Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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© 2016 Almuth Germann
Umschlagfoto: Verena Germann
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7412-6776-5
Wieder sitze ich hier, wie an jedem Nachmittag. Ich trage meine alte Jacke, meine Kappe, mit der mich jeder kennt, die ich auch im Haus nicht immer abnehme. Trotzdem bin ich noch kein Gerd Dudenhöffer. Ich muss nachdenken. Der Kopf ist mir schwer. Mir fällt einfach nichts mehr ein zu dem, was ich erlebt habe. Was hat sie sich nur dabei gedacht?
Heute Morgen hat sie wie immer die Kartoffeln geschält, das Gemüse geputzt und zeitig das wenige Fleisch aufgesetzt. Im Garten hat sie die Petersilie geholt. Pünktlich wie an jedem Montag kam um zehn Uhr der Brotwagen. Danach wurde sie unruhig. Ständig guckte sie zur Wanduhr. Ganz unerwartet stand sie kurz vor dem Mittagessen mit einem kleinen Handkoffer in der Stube, guckte sich noch einmal um und verließ das Haus in Richtung Bushaltestelle, kein Wort, kein Gruß, kein Blick zurück.
Und nun sitze ich hier, im Weinglas nur ein Schluck Wasser – der meine Gedanken nicht anregt. Das Blatt Papier enthält auch keine Worte, kein: Bis bald, kein: Ich fahre zu Luise, kein: Ich komme bald wieder.
Vor fünfzig Jahren saß ich auch so hier, als ich mich nicht satt lesen konnte an ihrem ersten Liebesbrief. Und ich habe hier gesessen, als sie mir ein Bild von sich geschickt hatte. Was hätte sie mir jetzt sagen und schreiben können? Warum habe ich nichts gemerkt, keinen Hinweis wahrgenommen? Ist es so wie mit dem Mann, der Zigaretten holen geht und erst nach sieben Jahren wiederkommt? Kann ich jemanden fragen, müsste ich nicht selbst am besten die Antwort finden?
Schwerfällig gehe ich in die Küche, um den Herd abzustellen, kein Gedanke ans Essen – nur ein großes Gefühl der Leere, weil ich allein gelassen wurde. Habe ich zu wenig mit ihr gesprochen? Was hat sie bewegt? Zu wem könnte sie wollen? Wer oder was ist ihr wichtiger als ich, als unser ruhiges Leben, das wir seit Jahrzehnten nicht wesentlich anders geführt haben?
In zwei Stunden fährt wieder ein Bus. Wenn ich mit den Nachbarn an der Straßenecke stehe, beobachten wir den Verkehr – ich weiß, wer in dieser Woche die Strecke fährt. Ob ich ihn fragen soll, wo sie ausgestiegen ist?
Und wenn ich es weiß, wenn ich sie finde, was sage ich zuerst? Wie würde sie mich angucken?
Konnte sie es hier oder mit mir nicht mehr aushalten? Hatte sie keinen Mut, mir ihre Pläne anzuvertrauen?
Ich suche ihren Brief von damals, ich weiß genau, wo ich ihn verwahrt habe. Und beim Lesen, immer wieder neu Lesen – geht es mir auf: Es war damals ganz anders als heute und es muss wieder ganz anders werden, ich muss ganz anders werden, wenn ich zu Recht für uns beide hoffen will.
Aus der Küche hole ich mir das halb fertige Essen, - mit ihr schmeckt es mir besser. Aber es stärkt mich und ich brauche es, weil ich zum Bus will, ich will sie suchen, ich möchte sie bitten, nicht wortlos zu gehen, sondern bei mir zu bleiben und noch einmal anzufangen.
Wo bin ich denn?“ Wie manche alte Menschen morgens ihre Knochen sortieren müssen, so fiel es ihr schwer, wach zu werden. Das Geräusch, das sie aufgeschreckt hatte, war ihr Wecker – auch wenn es in den Albtraum hineinpasste.
Noch sah sie sich in der Schule sitzen, der Taschenrechner schwitzte in ihrer Hand, die Tasten ließen sich nicht mehr herunterdrücken, Schweiß brach aus. Der Blick zur Tischnachbarin war verschwommen. Der Lehrer saß am Pult, fragend, manchmal spöttisch grinsend. Die Formeln tanzten vor ihren Augen, die Pyramide drehte sich in der Kugel, aber weder Umfang noch Inhalt ließen sich berechnen oder in Beziehung bringen. Das Klingeln entpuppte sich als Weckton – und ganz langsam realisierte sie, dass sie die Klausur noch vor sich hatte.