Michael Moritz, 1968 in Freiburg geboren und am Kaiserstuhl aufgewachsen, schreibt und produziert seit fünfundzwanzig Jahren Theaterstücke, Kurzfilme und Erzählungen. Im Emons Verlag erschienen «Tod in der Rheinaue», «Roter Regen», «Weinselig», «Lost Place Vienna», «Zürcher Verschwörung», «Tod im Theaterhaus», «Um die Wurst», «Die Tote im Dolder» und «Badisch Blues».
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.
© 2015 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: photocase.com/mathias the dread
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne (CH)
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-86358-806-9
Originalausgabe
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Die Maske ist das einzig richtige Mittel,
den seelischen Ausdruck im Gesicht
Gestalt werden zu lassen.
Edward Gordon Craig
EINS
Das Taxi holperte über den gerissenen Asphalt. Der Sturzregen hatte Erde und Geröll aus dem Berg gelöst. So sonnig der April gewesen war, so verregnet kam der Mai daher.
«Vorsicht!», rief Franca und zeigte auf einen eimergrossen Stein, der dem Taxi entgegenrollte. Der Fahrer riss das Steuer nach links und wich dem Brocken aus. Der Wagen rutschte von der Strasse. Die Hinterreifen verfingen sich im Schlamm und drehten durch.
«Cazzo!» Der Fahrer hämmerte mit den Handballen aufs Lenkrad. «Ich wusste, dass es Blödsinn ist, hier hinaufzufahren.»
«Ich habe Sie nicht dazu gezwungen», sagte Franca. Ihr Ton verrutschte. Der plötzliche Anruf ihres Vaters stresste sie schon genug. Da konnte sie einen meckernden Taxifahrer gar nicht gebrauchen.
«Ach, lassen Sie mich in Ruhe. Was bleibt mir denn übrig? Ich kann es mir nicht leisten, Kunden abzulehnen.» Er stellte den Motor ab, stieg aus dem Wagen und schlug die Tür zu.
Franca beobachtete ihn durch die Scheibe. Er war kaum zu sehen, so sehr schüttete es. Keine fünf Sekunden später sass er wieder im Wagen. «So eine verfluchte Scheisse. Ich muss mich abschleppen lassen.»
«Wollen Sie es nicht noch einmal versuchen? Vielleicht erst rückwärts? Oder Sie legen eine Fussmatte unter die Räder? Oder ein Brett?»
Der Taxifahrer drehte sich zu Franca um. «Wir haben etwa einen halben Meter bis zum Abgrund. Und es geht dort gute zwanzig Meter in die Tiefe. Ich bin aus dem Alter raus, dass ich mein Leben dafür riskiere, eine hübsche junge Frau rechtzeitig nach Hause zu bringen.» Er hatte es leise gesagt, dafür sehr deutlich.
«Ich bin dort nicht zu Hause.»
«Das ist mir egal.»
«Aber es ist mir wichtig, dass ich dort schnell ankomme.»
«Vergessen Sie’s. Oder laufen Sie.»
Franca sah auf ihr Handy. Siebzehn Uhr dreizehn. Um halb sechs hatte sie sich mit ihrem Vater im Rustico verabredet. Und Giorgio war Pünktlichkeit gewohnt. Schweizergardist. Alte Schule. Da konnten fünf Sekunden Verzug einen ganzen Abend verderben. Warum wollte er sie dort oben treffen? Unten in Locarno wäre es doch viel gemütlicher gewesen, zumal er wusste, dass sie für ihn einen Umweg machte. Er hatte sich bedeckt gehalten. Wichtig. Wie immer. Nur noch schlimmer. Kein Wort am Telefon. Und niemand durfte ihr folgen. Wie sie es hasste. Seit dem frühen Tod ihrer Mutter war Franca zur Vertrauten ihres Vaters geworden. Alle Geheimnisse, die ihm zu schwer auf dem Herzen lagen, teilte er Franca mit. Und im Vatikan braute man Geheimnisse wie Bier in München.
«Haben Sie einen Regenschirm?», fragte sie.
«Nein.» Er wählte eine Nummer auf seinem Handy und bestellte einen Abschleppwagen.
«Holen Sie mir wenigstens mein Gepäck aus dem Kofferraum?» Franca lächelte ihn gekünstelt an.
«Er ist offen. Schauen Sie mich nicht so an. Ich habe keine Lust, mir ein nasses Fell zu holen. Ich war gerade draussen. Das Hemd kann ich auswringen. Ich habe den Winter über einen Husten mit mir rumgeschleppt, dass ich dachte, ich hätte Tuberkulose. Wenn ich da noch einmal rausgehe, bin ich tot.»
«Gut zu wissen.» Sie stieg aus dem Wagen und knallte die Tür zu.
«He. Ich krieg noch vierzig Franken von Ihnen.»
Franca dachte nicht daran, ihn zu bezahlen. Sie öffnete den Kofferraum, holte ihren Rollkoffer heraus, schlug den Deckel zu und stapfte durch den Regen davon. Sie wollte wissen, ob dem Idioten sein Leben vierzig Franken wert war. Nein. Zwar hupte er wild, blieb aber im Wagen sitzen. Das hätte sie besser auch getan. Kaum zwanzig Meter zu Fuss, war sie nass bis auf die Knochen. Die Räder des Rollkoffers knarzten auf dem Schotter und blockierten. Franca trug den Koffer und schwor sich, bei der nächsten Reise weniger Bücher mitzunehmen.
***
«Deckung hoch! Verdammt, Lilly. So kriegst du nur auf die Fresse.»
Lilly hörte nicht. Sie boxte ohne Deckung. Dafür wild und fest entschlossen, ihren Trainer zu verdreschen. Stahl gab ihr zwei leichte Nasenstüber und einen Haken in den Bauch. Lilly stolperte nach hinten und fiel zu Boden.
«Das reicht. Wer ist der nächste. Hakan?» Stahl drehte sich zu Hakan um, der in den Ring gestiegen kam, leichtfüssig tänzelte und mit einigen Luftschlägen prahlte.
«Weniger Show, Hakan. Denk ans Ziel, nicht ans Publikum.»
Stahl sah mit einem Auge noch auf Lilly. Er ging davon aus, dass sie den Ring verliess, stattdessen stürmte sie auf ihn los und prügelte auf ihn ein. Sie hämmerte ihm die Faust direkt unters Auge. Kraft hatte sie. Aber ungebündelt. Sie verschoss ihr gesamtes Pulver ins Nirgendwo. Stahl hielt sie auf Distanz, bis sie endgültig erschöpft war und zu Boden sank.
«Geh duschen. Und nachher kommst du zu mir ins Büro. Wir müssen reden.»
Lilly kroch unter den Seilen hindurch und verschwand zwischen den Boxsäcken, an denen andere Jugendliche sich abkämpften.
Stahl drehte sich zu Hakan. «Bereit?»
Hakan nickte, rückte sich den Kopfschutz zurecht und tänzelte auf Stahl zu. Verdammt schnell auf den Beinen. Erst sechzehn. Ein Riesentalent. Aber unglaublich eitel. Stahl war genauso gewesen. Nur dass er mit sechzehn schon fast eins neunzig gemessen und breitere Schultern gehabt hatte. Die Eitelkeit hatten sie ihm erst bei der Garde ausgetrieben. Wenigstens den grössten Teil.
Hakan versuchte eine schnelle Serie an Jabs, an die er zwei harte Gerade anschloss. Stahl verteidigte gut und konterte mit leichten Gegenschlägen. Hakan tänzelte weiter, mied die Konter geschickt und duckte sich, um dann von unten diagonal Stahls Reichweite zu unterlaufen. Clever. Und trotzdem leicht auszurechnen. Wenigstens für einen alten Hasen wie Stahl. Hakan boxte schön. Und wer schön boxte, zeichnete gerne dieselben Linien. Da brauchte man nur abzuwarten, bis er wieder seine Schlaufe nahm, und dann entgegentreten. Stahl tat es. Hakan lief ihm satt in eine Gerade. Das tat weh. Hakan schüttelte sich. Jetzt kam es darauf an. Wie würde er reagieren? Hakan reagierte mit Bravour. Keine Wut. Kühler Kopf. Kalkuliert griff er an, viel wachsamer als zuvor und weniger eitel.
«Sehr gut, Hakan. Jetzt zieh das Tempo an.»
Hakan gehorchte und schoss eine Serie. Stahl parierte und kam ins Schwitzen.
«Weiter. Noch schneller!»
Hakan gab, was er konnte.
Plötzlicher Lärm aus der Halle raubte Stahl die Aufmerksamkeit. Er sah zu den Boxsäcken. Lilly prügelte sich mit einem Jungen und schrie dabei. Stahl kassierte zwei Gerade von Hakan. Im Reflex schlug er einen Leberhaken, der Hakan aus den Schuhen haute. Er sackte keuchend zu Boden.
«Entschuldige. War keine Absicht.»
Stahl kletterte aus dem Ring und rannte zu den Boxsäcken. Lilly drosch auf Patty ein, einen Siebzehnjährigen, der zwei Köpfe grösser war als sie, aber nicht ein Zehntel ihrer Courage besass. Die anderen Jugendlichen hatten mit dem Training aufgehört und feuerten Patty an. Niemand nahm Partei für Lilly. Stahl ging dazwischen.
«Das Training ist beendet. Für alle. Lilly, ich erwarte dich gleich in meinem Büro.» Kaum hatte er sie losgelassen, stürmte sie wieder auf Patty zu und sprang ihn von hinten an. Stahl riss sie los und drehte ihr den Arm auf den Rücken. «Ist jetzt Schluss?»
«Verpiss dich, du Arsch! Lass mich los. Du brichst mir den Arm.»
«Nein. Ich kugle dir die Schulter aus. Das tut mehr weh.» Und zu den anderen: «Geht duschen und euch umziehen.» Sie gehorchten. Stahl löste den Griff und liess Lilly los. Sie massierte sich die Schulter und sah reumütig zu Boden.
«Wieder gut?», fragte Stahl.
Lilly nickte, wagte es aber noch immer nicht, Stahl anzugucken.
«Geh duschen.»
Lilly trottete davon. Stahl sah ihr nach.
***
Giorgio würde keinen Ton sagen. Er würde nur auf die Wanduhr sehen. So lange, bis auch Franca drauf sah. Das wäre Rüge genug. Ja, sie kam zu spät. Eine ganze halbe Stunde. Für ihren Vater hatte sie damit ihr und sein halbes Leben verplempert. Aber es war nicht ihre Schuld. Sie stellte den Rollkoffer ab und wischte sich mit dem durchtränkten Ärmel ihrer Jacke den Regen-Schweiss-Cocktail von der Stirn. Nur noch durchs Dorf, dann die kleine Serpentine und sie war da. Sie mochte Verscio. Verscio bekam durch die «Scuola Teatro Dimitri» eine heitere Note. Ansonsten hing es ebenso verschlafen unter seinen Schieferdächern wie die restlichen Dörfer im Tessin. Manchmal huschten hier Clowns in ihren Kostümen durch die Gassen, um von ihren Proberäumen ins kleine Teatro zu gelangen. Jetzt wagten sie sich nicht hervor. Nur ein Idiot stapfte ohne Schirm und Regenkleidung mit einem Rollkoffer durch den Dauerregen.
Ein Auto kam ihr entgegen. Mit Abblendlicht. Es raste auf sie zu. Franca sprang zur Seite. Es half nichts. Die Pfütze, durch die der Wagen heizte, traf Franca mit voller Breitseite.
«Vaffanculo!», schrie sie der Limousine hinterher. Es kribbelte in ihrer Nase. Sie nieste dreimal kräftig und marschierte weiter. Am Ende des Dorfes hielt sie inne. Die Serpentine glich einem kleinen Bach. Es half nichts. Sie musste da durch. Wenn sie weiter die Strasse entlangging, würde sie sich noch mehr verspäten.
Franca versuchte, die grossen Steine zu erwischen. Das Spiel hatte sie früher immer mit Giorgio gemacht, wenn sie bei einem solchen Sauwetter gemeinsam ins Dorf gegangen waren, um frisches Brot beim Bäcker zu kaufen. Das Brot hatte sie jetzt vergessen. Giorgio würde sich darum gekümmert haben. Er kümmerte sich um alles. Vergass nichts. Die Ruhe selbst. Ausser man kam zu spät. Dann tickte in ihm eine Bombe. Franca erinnerte sich an das Telefonat. Ihr Vater hatte geklungen, als ob ihn jemand bereits zehn Jahre warten liess. So nervös hatte sie ihn noch nie erlebt. Es sei dringend, sehr dringend. Sie müsse unbedingt kommen. Ihre Termine in Rom absagen. Und es waren wichtige Termine, die sie abgesagt hatte. Statt wie eine vertriebene Katze durch die Sintflut zu stapfen, könnte sie jetzt mit Professor Bianchi beim Aperitif auf ihre Zukunft als Psychologin an seinem Institut anstossen.
Bianchi hatte zum Glück Verständnis gezeigt. Familie ging vor.
Nur noch drei Steine, dann war sie angekommen. «Uno, due, tre», zählte sie und stand vor dem Rustico. Sie streifte die Hortensienköpfe des vergangenen Jahres, die durch den Regen zu Boden gedrückt troffen. Normalerweise hätte Giorgio sie schon geschnitten. Er tat es immer nach Ostern. Diesmal hatte er es versäumt. Franca konnte sich nicht daran erinnern, dass ihr Vater jemals die Hortensien nicht geschnitten hatte. Ein Grund zur Sorge?
«Giorgio!», rief sie und klopfte an die Holztür des Rustico. «Ich bin da!» Sie versuchte, einen betont freudigen und kindlichen Ton anzuschlagen, um Giorgios Groll über ihre Verspätung die Luft zu nehmen. Giorgio antwortete nicht. Franca drückte die gusseiserne Klinke und trat ein.
«Giorgio? Sono arrivata. Dove sei?» Sie stellte den Koffer ab und ging durch den kleinen Flur in das Wohn- und Esszimmer, aus dem man auf den Lago Maggiore blicken konnte. Heute war er nicht zu sehen. Die graue Regenwand versperrte das Panorama. Aber Franca starrte auf etwas anderes. Giorgio lag reglos vor dem knisternden Kamin auf dem Teppich. An der Stelle, wo das menschliche Herz sass, klaffte ein grosses, blutiges Loch. Auf Giorgios Gesicht klebte eine Maske. Franca kannte sie. Sie war Expertin in Sachen Archetypen und Commmedia dell’Arte.
«Pantalone.» Sie tastete apathisch nach ihrem Handy.
***
«Also, was ist los?», fragte Stahl und stellte Lilly ein Glas Wasser auf den alten Schreibtisch, der noch aus Buffys Zeiten stammte. Bis auf den Schreibtisch gab es nur noch ein paar speckige Boxsäcke, die an früher erinnerten. Ansonsten hatte Stahl alles erneuern lassen. Ein Vermögen hatte es ihn gekostet, den verkommenen Boxclub in der Ankerstrasse aufzupolieren. Und er würde den Kredit noch lange abstottern müssen. Die Banken hatten ihm nichts gegeben. Er besass nichts, was man hätte pfänden können. Hätte Giorgio ihm nicht unter die Arme gegriffen, Stahl hätte das Projekt versenken können. Eine Viertelmillion hatte ihm Giorgio gepumpt. Per Handschlag. Ohne Vertrag. Gardistenehre. Der Zürcher Kreis. Er würde jeden Rappen zurückbekommen.
Lilly nahm das Glas und trank. Sie stellte es zurück und sah Stahl an.
«Ja? Ich höre», sagte er und wartete.
Sie liess den Kopf sinken und murmelte ein «’tschuldigung».
«Das reicht mir nicht. Ich will wissen, was mit dir los ist.»
Sie sah langsam auf und fixierte Stahl mit ihren blauen Augen. «Was geht dich das an? Ich bin hier zum Boxen und nicht zum Labern.»
«Gehst du regelmässig zu deiner Psychologin?»
«Keine Zeit.»
«Lilly, es ist nicht deine Aufgabe, dich um die Familie zu kümmern.»
«Und wovon sollen sie leben? Meine Geschwister kommen nicht ins Heim. Das schwöre ich.»
«Ist deine Mutter wieder rückfällig geworden?»
«Die war noch nie clean. Wer Methadon nimmt, ist nicht clean.»
«Hat sie wieder Heroin gespritzt?»
«Ja. Fick dich! Ja. Hat sie.»
«Warum? Hast du eine Ahnung?»
«Warum fixt ein Junkie? Weil er ein Junkie ist.»
«War Matthi wieder da?»
«Dieser Arsch. Wenn ich den zwischen die Finger kriege, bring ich ihn um.»
«Also er war da. Warum hast du mich nicht angerufen?»
«Weil ich nicht wollte, dass du meine Mutter mit der Nadel in der Ecke liegen siehst. Ich wollte, dass sie es schafft. So wie ich es auch schaffen will, mich in den Griff zu kriegen. Und wenn du meine Mutter siehst, wie sie wieder versagt, dann glaubst du, auch ich würde versagen.» Sie kämpfte gegen die Tränen an. «Aber ich versage nicht. Ich werde kämpfen. Und ich werde siegen.» Die letzten Worte hatte sie mit letzter Kraft herausgepresst. Jetzt ergab sie sich und fing an zu schluchzen. Stahl nahm sie in den Arm. Ihr Körper bebte, ihre Finger krallten sich in Stahls Schultern.
«Du schaffst das, Lilly. Ich bin mir ganz sicher, dass du es schaffen wirst.»
Lilly stiess sich von Stahl weg. Sie keuchte und schluckte den Rotz runter. Sie sah ihn entschlossen an.
«Wo ist Matthi jetzt?», fragte Stahl.
«Keine Ahnung.»
Stahl wusste, dass sie log.
«Ruf mich sofort an, wenn er sich wieder blicken lässt.»
Lilly nickte, trank das Glas Wasser leer und verliess den Glaskasten, der Stahl als Büro diente.
***
Marco war nicht ans Telefon gegangen. Franca hatte ihm auf die Combox gestottert. Was sollte sie tun? Die ansässige Polizei verständigen? Giorgio war Staatsbürger des Vatikans. Es würde den Verantwortlichen in Rom nicht passen, wenn die Schweizer Polizei sich der Sache annehmen würde. Obendrein ein gefundenes Fressen für die Presse. Nein. Hier durfte niemand etwas von Giorgios Tod erfahren. Warum ging Marco nicht dran? Er wüsste, was zu tun wäre. Er kannte die Gepflogenheiten des Vatikans, und er kannte Giorgio. Giorgio war Marcos Mentor gewesen, hatte ihn in der Garde grossgezogen, ehe er zum Sicherheitsdienst des Vatikans wechselte. Es gab nicht viele, denen dieser Spagat gelang. Marco hatte es geschafft. Mit seinem Charme und seiner politischen Intelligenz. Und mit Giorgios Hilfe.
Sie versuchte es noch einmal. Wieder nur die Combox.
«Marco, bitte, ruf mich sofort zurück. Ich weiss nicht, was ich tun soll. Wenn du dich nicht innerhalb einer Viertelstunde meldest, rufe ich die Polizei.» Sie legte auf, klammerte sich ans Handy und starrte auf den Toten. Sie wusste, dass es dumm war, ihm die Maske vom Kopf zu nehmen. Sie verwischte bestimmt Spuren. Es war ihr egal. Sie wollte nicht Pantalone sehen, sondern ihren Vater, den liebevollen Giorgio, der trotz seiner zahlreichen Pflichten stets Zeit für sie gehabt hatte. Er hatte dafür gesorgt, dass sie ihre tote Mutter nie vermissen musste. Er starrte sie an. Sie wollte, dass seine Augen ihr noch etwas sagten. Aber sie schwiegen. Sagten alles und nichts. Kastanienbraune Augen. Wie die Marroni im Tessin. Sie drückte ihm die Lider zu.
Ein Motorengeräusch klang von draussen. Das Schlagen einer Autotür. Franca rannte ans Fenster und sah in die suppige Dämmerung. Aus der schwarzen Limousine war ein Mann gestiegen. Ein anderer blieb hinter dem Steuer sitzen. Franca erkannte den Wagen. Es war der Mistkerl, der sie nass gespritzt hatte. Der Mann kam auf das Haus zu. Er trug einen dunklen Anzug, den passenden Mantel und hatte einen schwarzen Regenschirm aufgespannt, der sein Gesicht verbarg.
Kamen die Mörder zurück? Warum? Hatten sie etwas vergessen? Franca sah sich um. Es gab keinen zweiten Ausgang. Sie konnte nur ins Obergeschoss flüchten. Sie lief die Granitstufen nach oben. Zeit, den Koffer mitzunehmen, hatte sie nicht. Sie hörte, wie die Tür unten geöffnet wurde. Der Mann würde den Koffer sehen und sich erinnern, dass er vorhin noch nicht dort gestanden hatte. Franca schlug das Herz bis in die Kehle. Sie hörte die harten Absätze auf den Holzdielen. Der Fremde suchte sie. Gleich würde er nach oben kommen. Franca sah sich um. Sie entdeckte das Dachfenster, das Giorgio letzten Sommer hatte einsetzen lassen. Ihre einzige Chance. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie die Maske und das Handy noch umklammerte. Das Handy schob sie in die Hosentasche, die Maske setzte sie sich auf. Sie öffnete das Fenster, zog sich hoch und kletterte auf das Schieferdach.
Es goss noch immer in Strömen. Die Ziegel knackten. Sie war zu laut. Spätestens jetzt würde der Fremde wissen, wo sie war. Von hier oben sah sie auf die Limousine. Der Fahrer hatte sie entdeckt und sprang aus dem Wagen.
«È sul tetto», rief er. Sie kroch auf allen vieren bis zum Ende des Dachs. Es neigte sich in den Wald. Von der Dachrinne waren es nur zwei Meter. Sie sprang und landete weich im nassen Laub. Mit einer Hand erwischte sie den Mantel einer verwitterten Kastanie. Ein Dutzend Sprissen jagten ihr in den Ballen. Sie sah auf die zarten Splitter und erinnerte sich, wie Giorgio sie früher immer mit Nadel und Pinzette entfernt hatte. Keine Zeit für Erinnerungen. Sie musste laufen, so schnell sie konnte. Wohin? Nur weg. Weg von den Häschern. Weg von dem Ort des Grauens. Hinein ins Dunkel des Waldes.
***
Stahl sass in seinem Glaskasten und ordnete Papierkram. In der Boxhalle brannte spärlich Licht. Die Jugendlichen waren längst gegangen. Lilly machte ihm Sorgen. Sie war das einzige Mädchen in der Gruppe, die Andy ihm angekarrt hatte. Ein Sozialprojekt, von der Stadt Zürich gefördert. Stahl konnte das Geld gut gebrauchen. «Mut zur Offensive» hiess die Aktion, sollte aber vor allem dem Aggressionsabbau dienen. So stand es jedenfalls im aufgeblasenen Hochglanzprospekt, mit dem die Stadt warb. Mut zur Offensive hatte Lilly genug, aber keine Perspektive. Sie lebte zu Hause mit ihrer drogensüchtigen Mutter, zwei kleineren Halbgeschwistern und einem Dreckskerl namens Matthi, von dem Lillys jüngster Bruder, der noch in die Windeln schiss, gezeugt worden war. Matthi kümmerte sich weder um seinen Sohn noch um den Rest der Familie. Er tauchte nur ab und zu auf, checkte, ob es was zu holen gab, und verschwand wieder. Zweimal hatte er Lilly schon an die Wäsche gewollt. Bislang hatte sie sich erfolgreich gewehrt, aber Matthi liess nicht locker. Es ging um seine Mannesehre. Lilly war fünfzehn, konnte aber leicht als siebzehn durchgehen, wenn sie nachhalf. Sie war ein verletztes Kind, das um sich schlug, weil niemand seinen Schrei nach Wärme hörte.
Stahl kannte das Gefühl. Auch er hatte nur gewusst, sich mit Fäusten zu wehren. Er war ein Schläger gewesen. Der schlimmste im Heim. Bis er bei einer Strassenprügelei an Buffy geraten war. Der hatte Stahls wilde Kraft mit zwei Geraden ausgekontert und ihn auf den Asphalt gestreckt. Danach hatte er ihn aufgelesen, mit in den Boxclub genommen und verarztet. Das war der erste Wendepunkt in Stahls Leben gewesen. Buffy und Fuzzy hatten Stahl gelehrt, wie er seine Emotionen in die richtigen Bahnen lenken konnte. Als Albin später noch hinzukam und Stahl für die Schweizergarde anwarb, setzte die zweite Wende ein. Und jetzt, nach unzähligen Abenteuern und Niederlagen, war er wieder im Boxclub gelandet. Jetzt war er Buffy, Fuzzy und Albin in einer Person, versuchte sich selbst Sinn zu geben, indem er anderen zu einem verhalf. War das nicht schon wieder Mission? Konnte er den Jesuiten denn gar nicht abschütteln?
Es klopfte an der Fensterscheibe. Stahl erkannte Andy und winkte ihn herein.
«Sali, Stahl. Alles klar?»
«Bis auf die Rechnungen, die mich ersticken, wunderbar. Hast du Lust auf ein kleines Sparring? Wer verliert, zahlt den Strom.»
«Spinnst wohl. Ich lass mir doch nicht die Birne zu Brei boxen und zahl dafür. Schau mich an. Ich komm ja noch nicht einmal durch die Seile.»
Andy war fett geworden. Früher, im Heim, war er drahtig und rank. Einer, der essen konnte, was er wollte, und nicht zunahm. Stahl hatte keine Ahnung, warum das umgeschlagen war. Jetzt ass Andy fast gar nichts mehr, schob eine Diät nach der anderen und wurde immer fetter.
«Ich könnte vielleicht auch ein Training für Fettleibige anbieten. In Kooperation mit den Weight Watchers. Was denkst du? Du bist doch bei denen, oder?»
«Leck mich. Die nerven nur. Komme mir vor wie ein dressiertes Tier. Punkte zählen und so Scheisse. Da konzentriert man sich so sehr auf den Mist, dass der Glukosespiegel im Hirn sinkt und die Willenskraft gleich mit. Paradox. Ich verzichte jetzt einfach auf Kohlenhydrate, wie die Stars in Hollywood. Dann werden wir ja sehen.»
«Die haben auch einen Personal Trainer.»
«Ist das ein Angebot?»
«So viel kannst du gar nicht zahlen.»
«Themawechsel?»
«Einverstanden.»
«Ende der Woche kommen die Knaben vom Amt vorbei, samt Stadtpolitikern und Presse. Wollen was haben für ihr Geld. Du verstehst?»
«Klar. Gratis gibt’s nichts.»
«Du musst auch mit aufs Foto. Ich erwarte dein schönstes Lächeln für den Stadtrat. Und du gestattest doch, dass wir mit dem Ex-Schweizergardisten werben?»
«Versteht sich.»
«Und Lilly muss in die erste Reihe. Und daneben Hakan, der ist Türke, sieht aber sehr integriert aus.»
«Ist das alles? Oder sollen sie noch den Rütlischwur im Chor sprechen?»
«Bringt nichts. Hört keiner. Das Fernsehen ist leider nicht dabei.» Andy hatte die Spitze nicht verstanden. «Aber vielleicht das nächste Mal. Ich sehe, was ich tun kann. Gehen wir noch auf ein Bier?»
«Geht leider nicht. Ich habe noch zu tun.» Stahl zeigte auf die Papiere, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen. Er hatte wohl Durst, aber ihm war die Lust auf Andy vergangen. Klar, er musste dankbar sein, dass Andy ihm das Projekt verschafft hatte, aber das mediale Aufblasen kotzte ihn an. Er kannte das Spiel aus seiner Zeit in Rom zu gut. Niemand beherrschte das Handwerk der Selbstbeweihräucherung so gut wie der Vatikan: Tue Gutes und sprich darüber. Das füllt das Opfer-Kässeli. Und Stahls Säckel war leer gekratzt bis auf den letzten Rappen.
«Die Rechnungen laufen dir nicht weg», sagte Andy und fand sich witzig.
Stahl gab auf. Es würde nichts bringen, Andy den Gefallen nicht zu tun. Am Freitag würde Stahl doch den Affen spielen und für die Stadtpolitiker in die Kamera grinsen. «Aber du zahlst.»
ZWEI
Franca rannte durch die Nacht. Ausser der Maske und ihrem Handy besass sie nichts mehr. Neben dem Koffer hatte sie auch die nasse Jacke, in der ihr Portemonnaie mit Geld, Kreditkarten und Pass steckte, zurückgelassen. Wohin? In Verscio kannte sie nur Donato, den Maskenbauer der Dimitri-Schule. Sie hatte im Herbst vor zwei Jahren einen Workshop bei ihm belegt. Daraus war eine kleine Freundschaft gewachsen. Donato hätte gerne mehr gehabt. Franca hatte gespürt, dass er sich in sie verliebt hatte. Aber sie hatte ihm klar zu verstehen gegeben, dass sie bereits vergeben war. An Marco. Nächsten Sommer wollten sie heiraten. Papst Franziskus sollte sie trauen. Giorgio hatte es gedeichselt. Giorgio war tot. Und Marco war nicht ans Telefon gegangen.
In Donatos Werkstatt brannte Licht. Sein Haus hatte keine Klingel. Dafür hing ein rostiger Ring an der Tür. Franca klopfte den Ring gegen das verwitterte Robinienholz.
Donato öffnete. Sein Vollbart war grauer geworden, die buschigen Augenbrauen dafür noch immer pechschwarz. «Was soll das jetzt? Ihr Studenten kriegt wohl nie genug, was? Was ist jetzt wieder kaputt?»
Franca merkte, dass sie die Pantalone-Maske noch auf dem Gesicht trug, und nahm sie ab. Donato brauchte einen Moment, ehe er Franca erkannte. Ein Lächeln zerschnitt seinen Bart und teilte ihn wie einen Vorhang. Blitzsaubere Zähne, wie aufgereihte Perlen, bleckten Franca an. «Das ist aber eine angenehme Überraschung. Warum hast du keine Jacke an bei dem Sauwetter? Komm rein. Du holst dir ja den Tod.»
Franca ging an Donato vorbei durch den engen Flur in die geräumige Werkstatt.
«Setz dich an den Ofen. Ich bringe dir frische Klamotten.» Donato verschwand. Franca drückte sich an einen bollernden Holzofen, auf dem Chai köchelte. Sie roch daran. Kardamom, Ingwer und Gewürznelken.
«Du bist ja noch immer in den nassen Klamotten.» Donato warf ihr eine Cordhose und ein Holzfällerhemd zu. «Zieh das an.»
Franca zögerte.
«Du willst, dass ich rausgehe?», fragte er und kräuselte vorwitzig seine fleischige Nase.
«Wäre mir nicht unangenehm.»
Er lachte in seinen Bart und seufzte. «Und ich dachte, du bist zurückgekommen, weil du dich doch für mich entschieden hast.» Er nahm ihr die Maske aus der Hand, zog sie sich übers Gesicht, krümmte sich, machte einen Buckel und spielte den Pantalone. «Smeraldina, komm, erhöre mich.» Er sprang und kreuzte die Beine in der Luft, landete weich und kicherte dreckig.
«Hör auf damit. Mir ist nicht danach.» Franca glaubte plötzlich Giorgio unter der Maske zu sehen und schwankte.
Donato stellte das Spiel ein, schob die Maske in seine schwarzen Locken und hob entschuldigend seine Pranke. «Das liegt daran, dass hier nichts los ist. Wir leben wie auf dem Mond. Uns fehlt der künstlerische Input von draussen. Verstehst du? Da wird man so.»
Franca nickte. Sie hatte ihm nicht zugehört. Sie dachte an ihren toten Vater und versuchte zu realisieren, was im Rustico geschehen war und was sie zu tun hatte.
«Schritt für Schritt», sagte sie zu sich selbst. Sie wollte sich damit beruhigen. Es bewirkte das Gegenteil. Sie erinnerte sich, dass es Giorgios Motto war. Sie fing an zu schluchzen.
Donato traute sich nicht, sie in den Arm zu nehmen. «Ich mach uns Spaghetti. Du hast sicher Hunger.» Er ging.
Franca zog ihre nassen Kleider aus und schlüpfte in Donatos Klamotten. In die Hosen passte sie dreimal, und über die Ärmel des Hemdes konnte sie stolpern. Sie nahm sich eine Kordel, die auf der Werkbank lag, und bastelte sich daraus einen Gürtel. Die Ärmel krempelte sie so hoch sie konnte. Socken hatte ihr Donato nicht gebracht. Sie setzte sich auf einen geflickten Ledersessel, rieb ihre klammen Zehen gegeneinander und streckte die Füsse an den Bauch des Ofens.
«Darf ich reinkommen?», fragte Donato mit gespielter Zurückhaltung und der näselnden Stimme eines Barons. Er konnte es nicht lassen. Ein Spieler. Sonst stieg Franca gerne auf sein Spiel ein. Jetzt wollte sie nur heulen. Sie beherrschte sich.
«Klar, entschuldige. Sonst bin ich nicht so.»
«Wie bist du sonst?» Er fiel schon wieder ins Spiel. Diesmal versuchte er es mit der naiven Unschuld eines Arlecchinos.
«Weisst du doch.»
Er seufzte. «Ja. Ich weiss. Aber was nutzt es mir? Willst du Chai?»
«Und Socken.»
«Muss ich erst stopfen. Haben alle Löcher. Aber Pantoffeln aus Marokko. Sogar in deiner Grösse.» Er kramte in seinem Kastanienschrank, der einem Requisitenfundus glich, und warf Franca gelbe Lederpantoffeln zu.
Sie fing sie und schlüpfte hinein. «Woher sind die denn?»
Donato kraulte sich verträumt im Bart. «Asifa.»
«Asifa?»
«Heisst: Der Sturm. Und bei Gott, sie war ein Sturm. Ein Sandsturm, der in alle Poren drang.»
«Erzählst du wieder Geschichten?»
«Vielleicht. Jedenfalls war sie letzten Herbst hier, hat mit mir Masken gebaut und den Studenten den Bauchtanz beigebracht.»
«Und ihre Schuhe zurückgelassen.»
«Dafür mein Herz gestohlen.»
«Möchte wissen, wie viele Herzen du hast, wenn du es bei jedem deiner Kurse mindestens einmal gestohlen bekommst.»
«Manchmal verschenke ich es auch. Wie bei dir.»
Franca verdrehte die Augen. «Du wolltest mir Chai geben. Hast du eine Tasse?»
«Kommt sofort.» Er verliess den Raum.
Franca zückte ihr Handy. Nur noch zehn Prozent Akku. Das Ladekabel hatte sie in ihrem Rollkoffer zurückgelassen. Vielleicht konnte sie damit Marco noch erreichen? Sie musste ihn sprechen. Wem sonst könnte sie sich anvertrauen? Sie wählte. Der Empfang war schlecht. Nur ein Balken. Sie lauschte. Es knarzte und tutete. Am anderen Ende der Leitung meldete sich Marco. Donato kam mit einer Tasse zurück.
«Marco. Ich bin’s … Franca … Hast du deine Combox abgehört? … Nein? Dann tu’s … Ich kann hier nicht reden … Ich bin bei einem Freund in … Hallo? Marco … Cazzo!» Die zehn Prozent Akku waren schneller gefressen als erwartet.
«Warum kannst du hier nicht reden?» Donato schenkte ihr ein. «Vor mir brauchst du keine Geheimnisse zu haben.»
Franca nahm die Tasse und schlürfte den Chai. Sie sah auf ihr Handy. Es hatte GPS. Was, wenn die düsteren Verfolger sie orten konnten?
«Ich muss wieder weg von hier. Kannst du mir dein Auto leihen?»
«Ich kann dich auch fahren. Wohin willst du?»
«Nach Locarno. Ich muss den nächsten Zug nach Rom nehmen.»
«Ich fahr dich. Wenn wir uns beeilen, kriegst du den Nachtzug und bist morgen früh um sechs Uhr dort.»
«Kannst du mir Geld borgen?»
«Wie viel?»
«Zweihundert? Fürs Billett und ein Brioche.»
«Klar.» Er sah sie ernst an. «Willst du mir nicht sagen, was los ist?»
«Kann ich nicht.» Sie schluckte. «Ich kann es nicht, weil ich noch nicht einmal sicher bin, ob das, was gerade passiert ist, echt ist.»
«Was ist passiert?»
Sie schüttelte den Kopf.
«Hast du dich mit deinem Vater gestritten?»
«Ich kann es nicht sagen.»
«Ho capito. Komm, ich fahre dich.» Er griff in den Schrank und zog eine Strickjacke heraus. «Mehr habe ich nicht.» Er streckte sie ihr hin. «Ich hol schon mal den Wagen. Ich hupe, wenn ich vor der Tür stehe. Zieh dann einfach die Tür zu.» Er ging.
Franca sah ihm nach. Dann stierte sie auf die Maske, die Donato neben den Ofen gelegt hatte. Sie sah wieder das Gesicht ihres Vaters darunter. Sie drehte die Maske um und sah hinein. «Donato 2014» stand darin. Der Maskenbauer hatte sich verewigt. Hatte Giorgio die Maske hier in Auftrag gegeben? Hatte jemand anderes den Pantalone bei Donato in Auftrag gegeben? War Donato selbst zu Giorgio gegangen, hatte ihn so grausam getötet und ihm die Maske aufgesetzt? Donato hatte einen Schuss, das war klar. Aber würde er so weit gehen? Franca überkam Panik. Würde Donato sie tatsächlich zum Bahnhof bringen? Oder hatte er schon für sie eine andere Maske bereitgestellt?
Sie starrte auf die gelben Pantoffeln. Asifa. Der Sturm. Es hupte. Sie zögerte. Es hupte wieder. Franca fasste ihren Mut zusammen, öffnete die Tür, flitzte durch den Regen und sprang neben Donato in den Wagen.
***
«Komm schon. Noch eine. So jung kommen wir nicht mehr zusammen.» Andy lachte über den abgestandenen Spruch und gab der Kellnerin ein Zeichen, damit sie noch zwei Stangen brachte. «Wohnst eh ums Eck. Einmal Kreis 4, immer Kreis 4.» Er packte Stahl am Unterarm und drückte ihn fest, weil er nicht wusste, wohin mit seiner Geselligkeit. «Das wird richtig gut, sag ich dir. Ex-Gardist gibt Zürcher Jugendlichen Schliff. Oder so etwas. Den Pressefuzzis fällt bestimmt noch was Besseres ein.»
Die Kellnerin stellte die Stangen auf den Tisch. Andy nahm eines der Gläser und schlug es gegen das andere. «Auf Freitag.» Stahl nickte müde, gähnte und rührte das Glas nicht an. «Eine bessere Werbung für deinen Laden gibt es nicht. Du wirst sehen.»
«Und was springt für dich dabei raus?»
«Für mich? Wie meinst du das?»
«Gibt es eine Beförderung? Kommst du in der Partei weiter?»
«Blödsinn. Ich bin nicht in der Partei, um nach oben zu kommen, ich bin drin, weil ich dadurch die richtigen Werte und Ideale umsetzen kann.»
«Aber je weiter oben, umso mehr kannst du doch umsetzen, oder?»
«Ja, schon, aber darum geht’s nicht.»
«Und wenn dein Chef aufsteigt, steigst du doch automatisch mit als sein Sekretär.»
Andy klopfte sein Glas energisch auf den Tisch. «Was soll das jetzt? Ist es verkehrt, Karriere zu machen? Hast du in Rom keine Karriere gemacht? Du warst doch auch ziemlich weit oben, nah dran, im Zentrum der Macht. Oder?»
«Drum weiss ich ja, was in dir vorgeht.» Stahl nahm die Stange und prostete Andy zu. «Aber ich verurteile dich deswegen nicht. Ich will es nur klarstellen, damit wir hier unsere Gutmenschlichkeit nicht zu sehr feiern. Für uns beide springt was raus. Deswegen tun wir es. Und nicht, damit es den Kids besser geht.» Er trank.
«Und wenn es ihnen dadurch besser geht? Dann haben doch alle gewonnen. Darf man das nicht feiern?»
«Wenn man an die Kids auch noch dann denkt, wenn die Scheinwerfer mit den Mächtigen weiterziehen, dann ja.»
«Du meinst, wir nutzen das nur für die Wahl, und dann ist uns alles egal?»
«Soll schon vorgekommen sein.» Stahl leerte das Glas, stellte es auf den Tisch, wischte sich die Lippen mit einem Papiertuch trocken und unterdrückte einen Rülpser.
«Denk, was du willst. Der Freitag ist jedenfalls wichtig. Für uns alle. Zahlen.» Andy winkte die Kellnerin herbei.
In der hinteren Ecke der «Beiz» wurde es unruhig. «Halt! Bleib stehen!», rief eine blonde Frau. Wie ein Wiesel stob eine Gestalt in einem abgewetzten grauen Everlast-Kapuzenpulli durch den Saal und stürmte zum Ausgang.
«Haltet sie! Haltet die Diebin!», schrie die Blondine in einer Tonlage, die Biergläser zum Bersten bringen konnte.
Die Diebin stiess die Tür auf und stolperte auf die Langstrasse. Ein junger Mann, wohl der Begleiter der Bestohlenen, war aufgesprungen und hatte die Verfolgung aufgenommen. Stahl hatte den Kapuzenpulli erkannt. Er war der Diebin viel zu gross. Aber er hatte ihn ihr geschenkt, damit sie überhaupt etwas zum Überziehen nach dem Training hatte. Der junge Mann schien sportlich und gewillt, für seine bestohlene Begleitung den Helden zu spielen. Stahl sprang auf und jagte den beiden hinterher.
Auf der Langstrasse ging es munter zu, trotz des schlechten Wetters. Eine Gruppe besoffener junger Männer in blau-weissen Schals drückte Bierdosen in den Händen und grölte Fussball-Hymnen. Huren aller Couleur drängten sich auf dem Trottoir, Touristen fotografierten das Soho Zürichs, und manch Banker hatte sich verirrt, um den Stress des Finanzwahnsinns für einen Moment gegen eine entspannende Fellatio einzutauschen. Keine optimalen Voraussetzungen, um ein Wiesel zu jagen. Aber der Häscher gab nicht auf, verkürzte seinen Abstand, und Stahl blieb dran.
Er war wieder gut in Form. Seit der Eröffnung des Boxclubs stand er bis auf Sonntag täglich bis zu acht Stunden in der Halle. Und da er selbst alles vormachte, sich keinen Co-Trainer leisten konnte, war er fit wie in den besten Zeiten bei der Garde. Fast hatte er den Verfolger der Diebin erreicht. Noch zwei Schritte. Auf gleicher Höhe gab er ihm einen Schubser, dass er in die Gemüseauslage eines türkischen Händlers stolperte. Stahl vernahm den Aufschrei und das Gezeter des Türken, lief aber unbeirrt weiter. Die Diebin drehte sich nicht um. Sie rannte um ihr Leben. Zu wenig, um Stahl zu entkommen. Schon viele Leben hatte es gegeben, die vor ihm hatten fliehen wollen. Und er hatte sie alle erwischt. Im Auftrag Gottes und der heiligen Kirche. Er wollte nicht daran denken. Es schwächte die Beine, machte weiche Knie. Ans Ziel musste er denken. Immer nur ans Ziel. Das war seine Strategie. Damit konnte er überleben. Damit vertrieb er die bösen Geister. Das Fegefeuer kam noch früh genug.
Die Diebin bog hinter einem Handyladen links in die Zwinglistrasse. Stahl hinterher. Sie war weg. Wie vom Boden verschluckt. Weit konnte sie nicht sein. Stahl drehte sich um und entdeckte einen Haufen Abfallsäcke neben einem Glascontainer. Er hatte den Eindruck, dass sich der Abfallberg leicht bewegte. Er ging darauf zu und war sich sicher. Die kleine Ratte hatte sich darunter verkrochen.
«Komm raus», sagte er. «Die Runde geht an mich.»
Ein Abfallsack flog ihm entgegen. Er wich gekonnt aus, stiess zwei Schritte nach vorn und packte die Diebin am Kragen. Die Kapuze ihres Pullovers rutschte ihr dabei vom Kopf. Schmutziges, blondes, halblanges Haar kam zum Vorschein. Die blauen Augen blitzten zornig.
«Her mit dem Portemonnaie.» Stahl streckte die Hand aus.
Lillys Augen suchten nach Fluchtchancen.
«Vergiss es. Du entkommst mir nicht.» Er betonte seine leere Handfläche mit einer wiederholten Geste und wartete. Lilly klatschte ihm das Portemonnaie auf die Finger und wollte an Stahl vorbei. Er hielt sie am Ärmel fest. «So schnell geht das nicht. Wir müssen reden.»
«Fick dich. Reden. Alle reden nur. Wir haben heute schon geredet. Schon vergessen? Und immer nur Scheisse. Ich muss nach Hause. Meine Mutter hat einen Turkey, meine Geschwister plärren vor Hunger, und du willst reden?»
Stahl öffnete das Portemonnaie und warf einen Blick hinein. Er zog fünf Hunderter heraus. Lillys Augen gierten, ihre Finger zuckten nervös. Stahl schlug ihr auf die Hand. Er steckte das Portemonnaie ein und zog seins heraus. «Hier.» Er streckte ihr einen Hunderter entgegen. «Und wenn ich dich noch einmal beim Klauen erwische, schlag ich dich im Ring zu Brei.»
Lilly zögerte, nahm dann den Hunderter und stopfte ihn sich in die Hosentasche. «Und was machst du mit dem Portemonnaie?»
«Behalt ich selbst.» Er grinste und zwinkerte frech.
Lilly fiel der Kiefer runter.
«Übrigens. Wir müssen an deiner Beinarbeit feilen. Der Kerl hätte dich gekriegt. Du bist zu langsam.»
Lilly zog ein Gesicht. Stahl drehte sich um und ging davon.
***
Franca sass schweigend auf dem Beifahrersitz und umklammerte die Pantalone-Maske. Donato lenkte seinen Sprinter vorsichtig die Strasse ins Tal hinab und wich immer wieder grösseren Steinen aus, die der Regen vom Hang gespült hatte. Er schielte auf die Maske.
«Willst du mir nicht erzählen, was passiert ist?»
«Giorgio ist tot. Er liegt oben im Rustico.»
Donato trat auf die Bremse. Der Sprinter stoppte. «Was? Und das sagst du erst jetzt? Hast du einen Arzt verständigt? Die Behörde?»
«Nein.»
«Verstehe ich jetzt nicht. Willst du ihn da oben einfach liegen lassen? Ich glaube, er hat Besseres verdient.»
«Er wurde ermordet.» Ihr Mund pappte. «Jemand hat ihm das Herz herausgeschnitten und ihm diese Maske aufgesetzt.» Sie hielt Donato den Pantalone vors Gesicht.
«Die Maske ist von mir», sagte er. «Ich habe sie Giorgio erst vor zwei Wochen gegeben.»
«Weswegen hat er sie bei dir anfertigen lassen?»
«Widmer hatte sie in Auftrag gegeben, bevor er starb. Es sollte sein Erbe an Giorgio sein.»
«Aber Widmer starb doch schon letztes Jahr.»
«Ja. Ich weiss. Aber ich hatte so viel zu tun. Und gute Masken brauchen ihre Zeit, das weisst du.» Donato schüttelte den Kopf. Seine grauschwarzen Locken, die ihm bis auf die Schultern fielen, baumelten wie Girlanden. «Ich kann das nicht glauben. Wer sollte Giorgio umbringen? Wir müssen die Polizei verständigen», sagte er und zückte sein Handy.
Franca nahm es ihm aus der Hand. «Nein. Das ist Angelegenheit des Vatikans. Das geht sonst niemanden etwas an.»
Donato holte sich sein Handy zurück und steckte es ein. «Wie du meinst. Es ist mir sowieso lieber, wenn ich mit der Polizei nichts zu schaffen habe. Und noch lieber wäre es mir, du hättest mir von der Sache gar nichts erzählt.»
«Wollte ich auch nicht, aber du hast gefragt. Fahren wir weiter?»
«Wohin willst du? Und warum so eilig?»
«Die Mörder sind noch da. Sie haben mich im Rustico gesehen und sind hinter mir her. Ich bin übers Dach abgehauen und zu dir gerannt.»
«Du erzählst Geschichten. Und ich dachte, ich sei schon verrückt.»
«Das sind keine Geschichten. Es ist die Wahrheit.»
«Die Wahrheit.» Donato nuschelte es in seinen Bart und sah auf die schwarze Limousine, die sie eben überholt hatte und vor ihnen anhielt.
«Das sind sie.» Franca begann zu zittern. «Das sind die Mörder. Gib Gas!»
«Wollen wir doch mal sehen, wer das ist», sagte Donato und stieg aus dem Wagen.
«Bleib hier.» Franca sah hilflos zu, wie Donato zu der schwarzen Limousine ging. Die Fahrertür öffnete sich. Der Fahrer stieg aus. Franca konnte ihn nicht erkennen, weil Donato ihn verdeckte. Sie sah, wie Donato mit den Armen gestikulierte. Dann zuckte er zusammen. Einmal, zweimal und sank zu Boden. Jetzt war der Fahrer zu sehen. Schlank. In schwarzem Regenmantel mit hochgestelltem Kragen. In der Hand hielt er eine Pistole mit Schalldämpfer. Er stieg über den am Boden liegenden Donato und kam auf Franca zu.
Kannte sie ihn? Sie erinnerte sich nicht. Es war ein Gesicht wie aus einem Noir-Comic. Hart gezeichnet. In Schwarz-Weiss. Er kam näher. Plötzlich blieb er stehen. Worauf wartete er? Er drehte sich zur Limousine um. Die Beifahrertür öffnete sich. Ein schwarzer Schirm stach heraus und öffnete sich. Unter dem Schirm ebenfalls ein schwarzer Regenmantel. Aus demselben Comic. Franca wusste, wenn der Regenschirm das Gesicht des Unbekannten zeigte, war auch sie tot. Darauf wollte sie nicht warten. Sie schnallte sich ab, rutschte auf den Fahrersitz, legte den Gang ein und fuhr auf den Killer zu. Er sprang zur Seite. Der Regenschirm erschrak ebenfalls und zog in den Himmel. Für einen Moment sah Franca das Gesicht des zweiten Schergen. Und sie erschrak. Nein. Das durfte nicht sein. Das hatte sie sich nur eingebildet. Niemals. Sie klammerte sich an das Lenkrad und gab Gas. Immer wieder rumpelte es, ratschte ein Stein den Unterboden. Wenn es wahr war, was sie gerade gesehen hatte, wäre alles dahin. Der Wagen sollte sich überschlagen und die nächste Böschung hinabstürzen. In Flammen aufgehen. Verbrennen. So heiss es ging. Um die Eiseskälte zu vertreiben, die ihr gerade das Herz gefrieren liess.
Sie sah in die Aussenspiegel. Die Limousine war nicht zu sehen. Wenn sie länger auf dieser Strasse blieb, hätte sie der Mercedes bald eingeholt. Sie erinnerte sich an den Feldweg hinter der kleinen Kapelle. Er kam nach der nächsten Kurve. Schon sah sie die Spitze der Kapelle. Noch mal ein Blick in den Aussenspiegel. Noch immer keine Lichter der Verfolger. Sie bremste scharf, riss das Steuer herum und bretterte an der Kapelle vorbei über den Feldweg in den Wald. Sofort löschte sie das Licht und stellte den Motor ab. Sie sprang aus dem Wagen und suchte einen Ort, von dem sie geschützt auf die Strasse schauen konnte. Der Regen schlug ihr hart ins Gesicht. Jetzt sah sie Scheinwerfer. War es die Limousine? Es war zu dunkel. Sie konnte es nicht erkennen. Der Wagen fuhr an der Kapelle vorbei. Vielleicht. Sie war sich nicht sicher. Besser, sie wartete noch, um sicherzugehen. Sie hatte es sich nicht eingebildet. Der Mann unter dem Schirm, er war es. Marco.
***
Stahl war nach Hause gegangen. Erst hatte er in der «Beiz» nachgesehen, ob die Bestohlene noch dort war. Sie war schon weg. Samt Helden, den Stahl in die Gemüseauslage geschubst hatte. Stahl dachte an Lilly und hoffte, dass sie es schaffte, sich aus dem Sumpf, in den sie hineingeboren worden war, zu befreien. Stahl hatte es schliesslich auch geschafft. Und Lilly war nicht nur eine Kämpferin, sie war auch klug. Die Schule hatte sie geschmissen, aber das war keine Frage der Intelligenz. Vielleicht konnte sie über einen anderen Weg eine Ausbildung machen? Er würde gleich mit einem alten Freund telefonieren. Vielleicht ging da etwas.
Er nahm den blubbernden Kaffee vom Gas, goss sich einen Espresso ein, rührte den Zucker um und trank mit geschlossenen Augen. Die leere Tasse spülte er aus und stellte sie zum Abtropfen ab.
Jetzt fand er Zeit, das Innenleben des Portemonnaies genauer zu betrachten. Neben den fünf Hunderternoten steckten auch unzählige Karten drin. Bankomat, Kredit, Führerausweis, Versicherung und fünf Visitenkarten: Angelika Sommer, Investment Banking, Credit Suisse, Paradeplatz 8 in Zürich. E-Mail-Account und zwei Telefonnummern. Stahl nahm sein Handy und wählte die Mobilnummer. Nach zweimal Klingeln meldete sich Frau Sommer.
«Guten Abend, Frau Sommer. Ich habe auf der Langstrasse ein Portemonnaie gefunden, das wohl Ihnen gehört … Ich habe keine Ahnung, ob etwas fehlt. Sieht aber nicht so aus. Es sei denn, Sie führen mehr als fünfhundert Franken mit sich herum … Wenn Sie wollen, können Sie es abholen. Engelstrasse 88, im Kreis 4. Haltestelle Helvetiaplatz … Gut. Bis dann.»
In einer Stunde wollte sie hier sein. Stahl erinnerte sich nicht mehr, wie sie aussah. Aber ihre Stimme klang sehr angenehm.
Lilly fiel ihm wieder ein. Er hatte noch ein Telefonat zu führen. Ein wichtigeres. Er wählte die Nummer und wartete. «Ciao. Sono Ruggero Stahl. Vorrei parlare con Monsignore Lorenzo … Grazie, aspetto.»
***
Franca wühlte im Handschuhfach des Sprinters und wurde fündig. Ein Ladekabel für ihr iPhone, das sie am Zigarettenanzünder einstecken konnte. Sie schob den Stecker in die Buchse und verband das Kabel mit dem Handy. Es brummte und lud.
Sie starrte auf die Kapelle. Wohin sollte sie? Nach Rom konnte sie nicht. Marco hätte sie binnen zweier Tage aufgespürt. Was war geschehen? Hatte Marco ihren Vater ermordet? Donato hatten sie umgelegt, das hatte sie gesehen. Warum? Was sollte verschwiegen werden? Und es musste etwas verschwiegen werden. Es war Marcos Aufgabe, Dinge unter Verschluss zu halten. Dazu hatte man ihn ausgebildet. Nein. Nicht man. Giorgio hatte ihn ausgebildet. Und Giorgio war jetzt tot. Hatte Marco ihm das Herz herausgeschnitten? Warum? Und warum die Maske? Franca musste wissen, was geschehen war. Sollte sie noch mal ins Rustico fahren? Vielleicht fand sie dort Spuren, die ihr weiterhalfen? Nein. Alleine würde sie dort niemand hinbringen.
Ihr Handy klingelte. Sie erschrak. Auf dem Display leuchtete der Name: Marco. Sie ging nicht dran. Sie wollte keine Lügen hören. Marco wusste zu reden, er würde sie davon überzeugen, sich mit ihm zu treffen, und dann wäre sie erledigt. Dann läge sie auch mit einer Maske auf dem Gesicht und herausgeschnittenem Herzen irgendwo im Regen. Welche Maske Marco ihr wohl zuordnete? Und warum ausgerechnet den geizigen, notgeilen venezianischen Kaufmann für ihren Vater? Er war nicht geizig, im Gegenteil. Sie kannte ihn nur als grosszügigen Menschen. Und notgeil war er schon zweimal nicht. Er hatte seine Triebe im Griff. Weder ging er zu den Nutten, noch rannte er töricht jungen Frauen nach.
Es piepste. Marco hatte auf die Combox gesprochen. Franca würde sie jetzt nicht abhören. Erst brauchte sie einen Plan. Das Telefon klingelte erneut. Diesmal war es nicht Marco, sondern Monsignore Lorenzo. Ein treuer Freund. Ein alter Lehrer, der Franca in die Exerzitien des Ignatius von Loyola und die Strategien des Jesuitentums eingeweiht hatte. Er hatte ihr den Kontakt zu Professor Bianchi vermittelt. Einen wie ihn konnte sie nun gebrauchen. Aber anvertrauen durfte sie sich auch ihm nicht. Die jesuitische Hochschule Gregoriana stand dem Vatikan seit der Ernennung des Franziskus näher als je zuvor.
Sie nahm ab. «Buona sera, Monsignore … Danke, es geht mir gut. Und bei Ihnen? … Oh, das ist … nein, nein … doch, doch … es kommt nur sehr überraschend. Natürlich unterrichte ich sehr gerne in der Gregoriana … aber ich hatte nicht erwartet, dass Sie an meiner Theorie der Archetypen interessiert sind … Ich bin gerade im Tessin, besuche meinen Vater … Nächste Woche bin ich wieder in Rom … Mittwoch? … Ja, fünfzehn Uhr … Grazie, Monsignore, arrivederla.» Sie legte auf.
Normalerweise hätte sie Luftsprünge gemacht. Einen Lehrauftrag in Psychologie an der Gregoriana. Obendrein zu ihrem Thema: Die Archetypen Jungs und die Commedia dell’Arte. Trieb und Traum. Das Ganze vermischt mit dem Psychodrama Morenos. Sie hätte nicht gedacht, dass das die jesuitische Hochburg Roms interessierte. Und warum ausgerechnet jetzt? Sie hatte ihr Dossier schon vor einem Jahr an Lorenzo geschickt. Er hatte sich nie bei ihr gemeldet. Vielleicht ein Zufall. Der Monsignore hatte viel zu tun. Sie sollte sich freuen, und sie wollte es auch