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MARIA

BACHMANN

BIN AUF

SELBSTSUCHE

KOMME GLEICH

WIEDER

20 Jahre auf dem

Weg zum Glück

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Copyright © 2013 by Ludwig Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

www.ludwig-verlag.de

Lektorat: Barbara Imgrund, Heidelberg

Covergestaltung: Eisele Grafik·Design, München

Coverfoto: Kay Blaschke

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN: 978-3-641-09121-7
V003

Für Herbert

Inhalt

An den Leser

1. Ahnungslos

Eine Art Vorgeschichte

Es prickelt …

… wie Champagner

Am Ende der Fahnenstange

»Da ham S’ a Glücksphase …«

Mein Leben als B-Promi

2. Furchtlos

Nur der Verstand blockiert

Man muss nur wollen

Bestell dir dein Glück

Mein erstes Wunder

Film ab!

Die tausendprozentige Energietherapie

Altlasten

3. Was ist los?

Om mani peme hung

»Du musst hart an dir arbeiten!«

Denkst du noch oder schreibst du schon?

Die liebeskranke Zwiebelfrau

4. Zügellos

Mach dir die Welt, wie sie dir gefällt

Nur der Igel bewegt sich …

5. Zeitlos

Das aufsehenerregende Jetzt

Vorübergehend erleuchtet

Mein Leben mit Klaus

Schmerzkörper für alle!

Im Café mit dem weisen Mann

6. Gnadenlos

Prost Neujahr

Irgendwas will jeder

Klopfen für den guten Zweck

Verkehrt herum ist richtig

Die Meister-Frage

7. Gottlos

Zu viel des Guten

Verführung ins Nullpunktfeld

Die Nacht, in der ich fast hinter das Geheimnis von Jesus kam

Halleluja

8. Bewusstlos

Das kannst du deinem Friseur erzählen

Wie ich eine Lady vermisste

Das Gute im Hähnchen

9. Sprachlos

Der Meister ruft, ich folge

Schweigen ist Gold

Wer hat meinen Stuhl verstellt?

Was tun, wenn man nichts tut …

Das Gummistiefelmädchen

Bloß nicht betteln!

Erleuchtet bei der Arbeit

10. Grenzenlos

Zu entspannt im Hier und Jetzt

Bloody Mary schlägt zurück

Boxen meets Satsang

Alles ist der Kuchen

Die Geschichte danach

Danke schön, ihr seid bezaubernd

Literatur

Liebe Leserin, lieber Leser,

ich weiß nicht, wie das bei Ihnen ist, aber ich gehöre nicht zu jenen, die als Glückskind auf die Welt kamen und jeden Morgen frohlockend aus dem Bett springen, um die Welt zu umarmen. Schon früh fand ich heraus, dass das Leben hier und da scharfe Kanten hat und dass ich dazu neige, mich daran zu stoßen und mir blaue Flecken zu holen.

Das fing schon damit an, dass ich bei der Schülerauswahl in die Volleyballmannschaft immer übrig blieb und als Teenager zu schüchtern war, um einen von den wirklich guten Jungs abzukriegen. Einmal sah es trotzdem so aus, als hätte ich es geschafft. Er hieß Zack, hatte einen blonden Wuschelkopf und war sehr begehrt. Aber dann stellte sich heraus, dass er nur einen Witz gemacht hatte, als er behauptete, er wolle mit mir gehen. Einen Witz, über den sich alle köstlich amüsierten, der mich aber dazu veranlasste, meine gesamte Garderobe zu überdenken: Meiner Meinung nach lag seine Abfuhr daran, dass ich keinen lässigen grobmaschigen Norwegerpulli aus dem »Dritte-Welt-Laden« trug wie die anderen, sondern den bunten, selbstgestrickten mit Zopfmuster von meiner Mutter.

Lag es an den Genen, an der Erziehung, am Wohnort oder am Schicksal, dass man so war, wie man war, und partout nicht anders sein konnte? Vielleicht konnte man ja doch anders werden, wenn man sich Mühe gab und dazulernte? Der Homo sapiens hatte es ja auch in geraumer Zeit von vier Beinen auf zwei geschafft! Diese Fragen interessierten mich schon sehr früh. Ich wurde zu einer engagierten Beobachterin meiner Umgebung und natürlich auch meiner selbst.

Ich beobachtete als Kind schon mehr, als ich mit Puppen spielte, was ich eigentlich sollte. Ich ließ mich gerade mal dazu hinreißen, einen unserer Stallhasen im Puppenwagen spazieren zu fahren. Aber dann musste er auch gleich wieder in den Hasenknast, damit ich weiterbeobachten konnte – ob oder wie die Welt funktionierte, vor allem mit mir mittendrin. Ich bemerkte immer wieder, dass auch andere in Fettnäpfchen tappten, und übte umso mehr, derlei Fauxpas zu vermeiden, was trotz großer Anstrengung nie gelang. Mein Fazit: Fettnäpfchen gehörten wohl einfach dazu. Aber so viele? Und wo blieb dabei das große Lebensglück? War da eigentlich irgendwas möglich? Was? Und vor allem wann? Ich versuchte, so manchen Blick hinter die offizielle Fassade meiner Mitmenschen zu erhaschen, um mehr über diese Zusammenhänge zu erfahren. So gesehen war mein Leben immer schon eine Art Selbstversuch.

Weil ich so wenig spielte, sondern lieber guckte, musste ich das Spielen im Erwachsenenalter nachholen. Vielleicht wurde ich deshalb Schauspielerin. Ab jetzt kam es auch noch darauf an, in aller Öffentlichkeit flexibel, bodenständig, inspiriert, belastbar und mutig zu sein und möglichst alle Scheuklappen abzulegen, mit denen man sich insgeheim doch recht kuschelig fühlte. Zudem schadete es nicht, wenn man seine geistigen Grenzen erweiterte, um Schauspielrollen tiefgründig anzulegen und facettenreich zu verkörpern. Und richtig großartig war es, wenn man gerade in diesem Business eine durchweg positive Ausstrahlung an den Tag legte.

Das klang plötzlich nach Arbeit an mir selbst! Jetzt hatte das, was bislang nur das Hobby meines frühen Forscherinnengeistes gewesen war, einen offiziellen Namen. Ich war auch nicht mehr allein damit. Ganz viele wollten an sich arbeiten oder weigerten sich partout, an sich zu arbeiten, um dann einzusehen, dass sie doch an sich arbeiten mussten, wenn sie nicht inmitten der Konkurrenz auf der Strecke bleiben wollten. Oder sie litten wie verrückt an Sinnkrisen, Versagensängsten oder Selbstzweifeln und kamen gar nicht an der Auseinandersetzung mit sich selbst vorbei. Auf jeden Fall ging es immer darum, dass sich erst etwas zum Positiven verändern musste, damit man endlich durchstarten konnte.

Dazu kam irgendwann die Frage, wieso wir das alles eigentlich machten und was am Ende dabei herausspringen würde. Klar, alle wollten glücklich und erfolgreich werden – ich vorneweg. (Die Frage, wieso wir nicht einfach von vornherein glücklich und erfolgreich waren, ließ sich nicht so leicht beantworten und setzte besagte Arbeit an uns selbst voraus.) Zudem wollte ich ein ziemlich guter Mensch werden – zumindest eine Zeit lang, bis ich merkte: Das bringt’s auch nicht. All das zusammen konnte der Garant sein, verspätet, aber nicht zu spät doch noch zu jenem Glückskind zu werden, für das ich andere Menschen oft hielt und worum ich sie beneidete.

Deshalb ging der Selbstverbesserungs-, Sinn- und Selbstfindungsrummel überhaupt los. Er dauerte zwanzig Jahre. In dieser Zeit pendelte ich zwischen schlauen Büchern, Kursen, Trainings, Selbstcoachings, spirituellen Seminaren und Meistern und damit auch zwischen Enthusiasmus und Frustration hin und her. Nicht zu vergessen die Phasen, in denen gar nichts passierte oder die neu erworbenen Erkenntnisse wie ein Kartenhaus einstürzten und nichts mehr zusammenpasste. Der eine sagte »Hü«, der andere »Hott«! Dann wiederum schien glasklar zu sein, dass die Weisen und Gescheiten, deren Workshops ich besuchte, alle von ein und demselben redeten: der »Wahrheit«, dem »Jetzt«, der »Erleuchtung«.

Und zwischendurch musste ich ja auch noch Filme drehen, die Wohnung sauber halten und soziale Kontakte pflegen. Ich sage Ihnen, ich könnte Ihnen Geschichten erzählen … Was ich auf den nachfolgenden Seiten ja auch tun werde. Begleiten Sie mich durch zwanzig Jahre Selbstsuche und gestatten Sie mir die eine oder andere Prise künstlerischer Freiheit. Viel Spaß bei der Lektüre!

Namasté und Grüß Gott!

Ihre

Maria Bachmann

München im Januar 2013

Die Welt ist voll von Sachen, und es ist wirklich nötig, dass sie jemand findet.

Astrid Lindgren (19072002)

Richte dein Augenmerk auf dich selbst – und wo du dich findest, lass ab von dir. Das ist das Allerbeste.

Meister Eckhart (um 1260–1328)

1. Ahnungslos

Eine Art Vorgeschichte

Ich betrete als Erste den Tanzsaal der Schauspielschule in Hamburg, stelle meine Wasserflasche ab und gehe in die Mitte des Raums. An einer Stelle knarzt der Parkettboden unter meinen Füßen. Es ist die Stelle, über die ich schon oft versehentlich getanzt bin. Sobald der Boden knarzte, wusste ich: Ich hatte die Richtung verloren. Ich bin zweiundzwanzig und eine der ältesten Studentinnen in meinem Semester.

Bevor ich auf die Schauspielschule ging, war ich ein paar Jahre Arzthelferin bei einem Urologen in der Kleinstadt. Ich legte Bakterienkulturen an und zapfte den Leuten Blut ab, um es dann mit Chemikalien aufzumischen und auf Harnsäure und Kreatinin zu untersuchen. Eines ganz normalen Tages saß ich hinterm Mikroskop und zählte die weißen und roten Blutkörperchen einer Urinprobe. Und gerade als ich mir dachte, dass die Patientin sicher unter einer gesalzenen Blasenentzündung litt, auf Sex bis auf Weiteres verzichten musste und um Antibiotika nicht herumkam, hatte ich eine plötzliche Eingebung. Sie erschien mir wie der Stern von Betlehem den heiligen drei Königen am Tag der Geburt Jesu. Mir ging auf, dass man sich seinen Traum unbedingt erfüllen musste, bevor es zu spät war, und wenn er noch so unerreichbar erschien. Mein Traum war, Schauspielerin zu werden. Also musste ich es werden. Dass auch Tanzen zur Ausbildung gehörte, war mir damals in der Arztpraxis noch nicht klar.

Aber das muss ich jetzt: tanzen. Vor allen anderen. Eine Diagonale in Pirouetten durch einen Raum zu tanzen ist für mich, als wollte ich die Wüste Sahara zu Fuß und ohne Kompass durchqueren. Ich bin sämtlichen Naturgewalten ausgesetzt: der trockenen Luft im Raum, den brennenden Füßen und dem erbarmungslosen Grinsen meiner Mitstudenten. Ich nehme mir vor, die knarzende Stelle heute zu meiden.

»Es wird nicht knarzen«, sage ich mir. »Es wird nicht knarzen.«

Durch das Oberlicht dringt Tageslicht herein. Man kann nicht erkennen, ob die Sonne scheint oder nicht. Das Licht ist neutral, wie alles im Raum. Und dieser Raum wartet darauf, von künstlerischem Können erfüllt zu werden. Ich stehe in der Mitte und versuche, mich dort zu entspannen.

Die Raummitte fordert jeden heraus. Sie ist ein Brennpunkt. Wer dort stark bleibt, obwohl er nicht weiß, wohin mit Armen und Beinen, ist gut. Wer sie durchtanzt und in zwei gleich große Teile teilt, ist gut. Wer dort die Fassung nicht verliert, wenn Zuschauer da sind, ist gut. Ich atme die stickige Luft ein und aus.

»Ich bin selbstbewusst, ich kann es. Ich kann alles erreichen«, sage ich mir im Stillen.

Die Tür wird aufgerissen, die anderen Studenten kommen, fläzen sich auf den Boden. Isa macht erst mal einen Handstand mit Übergang in die Brücke. Dann kommt Kim, die Dozentin. Kim schreit, wir sollen uns aufwärmen. Sie klatscht in die Hände wie im Film A Chorus Line und will gleich die Tanzfolge vom letzten Mal sehen. Ich melde mich als Erste.

Den Kopf aufrecht, den Rücken gerade, aber nicht verspannen, denke ich.

»Au-strallung!«, ruft sie.

Sie will, dass wir strahlen, auch wenn wir versagen. (Das sind Dinge, die in der Urologenpraxis zwar gern gesehen, letztlich aber zweitrangig waren. Besser war, nicht zu strahlen und dafür nicht zu versagen.) Ich sende ein Leuchten durch die angespannten Augen. Ich mache die ersten Schritte, die erste Pirouette.

Ich kann es, denke ich.

Die zweite Pirouette. Dann kommt mein Kopf nicht mehr mit, Arme und Denken sind nicht mehr synchron, das wiederum verwirrt meine Füße. Die dritte Pirouette, und ich höre, wie der Boden unter mir knarzt.

»Was machdt du?«, brüllt Kim. »Wo is dein direction? Da war gar nix, where is your focus

»On the other side of the room«, antworte ich.

»No, your focus is nowhere.«

Sie tastet sich durch die Gegend, als wäre sie blind, und es wird gelacht. Ich will ihr erklären, dass ich den Fokus sehr wohl habe, aber dann … Sie will nichts hören, sondern tanzt mir perfekte Pirouetten vor und streckt nach jeder rasanten Kopfdrehung den Zeigefinger Richtung Ecke, zum anvisierten Ziel.

»Focus, focus, focus.«

Ich nicke.

»If you want to become successful, you better focus. Next one.«

Ich setze mich auf den Boden, nehme einen Schluck aus der Wasserflasche und luge durch das Oberlicht, während Isa, die Begabteste im Jazzdance, leicht wie eine Feder durch den Raum fliegt. Eine Krähe setzt sich auf die Scheibe und pickt an einem nassen Blatt, das vorhin auch schon dalag. Es verfängt sich in ihrem Schnabel. Bis eben wusste die Krähe nicht, dass ihr dieses Blatt zum Hindernis werden würde. Weil sie nicht in die Zukunft schauen kann. Sie versucht, es abzuschütteln. Erfolglos. Sie fliegt krächzend damit weg.

Gut muss man sein. Authentisch. Besonders. Kraftvoll und ausdrucksstark. Besser als die anderen. Sonst fällt man durchs Raster. Banalsein ist langweilig. Und wenn schon banal, dann interessant banal. Individuell muss man sein. Sein Gesicht zeigen, sich selbst zeigen, alles zeigen. Man muss sich fokussieren. Grenzen sprengen. In meinem Semester ist zudem gerade Kaputtsein angesagt, abgewrackt, ein wenig fertig. Man sollte die Nächte durchgemacht haben. Oder durchgevögelt. Oder durchgeweint. Das hat was Künstlerisches. Das ist mysteriös. Ich gebe mir Mühe, wenigstens ein klitzekleines bisschen zu den Kaputten zu gehören.

Da, wo ich herkomme, ist man nämlich nicht kaputt. Man ist anständig, geht jeden Sonntag in die Kirche, und an Fronleichnam streut man frisch gemähtes Gras aufs Trottoir und stellt einen Altar mit Blumen und Kerzen auf. Damit alles schön ist, wenn die Gemeinde in einer Prozession loszieht und der Pfarrer mit der heiligen Monstranz vorbeiwallt. Am Hauptaltar werden sogar biblische Bilder mit bunt gefärbtem Sägemehl ausgelegt. Einmal war es eine Friedenstaube. Und man hofft jedes Jahr, dass es nicht regnet.

Meine Freundin sagt, ich müsse an meinem Selbstwertgefühl arbeiten: »Es muss dir egal sein, was die anderen denken. Du musst dir deiner Wirkung sicher sein. Und du darfst nicht an dir zweifeln.«

Das habe ich vor. Als Arzthelferin reichte es, am Telefon nett und deutlich zu sprechen, »umsichtig und gewissenhaft« zu arbeiten, wie es mir im Arbeitszeugnis bestätigt wurde, und vorausschauend zu denken, wie man es mir in den Fahrstunden für den Führerschein beigebracht hat. Das ist in meinem neuen Beruf zu wenig. Beziehungsweise zu viel: Wer zu weit vorausdenkt, ist berechenbar, und das ist für den Künstlerberuf ganz schlecht. Weil man den spannenden Moment verpasst, in dem das Außergewöhnliche passieren kann.

Ich werde an allem arbeiten, was mich daran hindert, gut, erfolgreich und zweifellos glücklich zu sein. Als Erstes nehme ich in einer Woche eineinhalb Kilo ab. Dünn sieht man schon mal besser aus, selbst wenn man falsch tanzt. Aber das reicht nicht. Ich muss generell an meiner Persönlichkeit feilen. Meine Persönlichkeit muss von der Ersatzbank aufs Spielfeld. Sonst ist meine Karriere beendet, bevor sie angefangen hat.

Ich überlege, an wen ich mich wenden könnte. Mir fällt niemand ein. Mir fällt nur ein, dass ich täglich auf meinem Weg zur Schauspielschule diese orange gewandeten Leute sehe, von denen es irgendwo ein Nest geben muss, so sehr belagern sie neuerdings das Karolinenviertel in Hamburg. Sie gehen in einen bestimmten Hinterhof, und es kommt mir vor, als ob sie sich täglich vermehrten. Sie lachen sehr viel, obwohl es meines Erachtens generell gar nicht so viel zu lachen gibt. Sie scheren sich nicht um den gängigen Modetrend. Ich glaube, dass sie eine eigene Mode erfunden haben, bei der jeder anzieht, was er will. Nur rot oder orange muss es sein. Die Männer gehen nicht zum Friseur und rasieren sich nicht, und die Frauen tragen keine Büstenhalter und rasieren sich auch nicht. Alle sehen besonders aus, selbstbewusst und so exotisch, wie ich es immer gern sein wollte. »Vergammelt« hätte man diesen Menschenschlag in meiner Kleinstadt geschimpft. »Befreit« würde ich sie nennen. Ich gebe mir einen Ruck und beschließe, mir diese Leute näher anzuschauen.

Ich gehe in den Hinterhof im Karolinenviertel und öffne die Eingangstür zum ersten Meditationszentrum Hamburgs. Ein warmer Luftstrom kommt mir entgegen. Es riecht nach Räucherstäbchen. Zu dieser Zeit weiß ich noch nicht, dass dieser Geruch mich die nächsten zwanzig Jahre immer wieder einholen wird.

Im Eingangsbereich sitzt eine Frau mit rotem Haartuch, roter Bluse und orangefarbener Hose. Erst als ich eine Weile dastehe, wird sie auf mich aufmerksam und fragt, ob sie mir helfen könne.

»Ich will mehr Power haben«, sage ich. »Selbstbewusster sein.«

Dass ich auch gern ein bisschen mehr Geld hätte und glücklich verliebt wäre, verschweige ich. Eins nach dem anderen.

Die Frau am Tresen sagt, es gehe hier nicht um Selbstbewusstsein, sondern um Selbstfindung.

Ein großes Wort, denke ich. Wo soll ich suchen und was werde ich finden? Aber es klingt nicht schlecht. Bei der Selbstfindung ist das Selbstbewusstsein ja mit drin. Auch Selbsterfahrung, Selbstverbesserung und Selbstverwirklichung. Ich habe also alles in einem Paket. Ich sage ihr, dass mich das interessiert, und frage, was es kostet. Sie empfiehlt mir kurzerhand eine Meditation, bei der man sich viel bewegt: die »Dynamische Meditation«. Morgens um sechs.

»Das macht mir nichts aus«, sage ich. Je früher man sich findet, umso länger hat man sich.

In meinem kleinen Heimatort war Meditation etwas, von dem eigentlich niemand genau wusste, was es ist und was es soll. Da gab es nur Diaprojektionen an ausgewählten hohen Feiertagen in der Kirche, mit Fotos von sich der Schöpfung beugenden Grashalmen, von Muttergottesmosaiken und Kruzifixen am Wanderweg. Dazu las jemand mit eindringlicher Stimme einen Bibeltext, meist irgendetwas über die Auferstehung Jesu. Dazu wurde Richard Clayderman vom Band gespielt. Bei diesen Meditationen guckten alle Gläubigen sehr grimmig, was in unserem Dorf als kontemplativ galt, und hinterher versicherte man einander, wie »besinnlich« es gewesen sei. Und dass es mal »was anderes« war. Dann gingen alle nach Hause und aßen Sauerbraten mit Knödeln. Das Mittagessen schmeckte nach der Meditation nicht anders als sonst. Und hängende Mundwinkel blieben hängende Mundwinkel. Vielleicht auch, weil das Wort »Meditation« so was Anrüchiges hatte, als ginge es um eine Sekte.

Zu solch einer Sekte pilgere ich jetzt, und das fühlt sich verwegen an. Die Luft ist morgens um halb sechs noch unverbraucht und frisch. Auf dem Weg frage ich mich, wie ich wohl sein werde, wenn ich mich zu meinem Vorteil verändert habe. Ob man es mir ansehen wird. Ob man mich darauf ansprechen wird: »Du hast dich selbst gefunden, stimmt’s?«

Und wie viel Zeit ich wohl einrechnen muss, bis ich mich gefunden habe. Wenn ich es bis zu meinem beruflichen Durchbruch schaffen würde, hätte ich den Rest meines Lebens zum Auskosten. Ich würde den perfekten Mann finden – natürlich einen, der sich auch gefunden hat –, und ich würde in einem großen Haus mit Garten leben, gemäß meinen Bedürfnissen. Ich würde Gutes tun, wäre souverän, stark, großzügig, liebevoll, erfolgreich, würde mich gesund ernähren und einen traumatisierten Hund aus dem Tierheim holen. Ich hätte keine Fragen mehr. Ich wäre erfüllt und wunschlos glücklich.

Die Zentrumstür steht sperrangelweit offen, ich gehe hinein. Ich bin die Erste im Meditationsraum und habe Zeit, mir den Meister anzuschauen. Er heißt Bhagwan Shree Rajneesh, ist Inder, hängt in Überlebensgröße an der Wand und schaut mich an. Er hat Augen wie eine Kuh. Seine Hände sind manikürt und feingliedrig und erinnern mich an die Hände von Jesus. Zumindest so, wie ich sie mir als Kind vorstellte. Aber da Jesus angeblich Zimmermann oder Fischer war, konnte er unmöglich diese manikürten Hände haben, korrigiere ich mich im Nachhinein.

Als Kind war ich in Jesus verliebt wie andere in Howard Carpendale. Jesus gehörte zu den Guten. Er flößte mir Vertrauen ein, und wenn ich mich vor Schulaufgaben fürchtete, konnte er immer noch helfen, mir eine gute Note zu verschaffen. Wenn nicht, dann hatte er es aus unerfindlichen Gründen nicht gewollt. Da war Jesus eigenwillig.

Immer, wenn ich in der reich bebilderten Kinderbibel – ein Geschenk meines Cousins zu meiner ersten heiligen Kommunion – jene Seite aufschlug, auf der Jesus auf dem See Genezareth mit ausgebreiteten Armen und feingliedrigen Händen dem Sturm gebot und seinen Jüngern die Angst nahm, fühlte ich mich sicher.

Das ist lange her. Bhagwan hat auch diese Jesushände. Deshalb bleibe ich.

Der Raum füllt sich mit Männern und Frauen, die alle rot gefärbte, weite Klamotten tragen. Manche verbeugen sich vor dem Bild ihres Lehrers und legen die Hände vor der Brust in Gebetshaltung zusammen. Aber anders als in der katholischen Kirche. Anmutiger. Freiwilliger. Die Dynamische Meditation beginnt, und ich bin bereit für die große Veränderung.

Die Trommelklänge kommen vom Band. Laut. Wummernd. Was wir tun sollen, wird angesagt. Ich schnaube wie die vierzehn anderen beharrlich durch die Nase, pumpe mit den Armen nach, presse die Luft aus mir heraus und mit ihr all meine Selbstbewusstseinsprobleme beim Jazzdance und auch sonst im Leben: die Liebeskümmereien, die Angst, die Schule nicht zu schaffen, die Neidattacken, die Sorge, dass meine Eltern recht haben könnten und ich mit diesem Beruf nie eine müde Mark verdienen werde und einfach nur größenwahnsinnig bin – und die Angst, dass ich selbst nicht merke, dass ich vielleicht wirklich größenwahnsinnig bin, und deshalb eines Tages unter der Brücke lande.

Dann kommt die Katharsis. Explodieren, die Wut hinausschreien. Welche Wut? Ich schreie, ich schauspielere schlecht, weil in mir keine Wut ist. Ich soll nichts zurückhalten, sagt der Meditationsleiter, ein Mann, der einen Vollbart trägt und älter aussieht, als er ist. Was soll ich nicht zurückhalten? Es ist das Gleiche wie in der Schule. Ich soll etwas aus mir herausholen, was gar nicht da ist. Ich muss erfinden. Ich muss so tun, als ob. Ich bin mir sicher, dass das falsch ist. Und wieder werde ich angespornt, alles rauszulassen.

»Immer in Bewegung sein! Ausflippen!«, befiehlt er.

Wieso ist es so schwer, wütend zu werden? Habe ich in meinen jungen Jahren nicht schon genug erlebt, dass ich tagelang nur schreien könnte? Denk an Pitti, den dir deine beste Freundin weggeschnappt hat! Denk an Horst, für den du die halbe Nacht zu Klängen von Chris-de-Burgh-Schnulzen aufgeblieben bist! Und am nächsten Tag kam raus, dass die Platte praktischerweise noch vom Rendezvous am Vortag auf dem Plattenteller lag!

Jetzt in die Luft springen. Ich springe, weil ich glaube, dass Hüpfen morgens um sechs das Beste ist, was es für mich gibt. Ich hüpfe und schreie: »Huh-huh-huh!« Weitermachen, den Schweinehund namens »mangelndes Selbstbewusstsein« besiegen. Man muss das Hüpfen wollen, man muss das Huh-Schreien wollen. Man muss überhaupt alles wollen, was man will, rast es mir durch den Kopf. Sonst macht es keinen Sinn. Man darf nicht nur so tun, als wollte man es – Karriere, Liebe, Glück. »Huh-huh-huh!«

Ich stehe weitere fünfzehn Minuten lang im »Freeze«, das heißt: Ich erstarre bewegungslos in der Haltung, in der ich gerade stand, als der Gong ertönte. Die Arme nach oben geworfen, als wäre ich eingefroren. Das ist die Übung. Ich halte den Schweiß aus, der mir aus allen Poren rinnt. Ich darf ihn mir nicht abwischen, auch nicht, wenn er mich kitzelt und mir den Rücken hinunterläuft. Ich spüre den Kampf in mir: Ich will mich bewegen und diesen anstrengenden Blödsinn beenden. Ich will sogar kurzfristig zurück ins Urinlabor.

Aber Bhagwan, der Chef, wird sich doch sicher etwas dabei gedacht haben, als er diese Technik erfand. Das Stillstehen kommt mir bei weitem kathartischer vor als das Explodieren. Ich glaube, ich spüre sie schon langsam, die Katharsis. Es ist ein Triumph: Ich bin stärker als der Drang, mich zu bewegen. Ich bin stärker als das Weichei in mir. Ich bin voller Energie. Absolute Stille im Raum. Ich höre nur Atmen. Auch die anderen sind stärker als ihr inneres Weichei, und das gibt mir noch mehr Power. Wenn viele durchhalten, funktioniert es besser.

Als endlich ganz fein, wie aus weiter Ferne, spielerisch tändelnd die Musik beginnt, bewege ich mich langsam, auflösend, erlösend. Ich tanze zu indischen Klängen. Ich kenne die Instrumente nicht. Der Schweiß klebt getrocknet an mir. Ich bin müde und wach zugleich. Die Männer und auch einige Frauen um mich herum stinken wie die Tiere. Mein Schweiß riecht nicht. Ich bin sicher, dass ich an das stinkende Tier in mir noch nicht richtig rangekommen bin. Aber wenn ich es erst mal gefunden habe, werde ich wie ein ganzer Raubtierkäfig stinken.

»Der Verstand muss Sklave werden«, sagt der schwarz gelockte Typ neben mir unter der Dusche. Frauen und Männer duschen zusammen, und ich tue so, als würde es mir nichts ausmachen.

Ich sage ihm, dass ich den doch zum Denken brauche, den Verstand. Wie soll ich sonst die Straße überqueren? Wenn er versklavt ist, wer hat denn dann das Sagen?

»Das Ego muss weg«, widerspricht der Lockenkopf.

Aber als egoistisch habe ich mich nie wirklich empfunden. Ich müsste eigentlich viel egoistischer sein. Sicher habe ich etwas Grundlegendes auf meinem beginnenden Selbstwerdungsweg noch nicht verstanden. Aber wie gesagt, ich komme vom Land, wo kein Mensch er selbst wird. Das wäre pure Zeitverschwendung. Weil man in der Zeit, die es braucht, man selbst zu werden, längst den Vorgarten umgegraben oder die frisch gewaschenen Wohnzimmergardinen aufgehängt haben könnte.

Ich habe viel nachzuholen. Erst viel später erfahre ich, dass das Ego nicht unbedingt etwas mit Egoismus zu tun hat. Und dass Verstand und Ego ein und dasselbe sein sollen.

»Ich komm jetzt öfter«, sage ich.

Der Schwarzgelockte seift mit Hingabe seinen Penis ein und antwortet mit einem bestätigenden »Yeah«. Dann bin ich ganz schnell weg.

Als Kim in der nächsten Jazzdancestunde fragt, wer anfangen will, gehe ich in Position. Ich halte den Kopf gerade, hebe das Kinn über mein gewohntes Maß hinaus: Schritt, Schritt, Schritt, Drehung, Drehung, bislang alles gut, Drehung. Ich bemerke, wie meine Arme nicht nachkommen, aber ich halte durch, ich bin stark, denke an die kathartische Standphase bei der Dynamischen, bleibe standhaft und konzentriert, Drehung, Drehung. Meine Füße wollen sich verstolpern, aber sie tun es dann doch nicht, als hätten sie sich angesichts eines eventuellen Happyends umentschieden, Drehung, Drehung. Ich verliere die Kontrolle, merke, dass ich versage – und lasse es laufen. Drehung, Drehung. Ich versage gleich.

Ich drehe mich, ich versage – nicht! Ich lande nicht in der anvisierten Ecke, sondern an der Wand. Aber: Der Boden hat nicht geknarzt!

Mir ist schwindlig, und Kim schreit nicht. Die Dynamische funktioniert, frohlocke ich und blicke durch das Oberlicht, das heute mit nassen Herbstblättern übersät ist. Ich möchte wissen, wie sie riechen.

»Next«, ruft Kim und zu mir: »Da war viel besser.«

Ich hole Luft und sage es endlich. Nach Monaten der Zurückhaltung wage ich, es ihr zu sagen. »Kim, es heißt ›das‹, nicht ›da‹. Das war viel besser

Sie schaut mich irritiert an: »Meine Deutz ist ein Katastroph.«

Ja, denke ich. So wie früher meine Pirouetten. Ich bin mir sicher, dass mein Verstand bald Sklave wird und nicht mehr denkt, dass ich nicht gut genug bin.

Nach der Stunde rutscht es mir in der Cafeteria vor den anderen raus: »Ich mache jetzt die Dynamische.« Das war ein großer, großer Fehler und ich wurde von den Ehrgeizigsten der Klasse sofort umringt. Aber egoistisch war ich nicht.

Tatsächlich bin ich das nächste Mal nicht mehr allein beim Dynamischen Meditieren. Isa ist da. Trotz ihrer Dauermüdigkeit, mit der sie ständig kokettiert, hat sie es sich nicht nehmen lassen zu kommen. Zusammen mit Jan. Dann noch Christian und Sybille. Jetzt gibt es selbst hier einen harten Konkurrenzkampf. Vor allem in der Wutphase. Sie wälzen sich hemmungslos auf dem Boden, brüllen herum und ernten Lob vom bärtigen Swami Prem Anand, der mich diesmal ignoriert. Ich stehe in der Ecke, schlage halbherzig auf ein Kissen ein und frage mich, warum. Ich spüre keine Wut. Erst recht nicht, wenn die anderen den großen Zampano geben und sich derart aufplustern, dass mein Meditationsradius auf die Größe eines Mauselochs schrumpft.

Es ist das Gleiche wie an der Schule: Leistungsdruck und mangelndes Durchsetzungsvermögen. Am Ende ist die Meditation eine Widerspiegelung meines Alltags? Ist es das, was ich erkennen soll? Geht es gar nicht darum, sich besser zu fühlen, sondern deutlicher zu sehen, was man falsch macht?

Auf dem Küchentisch in meiner Wohngemeinschaft finde ich den Bestseller Schicksal als Chance des Esoterikers Thorwald Dethlefsen, in dem steht, dass es in Wirklichkeit keine Probleme gebe. Und dass eine Situation für jemanden nur problematisch wird, wenn er das, was er erlebt, nicht in sein Bewusstsein integrieren kann. Und: Man solle immer daran denken, dass ein Problem nur den Niveau-Unterschied zwischen einer Situation und einer Bewusstseinslage darstellt und man deshalb herausgefordert ist, es zu lösen, indem man daraus lernt.

Was mich vom meinem Glück abhält, ist also nur eine winzige Kluft zwischen Bewusstsein und Lebenssituation. Und die zu schließen kann ja wohl nicht so schwierig sein.

Alles wird besser. Weil ich besser werde. Ich weiß es.

Es prickelt …

Zehn Jahre später ist alles anders. Ich lebe nicht mehr in Hamburg, sondern in München. Eine Liebe und eine Comedyrolle haben mich nach Bayern verschlagen. Aber gerade bin ich für ein Dreivierteljahr in Berlin. Ich habe keine Zeit mehr für langwierige Selbsthinterfragungen. Ich habe es sowieso ohne große Arbeit an mir selbst geschafft. Vielleicht, weil ich doch ein Glückspilz bin.

Ich stehe vor der Kamera und drehe bis morgens um vier. Ich spiele die Hauptrolle in einer neuen Krankenhausserie. Kriege wenig Schlaf. Der Produktionsfahrer klingelt mich wach. Ich habe verpennt. Ich muss mit dem Programmchef von SAT.1 nach Hamburg zur Pressekonferenz. Mit dem Flieger selbstverständlich – es wäre uncool, mit dem Boss per Bahn zu reisen. Ich springe unter die Dusche, ich muss gut aussehen. Bin die einzige Schauspielrepräsentantin des Senders. Keine Zeit zum Zähneputzen. Ein Kaugummi tut’s zur Not auch. Ich zwänge mich halbnass in Klamotten und Highheels. Zu spät für den BH. Ich pfeffere ihn zu Zahnbürste und Schminkzeug in meine coole Designertasche. Küsschen-Küsschen am Flughafen. Der Chef ist müde. Der Flug turbulent. Ich schnalle mir in der Flugzeugtoilette den BH um. Kleine Brüste halten mich nicht von einer großen Karriere ab. Dekolleté stimmt. Make-up na ja. Beim Aussteigen sehe ich um die Augen aus wie Alice Cooper. Der Flug war schuld.

Make-up-Reparatur in der Maske. Reichlich Presse bei der Konferenz: »Maria Bachmann, die Sympathieträgerin, die den Einschaltquoten des Senders Flügel verleihen wird! Die Frau, die für frauenaffines Fernsehen steht, weil sie großes Identifikationspotenzial mitbringt.«

Applaus-Applaus. Blitzlichtgewitter. Make-up-Refreshing und Fotoshooting für die neue Autogrammkarte. Draußen warten Autogrammjäger. Müssen mit der alten Autogrammkarte vorlieb nehmen. Ich sage ihnen, dass es bald eine neue gibt.

Zurück in Berlin. Meine Suite, siebzig Quadratmeter mit Blick auf den Potsdamer Platz, ist aufgeräumt und wohltemperiert. Habe die Qual der Wahl. Im Karton liegen drei Abendkleider. Eines glitzert zu sehr. Für das andere müsste ich mir die Brüste machen lassen. Ich nehme das dritte.

Die schwarze VIP-Limousine holt mich ab. Deutscher Filmpreis. Langer, roter Teppich. Gefühlte zehn Kilometer. Ich brauche eine halbe Stunde, bis ich drüber bin: Fotos knipsen, Journalistenfragen. Wer wohl den Preis kriegt, von welchem Designer mein Kleid ist. Und noch ein schönes Lächeln. Zweieinhalb Stunden Show, Preise und Prominente. Ich lächle immer noch. Smalltalk mit Kollegen und Produzenten. Buffet und Prickelwasser. Der VIP-Service wartet. Als ich rauskomme, steht eine champagnerfarbene Stretchlimo da. Sie fährt mich zur Paris Bar. Ich steige aus. Alles kriegt Halsstarre und guckt. Fotos fürs Familienalbum. Drin eigentlich alles voll. Man rückt zusammen. Die frische, gestärkte Tischdecke wird glattgestrichen.

Ein Absacker unter Künstlern, Geschäftsleuten, Feinsinnigen, Freunden, Angebern und Dünnbrettbohrern. Zigarrendunst. Sexappeal. Gesprächsfetzen. Ein Steak mit Bohnen, raw, am Nachbartisch. Muss ein Kannibale sein. Mein Regisseur ist da. Er lädt mich in seine Datsche ein. Ich weiß erst mal nicht, was das ist (und assoziiere die hessische Kopfbedeckung damit, die »Batschkapp«.) Aber jetzt weiß ich es. Der Kellner gibt einen aus. Sagt, wie schön die Dame ist. Er meint mich.

Ich falle todmüde ins Bett. Meine Füße tun weh. Habe Angst vor Hallux valgus. Weil ich dann keine Highheels mehr tragen kann. Nachts träume ich von orthopädischen Gesundheitsschuhen mit Klettverschluss, die ich zum Glitzerabendkleid trage.

Ein Tag später: Filmpremiere. Arnold Schwarzenegger holt mich auf dem Teppich ein. Die Presse stellt uns zusammen. Jetzt könnten wir auch ein Paar sein. Ich kenne Arnold nicht. Sie blitzen uns fast blind. Begeisterte Fotografen, die mich lieben. Bin sicher, dass sie mir eine heiße Milch ans Bett bringen, wenn ich krank bin.

Meine Serienrolle wird ausgebaut, ich kriege mehr »private Geschichte«. Habe mehr Text. Lerne ihn sonntags bei einem Gläschen Schampus im Hyatt an der Bar. Zahle immer mit Kreditkarte. Regisseur und Drehpartner kommen dazu. Das Drehbuch funktioniert nicht. Wir besprechen die Szenen bis nachts. Ich schreibe Szenen um. Erst für lau, später für Geld.

Der Tag darauf: nach Drehschluss Opener-Dreh für die Serie mit neuem Team. Der Regisseur kennt die Rolle nicht, will sie anders inszenieren. Das geht nicht. Ich diskutiere, muss der Rolle treu bleiben. Nach sechzehn Stunden kleines Interview fürs Radio. Ich habe auch mal moderiert. Während der Schauspielschule.

Mich plagt ein weher Rücken, ein verkanteter Wirbel, was weiß ich. Muss frühmorgens zum Arzt. Werde vorgezogen, er setzt mir Akupunkturnadeln in den Kopf und gibt mir seine Handynummer. Falls was ist. Draußen wartet der Fahrer. Es geht direkt zum Modeshooting für ein Frauenmagazin. Vier Doppelseiten. Die Hairstylistin kämmt mir die vergessenen Nadeln aus den Haaren. Die Klamotten passen nicht, und die Auswahl wird klein. Wir faken fürs Shooting. Sehe »großartig« aus. Pose. Trinke zu wenig, dehydriere. Wir beeilen uns, das Wetter ist schlecht, und das Licht geht weg. Ich habe Kopfschmerzen. Gönne mir im Hotel eine Ganzkörpermassage. Ein Zwei-Meter-Bodybuilder mit Kopftuch um die Stirn trabt tapfer auf dem Laufband im Fitnessbereich und schwitzt sich zwei Kilo weg. Es ist der Kampfkunstschauspieler Steven Seagal aus L.A.

Anfrage für Kochen für den guten Zweck mit Kollegen aus Film und Fernsehen. Ich sage zu, rühre im Topf, werde dabei gefilmt, gucke interessiert in die Töpfe der anderen, werde auch dabei gefilmt, die anderen gucken interessiert in meinen. Ich erzähle in die Kamera, dass ich Hausmannskost mag, und kriege eine Kochschürze geschenkt. Keiner isst von den Köstlichkeiten, alle haben noch einen dringenden Termin. Schade um das schöne Essen. Aber allein mag ich auch nicht dasitzen. Hole mir später was vom Glutamat-Asiaten.

In der zwölften von dreizehn Folgen habe ich einen Blackout beim Drehen. Ich stehe im Studio vor dem Sonografiegerät, auf der Liege der Patient. Ich kriege den Text nicht raus. Medizinische Wörter. Es sind viele. Mein Kopf ist leer, nichts geht mehr. Auch nicht nach einer Pause. Ich kann nicht mehr logisch denken. Werde ins Hotel gefahren. Ich will keinen Arzt, nur Ruhe. Sie schicken mir Blumen – »Gute Besserung«. Am nächsten Tag geht es wieder. Bis zur letzten Klappe.

… wie Champagner

Als die wöchentliche TV-Serie ein halbes Jahr später anläuft, sitze ich mit ein paar Freunden vorm Fernseher und feiere meinen Erfolg. Wir lassen die Korken knallen.

Ich habe mich erholt und sage, dass ich den besten Beruf der Welt habe. Wenn die Kamera auf mich gerichtet ist, ist es so, als würde ich mich einem nahen Freund anvertrauen. Dieser Freund ist unbestechlich, ich kann ihm nichts vormachen. Er sieht immer, was echt ist und was nicht. Mit jeder Rolle erwecke ich einen erfundenen und auf Papier hingeschriebenen Menschen zum Leben. Und für den trage ich die Verantwortung.

Ich habe herausgefunden, dass ein Protagonist unablässig mit sich oder dem Leben streiten, hadern oder verhandeln muss. Seine Fragen dürfen nicht beantwortet werden. So bleibt er spannend. Man will erleben, wie es ihn beutelt, wie er wieder aufsteht, sich nicht unterkriegen lässt und siegt. Oder wie er mit seinen Unzulänglichkeiten, mit seinem Pech klarkommt. Verrückt, dass eine Rolle erst wirklich gut ist, wenn sie das bietet, was man im echten Leben unbedingt vermeiden will: Probleme. Und wenn die Rolle im Drehbuch keine hat, denkt man sich eben welche für sie aus. Manchmal ist das im echten Leben allerdings auch so.

Eine Rolle zu entwickeln ist ein Abenteuer. Vor allem, wenn man selbst gut drauf ist, nur den Himmel als Grenze hat, und wenn der Rubel rollt. So wie jetzt bei mir. Die nächste Staffel mit dreizehn Folgen soll bereits wenige Monate später gedreht werden, und ich freue mich auf die Arbeit, auf das Team und die Kollegen – und auf die dusseligen Wartezeiten zwischen den Szenen, in denen man immer versucht ist, ein Kilo der herumstehenden Süßigkeiten in sich hineinzustopfen, und mit den Kolleginnen über Diäten diskutiert, die man nach Drehende ganz bestimmt ausprobieren will. Alles ist in bester Ordnung. Das Einzige, was mir noch fehlt, ist der richtige Kerl. Und der wird mir höchstwahrscheinlich bei den anstehenden Dreharbeiten begegnen. Oder auf der Straße.

Aber wenn es das Leben wirklich gut mit einem meint, schickt es nicht den passenden Lebensmann, sondern ein mittleres bis großes, ganz persönliches Erdbeben, das einen wieder auf Spur bringt.

Am Ende der Fahnenstange

Mein Telefon klingelt. Es ist meine Agentin, die mir mitteilt, dass der Programmchef bei SAT.1 gewechselt habe und deshalb meine Serie trotz annehmbarer Quoten nicht weiterproduziert werde. Sie meint, dass es grandioses Pech sei, in einer solchen Umstrukturierungsphase durchs Raster zu fallen, und dass es ihr sehr leid tue. Es gebe zudem seit dem Ende der Dreharbeiten keinerlei Anfragen für mich, weil alle glauben, ich sei sowieso ausgebucht.

Ich lege auf, gehe ins Café um die Ecke und lasse mir einen Cappuccino und einen Käsekuchen bringen. Und zwei Minuten später einen Nussschnaps. Der Alkohol rinnt mir seidig den Rachen hinunter. Ich stiere minutenlang durch die verschmierte Fensterscheibe. Den Krümeln nach zu urteilen, muss ein Kind hier ein Croissant gleichmäßig auf der Scheibe verrieben haben. Dann greife ich nach der Zeitung vom Nebentisch. Ablenkung muss her.

Ich lese oberflächlich die Überschriften und bleibe im Wirtschaftsteil hängen. Der Fondsmanager einer US-Geldanlage ist am Flughafen Frankfurt festgenommen und in Handschellen abgeführt worden. Unlautere Machenschaften. Was manche Leute so anstellen! Wie schön, dass mein Geld gut angelegt ist. Zwar auch in einer US-Anlage, aber bombensicher. Es steht sogar ein Foto neben dem Artikel. Ich schaue mir das Bild genauer an, man kann kaum etwas erkennen. Dann lese ich den Artikel ganz durch und sehe mir noch mal das Foto an. Mein Käsekuchen will mir wieder hochkommen. Ich seziere das Foto bis ins Detail. Eindeutig: Der Mann in Handschellen sieht aus wie der Kollege meines Anlageberaters! Es heißt, dass keiner der Anleger auch nur einen Dollar seiner Investition wiedersehen werde. Es ist der Kollege meines Anlageberaters. Ich leere das Schnapsglas, lehne mich zurück und gucke wieder durch die Scheibe.

Draußen läuft eine Frau mit einem Kinderwagen vorbei. Sie geht in Zeitlupe. Genau wie ihr Hund, der ihr in einigem Abstand folgt. Er bellt in Zeitlupe. Sein Schwanz wedelt in Zeitlupe. Ich frage mich, wie das Tier das hinkriegt. Die Musik im Café wird lauter und dröhnt mir durch den Kopf. Schreckliches Technozeug. Die Bedienung tanzt beim Tischeabräumen. Auch in Zeitlupe.

Alle Geldanleger, darunter ich, gucken in die Röhre. Meine mit Herzblut erarbeitete und angeblich krisenfest angelegte Erfolgsgage ist auf Nimmerwiedersehen weg. Meine finanzielle Sicherheit auch. Meine Rente! Und mein Rückhalt für Notzeiten erst recht. Ich bestelle einen zweiten Nussschnaps.

Mein vertrauenswürdiger Berater ist von diesem Tag an weder auf dem Handy noch in seinem Büro zu erreichen. Und ein paar Tage später gibt es keinen Anschluss mehr unter dieser Nummer. Der Mistkerl hat sich verdünnisiert und von einem Moment zum anderen meine gesicherte Existenz in ein Desaster verwandelt.

Es ist heiß an diesem Tag. Ich radle zur Isar und lege mich ins Gras. Ich schäme mich fürchterlich für mein Versagen. Wenn irgendwelchen abgehalfterten Schlagersängern so was passiert und darüber im Fernsehen berichtet wird, schüttle ich sonst nur den Kopf und zappe weiter. Und jetzt ich! Wie peinlich! Wie konnte ich nur so naiv sein!

Es ist schwer zu ertragen, dass eine einzige windige Person so viel Einfluss auf den Verlauf meines Lebens hat. Ich fühle mich betrogen, ausgenommen wie eine Weihnachtsgans. Aber es scheint nicht nur meine berufliche und finanzielle Niederlage zu sein, die mich so runterzieht … Da ist dieses allgemeine Unwohlsein, das ich bisher immer weggeschoben habe. Und das es schon länger gibt, wenn ich ehrlich bin. Das ich nie ernst genommen und als »Luxuslaune« bezeichnet habe. Und das angesichts meines finanziellen und beruflichen Desasters die Gelegenheit beim Schopf ergreift, sich aufbläht und nicht mehr kleinzukriegen ist. Es ist ein Gefühl, wie wenn man immer zu wenig Schlaf kriegt. Wie wenn man eigentlich langsamer gehen möchte, es aber nicht tut. Wie wenn man weniger lachen möchte, als man es tut. Und wie wenn man sich schelten möchte, weil es keinen Grund gibt, sich nicht bombig zu fühlen. Nun habe ich sogar einen richtig guten Grund, mich richtig schlecht zu fühlen.

Ich bin mir auf einmal sicher, dass mir vielleicht doch nur die große Liebe fehlt. Jemand, der mich glücklich macht oder den ich glücklich machen kann. Oder eine andere Schauspielagentin mit besseren Kontakten. Ein Steuerberater, der gewieft ist, und ein Hund von einem Anwalt, der mir mein Geld wieder beschafft. Oder doch die Brust-OP? Vielleicht sollte ich trotz fehlender finanzieller Mittel nach Berlin ziehen. Mir wurden schon mehrere Wohnungen am Prenzlauer Berg angeboten, für die Hälfte meiner Münchner Miete. Am Prenzlberg würde schnell alles besser werden. Ich könnte auch innerhalb Münchens umziehen – Tapetenwechsel wirkt manchmal Wunder.

Vielleicht neue Klamotten? Eine Typveränderung wäre es vielleicht. Oder öfter mal raus in die Natur? Ich könnte einen Kletterkurs machen, Extremsport. Aber es gibt keinen Impuls, auch nur eine dieser Ideen umzusetzen. Vielleicht sollte ich freiwillig im Altenheim aushelfen, damit ich nicht mehr so viel um mich selbst kreise. Ich bin sicher zu egozentrisch geworden und kann nicht mehr über den Tellerrand meiner aufgebauschten Problemchen gucken.

Erfolg verdirbt den Charakter, heißt es. Sicher bin ich schon verdorben. Gemeinnützige Arbeit machen, anderen Gutes tun – das wäre es! Eine Hospizausbildung absolvieren und Sterbende begleiten. Da sein, wenn sie etwas brauchen, zuhören, ihnen vorlesen und dabei mein kleines, aufgeblähtes Ego schmelzen lassen. Dabei würde ich ganz schnell demütig und zufrieden werden. Ich würde am Abend mit einem guten Gefühl zu Bett gehen und wüsste: Ich habe etwas Sinnvolles getan.

Aber ich komme mir vor wie ein verloren gegangenes Mitglied der Blechbüchsenarmee aus der Augsburger Puppenkiste, das mit verbeultem Blechbüchsenkörper auf dem Rücken liegt, noch ab und zu unmotiviert strampelt und zusehen muss, wie die anderen euphorisch zu ihren lebenswichtigen Blechbüchsenkampfeinsätzen rollen. Ich dagegen stöhne nur dumpf in der Staubwolke, die sie hinterlassen. Die Luft ist raus. Ade, Kampfgeist!

Ich erinnere mich an meine Schauspielschulzeit, in der das Kämpfen so wichtig war wie das Atmen. Und ich denke an Bhagwan Shree Rajneesh, der inzwischen Osho heißt, und daran, wie er mich »Huh-huh« rufend auf und ab hüpfen ließ. Man muss das Wollen wollen, denke ich. Man darf nicht aufgeben. Man muss die Verbesserung wollen, die Arbeit an sich selbst. Ich raffe meine demolierten Blechbüchsengliedmaßen zusammen und: will.