patienten erzählen von unklaren Symptomen, von Ängsten und Trauer … von der ganzen Palette der Gewalttaten, die das Leben für den einzelnen Menschen bereithält.

Ich musste in meinem Arbeitsalltag feststellen, wie präsent eine Sedierung und Bewusstseinsveränderung durch Medikamente in unserer Gesellschaft bereits heute ist. Vor zehn Jahren, als ich in der Ukraine auffällige Jugendliche betreut habe, war von Psychopharmaka noch keine Rede, heute gehören die Pillen gerade bei Jugendlichen zur Standardmedikation. Die Menschen, die jeden Tag vor mir sitzen, sind keine Einzelfälle, keine Ausnahmen, sondern typische Beispiele unserer Gesellschaft. Psychopharmaka sind eine Regelmedikation – verordnet schon bei Symptomen wie Schlafproblemen, »innerer Unruhe« oder dem »Fahren im Gedankenkarussell«.

Seitdem ich in besagter Klinik arbeite, wird mir das eigentliche Paradoxon unserer Zeit deutlich, und ich bin verwundert, dass kaum jemand darüber spricht: Auf der einen Seite werden in unserer Gesellschaft Drogen bekämpft – als illegale Substanzen, die die Sinne trüben, die die Menschen nach und nach ruinieren. Auf der anderen Seite werden manchmal dieselben Substanzen von gut ausgebildeten und mit den Wirkungen und Nebenwirkungen vertrauten Ärzten verschrieben – und von den Konsumenten, die am Mittagstisch oder am Kneipenstammtisch womöglich energisch gegen Drogen und gegen Junkies wettern, kritiklos eingenommen. Millionen Schüler schlucken jeden Morgen ihr »Kinder-Kokain«.

Die schöne neue Welt ist schon Wirklichkeit

Als ich meiner Münchner Literaturagentin das Buchprojekt vorstellte, stockte unerwartet unsere Kommunikation. Hatte sie kein Interesse mehr? Oder keine Zeit zu antworten? Erst nach Tagen bemerkte ich: Ihre E-Mails waren in meinem Spam-Ordner gelandet. Bis zu diesem Vorfall hatte ich keinen Ärger mit der Spam-Erkennung gehabt und keine Notwendigkeit gesehen, den Spam-Ordner regelmäßig zu prüfen. Der Grund für die Verschiebung der Mails in den Ordner für unverlangte Werbung war schnell gefunden: In der Betreffzeile stand das verdächtige Wort Ritalin. Bei Ritalin sieht mein Mailanbieter offenbar genau wie bei Viagra oder Cialis rot. Ritalin gehört offensichtlich zu den Medikamenten, die millionenfach per unverlangter E-Mails beworben werden. Ein Milliardenmarkt.

Auch ein Hinweis darauf, dass die von mir skizzierte »sedierte Gesellschaft« keine Zukunftsvision ist. Die »Generation Ritalin« existiert bereits und wird aggressiv umworben – nicht nur mit Spam-Mails, sondern – wir werden es sehen – mit ausgeklügelten und hochwirksamen Strategien.

Über den Wirkstoff Methylphenidat, bekannt unter Ritalin oder anderen Handelsnamen, kann man Wundergeschichten lesen. Es erstaunt deshalb nicht, dass so viele es schlucken wollen, dass so viele es bei grauen Händlern im Ausland bestellen.

So soll Ritalin, das in der Drogenszene »Speed« oder auch »Kinder-Kokain« genannt wird, nicht nur Schüler aufmerksamer und konzentrierter machen, es wird sogar behauptet, dass es die Gefahr von Drogensucht und Kriminalität reduziert, indem es Menschen »herunterfährt«, die zu Aufsässigkeit und zum Experimentieren neigen. Es klingt schon toll, dass eine Substanz, die mit dem Kokain vergleichbar ist, ja, die die Struktur des natürlich gewonnenen Kokains synthetisch nachbildet, gegen Drogensucht abhärten soll. Aber ist diese Annahme auch richtig? Tatsache ist, dass viele Ritalin-Konsumenten lethargischer werden und dann weniger geneigt sind, unbekannte Dinge, so auch illegale Drogen, zu probieren. Aber sind uns lethargische Schüler lieber als experimentierfreudige? Außerdem könnte umgekehrt die Ritalin-Einnahme womöglich die Hemmschwelle bei Schülern senken, auch andere Drogen zu probieren. Wenn ein Stimulans gut funktioniert, dann werden auch andere nicht verkehrt sein …5 Nein, die Annahme, dass ausgerechnet ein Medikament, das eigentlich eine Droge ist, Drogenabhängigkeit vorbeugen soll, scheint nicht stichhaltig.

Die angeblich kriminalitätssenkende Wirkung kann damit begründet werden, dass Ritalin zweifellos die Neugier dämpft. Wären da nicht die Nebenwirkungen. Aggressives Verhalten wird bei einem bestimmten Prozentsatz der Ritalin-Konsumten als Nebenwirkung ausgelöst – es steht so im Beipackzettel. Darüber hinaus wird vermutet und berichtet, dass sogenannte »Killer Kids« – um sich schießende Jugendliche, die vor allem in den USA eine verstörende Erscheinung geworden sind – ihre Taten unter Ritalin, Prozac & Co. begehen. Sind die Medikamente vielleicht sogar die Ursache? Machen sie die meisten Schüler weniger kriminell, aber einige zu Monstern? Schöne neue Welt.

Die Kritik, die an der Standarddroge für Schüler vorgebracht wird, bleibt eher leise; es überwiegt in der Öffentlichkeit eine schweigende Zustimmung. Ritalin und die anderen Stimulanzien seien eben notwendig … Ärzte erklären den Eltern betroffener Kinder, dass bei einer Aufmerksamkeitsstörung (ADHS, Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätssyndrom) nur die Pillen helfen – eine Ernährungsumstellung, wie von manchen propagiert, oder eine Psychotherapie sei verschwendete Mühe. Wenn bei ADHS die Pillen nicht wirken, so zitiert der Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie Götz-Erik Trott den amerikanischen Yale-Professor Thomas Brown, dann helfe nur noch »Fasten und Beten«.6 Ritalin sei eben der »›Goldstandard‹ der Behandlung«.7 Das ist, mit Verlaub, Unsinn – gerade die Psychotherapie der Kinder, die auch die Eltern mit einbezieht, hat große Erfolge – vor allem ohne Mittel wie Ritalin & Co.

Aber, wie Gerald Hüther und Helmut Bonney in Neues vom Zappelphilipp schreiben, beschäftigt sich die ADHS-Wissenschaft fast ausschließlich mit der Wirksamkeit von Medikamenten und ignoriert die Ursachen der Zappeligkeit und damit auch weitgehend psychotherapeutische und erst recht familientherapeutische Ansätze.8 Forschungsgelder werden ganz einseitig verteilt – kein Wunder, dass die Erfolge der Psychotherapie nicht wahrgenommen werden.

Dabei ist die Krankheit selbst ein großes Fragezeichen. ADHS scheint mehr eine Symptomsammlung zu sein denn eine wirkliche Krankheit. ADHS ist so unscharf eingegrenzt, dass viele Schüler Gefahr laufen, zu Unrecht für krank erklärt zu werden. Inzwischen bekommt fast jedes hippelige und zappelnde Kind den ADHS-Stempel. Nach den Gründen für das Verhalten – dem sozialen Umfeld oder einem ungünstigen emotionalen Klima in der Familie – wird meist nicht gefragt. ADHS ist eine populäre (und für viele gewinnbringende) Diagnose, die gerne gestellt wird, da die »Therapie« mit Ritalin vermeintlich so einfach ist. In den USA sollen inzwischen schon Zwei- und Dreijährige bewusstseinsverändernde Medikamente bekommen – damit sie im Kindergarten konzentriert über ihren Aufgaben sitzen und nicht so wild spielen …9

»Wenn der bisherige Trend anhält, müssten in der westlichen Welt nicht nur zehn, sondern zwanzig, auf der übrigen Welt gar einige 100 Millionen Kinder täglich mit Psychostimulanzien behandelt werden«, schrieben Hüther und Bonney bereits vor über zehn Jahren.10 Man kann heute feststellen: Der Trend hält unvermindert an, ein Gewinn für die Pharmaindustrie und – ein Verlust für die Kinder.

Die Zahlen: In Großbritannien sind die Ritalin-Verschreibungen seit 2007 um etwa 50 Prozent gestiegen,11 in Deutschland von 1995 bis 1999 um das 40-fache12 und steigen bis heute kontinuierlich weiter. »Kein anderes Medikament, das unter das Betäubungsmittelgesetzt fällt, verzeichnet derartige Zuwachsraten.«13 Auch die absoluten Zahlen sind erschreckend: 55 Millionen Tagesdosen Methylphenidat werden allein in Deutschland jedes Jahr geschluckt (Stand 2012) – und das ist nur die offizielle Statistik (nicht eingerechnet die Kunden, die auf Spam-Mails reagieren und Ritalin auf dem grauen Markt kaufen).

Ritalin ist ein Modemedikament, eine legale Modedroge. Inzwischen gibt es mehrere Regalmeter Ratgeberbücher über den »richtigen« Umgang mit ADHS – die Mehrzahl dieser Bücher empfiehlt Ritalin oder seine Generika als die Lösung bei einem Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom.

In einem Blog der amerikanischen Zeitschrift Nature wurde ein neidvolles Statement zitiert, dem zufolge die Ärmeren eifersüchtig beobachten, wie die Wohlhabenden sich weiterentwickeln, weil sie sich Ritalin leisten können und so die Möglichkeit bekommen, eine neue »smarte« Rasse in der neuen schönen Welt zu werden …14 Die Einnahme von Psychopharmaka wird zum angestrebten und begehrten Normalfall, das ungetrübte Bewusstsein ein Anachronismus, der nur noch wenig attraktiv ist, ein Zustand, den niemand anstrebt. Da bedarf es dann nur noch eines kleinen gedanklichen Schrittes – und man wird Ritalin oder eine andere psychostimulierende und bewusstseinsverändernde Substanz mit dem Trinkwasser abgeben: als ein Elixier, das uns zu smarten Menschen macht. Der polnische Schriftsteller Stanislaw Lem hat es übrigens bereits 1971 im Futurologischen Kongress vorhergesagt. Dort besucht seine Hauptfigur ein Hotelhochhaus und trinkt Wasser aus der Leitung. »Das Denken ging mir durchaus nicht so glatt und eindeutig vonstatten, wie ich es hier wiedergebe. Jede kritische Reflexion war gleichsam in Honig eingetaucht, von einem Kinderschleck aus dümmlichem Selbstbejahen umsponnen und gelähmt; jede einzelne troff vom Sirup positiver Gefühle; mein Geist schien im süßesten aller erdenklichen Bruchmoore zu versinken, so, als ersöffe ich in Rosenöl und Zuckerguß.«15 Lem schrieb 1971 visionär über das in weiter Ferne liegende Jahr 2039 – wir erkennen in seinem Buch heute aber schon große Teile der Jetztzeit. Seit 1971 hat es eine dramatische gesellschaftliche Entwicklung, einen massiven Wandel gegeben – hin zu den Szenarien der Science-Fiction-Autoren. In Der Futurologische Kongreß schafft es die Hauptfigur schließlich, trotz psychowirksamen Leitungswassers nüchtern zu werden. Aber das war nur ein kurzzeitiger Erfolg; tatsächlich ist in diesem Roman die Durchdringung der Gesellschaft mit Drogen weit vorangeschritten, man konnte den Stimulanzien und Halluzinogenen kaum noch ausweichen. »So ist die Welt, so sind die Zeiten, Tichy! Omnis est pilula! Das Verzeichnis der offiziellen Mittel ist jetzt das Buch des Lebens, die Enzyklopädie allen Daseins, Alpha und Omega. Kein Umsturz ist in Sicht, denn wir haben ja schon Putschin, Oppositional in Glyzerinzäpfchen sowie Estremister, und Ihr lieber Doktor Hopkins wirbt für Sodomastol und Gomorral, womit man eigenhändig mittels himmlischen Feuers jede ersehnte Menge von Städten verbrennen kann. Auch zum Herrgott kann man sich ernennen lassen. Das kostet 75 Cents.«16

Ritalin und Prozac sind dagegen harmlos, mag man einwenden. Es sind keine »Sodomastrol« und »Gomorral«. Oder vielleicht doch? Es gibt immerhin Wirkungen, über die von der Industrie, aber auch von verschreibenden Ärzten nicht so sehr und nicht so gerne gesprochen wird – bis hin zum Suizid.17 Natürlich bleiben Selbstmorde nach kontrollierter Psychopharmaka-Einnahme (oder nach einem plötzlichen Entzug) eine Ausnahme. Nur können bei der massenhaften Verschreibung von Medikamenten wie Ritalin auch die Ausnahmen im Dutzend auftreten.

Aber bleiben wir vorerst bei den häufigeren Nebenwirkungen, die uns noch nicht an Sodom und Gomorrha erinnern: Eine typische Wirkung von Ritalin, die sich bei Schülern einstellt, ist eine allgemeine Gereiztheit, ein Abnehmen von Ausgeglichenheit und Toleranz. Ritalin nehmende Schüler sind meist nicht die beliebtesten Klassenkameraden. Das Medikament bündelt ihre Aufmerksamkeit, hält sie wie unter einer Schutzglocke. Dieser Effekt macht das Aufnehmen des Wissens leicht. Aber gleichzeitig registrieren die Schüler unter der Glocke die Einflüsse von außen kaum – Multitasking und alle kreativen Aufgaben werden erschwert.

Eine angeregte Kommunikation, kritisches Denken, freies künstlerisches Arbeiten, das Entdecken neuer Zusammenhänge – unter dem Einfluss von Ritalin ist das kaum möglich. Ritalin und ähnliche Medikamente fördern das Lernen nach vorgegebenen Mustern, fördern das zielgerichtete, besinnungslose Pauken. Das Medikament unterstützt eine Form der Gesellschaft, in der die Menschen ohne Kritik und Zweifel arbeiten – wie Arbeitsbienen, wie menschliche Maschinen. Diese Wirkung scheint heute in unserer westlichen Welt – zumindest von vielen Arbeitgebern – gewünscht. Ebenso hört man Berichte, nach denen Elternteilen, die ihren auffälligen und im Unterricht störenden Kindern kein Ritalin verabreichen wollten, das Sorgerecht entzogen wurde.18

Ein bis zu zweistelliger Prozentsatz der deutschen Studenten nimmt inzwischen vermeintlich leistungssteigernde Mittel, man spricht von Hirndoping.19 Besonders beliebt ist auch unter den Studenten Ritalin. Erfahrungen der Kindheit setzen sich in der Uni und dann womöglich auch im Erwachsenenleben fort. So entstehen lebenslange Konsumentenkarrieren– auch wenn ein Abhängigkeitsrisiko vehement bestritten wird.

Grotesk wird die Lage, wenn man sich vor Augen hält, dass die Wirksamkeit beispielsweise von Ritalin bis heute nicht im Detail erforscht ist. Der Stoff wird millionenfach genommen, aber was er im Kopf anrichtet, wissen die Wissenschaftler bis jetzt nicht so genau. Gleicht er einen Dopaminmangel aus, oder bremst er die Dopaminausschüttung, wie früher vermutet wurde? Abenteuerliche, oftmals gegensätzliche Theorien kursieren, die nur eines gemeinsam haben: Sie sind nicht ausreichend belegt. Wissenschaftler geben sich mit der Tatsache zufrieden, dass Ritalin Wirkungen erzielt – so wie jede Droge. Wenn der Schüler mit Ritalin ruhiger, der Student konzentrierter und der Erwachsene arbeitsamer wird, dann kann das Mittel so schlecht nicht sein … Über die Spätfolgen, die die regelmäßige Einnahme von Psychopharmaka nach sich ziehen, herrscht Unklarheit – zu jung ist noch die »Generation Psychopharmaka«. Aber vielleicht gehört die Ahnungslosigkeit auch zum System. Vielleicht wären wir alle zu erschrocken, würden wir wissen, was noch kommt.

Tägliches Doping

Als ich von 2006 bis 2009 in Bremen an der Universität meine Forschung fortsetzte, fielen mir die vermeintlichen Sportler auf, die mit Energydrinks über den Campus liefen. Bis ich begriff, dass es keine Sportler waren. Im Gegenteil: Es handelte sich um Naturwissenschaftlicher und Geisteswissenschaftler wie ich, um junge, gesunde Leute, die vor Prüfungen oder vor anstrengenden Seminaren eine Dosis Red Bull benötigten.

Ich dachte, dass es sich wohl um eine kurzlebige Mode handeln müsse, über irgendwelche Internetseiten oder mit geschickten TV-Spots propagiert. Aber da hatte ich mich getäuscht. Im darauf folgenden Jahr gab es noch mehr Red-Bull-Trinker. Als ich nachzufragen begann, erfuhr ich, dass nicht nur das harmlose Koffeingetränk getrunken, sondern längst eine breite Palette von Aufputschmitteln eingeworfen wurde. Modafinil und Methylphenidat waren die gängigsten Stoffe, daneben wurden aber auch Betablocker genommen. Ohne Hirndoping, erzählte mir ein Student, würde er an der Uni nicht bestehen.

Dabei gehört die Universität, an der ich tätig war, zu den ruhigsten Orten in der Stadt Bremen. Hohe Mauern noch aus den Tagen der einstigen Luftwaffenkaserne umgeben den Campus. Die Außenwelt dringt hier nicht ungefragt ein. Studenten können ohne jede Ablenkung in einer wunderbaren, modernen Bibliothek studieren, so scheint es zumindest. In der Regel wohnen sie auf dem Gelände, müssen nicht jeden Morgen erst durch den lauten, hektischen Verkehr der Stadt tauchen, um endlich in der Ruhe der Seminargebäude herunterzukommen. Nein, man kann sich keinen besseren Ort für Konzentration und für Geistesarbeit vorstellen als meinen damaligen Campus. Weshalb also die leistungssteigernden Mittel? Vertrauen Studenten nicht mehr auf die Fähigkeiten, die ihnen die Natur gegeben hat?

Kaum anders die Situation bei den Lehrenden. Sie schlucken Aufputschmittel, um im wissenschaftlichen Räderwerk bestehen zu können, um jedes Jahr mehr Aufsätze zu veröffentlichen als der konkurrierende Kollege. Es gilt, die knappen befristeten Stellen zu erobern oder zu verteidigen. Wer nur mit seinen naturgegebenen Mitteln kämpft, der kann, so scheint es heute, gleich einpacken, der hat keine Chance, zumindest keine gegen die unter Drogen stehenden Wissenschaftler-Maschinen, die bis Mitternacht in den Laboren oder über ihren Büchern sitzen.

Natürlich will kaum jemand die vielen so entstandenen Arbeiten lesen, natürlich ist das ein Arbeiten im sinnlosen Hamsterrad – aber es dient doch der Karriere, ist eine Voraussetzung dafür.

Der Siegeszug des aufputschenden und womöglich leistungssteigernden Getränks Red Bull, diese harmlose Dopingvariante, die ein Symptom gesellschaftlicher Entwicklung ist, begann im Jahre 1984. Vielleicht entdecken wir hier einen Wendepunkt der Entwicklung. War es in den späten 1960er- und den 1970er-Jahren ein Ideal, sich zu entspannen, zur Ruhe und zum Ausgleich zu finden (Flower-Power, Kiffen oder John Lennons und Yoko Onos Amsterdamer »Bed-In« für den Weltfrieden), bildete sich seit den 1980er-Jahren ein gegensätzliches Ziel aus: Jeder Einzelne soll mehr leisten. Je anstrengender und je angestrengter seine Lebensführung, desto besser kommt es an. Red Bull ist nicht nur ein beliebtes Getränk, es ist ein deutliches Zeichen für die Ausrichtung unserer Gesellschaft. 5,2 Milliarden Dosen werden weltweit jedes Jahr getrunken – bei kontinuierlich steigender Tendenz.20 Dabei sind die Nachahmerprodukte von Red Bull, die mehr als drei Viertel des Marktes erobert haben, nicht berücksichtigt. Insgesamt etwa 20 Milliarden Mal greifen Menschen zu »Energie-Drinks«, um sich wacher zu fühlen, um leistungsfähiger zu sein – um in unserer Gesellschaft zu bestehen. Und doch sind die geschätzten 20 Milliarden Dosen – jeder Mensch der Welt hat nach dieser Rechnung im vergangenen Jahr drei Energydrinks getrunken – nur die sichtbare Spitze eines Eisberges von leistungssteigernden und wach machenden Mitteln aller Art, die jeden Tag, jede Stunde, jede Sekunde in den Universitäten, Betrieben und privaten Wohnungen eingenommen werden.

Wir haben den Wandel in den vergangenen drei, vier Jahrzehnten kaum bemerkt, er vollzog sich schleichend, von Wirtschaftskrisen wie der Ölkrise 1973 und allen nachfolgenden Beängstigungen der Menschen angeheizt: In unserer Gesellschaft wird der Wert eines Menschen inzwischen nur noch nach seiner Leistungsfähigkeit bemessen. Wer nicht »schafft«, der wird sofort als Verweigerer oder gar als Schmarotzer verurteilt. Alte Menschen, die in Rente gehen, bekommen ob ihrer plötzlichen Untätigkeit ein schlechtes Gewissen. Junge Menschen erlauben sich keine Auszeiten mehr, keine Orientierung über ihre Zukunft, keine Weltreisen nach dem Abitur – sie beginnen nach einer durchgeplanten Kindheit und durchgeplanten Jugend sofort mit dem verschulten Bachelor-Studium oder einer Ausbildung.

Die meisten Menschen bemerken anfänglich nicht, dass ihnen in dieser Gesellschaft etwas fehlt, dass Arbeit nicht der einzige Inhalt des Lebens ist. Irgendwann kommen die Fragen nach dem Sinn – oftmals begleitet von körperlichen oder psychischen Erkrankungen.

Weshalb muss ich immer mehr leisten? Weshalb kann ich mich nicht ohne schlechtes Gewissen den schönen Dingen hingeben? Weshalb kann ich nachts nicht mehr schlafen? Weshalb habe ich Angst vor meiner Arbeit? In meiner Praxis habe ich schon 25-jährige Patienten erlebt, die diese Fragen nicht mehr beantworten konnten, die unter dem Druck der Leistungsgesellschaft zusammengebrochen sind. 25-jährige, die Antidepressiva nehmen, denen es aber trotzdem dreckig geht.

Mir geht es in diesem Buch nicht allein um die Medikamentenvergabe an Kinder, nicht nur um das Phänomen des Medikaments Ritalin. Ich betrachte genauso die Verschreibungen von Antidepressiva und anderen bewusstseinsverändernden Medikamenten, die unseren Geist und unser Handeln beeinflussen. In meinem Buch geht es um das Wegdriften der Gesellschaft in eine unheilvolle Richtung – hin zur »Optimierung« der Arbeitswelt mithilfe von Drogen, hin zu einer schleichenden, aber längst grassierenden Entmündigung der Bürger. Einer Entmündigung mit Einverständnis. Hin zu einer freiwilligen Selbstaufgabe, deren Konsequenzen dramatisch sein können. Bürger, die nicht mehr Herr ihrer selbst sind, können nach Belieben manipuliert werden. Wir sind auf dem Weg in diese Richtung, vielleicht stecken wir schon tief im Schlamm. Die sedierte Gesellschaft ist auch eine gesteuerte, eine abhängige und eine unfreie Gesellschaft.

Dennoch will ich auch Hoffnung verbreiten: Solange Psychopharmaka nicht über das Trinkwasser abgegeben werden, solange die Menschen nicht mit »Glückspillen« zwangsbehandelt werden, kann sich jeder der Beeinflussung des Verstandes und der Gefühlswelt widersetzen. Noch kann jeder, der nicht komplett sediert ist, seinen Verstand benutzen.