Eine Reise auf den Spuren
der Scharia durch die Wüsten
des alten Arabien zu den Straßen
der muslimischen Moderne
Erste Auflage 2014. Alle Rechte vorbehalten.
Copyright der deutschen Ausgabe:
© MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH, Göhrener
Straße 7, 10437 Berlin
Copyright © 2012 by Sadakat Kadri
Erstausgabe 2012 bei Bodley Head, Großbritannien
Gestaltung: Tomas Mrazauskas, Berlin
Herstellung: Hermann Zanier, Berlin
ISBN 978-3-88221-293-8
eISBN 978-3-95757-052-9
www.matthes-seitz-berlin.de
Prolog. Unendliche Gerechtigkeit
Teil eins. Die Vergangenheit
1 Die Niederlegung des Rechts
2 Von den Offenbarungen zur Revolution
3 Das Entstehen der Rechtsschulen
4 Die Gläubigen führen
5 Die sunnitische Herausforderung und die Antwort der Schiiten
6 Das zerstörte Kalifat: Ein Gott ohne Schatten
7 Die Neuerfindung der Tradition: Der Salafismus
8 Der Dschihad: Widerstreitende Rechtsauffassungen
Teil zwei. Die Gegenwart
9 Neuerungen und ihre Gegner: Das islamische Recht und die Herausforderung des Wandels
10 Strafe und Mitleid: Die moderne Wiederbelebung des islamischen Strafrechts
11 Kein Zwang in der Religion? Apostasie, Blasphemie und Toleranz
12 Himmel auf Erden
Danksagung
Anmerkungen
Bibliografie
Personen- und Sachregister
Außerhalb des Subkontinents ist die nordindische Stadt Badaun kaum bekannt, bei den indischen Muslimen genießt sie jedoch hohes Ansehen. Sieben alte islamische Schreine umgeben die Stadt und stellen in der näheren Umgebung einen Anziehungspunkt für Besucher dar. Eine spirituelle Besonderheit hat sie immer berühmt gemacht: Sie sollen die Austreibung von Dschinnen erleichtern – was bei den Armen, den Gläubigen und den Verzweifelten großes Gewicht hat. Die Dschinnen der Region sind im Volksglauben keine dienstbaren Geister, wie sie in manchen Märchen vorkommen, so etwa in dem Märchen »Aladins Wunderlampe«. Sie sind unberechenbare Wesen, die den Menschen übel mitspielen können und regelmäßig von ihrem Leben Besitz ergreifen. Die Opfer werden plötzlich von Niedergeschlagenheit oder Unzufriedenheit befallen, sind von ungewöhnlichen Ideen besessen und lallen zwanghaft Unverständliches, schlagen wild um sich oder töten sogar manchmal. Da ganze Familien die Leidtragenden sind, findet man Dutzende von ihnen beim größten der Schreine, wo sie vorübergehend auf einem Friedhof in Verschlägen hausen und auf die wundersame Heilung ihrer heimgesuchten Verwandten warten. Hier herrscht ständig ein lebhaftes Treiben, zu dem ein nahegelegener Markt beiträgt, und wenn Hunderte von Tagesausflüglern am Tag vor den Freitagsgebeten ankommen, bekommt die Szenerie geradezu etwas Karnevalistisches. Das Spektakel hat mich gleichermaßen entsetzt und fasziniert, seit ich 1979 im Alter von 15 Jahren das erste Mal Badaun – die Geburtsstadt meines Vaters – besuchte. Die älteren Verwandten ermahnten mich, dieser Stätte donnerstagabends fernzubleiben. Im Frühjahr 2009 schaffte ich es endlich, mich über ihre Ermahnungen hinwegzusetzen.
Lange nach Einbruch der Dämmerung kam ich beim Schrein an. Die Lichtungen zwischen den Neem-Bäumen vibrierten von den Trommeln und Akkordeons einer Schar von Musikern, die sich einem monotonen Singsang hingaben. Ich bahnte mir meinen Weg durch Knäuel von Pilgern, vorbei an dunklen Gestalten, die etwas vor sich hin murmelten oder um die Holzpfähle herumhüpften, an die sie angekettet waren. Schließlich erreichte ich den marmornen Hof im Zentrum des Mausoleums. Das alltägliche indische Chaos schien sich mit einer Szene aus Hexenjagd vermischt zu haben. Im schimmernden Mondlicht ließen Mädchen mit strahlenden Augen ihre Köpfe so schnell kreisen, dass ihre Haare wie Propeller durch die Luft fegten, während senile oder verwirrte Ältere mit Grabsteinen redeten. Als ich mich gerade mit meiner Kameraausrüstung beschäftigte, trat ein junges Mädchen, gestützt von besorgten Verwandten, nach vorn und brach zitternd in den wartenden Armen von zwei Bediensteten des Schreins zusammen. Dann fielen andere in Ohnmacht und wurden sachkundig beiseite geschafft, um neuen Ohnmachtsopfern Platz zu machen. Inmitten der hysterischen Menschen und ihrer Helfer sah man radschlagende Kinder, die ihr Glück kaum fassen konnten. Es dauerte Stunden, bis das Chaos abebbte und wieder so etwas wie Frieden an den Grabstätten einkehrte.
Als ich zum Haus meiner Verwandten zurückkehrte und über eine Wiese ging, auf der verwitterte Grabmale aus dem 14. Jahrhundert standen, fragte ich mich, was ich mit dem gerade Erlebten anfangen sollte. Ich war nach Indien gekommen, weil ich das pralle, bunte Leben suchte, nachdem ich mich ein Jahr lang in Bibliotheken vergraben hatte. Jetzt sah es so aus, als hätte ich es im Übermaß gefunden. Will man einen Überblick über die Geschichte des islamischen Rechts geben, muss man flexibel sein. Nach wenigen Stunden hatte ich einen weiteren Schrein gefunden: eine Nekropole im Kleinformat, zu der ein staubiger Hof, ein alter Feigenbaum und ein mit Chiffon geschmückter Grabstein gehörten. Die Nachmittagshitze bewirkte, dass von den überirdischen Erregungszuständen, die sich hier normalerweise manifestiert hätten, nur ein matter Abglanz erkennbar war. Zwei Frauen in Burkas starrten regungslos auf die zentrale Grabplatte, als könne diese jeden Augenblick verschwinden. Vor dem Grab stand ein Mann mit zum Gebet zusammengelegten Händen, während sein kleiner Sohn herumrannte und andere Grabsteine küsste. Der einzige Hinweis darauf, dass hier Transzendenz im Spiel war, kam von einer Frau, die atemlos sang, während sie unter den saftig-grünen Zweigen des Feigenbaums hin und her ging, beobachtet von ihrem auf dem Boden kauernden Ehemann und traurig blickenden Kindern. Als ich Anstalten machte, die Szene zu fotografieren, stellte sich heraus, dass sie weitaus mehr in sich barg, als nach außen hin sichtbar war. Ein bärtiger Mann, der ein Bündel Räucherstäbchen an die knorrigen Wurzeln des Baumes hielt, machte eine abwehrende Handbewegung. »Keine Fotos«, sagte er im Befehlston. »Sie bittet den König der Dschinne um Hilfe.«
Da ich mir am Abend zuvor genau die Frage gestellt hatte, wie eine von einem Dschinn besessene Person Hilfe erwarten konnte, legte ich gehorsam meine Kamera nieder. Der Mann besaß offensichtlich eine gewisse Autorität, denn er verkaufte heiligen Schnickschnack, den er neben dem grünen Tuch ausgebreitet hatte, das das Hauptgrab des Schreins bedeckte. Ich beschloss, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Mit einer Mischung aus fragenden Gesten und einem grässlichen Urdu fragte ich ihn, ob er denn Glücksbringer habe, die mich auf meiner dreimonatigen Reise nach Syrien und Istanbul begleiten könnten. Sein erster Vorschlag war ein Amulett zur Abwehr des Bösen Blicks. Als ich es skeptisch hin und her wendete, bot er mir einen Lederbeutel mit einem geheimen Koranvers an. War es Gottes Wille, brachte er Glück – solange der Käufer nicht versuchte, den Inhalt zu lesen. Das schien das Richtige zu sein. Als die Rupien den Besitzer wechselten, nutzte ich die Gelegenheit. Warum keine Kameras? Er deutete mit dem Kopf feierlich auf das dicke Wurzelgeflecht und erklärte, dass dort der König der Dschinne seinen Sitz habe – sein Gericht tage gerade.
Das erklärte in gewisser Weise das Fotografierverbot, aber was würde für die Frau dabei herauskommen? »Der König wird beide Seiten anhören und dann ein Urteil sprechen«, erwiderte der Wächter des Schreins. »Wird der Dschinn dann verschwinden?«, erkundigte ich mich. »Vielleicht, vielleicht auch nicht«, antwortete er und wiegte den Kopf. »Es kann auch eine Hinrichtung geben.« Erschrocken fragte ich, wie das funktionieren würde. Er lachte, schlug mir mit einer Hand auf die Schulter und deutete auf einen bunt dekorierten Ast des Feigenbaums. »Der Dschinn, nicht die Frau.« »Richtig aufgehängt?«, fragte ich. »Ja«, erwiderte er. »Wenn die Scharia das verlangt.«
Wie nicht anders zu erwarten, war diese Aussage für mich überraschend. Ich wusste ja bereits, dass die unsichtbare Welt Gottes Gesetzen ebenso unterworfen ist wie die sichtbare und dass Rechtsgelehrte schon oft Gelegenheit hatten, sich mit den Rechten und Pflichten von Geistern zu befassen. Al-Shibli, ein Schriftgelehrter aus dem 10. Jahrhundert, schrieb beispielsweise über die Rechtmäßigkeit ihrer Ehe mit Menschen. Obwohl ihm klar war, dass es gute Verbindungen gab, warnte er vor unvermeidlichen Konflikten und forderte alle Leser auf, sich an ihre eigene Art zu halten. In vielen sunnitischen Madrasas, juristisch-theologischen Hochschulen, geht man davon aus, dass den Dschinnen die Befolgung der Scharia so wichtig ist, dass während des rechtswissenschaftlichen Unterrichts Stühle für sie frei gehalten werden. Und wie ich im Frühjahr 2009 herausfand, ist ihr Wirken sogar auf höchster Ebene Gegenstand von Erörterungen. Diese Erkenntnis gewann ich in Damaskus bei einem Seminar, in dem Ayatollah Mohammad Fadlallah sich den Fragen von Schülern stellte. Der (inzwischen verstorbene) libanesische Geistliche wurde in den westlichen Medien gewöhnlich als »spiritueller Führer« der Hisbollah charakterisiert. Aufgrund seiner Gegnerschaft zu Israel war er in Syrien und im Libanon unumstritten; in seiner Lehre gab es allerdings einen Aspekt, der durchaus umstritten war, und zwar sein relativer Liberalismus in Bezug auf sexuelle Tabus. Während des Seminars wollten kichernde Schüler eines geistlichen Rivalen wissen, ob er außerehelichen Sex mit einem Dschinn für rechtmäßig halte. »Warum vergeudest du meine Zeit?«, fuhr er den Fragesteller an. »Es ist in Ordnung, solange ihr ein Kondom benutzt. Die nächste Frage bitte.«
Manche mögen es vielleicht merkwürdig oder sogar anstößig finden, dass ein Buch über die Scharia mit Geschichten über Dschinne oder gar mit einem Hinweis auf sexuellen Verkehr mit ihnen beginnt. Im Westen wurde der Islam jahrhundertelang exotisiert, und eine Arbeit, die die islamischen Rechtsprechung untersuchen will und mit dem Übernatürlichen beginnt, kann nur Argwohn erregen. Intime Kontakte mit Geistern ist genau das Thema, das Orientalisten früher interessant gefunden hätten, doch die Tatsache, dass ihre Rechtmäßigkeit in einem schiitischen Seminar im 21. Jahrhundert zur Sprache kam, ist ein hinreichender Beleg für ihre anhaltende rechtliche Relevanz. Ayatollah Fadlallahs Antwort hat bei aller Herablassung auch aktuelle Bedeutung – weil er entweder recht oder unrecht hatte, als er andeutete, tausendjährige Rechtstraditionen könnten sich überlebt haben. Obwohl jeder ernsthafte islamische Jurist über die Annahme spotten würde, Dschinne könnten an einem starken Ast aufgehängt werden, ist es eine durchaus berechtigte Frage, warum eine Hinrichtung so absurd ist und wodurch verhindert werden kann, dass andere Leute ähnliche Fehler in Bezug auf Gottes Gesetz machen. Diese Frage ist wichtig. Mindestens elf der etwa fünfzig muslimischen Staaten haben Verfassungen, die den Islam als Quelle der nationalen Gesetzgebung anerkennen, und mehrere von ihnen berufen sich auf die Scharia, um Angeklagte zu bestrafen, die wesentlich greifbarer sind als ein Dschinn.
Dass ich mich überhaupt vor dem König der Dschinne befand, lag daran, dass das Grab im Zentrum des Schreins einem meiner direkten Vorfahren gehörte. Abdullah war ein im 12. Jahrhundert in Mekka geborener Araber, und seine Reise nach Indien war sehr ereignisreich gewesen. Er verließ seine Heimat um 1192, in dem Jahr, in dem Delhi zum ersten Mal an Muslime fiel, und erreichte Lahore auf dem Höhepunkt eines erbittert ausgetragenen regionalen Konflikts. Nachdem er seinen Sohn und Reisebegleiter verheiratet und sich für zwanzig Jahre dort niedergelassen hatte, zog es ihn wieder fort. Er erreichte Delhi, kurz bevor der Sultan sich 1210 bei einem Polospiel mit seinem Degen selbst aufspießte. Es folgte ein Ringen um die Nachfolge, und als ein kampferprobter Sklaven-General im folgenden Jahr zum Nachfolger des Sultans gekürt wurde, machte Abdullah sich zu dem gerade eroberten Außenposten auf, wo der neue Herrscher sich seine Lorbeeren verdient hatte. Dort, in Badaun, kam seine Wanderschaft schließlich an ihr Ende.
Abdullahs Reise durch Kriegsgebiete bis zu den von Dschungeln bedeckten Rändern der islamischen Welt war äußerst strapaziös. Obwohl er in Badaun eine Ehefrau fand und mindestens einen weiteren Sohn bekam, war dieser Ort sehr unwirtlich. Nach zwei Schlachten im Abstand von sieben Jahren waren die Felder von Hunderten von Gräbern übersät. Die muslimischen Eroberer hatten sich in eine Garnison zurückgezogen; sie befehligten einen militärisch aufgerüsteten Friedhof, der von einem brodelnden Meer von Hindus umgeben war. Aber Abdullah ließ sich durch nichts beirren, da er einen Auftrag hatte. Er war Sufi in einer Zeit, in der islamische Mystiker einen inbrünstigen, nach innen gerichteten Glauben pflegten; sie ähnelten wesentlich stärker christlichen Ordensrittern als den Menschen auf fliegenden Teppichen, die in späteren Märchen vorkommen. Obwohl Abdullah in den früheren Phasen seiner Reise höchstwahrscheinlich von seinem Schwert Gebrauch gemacht hatte, hatte er nichts Militärisches im Sinn. Er war nach Badaun gekommen, um dort um Seelen zu kämpfen.
Abdullah hatte sich einem heiligen Kampf – einem Dschihad – verschrieben, aber er und Tausende anderer Sufis führten ihn auf besondere Weise. Bei ihrer missionarischen Arbeit betonten sie nicht Unterschiede, sondern Ähnlichkeiten. Anstatt die Hindus als unbelehrbare Polytheisten zu verurteilen, erkannten sie ihren Pantheon als andersartige Ausdrucksform des einen Gottes an. Sie verschmolzen das islamische Gebet mit hinduistischen Mantras und schufen die ekstatische, als Qawwali bezeichnete Musik. In einem Land, das von kleinen Tempeln übersät war und in dem vor allem die Sinne der Menschen in die Anbetung der Götter einbezogen waren, verwandelten sie die Gräber gefallener Krieger in Schreine, von denen eine magische Wirkung ausging: Wohlriechender Rauch und mit Safranfäden geschmückte Portale führten in eine unsichtbare Welt, in der die Dschinne angeblich gezähmt wurden, die Toten sprechen konnten und die Wünsche der Bittsteller den Heiligen Befehl waren. Das kam gut an. Gefördert durch praktische Anreize – beispielsweise versprach der islamische Egalitarismus Hindus aus niederen Kasten einen höheren sozialen Status –, gewann der Islam Herzen und Köpfe von Tausenden. Zehn Jahre nach Abdullahs Ankunft war Badaun auf dem besten Weg, eines der bedeutendsten Zentren der islamischen Kultur in Nordindien zu werden. Abdullahs Vermächtnis wirkte so lange fort, dass er noch 800 Jahre später von den Nachkommen der Männer und Frauen verehrt wurde, die mit seiner Hilfe konvertiert waren.
Es hatte mich sehr gefreut, von meinem Vater etwas über Abdullah zu erfahren; er hatte mir kurz vor meiner Abreise nach Indien aus einer alten Familienchronik von dessen Abenteuern vorgelesen. Aufgrund seiner Existenz konnte ich eine nützliche Abstammungslinie vorweisen, und obwohl in akademischen Texten häufig behauptet wird, der Sufismus habe nichts mit den lebhaften Fantasien orientalischer Legenden zu tun, stellte sich heraus, dass meinem Vorfahren magische Fähigkeiten zugesprochen wurden. In Badaun ist Abdullah schlicht als Pir Makki oder der Heilige Mann von Mekka bekannt, und fromme Gläubige versicherten mir, er sei ein Heiliger höchsten Ranges. Sein Einfluss auf die unsichtbare Welt war unbestritten – warum sonst würde der König der Dschinne seinen Schrein aufsuchen? –, und Hunderte von Gebeten, die auf Zettel gekritzelt und um das Grab herum ausgelegt worden waren, bezeugten die Macht seiner Fürsprache, die alle erdenklichen Probleme bewältigen konnte – von Ehestreitigkeiten bis zu Prüfungsstress. Laut dem Amulettverkäufer des Schreins waren seine übernatürlichen Fähigkeiten zeit seines Lebens erkennbar gewesen. Da er seine Anhänger in Mekka nicht im Stich lassen wollte, habe er die Mühe auf sich genommen, sich einmal in der Woche dorthin zu begeben, um ihr Freitagsgebet anzuleiten.
Im Laufe meiner Reisen zeigte sich jedoch, dass Abdullahs Ansehen bei den Menschen in seiner Heimat keine Garantie dafür war, dass er auch in weiter entfernten Gegenden Bewunderung genoss. Die um Heilige und Schreine zentrierten Rituale von Badaun sind mit einer ganz bestimmten Gruppe von indischen Gläubigen – Barelvi genannt – verbunden, und obwohl ihre Zahl in die Millionen geht, standen sie lange im Konflikt mit einer anderen Sekte, die nach der berühmten Madrasa-Stadt Deoband benannt ist. Viele Deobandi stehen auf dem Standpunkt, Pioniere wie Abdullah hätten großen Schaden angerichtet. Anstatt den Islam dadurch zu fördern, dass sie sich an den im 7. Jahrhundert vom Propheten Mohammed* vorgezeichneten Weg hielten, hatten sie die Düfte, das Geklingel und die Tiere übernommen, die für die Tempel der Hindus kennzeichnend waren.
Die Folge seien eine schreckliche spirituelle Deformation und die Einführung von Neuerungen gewesen – von musikalisch unterlegten Gebeten bis zu Räucherstäbchen. Laut den Deobandi war es keineswegs islamisch, Heilige um Fürsprache bei Gott zu bitten; es war ein Akt der Götzenanbetung, vergleichbar mit der Anbetung eines Affen oder eines Elefanten. Menschen gemäß den Vorschriften der Scharia böse Geister auszutreiben, war ebenfalls widersinnig: Dschinne bewohnten ein Paralleluniversum, und sofern sie von Menschen Besitz ergriffen, war das der unumstößliche Wille Gottes.
Ähnliche Klagen über die Heterodoxie der Sufis waren schon vor Jahrhunderten laut geworden, und diese haben im Laufe der Geschichte auch einigen Anlass dazu gegeben. Im späten 13. Jahrhundert gab es in Kairo und Damaskus erfinderische mystische Sekten, zu deren Praktiken etwa Penis-Piercing und der Konsum von Cannabis gehörten, und es fehlt nicht an Beweisen für die Bereitschaft früher indischer Missionare, die örtlichen Bräuche in ihre Arbeit zu integrieren. Einer der Männer, die führend an der Eroberung von Badaun beteiligt waren, ist in einer Moschee zusammen mit seinem Pferd begraben – sowie mit einem Löwen, einer Schlange und rätselhafterweise auch mit einem Papagei. Ein anderer Mystiker aus diesem Gebiet, Mangho genannt, wird im nördlichen Karatschi mit einem Schrein geehrt, in dem sich 200 heilige Krokodile befinden, die angeblich allesamt seinen Kopfläusen entsprungen sind, und nach ihren Gebeten in der nahegelegenen Moschee opfern die Gläubigen den Reptilien häufig Innereien. Obwohl das heilige Penis-Piercing heute eher selten vorkommt, erfreut sich Cannabis noch immer einer gewissen Popularität: Im anarchischen Schrein von Sehwan Sharif werden reichlich narkotische Getränke konsumiert, wenn die religiöse Ekstase einsetzt, und in den Sufi-Mausoleen von Lahore rauchen Gläubige, die sich als Mystiker verstehen, viel Charas in der Hoffnung auf spirituelle Vereinigung mit den höheren Mächten.
Eklektizismus beweist jedoch nicht, dass eine wechselseitige Befruchtung an sich schon etwas Ketzerisches ist. Das zeigt sich sehr eindrücklich an architektonischen Beispielen. Die herrlichen Moscheen mit ihren türkisfarbenen Fliesen in Städten wie Isfahan und Schiras verdanken ihre Existenz der Begegnung von Muslimen mit einem fremden Volk – den Mongolen. Istanbuls Silhouette, ein typisch islamisches Schaumbad aus Stein, spiegelt für jedermann sichtbar die mit Kuppeln versehenen Basiliken des christlichen Byzanz wider, und die Osmanen, die sie erschufen, waren tief vom Sufismus durchdrungen. Ja, man kann sagen, dass der Islam ohne eine ausgeprägte Lern- und Anpassungsfähigkeit nicht imstande gewesen wäre, solche Traditionen zu entwickeln. Das wurde mir schlagartig klar, als ich die gespenstischen Ruinen der Stadt Anjar besuchte, die weniger als zehn Jahre nach dem Tod des Propheten quasi aus dem Nichts gebaut wurde und jetzt zwischen Knoblauchfeldern in einer ruhigen Gegend im Bekaa-Tal im Libanon liegt. Ihre von Eidechsen bevölkerten Villen, Paläste und mit Fresken versehenen Badehäuser sind durch und durch griechisch-römisch – und das gilt nicht nur für die Quelle der Inspiration, sondern auch für die verwendeten Materialien, wie sich an Dutzenden von korinthischen Säulen zeigen lässt, die ihren grasbewachsenen cardo maximus säumen.
Derartige Überlegungen gehörten eher in ein Reisetagebuch als in ein Buch über die Scharia, wäre da nicht Folgendes: Konservative haben dem islamischen Recht stets den gleichen Ewigkeitscharakter zugesprochen wie jedem anderen Aspekt des Glaubens, wodurch Auseinandersetzungen über Authentizität gewaltige rechtliche Konsequenzen hatten. Das wirkt sich bis zu einem gewissen Grad auf den Begriff des Islam aus – der auf einem geoffenbarten Text und einem erleuchteten Propheten basiert –, hatte im Laufe der Geschichte aber auch Einfluss auf Forschung und Lehre. Heute herrscht weithin die Vorstellung, Gottes Offenbarungen seien von untadeligen Menschen in praktische Regeln umgesetzt worden – von Weggefährten Mohammeds, den heldenhaften ersten Generationen und allwissenden Rechtsgelehrten, deren Integrität über den Wechselfällen von Ort und Zeit stehe.
Das warf Fragen auf, denen ich schon vorher begegnet war. Als Jurastudent in Harvard in den späten 1980er Jahren hatte ich gelernt, dass viele amerikanische Konservative den Gründervätern der Vereinigten Staaten unanfechtbare Weisheit zusprechen. Einige gehen noch weiter und vertreten die Auffassung, Gott habe seinen Willen durch ihre Taten kundgetan. Daher meinen manche Juristen, Richter müssten die Verfassung gemäß ihrer im 18. Jahrhundert festgelegten Bedeutung interpretieren oder bei der Beilegung von Rechtsstreitigkeiten die Ansichten der Gründerväter in Betracht ziehen: beispielsweise bei der Begrenzung der Todesstrafe oder bei staatlichen Einschränkungen der Redefreiheit. Damals hatte ich den Eindruck, dass der Respekt vor alten Formulierungen und vor den Gedanken Verstorbener etwas von einer spiritistischen Sitzung hatte. Die Intentionen und Motive einer noch lebenden Person exakt zu bestimmen, ist schon schwer genug, aber die einer großen, heterogenen Gruppe von Verstorbenen lassen sich kaum begrifflich fassen und schon gar nicht inhaltlich genau bestimmen. Mit der traditionalistischen Herangehensweise an die Interpretation der Scharia verhält es sich auf den ersten Blick genauso. Sie ähnelt der Ahnenverehrung stärker, als es ein gräberverehrender Ritus je vermocht hätte – einfach deshalb, weil, ungeachtet meiner persönlichen Verbundenheit mit Abdullah von Mekka, heilige Weisheit nicht automatisch von Generation zu Generation weitergegeben wird.
Mein Interesse für die Scharia wurde nicht während meines Besuches in Badaun im Jahr 2009 geweckt. Es war vielmehr fast zehn Jahre zuvor erwacht, und zwar aufgrund eines Details in der Reaktion der amerikanischen Regierung auf die Angriffe vom 11. September. Zum Zeitpunkt der Attentate von al-Qaida hatte ich in Manhattan gelebt und an einem Buch über den Strafprozess in der Geschichte des Westens geschrieben. Wie viele andere sah auch ich sorgenvoll zu, wie die Regierung von Präsident George W. Bush zum Schlag gegen Osama bin Laden in Afghanistan ausholte. Am 25. September hatte Verteidigungsminister Donald Rumsfeld angekündigt, dass die Militäraktion umbenannt werden sollte. Sie hieß jetzt »Operation Enduring Freedom«, da die ursprüngliche Bezeichnung befreundete Länder in der islamischen Welt hätte vor den Kopf stoßen können. Vorher hatte sie »Infinite Justice« geheißen, und das, so stellte Rumsfeld fest, war ein Vorrecht, das die Muslime nur Gott zugestanden.
Schon damals war mir der Gedanke gekommen, dass der Name der bevorstehenden Bombardierungen wohl nicht das Einzige war, was Groll hervorrufen würde, aber ich hatte sofort das vage Gefühl, dass die Umbenennung angemessen war. Welche Qualitäten die Nachwelt der Regierung Bush auch zuschreiben würde, Allwissenheit und Allmacht würden bestimmt nicht dazu gehören. In den nächsten Jahren änderte sich meine Meinung in diesem Punkt nicht, aber nachdem ich nach London zurückgekehrt war, gab es ein weiteres Ereignis, das mein Interesse für das islamische Recht wieder entfachte und einen anderen Aspekt des Fiaskos der Operation »Infinite Justice« beleuchtete: die Tatsache, dass die Vereinigten Staaten ihren Krieg gegen den Terror unwissentlich im Namen der Scharia führten.
Diese Erkenntnis stellte sich ein, als vier Selbstmordattentäter am 7. Juli 2005 Bomben in der Londoner U-Bahn und in einem Bus zündeten. Diese Attentate wurden von Muslimen begangen, die behaupteten, vom Glauben geleitet zu sein, und in der Folgezeit waren die Medien voll mit Aussagen und Gegenaussagen über das islamische Recht. Nachdem ich kurz vorher eine Geschichte des Strafrechts im Westen veröffentlicht hatte (The Trial: A History from Socrates to O. J. Simpson), fühlte ich mich ziemlich überflüssig – bis mir klar wurde, dass niemand viel zur Klärung der diskutierten Fragen beitrug. Hitzige Prediger und muslimische Jugendliche stellten allerlei martialische Behauptungen über »die Scharia« auf, und Leute, die ihnen übelwollten, gingen davon aus, dass »Scharia« das bedeutete, was jene Fanatiker sagten. Nicht Sachkunde, sondern nur lautes Stimmengewirr füllte ein Vakuum aus, während kritische Fragen nicht nur nicht beantwortet, sondern nicht einmal gestellt wurden. Wo war die Scharia schriftlich niedergelegt? Wie weit wurde anerkannt, dass ihre Regeln von Menschen geschaffen worden waren? Und was gab den Menschen, die sich so lautstark auf Gottes Gesetz beriefen, das Recht, in seinem Namen zu sprechen?
Es dauerte erstaunlich lange, auch nur die grundlegenden Antworten zu formulieren, aber sie sind für dieses Buch so zentral, dass es sich lohnt, an sie zu erinnern. Als der Koran erstmals vom Propheten Mohammed in den 620er Jahren abgefasst wurde, war mit dem Wort »Scharia« die Vorstellung von einem direkten Pfad zum Wasser verbunden – ein Pfad von großer Bedeutung für ein Wüstenvolk. In einer Zeit, in der niemand eine systematische Unterscheidung zwischen der Welt, wie sie war, und der Welt, wie sie sein sollte, vornahm, war die islamische Lehre vom rechten Weg ebenso Beschreibung wie Vorschrift. Die Gelehrten schrieben mindestens ein Jahrhundert nichts über sie, und es sollten 500 Jahre vergehen, bis ihre Rechtsvorstellungen in eine endgültige Form gegossen wurden, aber fromme Muslime haben der Scharia schon immer eine überhöhte Bedeutung gegeben. Der syrische Rechtsgelehrte Ibn Qayyim (1292-1350) stellte diese Auffassung gut dar:
»Sie ist ein absolutes Heilmittel gegen alle Übel. Sie ist Leben und Nahrung, Arznei, Licht, Heilung und Schutz. Alles Gute in diesem Leben entspringt ihr und wird durch sie erlangt, und jede Unvollkommenheit der menschlichen Existenz ergibt sich aus ihrem Verlust. Hätte es in dieser Welt nicht einige bleibende Regeln gegeben, wäre diese Welt ins Verderben gestürzt, und das Universum hätte sich aufgelöst. Hätte Gott den Wunsch, die Welt zu zerstören und die menschliche Existenz auszulöschen, würde Er ihre Vorschriften zunichte machen. Denn die Scharia, die Seinem Propheten gesandt wurde, ist die Säule und der Schlüssel zum Erfolg im Diesseits und im Jenseits.«
Wie es sich für ein Ehrfurcht einflößendes Phänomen gehört, wurde das Studium des Rechts (fiqh) als eine dem Gebet gleichwertige Pflicht betrachtet. Es gab keinen Aspekt der Schöpfung, der von ihr nicht erfasst wurde, und Rechtsgelehrte äußerten sich im Laufe der Zeit zu allen erdenklichen Fragen – von der Rechtmäßigkeit der Logik bis zur rechtlichen Bedeutung des Mondes. Sie konstruierten an den Haaren herbeigezogene Dilemmata. Was sollten Muslime beispielsweise auf einer einsamen Insel tun, wenn sie neben einem toten Schiffskameraden, einem Schwein und einer Flasche Wein Qualen erleiden. (Der Rat war, Schweinefleisch und Wein zu meiden, auch wenn die Lage noch so verzweifelt ist.) Manche Rechtsgelehrte interessierten sich für Themen wie Strafrecht und Dschihad, andere untersuchten weitaus speziellere Aspekte der kosmischen Ordnung – etwa die Berechnung von Erbanteilen oder die Rechtsprechung bezüglich Waschungen. Kein Thema war zu privat, um nicht ins Visier wissenschaftlichen Interesses zu geraten. Al-Ghazali (1058-1111), wohl der größte sunnitische Theologe, unterzog einst die Intimitäten der Ehe einer strengen juristischen Prüfung und schrieb dem Propheten selbst ein Gebot zu, das sich auf das Vorspiel bezog. Der Geschlechtsverkehr war unheilig, wenn ihm nicht »Küsse und süße Worte« vorausgingen. Mohammed hat angeblich gemahnt: »Niemand von euch komme wie ein Tier über seine Frau.«
Als ich Ende 2007 ins kalte Wasser sprang und einen Überblick über islamische Rechtsvorstellungen verfasste, war ich mir der Herausforderungen bewusst. Das Zusammentragen von Forschungsergebnissen warf immanente Probleme auf, und die allzu häufig übersehene Unterscheidung zwischen Scharia und fiqh erforderte ein sorgfältiges Vorgehen. Versuche, die Scharia einer kritischen Prüfung zu unterziehen, werden von frommen Muslimen als Schmähung Gottes und nicht als sachliche Argumentation aufgefasst. Die Regeln des fiqh können andererseits niemals mehr als menschliche Annäherungen an den göttlichen Willen sein. Einzelne Rechtsgelehrte haben zwar häufig versucht, den Unterschied zu verwischen, aber die islamische Tradition hat Rechtsvorstellungen stets einer Überprüfung unterzogen. Es galt, sie mit Blick auf die Kluft zwischen Himmel und Erde zu untersuchen.
Die Probleme verlagerten sich von der theoretischen auf die praktische Ebene, als ich zwischen Ende 2008 und Frühjahr 2011 Südasien, Iran und den Nahen Osten bereiste und dort mit muslimischen Juristen zusammentraf. Es herrschte großes Misstrauen gegenüber der westlichen Welt, und die Tatsache, dass ich Menschenrechtsanwalt war, war häufig mehr Hindernis als Hilfe: nicht Ausdruck westlicher Werte, sondern Hinweis auf die Heuchelei des Westens. Und obwohl ich hemmungslos mit dem Pfund meines nicht-englischen Namens und meiner Herkunft väterlicherseits wucherte, schlug mir oftmals starker Argwohn entgegen. Der oberste Rechtsgelehrte einer Madrasa in Lucknow wies mich sogleich darauf hin, dass jeder Versuch, die Scharia zu verstehen, die perfekte Beherrschung des klassischen Arabisch und Kenntnisse in der Koran-Exegese erfordere und dass alle meine diesbezüglichen Fragen mindestens zehn Jahre zu früh gestellt wurden. Der Vorsitzende der pakistanischen Partei Jamaat-e-Islami meinte vorwurfsvoll, meine Fragen nach den Islam-Interpretationen der Taliban wirkten wie die eines NATO-Spitzels und es stünde mir besser an, meine »Agenda« aufzugeben und ihn stattdessen nach »amerikanischem Napalm, Flächenbomben und Kampfhubschraubern« zu fragen. Eine besonders denkwürdige Zurückweisung kam von Muhammad Afshani, der an einer militanten Madrasa in Karatschi mit dem Namen Jamia Farooqia für Fragen der Fatwa zuständig war. Als wir mit gekreuzten Beinen auf einem zerschlissenen Moschee-Teppich saßen, beschrieb ich mein Projekt in groben Zügen und sagte zu ihm, ich würde, insh’allah, meine Wissenslücken dadurch füllen, dass ich von Gelehrten mit unterschiedlichen – auch widerstreitenden – Meinungen lernte. Er lächelte weise und murmelte, ich hätte mir eine schwierige Aufgabe vorgenommen. Ich nickte, was, so hoffte ich, als Zeichen von Demut gedeutet würde. »Niemand«, fuhr er gleichmütig fort, »sollte sich auf eine solche Reise begeben, wenn er das Ziel nicht kennt.«
Die Auffassung, dass Fragen solange unangemessen sind, bis die Antworten bekannt sind, konnte und wollte ich nicht teilen, mit der Folge, dass ich am Ende etliche unvorhergesehene Ansichten hatte. Mufti Afshani hatte insofern Unrecht, als meine Reisen auf ihre Weise produktiv waren, was sich in der relativ übersichtlichen Struktur dieses Buches widerspiegelt. Der erste Teil stellt die historischen Ereignisse dar, die zum Entstehen der islamischen Rechtswissenschaft führten, während der zweite Teil ihre heutige Stellung beleuchtet, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf vier Themen liegt: Einstellungen gegenüber dem Krieg, der Moderne, dem Strafrecht und der religiösen Toleranz. Dieses Buch möchte gleichermaßen unterhalten wie informieren, aber eines sei ausdrücklich gesagt: Es beabsichtigt in keiner Weise, die Heiligkeit des Propheten Mohammed, die offenkundige Anziehungskraft des Islam oder die Allmacht Gottes infrage zu stellen. Stattdessen will es an die geschichtlichen Umstände erinnern, die die Herausbildung des islamischen Rechts begleiteten, und zeigen, dass Rechtsvorschriften im Laufe der Zeit im Namen der Scharia umgeschrieben oder ignoriert wurden. Es möchte auch zeigen, dass viele Menschen, die heute den Anspruch erheben, die klarste Sicht auf die Weisheit des 7. Jahrhunderts zu haben, Teil einer fundamentalistischen Bewegung sind, die in wichtigen Punkten gerade einmal einige Jahrzehnte alt ist. Ich hoffe, dass selbst Menschen mit abweichenden Ansichten erkennen, dass so wichtige Themen diskussionswürdig sind.
Es ist verlockend, al-Jahiz, den scharfsinnigsten Schriftsteller im Bagdad des 9. Jahrhunderts, zu plagiieren: Er forderte die volle Anerkennung der Stärken eines Werkes und meinte, Mängel seien allein den unrealistischen Erwartungen seiner Leser geschuldet. Ungern räume ich ein, dass meine Defizite nicht so leicht weggewischt werden können. Meine einzige Bitte an den Leser ist, sich die Worte eines anderen großen Arabers aus dem 10. Jahrhundert zu vergegenwärtigen, des Historikers und Reisenden al-Mas‘udi: »Könnte nur Bücher schreiben, wer vollkommenes Wissen besitzt, würden keine Bücher geschrieben.«
* Muslime fügen gewöhnlich hinzu »Gott möge ihn segnen und ihm Frieden geben« (sallalahu alayhi wa sallam), wenn sie sich auf den Propheten beziehen. Da dieser Zusatz die westlichen Leser nicht inspirieren, sondern eher befremden würde, wird der Ausdruck in diesem Buch nicht verwendet, auch nicht die Varianten, die häufig den Namen von weniger bedeutenden Propheten, Erzengeln oder Gott beigegeben werden.
»Trage vor!« Die Höhle war von der geisterhaften Stimme erfüllt. »Im Namen deines Gottes, der den Menschen aus einem Klumpen Blut erschuf!« Laut dem Koran erhielt die ganze Menschheit mit diesen Worten die Weisung, sich dem Islam zu ergeben – aber anwesend war nur ein vierzigjähriger arabischer Kaufmann namens Mohammed, der verwundert um sich blickte. Obwohl es der heilige Monat Ramadan war und er zum Meditieren in die Höhle gekommen war, hatte er noch nie etwas so Unheimliches erlebt. Der Befehl wurde wiederholt – »Trage vor« –, und vor seinen Augen erschienen unverständliche Symbole auf einem Stück Stoff. Mohammed wandte ein, er könne nicht einmal lesen, woraufhin er hochgeschleudert und auf den Boden geschmettert wurde, bis Worte seinen Mund füllten, die er kaum verstand.
Mohammed wurde von Entsetzen gepackt. Er stammte aus Mekka, einem Handelszentrum und Wallfahrtsort am westlichen Rand der arabischen Halbinsel, und den ihm vertrauten heidnischen Kulten mangelte es nicht an bösartigen Gottheiten. Ihre Nymphen, Satyre und Sturmgötter führten nichts Gutes im Schilde, kämpften staubige Schlachten am Wüstenhorizont oder schoben Dörfer über den schimmernden Sand. Mohammed fürchtete, er falle einem der destruktivsten Wesen zum Opfer – einem Dschinn, einem Geist, der von der Seele eines Menschen Besitz ergreifen konnte. Von Visionen überwältigt kletterte er aus der Höhle, als er aber in einen felsigen Abgrund zu stürzen drohte, wurde er schließlich gewahr, dass er es nicht mit einem Dämon zu tun hatte. Eine riesige Gestalt füllte den sternenklaren Himmel, und ihre Stimme richtete sich an ihn, wohin auch immer er sich wandte. »Du bist der Gesandte Gottes, und ich bin Gabriel.«
Die Ereignisse auf dem Hügel beschäftigten Mohammed so lange, dass seine Ehefrau Chadidja einen Suchtrupp losschickte. Sie war eine unabhängige, wohlhabende Geschäftsfrau, älter als ihr Ehemann, und als er traumatisiert und zitternd gefunden wurde, nahm sie die Dinge kurzentschlossen in die Hand. In dem Gebiet, in dem Mekka lag, dem Hedschas, gab es viele Glaubensrichtungen, und einer ihrer Cousins war Experte in spirituellen Angelegenheiten, nachdem er die Thora studiert hatte und zum Christentum konvertiert war. Es wurde ein Besuch vereinbart, und Waraqa bin Nawfals Antwort war sowohl ermutigend als auch Unheil verkündend. Die gute Nachricht war, dass Mohammed dem einzigen wahren Gott begegnet war und dass der Engel Gabriel mit einigen sehr verheißungsvollen Ereignissen in Verbindung gebracht worden war. Die schlechte Nachricht war, dass die Mekkaner Mohammed diffamieren, sich über seine Geschichte lustig machen und alles daransetzen würden, ihn zu töten.
Der Islam verachtet die Kultur, an deren Stelle er trat, so sehr, dass seinen feindseligen Aussagen über das arabische Heidentum stets mit Vorsicht zu begegnen ist; aber in diesem Fall hatte Waraqa gute Gründe, beunruhigt zu sein. Obwohl die Mekkaner einen ihrer Götter als den höchsten verehrten und ihn sogar den Gott – al-lah, auf Arabisch – nannten, lief der Monotheismus ihren Traditionen völlig zuwider. Sie glaubten, al-lah regiere das Universum im Bunde mit drei Töchtern und mehreren hundert Untergebenen, und dieser Glaube wurde durch handfeste ökonomische Überlegungen untermauert. Über die Stadt verteilt gab es Dutzende von kuppelförmigen roten Lederzelten, die heilige Statuetten und Bilder enthielten, und ein mit Götzenbildern übersäter Palast, Kaaba genannt, zog jedes Jahr Tausende von Pilgern an. Der Schrein wurde von zwei Clans des dominierenden Stammes der Kuraisch verwaltet – den Umayyaden und den Haschemiten –, und ihre Partnerschaft war ebenso fragil wie lukrativ. Mohammed war zwar ein angesehener Haschemit, aber jeder Versuch, die Regeln zu ändern, würde nicht gut ausgehen.
Es war das Jahr 610, und die Verbindung, die zwischen Mohammed und Gott entstanden war, sollte die Welt verändern. Tausende Zeilen göttlicher Weisheit erreichten ihn im Laufe der nächsten 20 Jahre aus dem Himmel, übermittelt von einer geisterhaften Stimme und durch eine Glocke angekündigt. Wenn er in Trance fiel und seine Lippen bewegte, um sich Gottes Worte einzuprägen, schaute er weit über die sichtbare Welt hinaus in die Weite des Himmels und in die Tiefe der Hölle. Sogar die von ihm anfangs gefürchteten Dschinne sollen in großer Zahl konvertiert sein, nachdem mehrere von ihnen eine nächtliche Rezitation mit angehört hatten und von ihrer Schönheit tief bewegt gewesen waren. All das führte dazu, dass Mohammed für die Muslime zu einer überragenden Gestalt wurde, und jedes Kind wächst mit Geschichten über seine Tapferkeit, Klugheit und Freundlichkeit auf. Doch obwohl die Belege für die ihm entgegengebrachte Bewunderung alt sind, wurde nicht sofort über sie berichtet. Die von ihm empfangenen Offenbarungen wurden zwar schon bald nach seinem Tod in einem geschriebenen »Koran« (»Rezitation«) gesammelt, doch es dauerte ein weiteres Jahrhundert, bis die ersten schriftlichen Berichte über sein Leben erschienen. Erst im späten 9. Jahrhundert stellten die Gelehrten dann Berichte (Hadithe) zusammen, die von der Mehrheit als authentisch anerkannt wurden. In der Folgezeit wurden ältere Bücher, sofern sie abweichende Auffassungen enthielten, als bedeutungslos verworfen. Die orthodoxe Version der Ursprünge des Islam erhielt mithin erst drei Jahrhunderte nach den beschriebenen Ereignissen ihre endgültige Form. Gleichwohl ist die Geschichte für viele Muslime zu einem Teil des Glaubens und nicht zu einem Gegenstand der Auseinandersetzung geworden – nur so weit anerkannt, wie sie die konventionelle Auffassung stützt, und als Sakrileg betrachtet, wenn sie dieser in irgendeiner Weise zu widersprechen scheint.
Daher ist jede Darstellung dieser Zeit problematisch. Zum einen gibt es nur wenig Möglichkeiten, die überkommene Version der Ereignisse zu überprüfen, zum anderen sind die Hadithe selbst widersprüchlich. In vielen Punkten sind sich die Biografen einig. Niemand hat jemals geleugnet, dass Mohammed hochgewachsen war, dunkle Augen hatte, gut aussah, wohlriechend und strahlend war, ein gutes Benehmen hatte, mit leiser Stimme sprach, bescheiden und zielstrebig war und einen festen Händedruck hatte. Aber schnell zeigen sich Ungereimtheiten. In einigen Hadithen heißt es, ihm seien leicht die Tränen gekommen, andere behaupten, er habe viel gelächelt. Es gibt Aussagen, wonach er sich die Hölle einst voll mit Frauen vorgestellt habe, und viele andere, in denen er als jemand beschrieben wird, der sich in Gesellschaft intelligenter und eigenwilliger Frauen nicht nur wohl fühlte, sondern große Freude darüber empfand. Manche sagen, er sei von unnachgiebiger Härte gewesen, aber er soll auch gelacht haben, als ihm berichtet wurde, dass ein festgenommener Trunkenbold sich einer Züchtigung entzogen hatte, und seine Anhänger angewiesen haben, auf weitere Maßnahmen zu verzichten. Die Wahrheit muss irgendwo dazwischen liegen – sicher ist nur, dass die Beschreibungen häufig mehr über die Verfasser der Beschreibungen als über Mohammed selbst aussagen.
Ein umfassendes Bild ergibt sich allerdings aus den frühen Biografien, und sie schildern jemanden, der ebenso findig wie bemerkenswert war. Nach dem Tod seines Vaters geboren, verlor Mohammed in seiner Kindheit Mutter und Großvater und wuchs im Haushalt eines Onkels namens Abu Talib auf. Obwohl Waise und Analphabet, verheiratete er sich gut und baute mit Chadidja ein florierendes Handelsunternehmen auf. Sein Scharfsinn war so ausgeprägt, dass Mitglieder seines Stammes ihn einmal baten, einen Streit wegen der Verwaltung der Kaaba zu schlichten. Und selbst in den ersten ruhigen Jahren seiner Mission gewann er Unterstützer. Chadidja erkannte ihren Ehemann schnell als Gesandten Gottes an, und obwohl Abu Talib Mohammeds Rolle als Prophet nie akzeptierte, wurde sein zehnjähriger Sohn Ali ein treuer Anhänger des Propheten. Auch Sklaven und soziale Außenseiter schlossen sich seiner Sache an, wie auch ein wohlhabender Kaufmann namens Abu Bakr. Was Mohammed zu dieser Zeit genau lehrte, ist nicht bekannt, aber er konnte Menschen inspirieren und mitreißen.
Drei Jahre nach dem ersten Kontakt mit Gott sagte dieser zu Mohammed, jetzt sei die Zeit gekommen, sein Wort stärker zu verbreiten. Ein wenig beklommen teilte er den Mekkanern mit, dass er ein Prophet sei – der letzte in einer Linie mit Jesus, Moses und Adam. Etwas kühner verkündete er dann, al-lah habe weder Gefährten noch Töchter. Er erklärte, die Kuraisch folgten blind ihren Ahnen, »obwohl es ihren Vätern an Weisheit und Führung mangelte«, und ihre Geschäfte mit der Kaaba seien völlig fehlgeleitet. Sie sollten stattdessen zweimal täglich in Richtung Jerusalem beten und Frieden suchen, indem sie sich dem Göttlichen ergaben – ein Zustand, der mit dem arabischen Wort islam wiedergegeben wird. Nur dann würden sie Gottes wahre Natur erkennen: eine spirituelle Gegenwart, »die ihm [dem Menschen] näher ist als seine Halsadern«.
Obwohl Mohammeds Beredsamkeit außer Frage stand, waren die ersten Reaktionen alles andere als vielversprechend. Schnell breiteten sich Gerüchte aus, wonach er dem Zauber eines Dschinns erlegen oder von einer poetischen Inspiration befallen worden sei (beides galt damals als Krankheit). Die erste Reaktion der mekkanischen Heiden bestand denn auch darin, Mohammed die beste medizinische Behandlung, die für Geld zu haben war, anzubieten. Aber er hatte seine Stimme gefunden, und sie wurde immer vernehmlicher. Während die Mekkaner glaubten, das Leben nach dem Tod unterscheide sich nur wenig von dem Leben davor, wies Mohammed warnend darauf hin, dass auf jeden eine große Abrechnung wartete und dass die irdischen Taten ewige Konsequenzen zeitigten. Er sagte, Gott würde Seine Sterne auslöschen und die Meere zum Kochen bringen, und wenn die Schöpfung ihrem Ende entgegentaumelte, würden Trompetenstöße alle Toten auferwecken. Dann würden – in der letzten Stunde (al saa) – löbliche Taten gegen Sünden aufgerechnet, und alles deute darauf hin, dass auf die Mekkaner sengend heiße Winde, geschmolzenes Metall und ein nicht zu löschendes Höllenfeuer warteten.
Diese apokalyptische Vision war mit stichhaltigen moralischen Argumenten unterlegt. Die Welt, in die Mohammed hineingeboren worden war, wies eine so starke Schichtung auf, dass die Clans nicht einmal untereinander heirateten. Die Frauen waren bewegliches Eigentum, und Sklaven hatten einen schmachvollen Status, der für mehrere Generationen galt. Rache hatte einen hohen Stellenwert, wohingegen Gnade als Schwäche galt, und obwohl die Mekkaner drei Göttinnen verehrten, galt die Geburt eines Mädchens als ein solches Unglück, dass Kindestötung erlaubt war. Vor diesem Hintergrund lehrte Mohammed, dass alle seine Anhänger moralisch gleichgestellt seien, unabhängig von Geschlecht oder sozialer Stellung, und dass Milde nicht Schwäche, sondern eine Tugend sei – ja, Mitleid (al-rahman) und Gnade (al-rahim) seien sogar die ersten der vielen Namen Gottes. Das Töten eines Menschen war gleichbedeutend mit dem Töten der ganzen Menschheit, und beim Jüngsten Gericht würde jedes in Mekka ermordete weibliche Baby seine Eltern aus seinem Grab heraus anklagen. Doch es gab Hoffnung. Reumütige Sünder könnten nach dem Tod durchaus ein ewiges Leben in kühlen Gärten verbringen, die grenzenlose Freude spendeten.
Die Einstellung vieler Mekkaner verhärtete sich zusehends. Mohammeds angebliche Offenbarungen seien ein Mischmasch aus jüdischen und christlichen Legenden, höhnten die Kuraisch. Wenn er ein echter Prophet war, warum lieferte er dann nicht einen konkreten Beweis – ein Wunder vielleicht oder ein öffentliches Erscheinen mit dem Engel, über den er so viel sprach. Daraufhin forderte Mohammed seine Gegner auf, selbst mit Versen aufzuwarten, wenn göttliche Eingebung so leicht vorzutäuschen sei. Den Vorwurf, es gebe Ungereimtheiten und Widersprüche, schob er mit dem Hinweis beiseite, Gott habe seine Offenbarungen manchmal durch bessere ersetzt, und die Forderung nach Wundern tat er verächtlich ab. Besondere Umstände hatten erzwungen, dass Moses das Meer teilte und Jesus Tote auferweckte, aber Mohammeds Aufgabe bestehe darin, der Menschheit Gottes letzte Botschaft zu übermitteln – war das nicht das größte Wunder überhaupt?
Viele angesehene Mekkaner waren ganz anderer Meinung und schickten bald Abgesandte zu Abu Talib, die ihn dringend aufforderten, seinen lästigen Neffen zum Schweigen zu bringen. Aber obwohl der ältere Mann Mohammed im persönlichen Gespräch riet, sich mehr zurückzuhalten, verkündete er öffentlich, niemand könne seinem Verwandten etwas antun, ohne Vergeltung aus seinem Haus fürchten zu müssen. Das war eine ehrenwerte Haltung – deren Grenzen freilich immer klarer wurden. Als die Zahl der Übertritte zunahm, folterten die Mekkaner verdächtige Sklaven und schlugen jeden zusammen, der bei dem Versuch zu beten ertappt wurde. Abu Bakr wurde der Bart versengt, und auf den knienden Mohammed wurde einmal der blutige Uterus eines Schafes geschleudert. Als eine Gruppe von Muslimen nach Abessinien floh, wo der christliche König ihnen Asyl angeboten hatte, wuchs der Druck auf die Daheimgebliebenen noch mehr. Und die Krise geriet zur Katastrophe, als 619 sowohl Abu Talib als auch Chadidja starben.
Plötzlich stand Mohammed völlig schutzlos da. In einer hierarchischen Gesellschaft, in der Identitäten durch soziale Beziehungen bestimmt wurden, hatte Mohammed die zwei Menschen verloren, die ihm am nächsten gestanden hatten. Es war schwer vorstellbar, wie er seine Stellung in Mekka zurückgewinnen konnte, doch dann bot sich ihm wie durch ein Wunder im Sommer 620 die Möglichkeit, anderswo neue Verbündete zu finden. Als Pilger wie jedes Jahr zur Kaaba strömten, bemühten sich sechs Besucher aus Yathrib