Zum Buch
Im Jahr 1989 warnte Bill McKibben mit seinem Buch »Das Ende der Natur« als einer der ersten vor dem Klimawandel. Sein neuer Aufruf ist umso dringender und weitreichender – die Menschheit ist dabei, nicht weniger als ihr Fortbestehen aufs Spiel zu setzen. Der Klimawandel ist heute, so McKibben, ein Hebel, der unsere Welt von Grund auf verändert. Die konzentrierte wirtschaftliche Macht in den Händen einiger weniger Spieler ist ein weiterer. Genauso die radikalen Konsequenzen der modernen Genetik sowie das Streben der Tech-Mogule nach künstlicher Intelligenz, das nach dem Sinn menschlichen Daseins gar nicht mehr fragt.
In »Die taumelnde Welt« tritt Bill McKibben einen großen Schritt zurück, um dieses gesamte »Spiel der Menschheit« zu betrachten: Welchen Lauf nimmt es, wer macht die Regeln, und wie wollen wir es in Zukunft spielen?
Zum Autor
Bill McKibben, geboren 1960 in Palo Alto, Kalifornien, ist einer der profiliertesten Umweltaktivisten der Vereinigten Staaten und Autor zahlreicher Bücher, einige davon Bestseller. Er ist Gründer der Initiative 350.org, die für die Reduktion von CO2-Emmissionen kämpft. Im Sommer 2006 führte er die größte Demonstration in der US-amerikanischen Geschichte gegen die globale Erwärmung an. 2014 wurde er mit dem Alternativen Nobelpreis geehrt. McKibben lebt mit seiner Familie in Vermont.
Bill McKibben
Die taumelnde Welt
Wofür wir
im 21. Jahrhundert
kämpfen müssen
Aus dem Amerikanischen
von Sigrid Schmid
Blessing
Die Originalausgabe erscheint unter dem Titel
FALTER – HAS THE HUMAN GAME BEGUN TO PLAY ITSELF OUT?
bei Henry Holt and Company, New York
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Copyright © 2019 by Bill McKibben
Copyright © 2019 by Karl Blessing Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München,
unter Verwendung eines Motivs von Shutterstock/musicman
Satz: Leingärtner, Nabburg
e-ISBN: 978-3-641-25427-8
V001
www.blessing-verlag.de
Für Koreti Tiumalu (1975–2017)
und für Tausende weitere geschätzte Kolleginnen und Kollegen,
die für die Zukunft des Planeten kämpfen
Inhalt
Prolog: Hoffnung
ERSTER TEIL Das Spielfeld
ZWEITER TEIL Wirkmacht
DRITTER TEIL Was auf dem Spiel steht
VIERTER TEIL Der Hauch einer Chance
Epilog: Geerdet
Danksagung
Anmerkungen
Prolog: Hoffnung
Vor dreißig Jahren, im Jahr 1989, schrieb ich das erste Buch über den Klimawandel – den wir damals noch Treibhauseffekt nannten – für ein breites Publikum. Wie der Titel, Das Ende der Natur, bereits andeutete, war es kein fröhliches Buch, und seine düstere Stimmung hat sich leider als berechtigt erwiesen. Ich schrieb darin, die Menschen hätten den Planeten so sehr verändert, dass jeder kleinste Winkel durch unser Handeln beeinflusst würde. Ein Jahrzehnt später bestätigten Wissenschaftler diese Einschätzung und gaben unserer Ära den Namen »Anthropozän«.
Auch im vorliegenden Buch geht es düster zu – in gewisser Hinsicht sogar noch düsterer, weil inzwischen einige Jahre vergangen sind und wir den Karren noch tiefer in den Dreck gefahren haben. Die taumelnde Welt bietet einen Überblick über den Verlauf der Klimakrise sowie die aktuellen technologischen Entwicklungen wie die künstliche Intelligenz, in denen ich ebenfalls Gefahren für eine menschliche Zukunft sehe. Das Experiment Mensch wird derzeit durch ökologische Zerstörung und technologische Hybris infrage gestellt. Es steht viel auf dem Spiel, die Chancen stehen schlecht, und die Vorhersagen sind entmutigend. Zweifellos gibt es unterhaltsamere Bücher.
Mit seiner düsteren Grundstimmung stellt sich dieses Buch gegen den aktuellen Trend. In den letzten Jahren wurden Dutzende viel beachtete Bücher geschrieben und an die hundert TED-Vorträge gehalten, die davon künden, dass die Welt immer besser wird. Sie zeigen anhand zahlloser Schaubilder, dass die Säuglingssterblichkeitsrate gesunken und das Einkommen gestiegen ist, und vermitteln kopfschüttelndes Unverständnis darüber, wie ein vernünftiger Mensch überhaupt auf die Idee kommen kann, dass wir in düsteren Zeiten leben. Steven Pinker erklärt in Aufklärung jetzt beispielsweise, wir alle seien nicht so glücklich, wie wir es angesichts der fantastischen Entwicklungen, die unsere Welt erlebt hat, sein sollten: »Stattdessen meckern, klagen, stöhnen, maulen und jammern die Leute so ausgiebig wie eh und je.«1
Ich bin froh, dass es solche Bücher gibt, weil sie uns daran erinnern, wie viel wir zu verlieren haben, wenn unsere Zivilisation tatsächlich zusammenbrechen sollte. Aber die Verbesserungen der Lebensbedingungen in den letzten Jahrhunderten beweisen nicht, dass uns eine rosige Zukunft bevorsteht. Denn auf uns könnten völlig neuartige Bedrohungen warten – manche bestehen jetzt schon. Ein Mensch kann jahrelang wachsen, gedeihen, Reichtümer und Bildung anhäufen und dann plötzlich von einer höheren Gewalt (Krebserkrankung, Busunfall) niedergestreckt werden – und dasselbe gilt für ganze Zivilisationen. So wie Macht und Besitz auf der Welt derzeit verteilt sind, sind wir denkbar schlecht darauf vorbereitet, mit diesen neuen Herausforderungen fertigzuwerden. Bisher werden wir nicht mit ihnen fertig.
In einem Punkt jedoch bin ich weniger pessimistisch als früher. Die taumelnde Welt endet mit der Überzeugung, dass es zumindest möglich ist, sich vor diesen Bedrohungen zu schützen. Und diese Überzeugung verdankt sich zu einem großen Teil dem menschlichen Einfallsreichtum – es gibt mir täglich Mut, wenn ich sehe, wie sich weltverändernde Technologien, wie zum Beispiel Solarzellen, rasant verbreiten. Zu einem weiteren großen Teil ist diese Überzeugung auf Ereignisse in meinem eigenen Leben zurückzuführen. Ich habe mich in zahlreichen Bewegungen engagiert, die sich für einen Wandel einsetzen, und war Mitgründer der Gruppe 350.org, aus der die erste weltweite Klimabewegung entstand. Wir haben die fossile Energiewirtschaft zwar nicht besiegt, aber Demonstrationen in jedem Land der Erde organisiert (außer in Nordkorea) und mithilfe unserer vielen Kollegen auf der ganzen Welt einige Schlachten gewonnen. Derzeit unterstützen wir all jene, die sich intensiv für einen »Green New Deal« in den Vereinigten Staaten und ähnliche Maßnahmen auf der ganzen Welt einsetzen. (Dieses Buch ist meiner geschätzten Kollegin in diesem Kampf Koreti Tiumalu gewidmet, die im Jahr 2017 viel zu jung starb.) Ich habe einige Gefängnisse von innen gesehen und an unzähligen Protestkundgebungen teilgenommen, und dieser Weg hat mich gelehrt, dass wir imstande sind, Machtmonopolen entgegenzutreten.
Ob diese festgefahrenen Machtverhältnisse rechtzeitig überwunden werden können, muss sich erst noch erweisen. Ein Autor schuldet dem Leser keine Hoffnung, nur Ehrlichkeit. Doch ich möchte darauf hinweisen, dass der Verfasser dieses Buches nicht hoffnungslos ist. Sondern engagiert. Ansonsten hätte ich mir nicht die Mühe gemacht, diesen Text zu schreiben.
ERSTER TEIL
Das Spielfeld
1
Wenn Sie sich die Erde von ganz weit oben betrachten würden (und in diesem Buch soll, so gut es geht, ein distanzierter Blick herrschen), wären Dächer wohl der augenfälligste Hinweis auf eine menschliche Zivilisation. Es gibt sie in vielen verschiedenen Formen, die oft vom Klima vor Ort abhängen. Von A-förmigen Dächern rutscht der Schnee gut ab. Da gibt es Mansarddächer, Walmdächer und Satteldächer. Pagoden und andere asiatische Tempel haben oft ein konisches Dach. Russische Kirchen sind von zwiebelförmigen Kuppeln gekrönt; westliche Kirchen kauern sich unter Türme.
Die ersten menschlichen Behausungen waren wahrscheinlich mit Palmwedeln bedeckt, doch mit dem Aufkommen des Getreideanbaus im Neolithikum wurde das Abfallprodukt Stroh zur verlässlichen Dachdeckung. Manche Strohdächer in Südengland sind 500 Jahre alt. Im Lauf der Jahrhunderte wurden immer weitere Schichten hinzugefügt, und einzelne Strohdächer sind inzwischen mehr als zwei Meter dick. Heute erfreuen sich Strohdächer vor 1allem bei reichen Europäern, die eine ökologische Dachdeckung wollen, zunehmender Beliebtheit, obwohl es immer schwieriger wird, gutes Material zu finden – die kurzhalmigen Weizensorten eignen sich nicht so gut, und Stickstoffdünger schwächen die Strohhalme. In Deutschland können Dachdecker die Spezialausbildung zum Strohdachdecker machen. Doch mindestens seit dem dritten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung bevorzugen die meisten Menschen harte Dächer. (Vielleicht waren die altgriechischen Tempel die ersten Gebäude, die man für wertvoll genug hielt, um sie so vor Feuer zu schützen.) Im Mittelmeerraum und in Kleinasien fanden Terrakottaziegel schnell Verbreitung. Schieferdächer werden ihrer einfachen Wartung wegen geschätzt, in waldreichen Regionen bieten sich Holzschindeln und Rindenstücke an. Bedenkt man, dass heutzutage über eine Milliarde Menschen in städtischen Slums schlafen, ist es vorstellbar, dass Wellblech das verbreitetste Dach über unseren Köpfen darstellt.
Sie finden das etwas langweilig? Gut. Ich möchte mit Ihnen über das »Spiel der Menschheit« sprechen, und dazu gehören Kultur und Wirtschaft und Politik; Religion, Sport und gesellschaftliches Leben; Tanz und Musik; Essen, Kunst, Krebs, Sex und Instagram; Liebe und Verlust; alles, was die Lebenserfahrung unserer Spezies ausmacht. Leider liegt es außerhalb meiner Möglichkeiten, mich mit allem zu befassen. Daher habe ich nach dem denkbar alltäglichsten Aspekt unserer Zivilisation gesucht. Kaum jemand verschwendet einen Gedanken an das Dach über dem Kopf, solange es dichthält. Aber selbst am Beispiel des gewöhnlichen und glanzlosen Dachs lässt sich zeigen, wie komplex, stabil und weitreichend das Spiel der Menschheit ist.
Man nehme nur die Bitumenschindel, die die allermeisten Häuser im Westen bedeckt und zweifellos als ödeste Art der Bedachung gelten darf. Erstmals hergestellt wurden sie im Jahr 1901 von der H. M. Reynolds Company in Grand Rapids im US-Bundesstaat Michigan. Beworben wurde das Produkt damals mit dem Slogan »The Roof That Stays Is the Roof That Pays« (»Ein Dach, das lange hält, macht sich bezahlt«). Natürliche Vorkommen von Bitumen gibt es nur wenige auf der Erde – der Ölsand im kanadischen Alberta zum Beispiel besteht vor allem aus Bitumen. Aber das Bitumen, aus dem Schindeln gemacht werden, entsteht bei der Raffination von Erdöl. Es ist der Teil des Öls, der bei 370 Grad Celsius noch nicht verdampft ist. Durch Destillation wird Bitumen von anderen wertvollen Produkten wie Benzin, Diesel und Naphtha getrennt und dann unter hohen Temperaturen gelagert und transportiert, bis es weiterverwendet wird, vor allem im Straßenbau. Ein Teil des Bitumens landet allerdings in Schindelfabriken, in denen Mineralstoffe (Schiefer, Flugasche, Glimmer) zugeschlagen werden, um die Haltbarkeit zu erhöhen. Die CertainTeed Corporation ist der größte Schindelhersteller der Welt und betreibt 61 Fabriken überall in den USA. In der Produktionsstätte in Oxford, North Carolina, drehte das Unternehmen einmal ein Video über diesen »unterschätzten Prozess«: ein Maschinenballett, in dem eingegossen, ausgekippt und auf Förderbändern transportiert wird. Güterzüge liefern Kalk an, der zermahlen und mit heißem Bitumen vermengt wird. Die Mischung wird dann auf endlose Matten aus Glasfasern aufgetragen und mit Wasser besprüht, um sie abzukühlen. Danach werden die Bahnen zu Schindeln geschnitten und auf Paletten in riesigen Lagerhallen zur Auslieferung bereitgestellt.2
Tausende von Einzelschritten müssen aufeinander abgestimmt werden, damit das alles funktioniert: Das Öl muss gefördert werden (womöglich aus der Tiefsee oder in der Wüste); Pipelines und Bahnstrecken müssen verlegt, Ölraffinerien gebaut werden. Und für all das muss ausreichend Geld zur Verfügung stehen. Auch Kalk und Sand müssen abgebaut, die endlosen Glasfaserbahnen hergestellt werden. All diese Rohstoffe werden von der Fabrik in North Carolina eingesaugt und als fertige Schindeln über Bahnlinien und Lkws in ein Netz aus Baumärkten wieder ausgespuckt. Von dort transportieren Baufirmen sie zu Baustellen im Vertrauen darauf, dass die Schindeln auf ihre Widerstandsfähigkeit gegen Wind, Feuer und Verfärbung getestet wurden. Man bedenke weiterhin, welch enormen Organisationsaufwand die Standardisierungsorganisation American Society for Testing and Materials betreiben musste, um den Standard D3462-87 (»Bitumenschindeln aus Glasfasern mit einer Mineralschicht«) zu erstellen und durchzusetzen.
Solche Überlegungen könnte man natürlich für alles und jedes anstellen, das wir um uns herum sehen, hören und riechen – auch für die tausendmal interessanteren Aktivitäten, die unter all diesen Dächern ablaufen. Im Moment höre ich zum Beispiel auf Spotify die Band Orchestra Baobab, in den 1970er-Jahren Hausband eines Nachtclubs in Dakar und von den kubanischen Rhythmen beeinflusst, die Seeleute in den 1940er-Jahren aus Westafrika mitbrachten. Ihr bestes Album nahm die Band in einem Pariser Studio auf, bevor es irgendwie auf einem Computerserver landete, sodass es heute von 196 847 Menschen rund um den Erdball Monat für Monat abgerufen werden kann. Man stelle sich das Zusammenspiel von Geschichte, Technologie, Handel, Spiritualität und Swing vor, das genau jenen Sound ausmacht, der gerade aus meinen Kopfhörern strömt – die diversen Schichten von Kolonialismus und die Fragen nach Hautfarbe, Identität, Pop und der reinen Lehre. Oder auch nur, was ich heute zu Abend esse, oder was Sie gerade anhaben – wirklich alles ist an Bedingungen geknüpft, und diese Verknüpfungen lassen sich in jeden Winkel unserer Vergangenheit und Gegenwart zurückverfolgen.
Was ich als Spiel der Menschheit bezeichne, ist unvorstellbar tiefgreifend, komplex und wunderschön. Aber es ist auch in Gefahr. Und es gerät derzeit ernsthaft aus der Balance.
In diesem Buch werde ich erklären, worin diese Gefahr besteht, und einige Möglichkeiten aufzeigen, wie sie sich vielleicht noch abwenden lässt. Aber erst möchte ich darauf hinweisen, wie stabil das Spiel der Menschheit ist, bevor ich zu seiner Zerbrechlichkeit komme. Wir Menschen haben gemeinsam etwas Bemerkenswertes aufgebaut, dessen wir uns nur selten wirklich bewusst sind. Die Gesamtsumme all unserer Projekte, aller Institutionen und Unternehmen, unserer Wünsche und Träume und Mühen, die Gesamtheit unserer rastlosen Aktivitäten … ist ein Wunder. Ich nenne es ein Spiel, weil es kein offensichtliches Ende gibt. Wie bei jedem Spiel zählt nicht wirklich, wie es ausgeht, zumindest nicht aus Sicht des Universums, aber wie jedes Spiel beansprucht es die volle Aufmerksamkeit der Mitspieler. Es gibt zwar kein Endziel, aber es gibt Regeln oder zumindest eine Ästhetik: Nach meiner Definition läuft das Spiel gut, wenn es die Würde der Mitspieler erhöht, und schlecht, wenn es diese Würde mindert.
Indikatoren für Würde gibt es im Zusammenhang mit dem Spiel der Menschheit zahlreiche: Gibt es genug zu essen (in Kalorien gemessen)? Muss ein Mensch Angst leiden? Hat er/sie etwas anzuziehen und kann einer nützlichen Arbeit nachgehen? Bei einigen dieser Punkte haben wir große Fortschritte gemacht. Extreme Armut (also wenn man von zwei US-Dollar oder weniger am Tag leben muss) ist heute weitaus seltener als früher. Auch viele Krankheiten, deren Verbreitung durch Armut gefördert wurde, sind zurückgegangen, wie etwa Wurmbefall. Im Vergleich zum 20. Jahrhundert ist die Wahrscheinlichkeit, dass man durch eine Gewalttat ums Leben kommt, heute deutlich geringer – von den 56 Millionen Menschen, die im Jahr 2012 starben, wurden nur 120 000 gewaltsam umgebracht.3 Der Anteil der Menschen, die lesen können, hat sich in den letzten zwei Generationen signifikant gesteigert und liegt jetzt bei 85 Prozent.4 Frauen haben heute besseren Zugang zu Bildung und sind zumindest minimal gleichberechtigt. Hatte eine Frau im Jahr 1970 noch durchschnittlich fünf Kinder, so sind es heute weniger als zweieinhalb; das entspricht dem wahrscheinlich schnellsten und bemerkenswertesten demografischen Wandel, den die Erde je erlebt hat. Um das Jahr 1500 erwirtschaftete die Menschheit Güter und Dienstleistungen im Wert von etwa 250 Milliarden US-Dollar. Fünfhundert Jahre später ist diese Zahl 240-mal so groß und liegt bei 60 Billionen US-Dollar.5 Optimistische Botschaften gibt es zuhauf, von Steven Pinkers Aussage, wir befänden uns in einem Zeitalter der beispiellosen Aufklärung, bis zu Donald Trumps Twitter-Nachricht: »Das Land wird von unglaublichem Optimismus erfasst – wir bringen die ARBEITSPLÄTZE zurück!«
Wir sind so sehr an die Vorstellung von Fortschritt gewöhnt, dass viele sich gar nichts anderes vorstellen können. Der ehemalige Chefökonom der Weltbank, Kaushik Basu, prognostizierte kürzlich, in fünfzig Jahren werde das globale BIP um 20 Prozent pro Jahr zunehmen. Damit würden sich Einkommen und Konsum etwa alle vier Jahre verdoppeln.6 Jeden Tag werden neue Ideen geboren, neue Lieder gesungen, neue Bilder aufgenommen, mehr Tore geschossen, mehr Schulbücher gelesen und mehr Geld investiert.
Und dennoch. Der ehemalige Chefökonom der Weltbank ist nicht die einzige Autorität auf der Welt. Papst Franziskus schrieb in seiner wegweisenden Umwelt-Enzyklika Laudato si’: »Die Erde, unser Haus, scheint sich immer mehr in eine unermessliche Mülldeponie zu verwandeln.« Wem ein Papst als Autorität nicht reicht, den könnte Folgendes interessieren: Im November 2017 veröffentlichten 15 000 Wissenschaftler aus 184 Ländern eine dringende »Warnung an die Menschheit«. Auch in diesem Text gab es Schaubilder, wie bei Pinker, aber sie zeigten den Rückgang der Süßwasserressourcen pro Kopf und die Ausbreitung von »Todeszonen« in den Weltmeeren. Laut Prognose der Wissenschaftler droht der Welt »weit verbreitetes Elend und [ein katastrophaler] Verlust der Biodiversität«; sie warnten, »bald wird es zu spät sein, um den Kurs Richtung Abgrund zu korrigieren«. (Sechs Monate nach der Veröffentlichung hatte diese Warnung bereits den sechsten Platz der meistdiskutierten akademischen Artikel aller Zeiten erreicht.)7 Inzwischen sind die Bedenken so groß, dass eine von der NASA finanzierte Gruppe kürzlich das Human-and-Nature-DYnamics-Programm (HANDY) ins Leben gerufen hat, um den Niedergang des römischen Weltreichs, der Han-Dynastie sowie des Maurya- und des Gupta-Reichs nachzubilden. Die Prognose, die das Programm ausspuckte, war beunruhigend: »Die globale industrielle Zivilisation könnte in den nächsten Jahrzehnten zusammenbrechen, weil ihr Ressourcenverbrauch nicht aufrechtzuerhalten und der Wohlstand zunehmend ungleich verteilt ist.« (Die Tatsache, dass ich vom Maurya-Reich noch nie gehört hatte, ließ mich erschaudern.) Eine der größten Gefahren laut diesem Modell stellten übrigens Eliten dar, die sich mit der Begründung gegen einen Strukturwandel wehrten, »so weit« habe doch alles gut funktioniert.8
Das Problem ist eben immer dieses »so weit« – wie der Mann, der vom Wolkenkratzer fällt, feststellen muss. Es lassen sich jede Menge Hinweise darauf finden, dass auch wir uns dem Aufprall beunruhigend schnell nähern. Ein Drittel der Ackerböden weltweit ist heute ernsthaft degradiert, was laut einem Bericht vom September 2017 »einen dauerhaften Rückgang der Produktivität« zur Folge hat.9 Wir haben fast alle anderen Tierarten verdrängt: Menschen machen heute 30 Prozent der Gesamtmasse aller Landwirbeltiere der Erde aus, unser landwirtschaftliches Nutzvieh bringt weitere 67 Prozent auf die Waage. Das bedeutet, dass alle anderen Wildtiere (alle Hirsche und Geparde und Wombats zusammen) nur 3 Prozent der Gesamtmasse ausmachen.10 Tatsächlich gibt es heute nur noch halb so viele Wildtiere auf dem Planeten wie im Jahr 1970 – und die Natur verstummte fast unbemerkt. Im Jahr 2018 berichteten Wissenschaftler über ein rasantes Sterben der ältesten und größten Bäume der Erde, »weil der Klimawandel neue Schädlinge und Krankheiten in die Wälder lockt«. Ein Baobab-Baum – der afrikanische Affenbrotbaum, in dessen Schatten schon die ersten Menschen jagten und sich versammelten – kann bis zu 2 500 Jahre alt werden, aber in den letzten zehn Jahren sind fünf der sechs ältesten Exemplare auf dem Planeten abgestorben.11 Bis zum Ende des Jahrhunderts könnte der Klimawandel auch den Libanonzedern – die schon Gilgamesch geplündert hatte und die in der Bibel erwähnt werden – den Garaus machen, wenn der Schnee ausbleibt und die Sägewespen in der Wärme früher schlüpfen.12
Sogar unsere Archen drohen zu sinken. In weiser Voraussicht legten Agrarwissenschaftler in einem Berg im arktischen Spitzbergen einen Saatgut-Tresor an, um dort eine Million Saatgutvarianten der wichtigsten Nahrungspflanzen der Erde sicher zu lagern. Doch der Tresor war gerade acht Jahre in Betrieb, als im heißesten Jahr, das je auf der Erde gemessen wurde, Schmelzwasser und Regen den Stolleneingang überfluteten und dann dort gefroren. Das Saatgut wurde nicht beschädigt, aber die Erbauer waren sich nun nicht mehr sicher, dass ihr Bau die Jahrhunderte überdauern würde. Ein Sprecher der norwegischen Regierung sagte: »Wir hatten nicht bedacht, dass der Permafrost tauen könnte, und auch derart extreme Wetterlagen nicht eingeplant.«13
Dennoch lassen wir uns durch nichts bremsen – ganz im Gegenteil. In den letzten fünfunddreißig Jahren haben wir mehr Energie und Ressourcen verbraucht als in der ganzen bisherigen Menschheitsgeschichte.14 Jede Wirtschaftsprognose unserer Regierungen setzt voraus, dass sich die Wirtschaft während der Lebenszeit der Jüngsten auf dem Planeten mehrmals verdoppelt. Die bisherige Leistung lässt sich also nur schwerlich als Indikator für die Zukunft heranziehen – es sieht aus wie das gleiche Spiel, aber es findet auf einem neuen Spielfeld statt.
Wir sind die erste Spezies, die sich ihrer selbst bewusst ist, und wir sind so sehr von unserer eigenen Geschichte gefangen genommen, dass wir nur selten innehalten und uns klarmachen, wie kurz diese Geschichte eigentlich ist. Das mag Teil des Problems sein. Wenn man die Milliarden Jahre, in denen sich das Leben auf der Erde entwickelt hat, auf 24 Stunden umrechnen würde, dann hätte unsere Zivilisation erst vor einer Fünftelsekunde begonnen, das vergessen wir im Alltag oft.15 In dieser kurzen Zeitspanne zähmten wir das Feuer, entwickelten Sprache und Landwirtschaft. Verglichen mit der menschlichen Lebensdauer brauchten diese Veränderungen unendlich viel Zeit, aber in geologischen Maßstäben dauerten sie nur einen Wimpernschlag. Heute haben wir es mit Veränderungen (die Entwicklung von Nuklearwaffen, der Siegeszug des Internets) zu tun, die viele unserer Überzeugungen in Echtzeit verändern. Der Umstand, dass in dieser kurzen Zeitspanne eine Zivilisation nach der anderen aufstieg und fiel, sollte uns zu denken geben. Manchmal geschieht das auch – Jared Diamonds Buch Kollaps etwa fasziniert uns mit seinen Geschichten vom Scheitern vergangener Zivilisationen, von Grönland bis zu den Osterinseln.
Aber diese Warnungen beruhigen uns gleichzeitig, weil es ja immer irgendwie weiterging. Nachdem Rom gefallen war, stieg etwas anderes auf. Der fruchtbare Halbmond verdorrte zur Wüste, aber die Menschen fanden anderswo Orte, wo sie ihre Nahrung anbauen konnten. Geschichten, die uns davor warnen sollen, unsere Grenzen zu überschreiten (der Apfel im Garten Eden, der Turm zu Babel, Ikarus), kommen uns albern vor, weil wir eine Grenze nach der anderen überschritten haben und immer noch da sind.
Manchmal werden wir für eine kurze Zeit aufgeschreckt, aber das vergeht regelmäßig wieder. So entstand die Umweltbewegung, als der Konsum nach dem Zweiten Weltkrieg weltweit sprunghaft anstieg, und warf die Frage auf, ob diese Entwicklung nachhaltig war. Ihren ersten Höhepunkt erreichte die Bewegung im Jahr 1972 mit der Veröffentlichung des schmalen Büchleins Die Grenzen des Wachstums. Die Autoren sagten mit Computermodellen voraus, dass das ungebremste Wirtschaftswachstum »irgendwann in den nächsten hundert Jahren« an natürliche Grenzen stoßen würde, und dass dies, wenn keine einschneidenden Veränderungen vorgenommen werden, »höchstwahrscheinlich zu einem abrupten und unkontrollierten Rückgang bei Bevölkerungszahlen und wirtschaftlicher Kapazität« führen werde. Genaue Angaben zum Wie und Wo machten sie allerdings nicht. Alternativ könnten die Länder der Welt »einen ökologischen und ökonomischen Zustand herstellen, der auf lange Zeit hin nachhaltig ist«. Diese Aufgabe werde umso leichter, je früher man sie angehe.16 Offensichtlich haben wir das nicht getan. Wir haben zwar den Umweltschutzgedanken halbwegs ernst genommen und Gesetze erlassen, die für saubere Luft und sauberes Wasser sorgten, aber wirtschaftliches Wachstum war uns immer sehr viel wichtiger. Auf dem Weg zum UN-Umweltgipfel 1992 in Rio de Janeiro erklärte US-Präsident Bush senior: »Der American Way of Life steht nicht zur Debatte.«17 Wie sich herausstellte, hatte er nicht nur recht, er sprach auch für den Großteil der restlichen Welt. Bisher sind wir damit durchgekommen: Das Spiel geht weiter, obwohl wir immer mehr aufs Gas treten.
Warum sollte dann meine Angst, dass die Menschen ausgespielt haben, berechtigt sein? Die Ursache für meine Bedenken lässt sich mit einem Wort zusammenfassen, das in diesem Buch in der einen oder anderen Form regelmäßig auftauchen wird: Wirkmacht. Wir sind ganz einfach so groß und agieren so schnell, dass jede Entscheidung enorme Risiken birgt.
Auch der Fall Roms war eine ziemlich große Sache, aber eben nicht überall auf der Welt, denn in weiten Teilen der Erde hatte man vom römischen Imperium noch nie gehört. Die Mayas brachen nicht in Schweiß aus, als Rom fiel, ebenso wenig die Chinesen oder die Inuit. In einer eng vernetzten Welt ist das anders. Sie bietet eine gewisse Stabilität – jeder kann, zum Beispiel, in jedem Land die Warnung der Wissenschaft vor einem bevorstehenden Klimawandel hören –, aber der Schutz, den die Entfernung bietet, entfällt. Allein das schiere Ausmaß unseres Konsums beschert uns Wirkmacht in einer völlig neuen Größenordnung: Kein römischer Kaiser hätte den pH-Wert der Ozeane verändern können – wir haben das in kurzer Zeit geschafft. Und die so nie dagewesene Reichweite unserer Technik verstärkt unsere Macht auf außergewöhnliche Weise; in diesem Buch werden wir die immer höheren Rechenleistungen, die uns in vielerlei Bereichen gottähnliche Macht verleihen, in den Blick nehmen, von der Gentechnik bis zur künstlichen Intelligenz.
Für die Menschheit könnte also alles perfekt laufen oder genauso gut auch schrecklich schiefgehen. Die Menschen haben sich zu einer zerstörerischen geologischen Kraft entwickelt – die rapide Zersetzung natürlicher Kreisläufe auf der Erde, die noch reine Theorie war, als ich Das Ende der Natur schrieb, ist heute nicht nur in vollem Gang, sondern schon sehr viel weiter fortgeschritten, als den meisten Leuten klar ist. Auf der Klimakonferenz 2015 in Paris setzten sich die Regierungen der Welt das Ziel, den Temperaturanstieg auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen oder zumindest unter 2 Grad Celsius zu halten. Der Weltklimarat IPCC berichtete im Herbst 2018 allerdings, dass wir die 1,5-Grad-Marke womöglich schon im Jahr 2030 überschreiten werden. Wir haben also eine Grenzlinie in den Sand gezogen und sehen jetzt zu, wie die Flut sie innerhalb von nur eineinhalb Jahrzehnten wegschwemmt.
Gleichzeitig haben Menschen enorme schöpferische Kräfte entwickelt, die die Menschheit zwar nicht zu zerstören, aber zu ersetzen drohen. Die Robotik ist mehr als nur eine weitere Technik, und die künstliche Intelligenz ist mehr als nur eine weitere Verbesserung wie etwa Bitumenschindeln. Beides sind Ersetzungstechnologien, die uns womöglich irgendwann überflüssig machen. Welchen Sinn hat das Spiel der Menschheit, wenn wir keine Menschen mehr sind?
Während unserer kurzen Karriere als Spezies hat die Geschichte der Menschheit Höhen und Tiefen erlebt, hat sich festgefahren und ist vorangestürmt, stagnierte und florierte. Doch erst jetzt haben wir genug Wirkmacht erreicht, um ihr ein Ende setzen zu können, sowohl durch Sorglosigkeit als auch Absicht. Ein Wissenschaftlerteam wies kürzlich in der Zeitschrift Nature darauf hin, dass sich die physischen Veränderungen durch die von uns verursachte Klimaerwärmung »weit länger auswirken werden, als die Geschichte der menschlichen Zivilisation bisher andauert«.18 Der israelische Historiker und Futurist Yuval Harari schrieb: »Sobald wir die technischen Möglichkeiten haben, das menschliche Gehirn umzubauen, wird Homo sapiens verschwinden, die menschliche Geschichte wird zu Ende gehen und ein völlig neuer Prozess beginnen, den keiner von uns heute auch nur begreifen könnte.«19 Unser Spiel wird also weder mit einem Knall noch mit einem Wimmern enden, sondern mit dem Gurgeln eines steigenden Meeresspiegels und dem leisen Geburtspiepen einer digitalen Zukunft.
Zum ersten Mal laufen wir Gefahr, uns selbst alle Möglichkeiten für einen Rückzug im Notfall zu verbauen. Als Rom fiel, gab es schon etwas anderes. Mit Begriffen aus dem Flipperspiel, dem wahrscheinlich schönsten und gleichzeitig sinnlosesten Spiel überhaupt, könnte man sagen, dass wir immer eine neue Flipperkugel bekamen, eine weitere Chance. Aber wir verursachen derzeit so große Veränderungen, dass langsam der ganze Flipperautomat kippt – bis er völlig verstummt. Wir haben zugelassen, dass in unserer Gesellschaft eine immer größere Ungleichheit entstand, und so kam es, dass die wichtigsten Entscheidungen auf diesem Weg von nur einer Handvoll Menschen an einer Handvoll Orten getroffen wurden, etwa von Ölkonzernmanagern in Houston oder IT-Moguln im Silicon Valley und in Shanghai. Ein paar Menschen an wenigen Orten in einzelnen Momenten, die einer bestimmten Philosophie folgen – das ist Wirkmacht im Quadrat. Der Einfluss, den das Geld dieser Menschen auf unsere Politik hat, multipliziert die Wirkmacht noch weiter. Mir macht das Angst.
Es macht mir Angst, obwohl ich weiß, dass das Spiel der Menschheit nicht perfekt ist – niemand überlebt es, und alle müssen Trauer und Verlust durchleben. Für sehr viele Menschen ist es tragischer, als es sein müsste – und oft liegt das daran, dass das Spiel zum Vorteil mancher und zum Nachteil anderer manipuliert ist. Ich hatte Glück dabei, und daher ist das Spiel für mich womöglich attraktiver als für andere. Vielleicht wird sein Verlust für diejenigen, die heute geboren werden, gar nicht mehr so schmerzhaft sein. Sie werden kaum den Verlust von etwas betrauern, das sie gar nicht kennen. Schließlich beweinen wir ja auch nicht das Aussterben der Dinosaurier. Mit ausreichend Abstand kann man über alles philosophische Betrachtungen anstellen – irgendwann wird die Sonne schließlich explodieren. Aber ich kann mit so viel Philosophie nicht umgehen; für mich, wie für viele andere, ist das Ende dieses Spiels die größte vorstellbare Tragödie. Wenn man sie sich überhaupt vorstellen kann.
Daher werden wir kämpfen; manche tun es bereits. Und ich glaube daran, dass wir ein paar Auswege finden werden, auch wenn ihre Erfolgschancen gering sind. Damit wir Erfolg haben, müssen Konservative und Fortschrittsgläubige gleichermaßen umdenken. (Merkwürdigerweise kümmern sich Konservative nur selten darum, etwas zu konservieren oder zu bewahren; Fortschrittsgläubige halten jeden Fortschritt für positiv.) Und wenn dieses Umdenken schnell genug stattfindet, könnte das Spiel weitergehen – Wissenschaftler schätzen, dass sich die Sonne erst in etwa fünf Milliarden Jahren zum roten Riesen aufblähen und über die Erdumlaufbahn hinaus ausdehnen wird. Ich bin weder Optimist noch Pessimist, nur Realist genug, um zu erkennen, dass wir uns engagieren müssen, wenn wir noch eine Chance haben wollen.
Das Spiel der Menschheit folgt keinen Regeln und hat kein Ziel, aber es setzt zwei Dinge zwingend voraus: Es muss weitergehen. Und es muss menschlich bleiben.